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Das Radschaschloß

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das Radschaschloß.

 

W. Belka.

 

Pontianak ist ein lebhafter Hafen an der Westküste Borneos. Mit der Gründung dieser Stadt schlagen wir eins der blutigsten Blätter der niederländischen Kolonialgeschichte auf. Es genügt zu erwähnen, daß das gebirgige Hinterland von Pontianak von den Dajaks, den berüchtigten Kopfjägern, bewohnt wird, die auch heute noch nur dem Namen nach unterworfen sind, und, wo dies geschehen, weniger infolge niederländischer Waffenerfolge als vielmehr durch den häufigeren Verkehr mit Europäern, die diesem kriegerischen Stamme die Vorteile der Handelsbeziehungen mit den weißen Eroberern recht schlau vor Augen zu führen wußten. –

Am 17. Dezember 1914 vormittags standen vor dem Hafenkommandanten von Pontianak, einem dicken, gemütlichen Holländer, vier Deutsche, darunter ein kaum dem Kindesalter entwachsener Junge.

„Fassen wir die Tatsachen nochmals kurz zusammen, meine Herren“, sagte der Kommandant soeben, indem er von seinem Schreibtisch ein Blatt Papier aufnahm und seine Notizen einsah. „Zunächst setzen Sie sich aber bitte. Wir können die Angelegenheit in aller Ruhe erledigen. – Sie sind, wie Sie selbst zugeben, am 20. August dieses Jahres aus Sarawak (Hafenstadt an der Nordwestküste von Britisch-Borneo) auf einer ehemaligen, bewaffneten Piratenprau entflohen, nachdem Sie von den englischen Behörden interniert worden waren. Auf dieser Flucht haben Sie dann einen der Sie verfolgenden Dampfer in den Grund gebohrt. Dasselbe taten Sie, als Sie vor fünf Tagen mit Ihrem großen Kutter einen anderen englischen Lotsendampfer auf der Fahrt hier nach Pontianak begegneten. Hätte dieses durch Granaten schwer beschädigte Schiff nicht durch Funksprüche den Kreuzer „Belfast“ zur Hilfe herbeirufen können, so wäre die Besatzung vielleicht in den offenen Rettungsbooten so mitten im Meere elend umgekommen. Der Kreuzer hat Sie dann verfolgt, aber nicht eher gefunden, bis er hier unseren Hafen gestern abend anlief. Jetzt verlangt der Kapitän des „Belfast“, daß Sie mit Ihrem Kutter, da derselbe armiert und somit vielleicht als Hilfskreuzer gelten kann, eine Frage, die wir noch erörtern müssen, in 24 Stunden Pontianak verlassen. Diese Forderung entspricht den Bestimmungen des internationalen Seerechts, und ich sehe mich daher genötigt, Ihnen hiermit den Befehl zu erteilen, daß Sie bis morgen früh neun Uhr sich aus der Dreimeilen-Zone entfernt haben.“ (Vergl. das vorhergehende Bändchen „Die Geisterprau.“)

Der Sprecher der Deutschen, ein jüngerer, schlanker Herr, erwiderte jetzt mit offensichtlichem Spott:

„Das heißt nichts anderes, als uns den Engländern ausliefern! Der Kreuzer lauert auf uns vor dem Hafen. Kommen wir heraus, sind wir in kurzem gefangen. Nein – darauf gehen wir nicht ein.“

Der Holländer schüttelte unzufrieden den Kopf.

„Ich habe mich an die gesetzlichen Vorschriften zu halten“, sagte er schon weniger freundlich. „Weigern Sie sich, so sehe ich mich gezwungen, von Ihnen eine Urkunde zu verlangen, daß Ihr Kutter als Hilfskreuzer in Dienst gestellt und somit berechtigt ist, Geschütze zu führen. Können Sie diesen Beweis nicht erbringen, dann … dann wären Sie nichts als … Piraten, also vogelfrei, und ich hätte die Pflicht, Sie zu verhaften, worauf von englischer Seite sicherlich ein Auslieferungsantrag in bezug auf Sie vier wegen Versenkung der beiden Dampfer gestellt werden wird, dem wir, da es sich um Seeräuberei handelt notwendig würden stattgeben müssen. – So liegt die Sache. Wählen Sie also.“

„Halt – noch eins“, meinte der junge Deutsche, dessen sonnenverbranntes Gesicht ebenso viel Tatkraft wie Schlauheit verriet. „Sie können ja auch unseren Kutter entwaffnen und uns als Zugehörige der bewaffneten deutschen Macht Ihrerseits internieren. Auch das entspricht dem Kriegsrecht.“

Aber der Holländer lehnte kurz ab. „Ich werde mich Ihretwegen mit England nicht verfeinden. Sie sind nicht als Hilfskreuzer anzusehen, und ich tue schon ein übriges, wenn ich Sie nicht verhafte.“

Der junge Deutsche überlegte. Dann sagte er:

„Also alle vier sollen wir Pontianak verlassen? Bedenken Sie, daß dieses Knaben Eltern hier ansässig sind. Er könnte doch wenigstens …“

„Nichts da!“ unterbrach ihn der Hafenkommandant. „Karl Heller gehört mit zur Besatzung des Kutters und hat daher keinerlei Anspruch darauf, anderswie behandelt zu werden. – Ich bitte Sie also nochmals dringend, meine Herren, meinem Befehl pünktlich nachzukommen. Versuchen Sie auch nicht etwa, ins Innere zu entweichen und Ihr Schiff im Stich zu lassen. Sie werden bewacht.“

„Sehr freundlich!“ platzte der Deutsche gereizt heraus. „Mit einem Wort: Sie wollen uns durchaus dem Kreuzer in die Hände spielen! – Nun gut. Ich will Sie nicht verletzen. Möglich, daß Sie nicht anders können. Also wir werden gehorchen. – Haben Sie sonst noch Befehle für uns?“

„Nur den einen, daß Sie sich von hier aus direkt an Bord Ihres Schiffes begeben und dort bis zu Ihrer Abfahrt bleiben. Proviant und Wasser werde ich Ihnen gegen Vergütung liefern lassen.“

„Nehmen Sie Edelsteine in Zahlung?“ fragte der Deutsche kurz. „Geld haben wir nicht. – Hier – dieser Smaragd dürfte wohl genügen, uns folgendes zu beschaffen.“ Er nannte eine ganze Menge Dinge, – Konserven, andere Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände.

Der Holländer machte große Augen, als er den wertvollen Stein sah.

„Wie sind Sie zu dem wundervollen Stück gekommen?“ forschte er vertraulich. „Und – erklären Sie mir doch auch, woher Sie die Revolverkanonen und die Munition haben?“

„Bedaure. Das ist unser Geheimnis. Wenn Sie aber dafür sorgen, daß der Kreuzer die Dreimeilengrenze genau innehält und sich nicht etwa dicht vor den Hafen legt, so will ich Ihnen zum Andenken diese Perlenschnur verehren.“ Dabei zog er aus einem ledernen Beutel einen Perlenschmuck heraus, der einen Wert von mindestens 10 000 Mark hatte.

– – – – – – – –

Der hellgestrichene Kutter, der zu beiden Seiten des Bugs den Namen „Rächer“ in großen Buchstaben trug, lag im Außenhafen einsam an einer kleinen Anlegebrücke vertäut. Es war ein Fahrzeug von etwa achtzehn Meter Länge, recht breit und mit einer hohen, starken Reling versehen; die zwei schlanken Maste konnten eine ganze Menge Leinwand aufnehmen. Und in der Tat war der „Rächer“ trotz seiner plumpen Formen ein vorzüglicher Segler.

Auf dem Hinterdeck befand sich ein niedriger Kajütaufbau. Dessen Tür stand jetzt gegen Abend an demselben Tage, als die Unterredung mit dem Hafenkommandanten stattgefunden hatte, weit offen. In der Kajüte brannte über einem aus Kistenbrettern zusammengeschlagenen Tisch eine Petroleumlampe, die eben erst mit den bestellten Konserven und den andern Sachen an Bord gebracht war.

Um den Tisch saßen die vier Deutschen bei der Abendmahlzeit.

Menke, der Kapitän des Kutters, früher Prokurist des Exportgeschäftes August Strina in Sarawak, hatte den Gefährten soeben ganz eingehend den Plan entwickelt, wie er dem englischen Kreuzer entschlüpfen wollte. In ihm erkennen wir denselben Mann wieder, der mit dem dicken Holländer verhandelt hatte. Ihm gegenüber lehnte in einen Stuhl aus Baumzweigen eine kleine, bucklige Gestalt, Heinrich Gerling, bis Kriegsausbruch Kassierer bei August Strina, Sarawak.

Dieser August Strina, ein sehr wohlgenährter, ewig schwitzender Herr, vertilgte soeben den Rest einer Büchse Ochsenfleisch, während neben ihm der jüngste der vier Deutschen, Karl Heller, eine Karte des Hafens von Pontianak studierte, die er über den halben Tisch ausgebreitet hatte.

Menke erhob sich jetzt. „Wir sind uns also einig, was wir tun wollen“, sagte er, indem er sich eine Zigarre anzündete. „Noch haben wir bis zum Untergang des Mondes zwei Stunden Zeit.“ –

Die zwei Stunden waren um. Der Kutter wurde jetzt von der Brücke losgemacht und mitten in den Hafen gebracht, indem man das eine Segel halb entfaltete. Dann begann an Bord eine emsige Tätigkeit. Der hintere Mast verschwand. Währenddessen pinselte der Knabe den hellen Anstrich auf Steuerbord mit schwarzer Farbe über. Aus Kistenbrettern wurde auf dem Vorschiff eine Kulisse errichtet, die von der Seite wie ein zweiter Deckaufbau sich ausnehmen mußte. Kurz, das Äußere des „Rächer“ war in knappen drei Stunden gänzlich verändert, so daß er jetzt einem jener malaiischen Küstenfahrer glich, die zum Fischfang und auch als Lastschiffe dienen. –

Der Kreuzer „Belfast“, bewacht von einem holländischen Lotsendampfer, damit er die Dreimeilengrenze einhalte, hatte sich so vor Anker gelegt, daß mit Hilfe von Nachtgläsern jedes Fahrzeug wahrgenommen werden mußte, das den Hafen verließ.

Gegen zwei Uhr morgens wurde ein Kutter gesichtet, der langsam aus der Hafeneinfahrt herauskroch und dicht an dem Kreuzer vorüber mußte, falls er denselben Kurs beibehielt.

Mehrere Nachtgläser verfolgten jede Bewegung des Seglers, der, wie sich bald herausstellte, nur einen Mast hatte und zwei Deckaufbauten besaß.

Der wachthabende Offizier des „Belfast“ war beruhigt. Der deutsche Kutter konnte das nicht sein. – Jetzt glitt er keine zweihundert Meter entfernt gemächlich vorüber. Man hörte ein paar gröhlende Stimmen an Bord. Die Leute schienen in Pontianak tüchtig gefeiert zu haben. Sie sangen irgend ein malaiisches Schifferlied. Und sogar das Klimpern eines Saiteninstrumentes war zu vernehmen.

Dicht hinter dem Kreuzer beschrieb der Kutter dann einen Bogen und steuerte nun parallel der Küste nach Norden zu.

Der Wachoffizier gähnte. Die Deutschen würde man schon abfassen. Und dann sollten sie sofort baumeln, diese frechen Schufte, die Piraten … –

Zwei Stunden später kam ein Ruderboot eiligst auf den Kreuzer zu. Darin saß der englische Vicekonsul von Pontianak, der den „Rächer“ hatte ständig beobachten sollen. Er brachte die Alarmnachricht, daß der deutsche Kutter es verstanden habe, die englischen Spione zu täuschen und sich jetzt jedenfalls nicht mehr im Hafen befinde.

Der Kommandant des „Belfast“ ließ sich darauf von dem Wachoffizier melden, ob etwa ein Kutter den Hafen in den letzten Stunden verlassen habe.

Diese Meldung brachte dann dem armen englischen Leutnant eine Nase ein, an die er noch lange dachte. Jedenfalls lichtete der Kreuzer sofort die Anker und nahm die Verfolgung des Flüchtlings auf.

– – – – – – – –

Menke hatte mit etwas Ähnlichem gerechnet. Kaum durfte er annehmen, daß der Kutter von dem Kreuzer aus nicht mehr zu bemerken war, als er dicht unter Land ging, hier den zweiten Mast wieder setzen ließ und dann mit vollen Segeln wieder auf den Hafen zuhielt. Die List glückte. Der Kreuzer dampfte unter starker Rauchentwicklung, ohne des Kutters ansichtig zu werden, mit genau entgegengesetztem Kurse an dem „Rächer“ vorüber, ahnungslos, daß dieser die Frechheit besessen haben könnte umzukehren und sozusagen dem Löwen in den Rachen zu spazieren. –

Am Abend des dritten Tages finden wir den Kutter bereits westlich der Karimata-Inseln, die der Mitte der Westküste von Borneo vorgelagert sind. Menke beabsichtigte, Batavia, die Hauptstadt von Niederländisch-Indien auf Java, anzulaufen, kurz vorher aber an einem einsamen Küstenpunkt die Revolverkanonen, die zugehörige Munition und die Gewehre zu verbergen. Hoffte er doch, in Batavia näheres über die Vorgänge auf den Kriegsschauplätzen in Europa zu erfahren und auch festzustellen, auf welchem Wege man sich mit der meisten Aussicht an ein Gelingen bis zu einem persischen Hafen durchschlagen könne. Außerdem mußte er auch notwendig einige gute Seekarten des Indischen Ozeans erwerben, um diese abenteuerliche Flucht fortsetzen zu können.

Kurz nach Sonnenuntergang tauchte plötzlich aus den abendlichen, über der See lagernden Dunstmassen ein großer Dampfer auf, der offenbar nach Batavia bestimmt war. Immerhin war es noch hell genug, um die Flagge zu erkennen.

„Es ist ein Engländer, Herr Menke“, meldete der Junge eifrig, der weitaus die besten Augen hatte und daher zumeist mit dem Fernrohr den Ausguckmann spielte.

„Mag er die Tiefe des Wassers hier messen“, meinte der Führer des Kutters ingrimmig. „Schade, daß wir dem Burschen nicht ein paar Granaten in den Bauch jagen können. Aber das wäre zu gewagt. Er besitzt anscheinend funkentelegraphische Einrichtung und würde sofort die ganze Meute der englischen Kreuzer und Hilfskreuzer auf uns hetzen. Spielen wir also die Harmlosen! Die Zähne dürfen wir nicht zeigen. Leider nicht.“

Der Ozeanriese, ein neues Schiff, hatte je zwei knallgelbe Ringe um die beiden mächtigen Schlote und eine auffallend große Menge von Rettungsbooten bei sich. Mit einemmal gingen bei ihm allerlei Signalflaggen hoch.

Menke schimpfte. „Das gilt uns. Keine Ahnung habe ich, was der Kerl von uns will. Die bilden sich ein, wir führen ein Signalbuch bei uns! Setzen Sie mal schnell unseren holländischen Lappen. Das ist wenigstens etwas!“

Der Dampfer verlangsamte seine Fahrt und hielt jetzt in großem Bogen auf den Kutter zu, der sich inzwischen längst ein völlig schwarzes Gewand mit nur zwei hellen Zierleisten an der Reling angezogen hatte.

„Das hat etwas zu bedeuten“, meinte Menke mißtrauisch. „Ohne besondere Ursache hält sich ein solcher Riese unterwegs nicht auf. Ich weiß nicht, die Geschichte gefällt mir nicht …!!“

Immer näher kam der Dampfer. Auf seiner Brücke standen mehrere Schiffsoffiziere, die die Gläser nicht von den Augen ließen. Jetzt konnte man auch den Namen lesen: „Lady Fairfax“, was den Jungen zu der Bemerkung veranlaßte: „Bitte, Lady – keine Faxen!“

Von der hohen Brücke des Engländers mußte jede Einzelheit an Bord des „Rächer“ zu unterscheiden sein. Die Revolverkanonen waren zum Glück immer mit friedlichen Wäschestücken recht sauber bedeckt. – Kaum dreißig Meter an dem Kutter glitt nun der Riese mit abgestoppten Maschinen vorüber.

„Welches Schiff?“ kam’s durch das Sprachrohr von drüben. „Und – warum beantwortet Ihr unsere Signale nicht?“

Menke formte die Hände zum Schalltrichter. Die beiden Fahrzeuge liefen jetzt nebeneinander her.

„Schoner Amsterdam von Singapore nach Batavia“, brüllte er zurück. „Wir können unser Signalbuch nicht finden.“

Den Kutter als Schoner auszugeben, konnte nicht auffallen. Für einen Kutter war der „Rächer“ ja tatsächlich beinahe zu groß.

Nach einer Weile wieder ein Anruf: „Wir schicken ein Boot.“

Inzwischen hatte Karl Heller an der Reling des Vorschiffes bereits eine ganze Menge Uniformen erkannt. Die „Lady Fairfax“ schien einen Truppentransport an Bord zu haben. Als der Junge Menke hierauf aufmerksam machte, sagte der: „Die Geschichte ist oberfaul. Ich ahne so verschiedenes! Wir sind dem Dampfer sicherlich beschrieben worden. Wenn ich jetzt nach Steuerbord abfalle, so ladet schleunigst unsere drei Bullenbeißer. Die Segel verbergen der Lady dann, was hier geschieht.“

Der sonst so bequeme Strina wurde plötzlich sehr beweglich. Er merkte, hier bereitete sich etwas vor. Blitzschnell verschwanden die drei anderen nun durch die Vorderluke unter Deck. Nur Menke blieb am Steuer.

Kaum hatte man aber auf dem Dampfer das Segelmanöver des „Rächer“ erkannt, als schon wieder ein Anruf erfolgte:

„Wir haben Geschütze an Bord! Sofort geht Ihr wieder in den Wind, oder wir feuern!“

„Aha!“ dachte Menke. „Die Maske fällt! Aber das mit den Geschützen ist Schwindel! Ich sehe nichts – keine Spur!“

So tat er denn auch, als habe er den Befehl nicht verstanden. – Die beiden Schiffe trennten jetzt bereits wieder gute zweihundert Meter. Und es mußte einige Zeit dauern, bevor der Koloß drüben wieder in Fahrt kam und dem Steuer gehorchte.

Die „Lady Fairfax“ wurde jetzt jedoch ganz unliebenswürdig. Ein Hagelschauer von Kugeln überschüttete plötzlich den Kutter. Menke hatte sich blitzschnell der Länge nach hingeworfen, so daß die Reling mit ihrem inneren Stahlplattenbeschlag ihn deckte. Als Gerlings Kopf über der Luke erschien, rief ihm Menke eine Warnung zu. Die drei krochen nun nach vorn zu den Geschützen hin. Die Verschlüsse klappten gleich darauf zu und Strinas Baß fragte erregt:

„Sollen wir feuern?“

Die Kugelsaat fegte noch immer über das Deck hin. Holzsplitter flogen umher. Deutlich hörte man die klatschenden Geschoßaufschläge.

Menke hatte nur noch das am Ende der Ruderpinne (Steuerhebel) angebundene Tau in der Hand. Trotzdem gelang es ihm im Liegen, den „Rächer“ wieder in den Wind zu bringen, damit die drei Revolverkanonen auch ein Wörtchen mitreden konnten.

„Zielt auf die Stelle des Maschinenraumes!“ brüllte er Strina zu. „Und dann – gebt’s ihnen! Los – für Kaiser und Reich!!“

Drei kurze, harte Knalle. Drüben an der Bordwand des Dampfers zuckten drei rote Blitze auf. Die Granaten saßen. Ehe noch die nächste Salve kam, wendete die „Lady Fairfax“ schon und zeigte dem Gegner ihr schmales Heck, indem sie gleichzeitig unter Volldampf davonrannte. Trotzdem erhielt sie noch zwei Granaten in die Brücke, wo es, soweit Menke erkennen konnte, verschiedene Verwundete gab. Dann verschwand sie im Abenddunst.

Die Deutschen fanden sich bei ihrem Kapitän am Steuer zusammen. Allen steckte noch die Aufregung des Kampfes im Blut.

Strina war sehr stolz, daß man den Engländer in die Flucht geschlagen habe. Aber Menke machte ein sehr bedenkliches Gesicht.

„Der Dampfer besaß Funksprucheinrichtung“, sagte er ernst. „Und in einer halben Stunde weiß jedes englische Kriegsschiff in zweihundert Seemeilen Umkreis, wo man unseren Kutter zu suchen hat. Deshalb ist es ratsam, vorläufig auf die Fortsetzung unserer Flucht zu verzichten, eine entlegene kleine Insel, von denen es hier genug gibt, anzulaufen und uns so lange zu verbergen, bis jede Gefahr vorüber ist.“

Alle sahen ein, daß Menkes Vorschlag unter den obwaltenden Umständen der einzig richtige war.

Gleich darauf nahm der „Rächer“ unter vollen Segeln einen anderen Kurs, nach Südwesten zu, wo ein paar winzige Punkte auf der Seekarte das Vorhandensein von vier offenbar recht kleinen Eilanden, die außerhalb jeder Schiffsroute lagen, verrieten.

Am nächsten Vormittag kamen die Inseln in Sicht. Sehr verlockend war ihr Anblick gerade nicht. Grauschwarze Felsen, die steinige Landzungen weit ins Meer hinausschickten, ein paar wildzerrissene Hügel, Klippen und Riffe ringsum – das war es, was die Gefährten sahen. Aber Menke erklärte ganz zufrieden, hier würde es wohl niemandem einfallen, nach dem Kutter zu suchen.

Worauf der Kassierer Gerling wieder bemerkte, an das Robinsonleben sei man ja bereits durch den fast viermonatigen Aufenthalt auf jener Insel, die ihnen nach dem Entweichen von Sarawak Zuflucht geboten habe, gewöhnt. Freilich sei es dort wahrscheinlich gemütlicher gewesen als auf diesen Steinhaufen hier.

Nach längerem Umkreisen der dicht beieinander liegenden vier Eilande fand man endlich zwischen den beiden nördlichen einen schmalen Sund, in den der „Rächer“ nur sehr vorsichtig und langsam hineingesteuert wurde. Die anderen Wasserstraßen zwischen den Inseln waren nicht passierbar, da überall Klippen den Weg versperrten. Die Nordpassage aber führte trotz ihrer vielfachen kurzen Krümmungen in ein seeartiges Wasserbecken, das, von den Eilanden wie von den Gestaden eines Landsees eingeschlossen, eine Breite von gut 500 Meter bei einer größten Länge von Nord nach Süd von 800 Meter und in der Mitte ein merkwürdiges Inselchen besaß, welches sofort die Aufmerksamkeit der vier Deutschen auf sich lenkte.

Der bewegliche Karl Heller rief als erster aus: „Wahrhaftig – eine Burg! Wer hätte das gedacht!“

Und der dicke August Strina brüllte: „Hurra – ein Schloß – ein Radschaschloß! Und hier in dieser Einsamkeit …?! Seltsam! – finden Sie das nicht auch, Menke?“

Der Anführer der kleinen Schar ließ jetzt den Kutter gerade auf das eigenartige Bauwerk zulaufen, das da mitten aus dem Binnensee hervorragte.

Strina, der auf den Sunda-Inseln gut bewanderte, hatte es ein Radschaschloß genannt. Radscha heißen die eingeborenen Fürsten in Niederländisch-Indien, denen die Holländer noch einen Schein von Selbständigkeit gelassen haben. – Nun, diesen Bau hier ein Schloß zu nennen, war wohl etwas zu poetisch ausgedrückt. Immerhin konnte man aber mit Recht von einer Burg sprechen.

Aus mächtigen Steinquadern war sie erbaut und zwar offenbar auf einem flachen Felseneiland als Baugrund. Von diesem Eiland konnte man jedoch nichts mehr bemerken. Aus dem Wasser stiegen die Mauern steil an und bildeten nach den vier Himmelsrichtungen hin vier niedrige, mit Erkern und Zinnen geschmückte Türme. Der von diesen Türmen eingeschlossene Bau war länglich viereckig und mußte ein flaches Dach haben, da von diesem von dem Kutter aus nichts zu sehen war. –

Nachdem die Gefährten den vielleicht 40 Meter breiten und 60 Meter langen, von den Türmen flankierten Steinkasten einmal umkreist hatten, mußten sie zu ihrem Erstaunen erkennen, daß nirgends etwas von einem Eingang zu bemerken war. Nur etwa vier Meter über dem Wasserspiegel gab es einige schießschartenähnliche Öffnungen, die außen durch gemeißelte, mit Götzenfiguren verzierte Leisten geschmückt waren. Über diesen Öffnungen dicht unter dem oberen Mauerrand lagen größere, sämtlich mit schmiedeeisernen Ziergittern indischer Arbeit versehene Fenster.

Jetzt aus nächster Nähe erkannten die vier Deutschen auch, daß die meisten Außenflächen der Steinquadern mit allerlei eingemeißelten Bildern verziert waren, die zumeist phantastische Tiergestalten und zum Teil abschreckend häßliche Götter darstellten. Dieses Bestreben des Erbauers, seinem vor sicherlich vielen hundert Jahren entstandenen Werke äußeren Schmuck zu verleihen, ließ die Bezeichnung als Schloß wiederum etwas mehr gerechtfertigt erscheinen.

Karl Heller gab jetzt den Gedanken aller durch die Bemerkung Ausdruck, das sei wirklich mal ein seltsames Gebäude – so ganz ohne jeden Eingang, als ob die früheren Bewohner durch die Luft ein- und ausgeflogen wären.

Worauf Menke erklärte, einen Zugang werde es schon geben. Dieser sei aber wohl absichtlich so versteckt angelegt worden, daß man erst danach suchen müsse.

Dicht an der Mauer wurde nun der Kutter langsam entlanggeschoben, wobei jeder der Gefährten eifrig und sorgfältig die einzelnen Quadern musterte, ob man vielleicht irgendwo etwas entdecken könne, das auf eine geheime Tür hindeutete. Gerling hatte sogar einen Bootshaken zur Hand genommen, mit dessen eiserner Spitze er gegen jeden ihm erreichbaren Stein stieß, um durch den Klang herauszufinden, welche der Quadern beweglich sei.

Wäre der Bucklige nicht auf diesen Gedanken gekommen, so hätte man die geheime Pforte sicherlich erst weit später herausgefunden. Plötzlich ließ Gerling ein lautes Hallo vernehmen. Sofort wurde der Kutter angehalten, und nun hörten auch die drei anderen Deutschen, daß eine der Quadern hohl klang, ebenso die darüberliegende.

Menke drückte jetzt das Boot fest an die Mauer. Von Deck aus konnte man die beiden Steine bequem erreichen. Der untere, ebenso wie der obere von quadratischer Form mit über ein Meter Seitenlänge, zeigte das ausgemeißelte Bild des Gottes Buddha, dessen Kopf hier mit seiner vornübergeneigten Haltung einem weitvorspringenden runden Knopf ähnelte. Menke hatte ihn, dahinter etwas Besonderes vermutend, schon mit der Rechten umfaßt und drehte und drückte daran herum. Und tatsächlich: der Kopf Buddhas ließ sich drehen …! – Gleich darauf schob Menke die beiden Steinplatten – es waren keine dicken Quadern, sondern nur flache Stücke – wie eine Tür nach innen. Sie bewegten sich in drei eisernen Angeln, die merkwürdigerweise, wie Karl Heller sehr bald feststellte, gut geölt waren. Der Buddhakopf wieder setzte einen einfachen Mechanismus in Tätigkeit, der ein Schloß mit vier starken Riegeln darstellte.

Kaum war die geheime Pforte offen, als Menke sich auch schon geschickt von der Reling aus in das viereckige Loch hinaufschwang. Ihm folgte Karl Heller, der, getrieben von einer leicht begreiflichen Neugier, nun zunächst die Steintür genauer untersuchte und dann keck den niedrigen Gang weiter verfolgte, der hier wie ein horizontaler Schacht durch das Gebäude hindurchlief und zu ebener Erde auf einen ovalen Hofraum mündete. Der Hof war von dem Radschaschloß völlig eingeschlossen und vielleicht zwanzig Meter lang und acht Meter breit. In der Mitte standen ein paar kümmerliche Kokospalmen rund um ein Marmorbecken, das einst ein Springbrunnen gewesen sein mochte, worauf die Steinfigur eines mit erhobenem Rüssel in der Mitte aufgestellten Elefanten hindeutete. Im übrigen bot dieser Hofraum nichts Bemerkenswertes dar. Dafür gab es hier jedoch an der eirunden Innenmauer des Schlosses manches zu sehen. Sie war aus einer Art rotgelber Ziegel hergestellt, reich mit Nischen geschmückt, in denen steinerne Götterstatuen standen, und hatte etwa sechs Meter über dem Boden eine fortlaufende Reihe von Bogenfenstern, die mit zierlichen Gittern verwahrt waren. Zwei Türen, die sich gegenüberlagen, führten von hier aus in das Innere des alten Bauwerks hinein. Sie waren aus Schmiedeeisen mit reichen Verzierungen gearbeitet und hatten mächtige Messingknöpfe als Drücker.

Jetzt betraten auch Menke, Strina und Gerling den Hof. Den Kutter hatte man inzwischen mit einer Kette an der geheimen Pforte festgemacht. Es zeigte sich, daß beide Türen unverschlossen waren. Von ihnen liefen Steintreppen in die inneren Räumlichkeiten hinein. Diese, zumeist weite, grell ausgemalte Gemächer, wiesen auch nicht das geringste Einrichtungsstück auf. In den leeren, großen, sehr hohen Zimmern hallten die Schritte der vier Deutschen auf den Marmorplatten des Fußbodens unheimlich laut wider. Auch die Turmgemächer und die flachen Dächer der Türme und der Seitenflügel wurden in Augenschein genommen. Überall dasselbe Bild. Gähnende, ungemütliche Leere, phantastische Malereien an den Wänden, hier und da Schimmel und graue Flechten, – sonst nichts.

Von der Plattform der Türme vermochte man gerade noch über die kahlen Felsenhügel der vier Eilande, die wie ein hoher Wall das Schloß umgaben, hinweg einen breiten Streifen des Meeres zu erblicken. Die Gefährten, die gerade auf dem nördlichen Turme standen, sahen in weiter Ferne am östlichen Horizont einige niedrige, dunkle Punkte. Dies konnten nur ein paar zu der Karimata-Gruppe gehörige Inseln sein, erklärte Menke. Niemand hatte jedoch für diese Äußerung ein Interesse. Vielmehr meinte Gerling jetzt, das Radschaschloß müsse doch seiner Bauart nach noch Erdgeschoßräume besitzen, zu denen man freilich bisher keinerlei Zugang gefunden habe, wie er sofort hinzufügte.

„Natürlich gibt’s hier zu ebener Erde noch weitere Gemächer“, pflichtete August Strina bei. „Die müssen aber recht dunkel sein. Alles, was man von Fensteröffnungen sieht, gehört ja zu den hochgelegenen, leeren Sälen, die wir soeben durchwandert haben.“

Diese Erörterung wurde durch Karl Heller unterbrochen, der ganz aufgeregt rief:

„Herr Menke, Herr Menke, – kommen Sie mal her. Hier liegt ein Häufchen halbverbrannten Tabaks. Es sieht aus, als hätte jemand seine erkaltete Tabakpfeife ausgeklopft.“

– – – – – – – –

Mit der Beobachtung des aufgeweckten Jungen hatte es seine Richtigkeit. Es war Tabak. Und als Menke nun etwas davon in die flache Hand nahm und daran roch, sagte er sehr ernst:

„Lange liegt dieser halbverkohlte Pfeifenknaster noch nicht hier. Sonst hätte ihm die Sonne längst jede Spur von Geruch entzogen. Ich behaupte sogar, daß es kaum zwei oder drei Tage her sein können, als hier jemand seine Pfeife auf dem Mauerkranz des Turmes reinigte.“

„Vielleicht ist’s derselbe Mensch, der auch die geheime Pforte so gut geölt hat“, meinte Karl Heller eifrig. „Ja, Herr Menke, – die Türangeln sind geölt. Sehen Sie sich’s nachher nur mal an.“

„Ich glaube Dir. Jedenfalls beweisen diese zwei Tatsachen, daß vor kurzem noch sich Leute hier befunden haben. Dies gibt mir sehr zu denken.“

An diese Äußerungen Menkes knüpfte nun August Strina sofort eine zweite an, um seinem etwas ängstlichen Herzen Luft zu machen: „Sehr richtig! Es heißt also für uns zunächst feststellen, wer diese Leute sind. Dieser alte Bau kommt mir offen gestanden recht unheimlich vor. Wer kann wissen, ob nicht in den Kellern, besser, dem Erdgeschoß, eine ganze Bande von Piraten steckt, die hier ihren Schlupfwinkel haben.“

„Na na – Piraten …?!“ lächelte der verwachsene Gerling, der trotz seines mißgestalteten Körpers ein tapferes Herz besaß. „Von Piraten oder ähnlichem Gesindel kann wohl nicht die Rede sein. Sonst hätten wir hier doch irgendwo ein Fahrzeug bemerken müssen.“

„Die Bande kann gerade unterwegs auf einem Beutezuge sein …!“ verteidigte Strina seine Annahme.

Da mischte sich Menke ein. Er war ohne Zweifel den anderen an geistigen Fähigkeiten überlegen, was auch neidlos anerkannt wurde. – „Ob Piraten oder andere Leute, bleibt sich gleich“, sagte er. „Wir müssen im Interesse unserer eigenen Sicherheit herausbringen, ob vielleicht auf einem der Eilande Menschen hausen. Kehren wir also zu unserem Kutter zurück, frühstücken wir und suchen wir dann die vier Inseln sorgfältig ab.“

Allen kam besonders der Vorschlag, sich durch Speise und Trank zu laben, sehr gelegen. Hatte man doch bereits seit früh morgens nichts mehr genossen.

So verließen die Gefährten denn den Turm und durchschritten wieder die leeren, hohen Gemächer, die in jedem der Flügel sowohl nach der See- wie nach der Hofseite hin Fensteröffnungen besaßen und daher jetzt am Vormittag strahlend hell waren.

Zum nicht geringen Schreck der Deutschen stellte sich nun aber heraus, daß die beiden Eisentüren nach dem Hofraum hin inzwischen von irgend jemandem von außen verschlossen worden waren. Diese Türen besaßen drei starke Eisenriegel, die tief in den eisernen Türrahmen eingriffen. Sie zurückzuschieben war unmöglich. Der ganze Schloßmechanismus zeigte sich so solide gearbeitet, daß es besonderer Werkzeuge bedurft hätte, um die Türen aufzubrechen. Und die Deutschen hatten nichts als ihre Taschenmesser mit.

„Eine böse Geschichte“, meinte Menke. „Wir sind jetzt hier im Innern des Radschaschlosses eingesperrt und können nicht heraus. Auch die Gitter vor den Fensteröffnungen sind stark genug, all unseren Ausbruchsversuchen zu trotzen. Wer weiß, was die Leute, die uns diesen Streich gespielt haben, für Gesellen sind …! Eigentlich war’s auch ein Leichtsinn, daß wir alle vier uns in diesen alten Bau gleichzeitig hineinwagten. Wenn wir wenigstens unsere Gewehre mitgenommen hätten …!! – Aber wer konnte auch ahnen, daß dieses einsame, weltentlegene Gebäude bewohnt sei …!“

August Strina schaute sich ängstlich um. „Vielleicht ermordet man uns!“ sagte er leise.

Menke wurde ärgerlich. „Sie sind und bleiben ein Hasenfuß, Herr Chef!“ fuhr er auf. „Zum Nachgrübeln darüber, was die unbekannten Gegner unternehmen werden, ist jetzt keine Zeit. Wir selbst müssen etwas tun, um aus dieser Patsche herauszukommen. – Vorwärts, gehen wir auf das Dach zurück und überzeugen wir uns, ob unser Kutter noch da ist. Wenn ja, wird sich das Weitere schon finden.“

In dem ganzen Gebäude gab es mit Ausnahme der beiden Eingänge keine Türen, nur Türöffnungen, die früher einmal durch schwere, kostbare Stoffe verhängt gewesen sein mochten, worauf auch die eisernen Haken in den Wänden hindeuteten. Man konnte ungehindert von einem Gemach in das andere gelangen und so die ganze Flucht der leeren Räume durchschreiten. Auf die flachen Dächer gelangte man von den Türmen aus, in denen Steintreppen empor führten. Bald standen die vier Gefährten denn auch über der Stelle, wo unten vor der geheimen Pforte ihr Kutter vertäut war. Menke atmete erleichtert auf, als er ihn sah. Hatte er doch im stillen gefürchtet, das Boot könnte mittlerweile fortgebracht worden sein.

Nun bestimmte er, daß aus den sämtlichen vorhandenen Kleidungsstücken eiligst eine Art Strick hergestellt wurde, an dem Karl Heller als der leichteste sich an der Außenmauer auf das Deck des Kutters hinablassen sollte.

In knappen fünf Minuten war das seltsame Tau fertig. Es reichte nicht ganz, obwohl die vier Gefährten jetzt so ziemlich im Adamskostüm dastanden. Dann turnte der gewandte Junge an dem Strick abwärts, ließ sich schließlich auf das Vorderdeck die letzten zwei Meter hinabfallen und befand sich glücklich an Bord des „Rächer“, wo er sofort den Bootshaken in das Tau einhakte und unten an die Holzstange desselben eine starke Leine befestigte, die auf diese Weise auf das Dach gezogen wurde. Sehr bald waren die vier Deutschen wieder auf Deck ihres Kutters vereint. Allerdings hatte die Kletterpartie für den ungeschickten August Strina insofern etwas schmerzhaft geendet, als er sich die Haut der Handflächen, da er zu eilig hinabsauste, arg abgescheuert hatte.

Schleunigst wurde die Kette des „Rächer“ nun gelöst und er in den Binnensee hinausgelenkt. Einige 150 Meter von dem ungastlichen Radschaschloß entfernt ließ Menke dann den kleinen Anker auswerfen. Dieser fand wirklich Grund, faßte und ließ den Kutter an seinem straff gespannten Tau nach der Windrichtung einschwenken. Von diesem vorläufigen Ankerplatz aus konnte man die geheime Pforte des alten Gebäudes, die man offen gelassen hatte, bequem im Auge behalten.

Während die Gefährten an Deck frühstückten, beratschlagten sie, was man nun weiter tun solle. Menke war es wieder, der den praktischsten Vorschlag machte. Danach sollten nachher er und Karl Heller sich an Land setzen lassen und mit der Durchsuchung der Eilande beginnen, während Strina und Gerling den „Rächer“ wieder vor dem Radschaschloß zu verankern und die beiden anderen später abzuholen hatten. Auf diese Weise war es den Leuten, die sich in dem alten Bauwerk befanden, unmöglich gemacht, es ungesehen zu verlassen, falls sie vielleicht irgendwo in den Erdgeschoßräumen ein Boot liegen hatten, mit dem sie den Verkehr nach den Inseln ausführten. Gleichzeitig aber konnten die Deutschen auch feststellen, ob die Eilande bewohnt waren.

Gegen Mittag wurde der Anker gelichtet, und der Kutter steuerte bei leichtem Winde auf die südöstliche der vier Inseln zu, die die größte Ausdehnung besaß. Hier landeten Menke und der Knabe und schritten nun, ihre Gewehre schußfertig für alle Fälle im Arm, zunächst nach Süden zu am Ufer des Kanals entlang, der dieses Eiland von dem benachbarten trennte.

Zwei Stunden später wollten sie, nachdem sie vergeblich jedes der Inselchen sorgfältig durchforscht hatten, indem sie die schmalen Wasserstraßen zwischen den vier Eilanden schwimmend durchquerten, schon wieder an Bord des Kutters zurückkehren, als Karl Heller in dem einen nach Nordwesten zu verlaufenden Kanal ein gut verstecktes kleines Segelboot mehr durch einen Zufall als durch eigenen Verdienst bemerkte, welches mit umgelegtem Mast zwischen hohen Felsen in einer winzigen Bucht festgemacht war, wo es tatsächlich erst aufzufinden war, wenn man dicht davor stand.

Das Boot besaß ein Verdeck und war trotz seiner geringen Abmessungen bei seiner starken Bauart ohne Frage recht zuverlässig. Zwei unverschlossene Luken führten in den Innenraum. Dieser war in drei Abteilungen mit wasserdichten Zwischenwänden geteilt, von denen die eine am Heck eine einfache Schlafmatratze und verschiedene Gebrauchsgegenstände enthielt, während die beiden anderen mit allerlei Proviant angefüllt waren. Alles deutete darauf hin, daß sich wohl nur ein einzelner Mensch in dieser Nußschale hierher gewagt habe. Aber vergebens suchten Menke und der Knabe nach irgendwelchen Papieren, die ihnen über die Person des Besitzers des kleinen Segelfahrzeugs hätten Aufschluß geben können. Nur ein paar englische Bücher fanden sie, die sämtlich Anweisungen für Freunde des Segelsports enthielten. Hieraus schloß Menke, daß der Bootseigentümer kein Seemann von Beruf sein könne.

Als die beiden Gefährten dann nach der südöstlichen Insel zurückkehrten, um sich wieder an Bord des Kutters zu begeben, gestanden sie sich in lebhaft geführtem Gespräch ein, daß das ganze Erlebnis in dem Radschaschloß jetzt nur noch einen geheimnisvolleren Anstrich erhalten habe. Handelte es sich wirklich nur um einen einzelnen Menschen, so war schwer zu begreifen, was er hier trieb und zu welchem Zweck er überhaupt nach den vier Eilanden gekommen war. Ein Schiffbrüchiger war es nicht. Das zeigte das tadellos ausgerüstete Boot. Mithin hatte den Menschen eine bestimmte Absicht hergeführt. Aber welche? – Menke kam schließlich zu der Annahme, daß den Fremden vielleicht das Radschaschloß und ein mit diesem verknüpftes Geheimnis, etwa ein darin verborgener Schatz, zu der Seereise bis an diese entlegenen Gestade bestimmt habe. – Aber auch dies blieb ja nur eine Vermutung, für die man kaum rechte Anhaltspunkte besaß.

Als Menke und Karl Heller sich wieder an Bord des Kutters befanden, war es fünf Uhr nachmittags geworden. Schnell nahm man jetzt eine von Gerling inzwischen zubereitete warme Mahlzeit ein. Es wurde dann beschlossen, das Segelboot des Fremden (vielleicht sind’s aber doch mehrere Leute, meinte Menke bei dieser Gelegenheit) zu beschlagnahmen und neben den „Rächer“ festzulegen. Diese Arbeit wurde von Karl Heller und Gerling erledigt. Mittlerweile hatte sich Menke die Sache aber wieder insofern anders überlegt, als er vorschlug, nachts zur Bewachung des Radschaschlosses das Boot als Wachfahrzeug zu benutzen, mit dem immer zwei der Deutschen das alte Gebäude umkreisen sollten. Da der kleine Segler auch zwei lange Ruder besaß, mußte sich diese Maßregel unschwer durchführen lassen.

„Wir müssen wissen, wer in dem Bauwerk steckt“, erklärte Menke. „Das verlangt unsere Sicherheit.“

Die anderen waren damit ganz einverstanden, obwohl sie einen Teil ihrer Nachtruhe opfern mußten.

Nach Dunkelwerden übernahmen Strina und Gerling die ersten vier Stunden den Wachdienst. Es ereignete sich jedoch nichts. Dann kamen Menke und der Knabe an die Reihe. Für Karl Heller war dieses Abenteuer so recht nach seinem Geschmack. Da die tropischen Nächte bei klarem Himmel infolge der Sternenpracht des Firmaments sehr wenig von nächtlicher Dunkelheit etwas merken lassen, war es nicht schwer, das Radschaschloß scharf im Auge zu behalten. Unablässig wurde es umrudert. Aber still und verlassen lag es da. Nur gegen zwei Uhr morgens glaubte Karl hinter den Fenstern des Westflügels einen Lichtschein zu bemerken. Er gab aber zu, daß er sich auch getäuscht haben könne.

Nach Tagesanbruch vereinfachte man sich die Überwachung, indem nur noch ein Posten auf einem hohen Hügel am Nordufer des Binnensees aufgestellt wurde, der von dort aus jedes Fahrzeug, auch jeden Schwimmer bemerken mußte, die das Radschaschloß von irgend einem Punkte aus verlassen wollten.

Auch dieser Tag ging jedoch ohne ein Ergebnis hin, desgleichen die folgende Nacht. August Strina war es, der zuerst über die gestörte Nachtruhe zu murren begann. Er liebte seine Bequemlichkeit, war freilich auch der älteste der vier Gefährten.

„Wir haben doch jetzt unsere Gewehre“, meinte er. „Weshalb durchsuchen wir den alten Bau denn nicht einmal ganz gründlich …?!“

„Weil die Gefahr besteht, daß wir aus dem Hinterhalt niedergeschossen werden, ohne den Schützen zu Gesicht zu bekommen“, erwiderte Menke ernst.

So blieb denn alles, wie es war, obwohl auch Menke zugab, daß der Wachdienst sehr lästig sei.

In der dritten Nacht wurde die Verteilung der Wachrunden geändert, um Strina mehr zu schonen, der körperlich nicht sehr widerstandsfähig war. Menke und Gerling übernahmen jeder einzeln je vier Stunden Dienst im Wachboot, während Strina und der Knabe die ersten Stunden nach Dunkelwerden erledigen sollten.

Als diese um waren, weckte Strina recht niedergeschlagen Menke und Gerling und teilte ihnen folgendes mit.

Karl Heller hätte ihn zu bestimmen gewußt, daß er gestattete, der Junge dürfe allein möglichst unauffällig durch die noch immer offene geheime Pforte das Innere des Radschaschlosses betreten. Karl wäre eben der Meinung gewesen, daß es ihm vielleicht gelingen würde, das Versteck des oder der Insassen des alten Gebäudes auf diese Weise zu entdecken und festzustellen, wer sich eigentlich darin aufhalte. Der Junge hätte sich dann auch von Deck des Kutters aus in die Maueröffnung geschwungen, wäre in dem dunklen Gange verschwunden, aber jetzt nach drei Stunden immer noch nicht zurückgekehrt.

Menke war über diese Eigenmächtigkeit der beiden sehr empört.

„Wir dürfen leider während der Nacht nichts unternehmen, um uns zu überzeugen, was mit dem waghalsigen Burschen geschehen ist“, meinte er schließlich. „Sobald es hell genug geworden ist, werde ich allein das Gebäude durchsuchen.“

Dabei blieb er. Strina begab sich sehr kleinlaut zur Ruhe, während Menke und Gerling, jetzt ohnehin beide völlig ermuntert, das Boot bestiegen und davonruderten. Sie hielten sich heute näher an den vom Wasser umspülten Mauern, da leichte Wolkenschleier über den nächtlichen Himmel hinzogen, die die lichte Dämmerung der Tropennacht beeinträchtigten.

Zwei Stunden verrannen. Das Boot befand sich gerade vor dem Ostflügel, als plötzlich Karl Hellers laute Stimme aus einer der Fensteröffnungen herausklang.

„Achtung! Hier ist Karl … Die beiden Leute bereiten sich eben auf dem Dache des Westflügels darauf vor, einen leichten Stoffkahn ins Wasser hinabzulassen. Es muß dort genau aufgepaßt werden. Ich habe hier wichtiges beobachtet. Die Kerle sollen mich schon nicht abfassen. Keine Sorge!“

Menke wollte noch etwas fragen, erhielt aber keine Antwort mehr. Karl war also schon wieder vom Fenster verschwunden.

– – – – – – – –

Möglichst geräuschlos und in weiterer Entfernung von dem Steinbau wurde nun das Boot schnell nach dem Westflügel gerudert.

Menke und Gerling kamen gerade zur rechten Zeit, um beobachten zu können, wie eine einzelne Gestalt in einem niedrigen Nachen dem Gestade der nächsten Insel zustrebte. Der Nachen war bedeutend schneller als das schwerere Segelboot und nicht mehr einzuholen. Deshalb rief Menke jetzt dem einsamen Ruderer ein lautes „Halt – oder wir schießen!“ nach. Die Warnung wurde unbeachtet gelassen. Da feuerte Gerling einen Schuß in die Luft ab. Das erst half. Der Mann zog die Ruder ein und erwartete das Boot. Gleich darauf kletterte zu der beiden Deutschen Überraschung ein schlanker, kräftiger Malaie an Bord, der einen gelben dunkelgestreiften Leinenanzug und eine Öltuchkappe trug. In dem Nachen, den das Boot ins Schlepptau nahm, lagen drei leere Wasserfäßchen, außerdem eine moderne Flinte und ein Revolver, beide geladen.

Der Malaie sprach das verdorbene Holländisch, wie es in den Küstenplätzen der Sunda-Inseln sich bei den Eingeborenen eingebürgert hat. Er gab aber auf alle Fragen Menkes nur höchst unglaubwürdige Antworten, die ganz den Eindruck erweckten, als sei ihm vorher für alle Fälle eingetrichtert worden, was er aussagen solle. So behauptete er, in dem Radschaschloß befänden sich zehn Männer, alles Malaien, die dort ständig zur Bewachung des alten Bauwerks wohnten. Von dem Vorhandensein des kleinen Segelbootes, das die Deutschen jetzt für sich benutzten, wollte er nichts wissen. Jedenfalls war klar ersichtlich, daß er sich alle Mühe gab, die Lage so darzustellen, als sei es für den Kutter das Beste, wenn dieser schleunigst die Inseln wieder verlasse.

Menke war jedoch nicht der Mann, sich von einem Farbigen hinters Licht führen zu lassen.

„Wir wissen, daß Ihr nur zu zweien in dem Gebäude wart“, sagte er, indem er sich an dem Schloß seines Gewehres zu schaffen machte und den Lauf auf des Malaien Brust richtete. „Du belügst uns, Bursche! Ich werde mir’s noch überlegen, ob wir Dich aufknüpfen oder erschießen.“

Der schlanke, recht gerissen aussehende Insulaner, der sich Mikaua nannte, zuckte bei dieser so kalt hingesprochenen Drohung zusammen, blickte Menke ängstlich an, schwieg jedoch. Um in ihm nun keinen Gedanken an Flucht aufkommen zu lassen, wurde er mit auf dem Rücken gefesselten Händen im Vorschiff unter Deck eingesperrt.

Inzwischen hatte Gerling das Boot, das jetzt den mit Öltuch bespannten leichten Nachen hinter sich herzog, wieder auf das Radschaschloß zugerudert, um die Umrundung wieder aufzunehmen. Beide, Menke und Gerling, waren gespannt, ob der Knabe sich nochmals melden würde. Nach einer halben Stunde sahen sie dann, als sie gerade am Südflügel entlangfuhren, oben eine Anzahl der Fensteröffnungen in weißem Lichte aufleuchten. Gleich darauf vernahmen sie einen Flintenschuß, hörten einen wilden Schrei, den fraglos der Junge ausgestoßen hatte, und bemerkten dann, wie die Lichtquelle von Gemach zu Gemach weiter wanderte, bis sie plötzlich erlosch.

Gerling war blaß geworden und saß wie erstarrt da.

„Was war das?“ fragte er tonlos.

„Ein Zwischenfall, mit dem ich gerechnet hatte“, erwiderte Menke ergrimmt. „Der Fremde hat unseren armen Karl erwischt. Und, nach dem Schrei zu schließen, muß er den Jungen einfach niedergeknallt haben. Aber das soll er büßen …! – Rudern Sie nach dem geheimen Eingang hin, Gerling. Ich muß nachsehen, was in dem alten Steinkasten geschehen ist.“

Der Verwachsene suchte den Gefährten von diesem Vorhaben abzubringen. Aber Menke blieb bei seinem Entschluß.

„Ich werde vorsichtig sein – und den Finger schneller am Abzug des Revolvers haben als der andere“, meinte er in verbissener Wut.

Es sollte anders kommen. Die Pforte war verschlossen, und alles Drehen an dem Buddhakopf half nichts. Die Steintür rührte und regte sich nicht.

„Wie sollen wir jetzt in das Gebäude hineinkommen?“ sagte Gerling verzweifelt. „Diese Steinplatten widerstehen jeder Gewalt.“

„So?! Na – Sie irren, lieber Gerling. Ich wette, daß der Eingang in einer halben Stunde spätestens offen ist.“

Näheren Aufschluß über das, was er beabsichtigte, gab Menke jedoch nicht, bat den Gefährten nur, schnell nach dem Kutter zurückzurudern.

Hier wurde Strina geweckt. Dann nahm man das Boot und den Nachen ins Schlepptau, lichtete den Anker und rückte einige fünfzig Meter näher an das Radschaschloß heran, wo der „Rächer“ abermals festgelegt wurde.

Dann mußte Strina seine Fertigkeit als Kanonier beweisen. Er hatte einst bei der Fußartillerie gedient, und seine Erfahrungen waren den vier Deutschen schon wiederholt von Nutzen gewesen.

„Schießen Sie die geheime Pforte ein“, sagte Menke kurz. „Während Sie die eine Revolverkanone laden, werde ich in dem Stoffboot hinüberrudern und einen weißen Zeugfetzen an den Buddhakopf hängen. Dann wissen Sie, wohin Sie zu zielen haben.“

Jetzt war der dicke Strina ganz in seinem Element. Als Menke sich wieder an Bord befand, richtete Strina das Geschütz sehr sorgfältig auf den deutlich zu erkennenden Lappen ein.

„So“, meinte er, „kann’s losgehen?“

„Feuer!“ kommandierte Menke.

Ein roter Strahl schoß aus der Mündung der Revolverkanone heraus, fast gleichzeitig zuckte drüben an der Mauer des alten Bauwerks ein leuchtender Fleck auf. Beide Detonationen, die des Schusses und die der krepierenden Granate, klangen wie eine einzige.

Die beiden Steinplatten, die dicke Quadern vortäuschen sollten, waren zertrümmert und aus den Angeln gerissen. Die Wirkung des Schusses konnte kaum eine bessere sein.

Strina war sehr stolz auf seine Fertigkeit als Richtkanonier.

„Na – sind Sie mit mir zufrieden, Men…“ – Die zweite Silbe des Namens seines ehemaligen Prokuristen verschluckte er vor Schreck.

Von dem Radschaschloß her war ein Büchsenschuß auf den Kutter abgefeuert worden, und die Kugel hatte – ein seltenes Spiel des Zufalls! – dem dicken Strina ein ganz klein wenig Haut von der Nasenspitze abgerissen, so daß er ein paar Schritte zurücktaumelte.

„Hinwerfen!“ brüllte Menke. – „Hinwerfen! Sonst wird doch noch einer von uns getroffen!“

Strina lag schon lang auf dem Deck und kroch hinter die hohe Reling.

Dicht neben ihm hockten Menke und Gerling.

„Die Sache wird ernst!“ sagte Menke ruhig. „Die Feindseligkeiten sind eröffnet. Jetzt müssen wir zusehen, wie wir möglichst gefahrlos unsern Karl befreien können.“

Er entwickelte den Gefährten kurz seinen neuen Plan. Der lief auf eine List hinaus, die guten Erfolg versprach. – Als der Kutter wieder weiter ab von dem Radschaschloß verankert war, wurde Mikaua, der Malaie, an Bord geholt und in die Kajüte gebracht, wo er seinen auffallenden Anzug und die Ölkappe an Menke abtreten mußte. Die beiden Männer hatten so ziemlich die gleiche Größe.

Dann färbte Menke sich mit einem Gemisch von Holzkohle und Öl das Gesicht und den Hals dunkel, so daß er bei dem Halbdunkel der nächtlichen Beleuchtung durch das Sternenlicht sehr gut für Mikaua gehalten werden konnte. Nachdem er noch den Revolver des Malaien zu sich gesteckt hatte, konnte der zweite Teil der wohldurchdachten Komödie beginnen.

Inzwischen hatten nämlich Strina und Gerling eine große Puppe hergestellt, die jetzt am Steuer des kleinen Segelbootes befestigt wurde. Dann blieb Menke, ohne sich blicken zu lassen, an Bord des Kutters, während seine beiden Gefährten das Boot bestiegen und die Bewachung des alten Gebäudes wieder begannen, indem sie es wie bisher stets umruderten. Für den Fremden, der doch fraglos die Vorgänge auf dem Binnensee genau verfolgte, mußte es so scheinen, als befänden sich alle seine drei Gegner jetzt in dem Wachboot. Dieses umkreiste, mit der Puppe am Steuer, die durch den Bootshaken heimlich hin und wieder bewegt wurde, geduldig und sehr langsam das steinerne Schloß.

Eine halbe Stunde verging. Menke lag auf dem Deck des Kutters lang ausgestreckt und beobachtete durch einen Ausschnitt in der Reling scharf die Wasserfläche zwischen dem alten Bauwerk und dem Kutter.

Worauf er gerechnet hatte, das erfüllte sich ganz nach Wunsch. Mit einemmal gewahrte er nämlich den Kopf eines Schwimmers, der mit kräftigen Stößen auf den „Rächer“ zustrebte.

Menke lächelte still vor sich hin. Also war die List wirklich geglückt …! – Nun schlüpfte er in die Kajüte, in der es völlig finster war. Die Tür nach dem Deck ließ er offen.

Gleich darauf schwang sich eine menschliche Gestalt behende über die Reling an Bord. Es war ein Europäer. Der Mann hatte nur ein Paar Beinkleider an und eine ebensolche Ölkappe auf dem Kopf wie Mikaua. Triefend von Wasser, schlich er lautlos auf die Kajüte zu. In der Rechten hielt er stoßbereit einen langen malaiischen Dolch.

Der Dolch war Menke nicht gerade angenehm. Deshalb stöhnte er jetzt laut wie einer auf, der seine äußersten Kräfte anspannte, murmelte auch irgend etwas vor sich hin.

Der Fremde draußen auf Deck war stehen geblieben. Offenbar lauschte er angestrengt. Dann fragte er in dem verdorbenen Küsten-Holländisch:

„Mikaua – bist Du’s?“

Menke stöhnte und ächzte noch lauter, so daß der Fremde den Eindruck gewinnen mußte, daß der gefesselte und geknebelte Malaie auf andere Weise nicht antworten könne.

Er betrat nun die Kajüte, machte aber doch noch mißtrauisch in der Tür halt und fragte abermals: „Mikaua – bist Du’s?“

Menke hatte sich an der Rückwand lang auf den Boden gelegt. Und wieder trieb er nun dasselbe Spiel, um den Mann zu täuschen.

Wie gut es war, daß er die Verkleidung trug, zeigte sich jetzt so recht. Der Fremde holte nämlich unter seiner Ölkappe eine Schachtel Wachskerzen hervor, von denen er eine, das Flämmchen sofort mit der hohlen Hand beschattend, anzündete. Nun sah er die in dem gestreiften, gelben Anzug steckende Gestalt, sah flüchtig ein dunkles Gesicht. Das genügte ihm. Er blies die Kerze aus. Der schwache Lichtschein hätte von dem Wachboot aus bemerkt werden können.

„Ich werde Dich sofort losschneiden“, flüsterte er und glitt auf Menke zu, beugte sich über den anscheinend Gefesselten und … erhielt mit dem Revolverkolben einen Hieb gegen die Schläfe, daß er bewußtlos wie ein Klotz hinschlug.

– – – – – – – –

Menke hatte den Fremden gefesselt und betrachtete ihn sich nun beim Scheine der Deckenlampe genauer.

Er schätzte ihn auf dreißig Jahre. Der Mann hatte eigentlich ein ganz sympathisches Gesicht. Vorläufig war er noch ohnmächtig. Aber er atmete ganz kräftig, und der Puls war zwar schwach, aber regelmäßig.

Dann rief Menke durch ein paar gellende Pfiffe das Boot herbei. Strina und Gerling waren doch etwas in Sorge gewesen, wie das Abenteuer für ihren Gefährten auslaufen würde. Sie zeigten sich hocherfreut, daß alles so tadellos geglückt war.

Bald kam auch der Fremde wieder zu sich. Er wurde auf einen Stuhl gesetzt und erhielt zur Stärkung einen Schluck Rum, um schneller Rede und Antwort stehen zu können.

„Wer sind Sie? Wie heißen Sie? Und – was ist mit dem Jungen geschehen?“ fragte Menke.

Der Mann schwieg, starrte vor sich hin und seufzte tief auf.

„Bei der Geschichte kommt ja doch nie was heraus“, sagte er dann, wie zu sich selber sprechend. „Es hat keinen Zweck mehr, um ein Geheimnis zu kämpfen, das wertlos ist.“

„Sie werden schon ein wenig klarer sich ausdrücken müssen“, forderte Menke den Fremden auf. „Ihre Andeutungen sind mir unverständlich.“

„Das glaube ich gern. – Also: ich bin Holländer, heiße Wilhelm van Restraaten, bin bis vor nicht allzu langer Zeit Steuermann auf einem Frachtdampfer gewesen und hier nach dem Radschaschloß gekommen …“

„Halt! – Wie geht es unserem kleinen Gefährten?“ unterbrach Menke ihn. „Lebt er? Ist er verwundet?“

„Ach so – richtig. Der Junge. – Gut geht’s ihm. Verwundet! – keine Spur. Im Gegenteil, er wird sich in dem Gemach, in das ich ihn notgedrungen eingesperrt habe, sehr wohl fühlen, wovon Sie sich nachher überzeugen können.“

„Freut uns zu hören, – Also – wie ist’s nun mit dem wertlosen Geheimnis?“

„Das ist bald erzählt, – Aber – wollen Sie mir nicht die Fesseln abnehmen? Ich werde ganz folgsam sein, verlassen Sie sich darauf.“

Restraaten machte einen so günstigen Eindruck auf Menke, daß dieser nicht zögerte dem Wunsche zu willfahren.

„So, danke sehr“, meinte der Holländer, indem er seine Handgelenke rieb. „Ich bin ja schließlich kein Mörder“, setzte er halb im Scherz hinzu.

„Wären es aber beinahe geworden …!“ polterte der dicke Strina und zeigte auf die kleine blutige Stelle an seiner Nasenspitze.

„Oh – das war nicht beabsichtigt. Es kann nur dadurch gekommen sein, daß Sie sich im Augenblick, als ich abdrückte, aufrichteten. Es sollte nur ein Schreckschuß sein. Ich war wütend, weil Sie die Tür mit Ihrem Geschütz zerstört hatten. Ich bin im ganzen ein sehr friedliebender Mensch. Nur reizen darf man mich nicht. Dann weiß ich manchmal nicht, was ich tue. Ja – und daß ich jetzt hier bin, daran ist auch eigentlich nur mein Jähzorn schuld. Am besten ist es wohl, ich berichte alles im Zusammenhang. Ich war also so etwa vor einem halben Jahre Steuermann auf der „Greta van Daalen“. Dort befand sich auch Mikaua als Heizer. Er wurde von dem Kapitän Oolfers, der kaum einen nüchternen Tag im Monat hatte, schlechter wie ein Stück Vieh behandelt. Eine Weile sah ich mir das schweigend mit an. Dann fiel ich dem trunkenen, alten Halunken eines Abends in den Arm, als er wieder mit einem Tauende auf den Malaien eindrang. Oolfers schlug nach mir, ließ Mikaua laufen. Dann lag er mit einem Mal auf dem Deck. Ich hatte ihn mit einem Schrubberstiel über den Kopf gehauen. Eine Stunde später trug ich Ketten wie ein Schwerverbrecher und war in die Segelkammer eingesperrt. Was mir bevorstand, wußte ich: Gerichtsverhandlung, Verurteilung zu Gefängnis und Verlust meines Steuermannspatentes. – Ich war verzweifelt. All das wegen eines Farbigen … Ich hätte mich ohrfeigen können. – Nun, Mikaua bewies schon in der nächsten Nacht, als wir dicht vor Batavia waren, daß er das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Er befreite mich, und gemeinsam flohen wir dann, kaum daß die „Greta van Daalen“ im Hafen von Batavia festgemacht hatte, wo gute Freunde uns weiterhalfen und reichlich mit Geld versahen. Mikaua vertraute mir dann das Geheimnis des Radschaschlosses an. Er hatte hiervon durch einen Verwandten Kenntnis erhalten, der zur Dienerschaft des Radschas von Pakanir auf Sumatra gehört hatte. Dieses eingeborenen Fürsten Urahnen hatten einst das steinerne Gebäude errichtet, anscheinend als Gefängnis für Leute, die spurlos verschwinden sollten. In verborgenen Räumen des Schlosses lägen nun, so versicherte Mikaua mir, wertvolle Schätze, von deren Vorhandensein nur sein Verwandter etwas zu wissen vorgegeben hatte. – Nun – wir beschlossen dann, diese Schätze zu heben und kauften das kleine Segelboot, das ein reicher Mann in Singapore sich hatte bauen lassen, dem der Segelsport aber bald über wurde. So kamen wir hier nach den einsamen kleinen Inseln, gelangten auch durch den verborgenen Eingang, den wir erst nach mehrstündigem Suchen entdeckten, in den alten Steinpalast, wo wir dann in einem Raume des Erdgeschosses hausten. Der Zugang zu diesem Erdgeschoß ist nun auch das reine Preisrätsel. Hat man die Lösung aber erst einmal gefunden, so wird man reichlich entschädigt, – freilich in anderer Weise, als ich es mir gedacht hatte. Ich hoffte ja auf Reichtümer, die mir in den Schoß fallen sollten. Nichts davon – nichts! Jene weiten Gemächer enthalten … – Aber nein“, unterbrach er sich hier, „ich will Ihnen, meine Herren, nicht die Überraschung verderben. – So, nun bin ich fertig mit meinen Erlebnissen. Jedenfalls beruht alles, was von den Schätzen des Radschaschlosses gefabelt wurde, auf Schwindel. Wir – Mikaua und ich – haben keinen Fußbreit der Wände und der Bodenplatten unbeachtet gelassen. Jetzt habe ich das Suchen satt. – Noch eins: der Schrei, den Ihr kleiner Gefährte ausstieß, hätte sich vor Entsetzen wohl auch der Brust eines Erwachsenen entrungen. Ich hatte mich nämlich so etwas als Geist herausgeputzt, als ich merkte, daß jemand sich heimlich in das Gebäude eingeschlichen hatte. Und der Schuß ging dem kecken Burschen vorher aus Unachtsamkeit los.“ –

Bald darauf wurde auch Mikaua von den Fesseln befreit. Und als die Sonne dann mit ihren ersten Strahlen die Spitzen der Felshügel der vier Eilande beschien, wurde der Kutter nach der geheimen Pforte gebracht und die drei Deutschen, Restraaten und der Malaie betraten den Hof des Radschaschlosses.

Hier schritt der Steuermann auf den Springbrunnen zu. Der steinerne Elefant in der Mitte stand auf einem erhöhten, viereckigen Sockel. Restraaten packte die Stoßzähne und kippte die Tierfigur ohne besondere Anstrengung nach hinten über, so daß der Elefant schließlich mit dem Körperteil den Rand des Bassins berührte, der nun einmal zum Sitzen da ist. Der Steinsockel war mit hoch gehoben worden. An seiner Stelle gähnte jetzt eine Öffnung, in der man den Anfang einer schmalen Treppe bemerkte. Diese führte in einen Felsengang hinab, der nach wenigen Metern in einen der sonst unzugänglichen Räume des Erdgeschosses mündete.

Jetzt erst sahen die drei Deutschen, daß für diese Gemächer die schießschartenähnlichen Öffnungen in den Außenmauern die Fenster bildeten. Sie spendeten genügend Licht, um alles zu erkennen, was es hier zu sehen gab.

Zunächst feierte man aber in dem nächsten Gemach ein freudiges Wiedersehen mit Karl Heller, der auf ein paar Decken noch fest geschlafen hatte.

Dann ging es aber weiter – hinein in den dritten Raum, der durch eine eiserne Tür mit kunstvollem Schloß versperrt war.

Das Licht fiel hier durch zwei der Mauerschlitze gerade in voller Stärke auf die Gestalten von vier Männern, die, in verblichene, gestickte Überwürfe gehüllt, kerzengerade mit geringem Abstand nebeneinander an der Wand standen.

Menke zuckte erschreckt zusammen, und Strina ließ sogar einen halb unterdrückten Schrei hören, als man diese stillen Toten so unvermittelt vor sich hatte. Tote waren’s, Mumien, und zwar wunderbar gut erhalten. An in die Wand getriebene Haken waren sie durch Bänder so befestigt, daß sie ziemlich zwanglos dazustehen schienen.

Nachdem Menke sich schnell wieder gefaßt hatte, untersuchte er eine der Mumien genauer. Ohne Frage handelte es sich hier um die Leichen von vornehmen Malaien. Zu welchem Zweck sie aber hier aufgestellt waren, ob es sich etwa um jene Unglücklichen handelte, die der Radscha von Pakanir hatte verschwinden lassen, oder ob es vielleicht Vorgänger des Fürsten waren, die man auf diese merkwürdige Weise hier bestattet hatte, ließ sich natürlich nicht sagen.

Auch die anschließenden Gemächer enthielten jedes mehrere Mumien, manche nur drei, manche aber auch fünf. Im ganzen zählte Menke fünfundvierzig von diesen künstlich vor der Verwesung geschützten Toten. Im übrigen war in diesen Räumen nicht viel Beachtenswertes zu finden: geschnitzte Sessel mit eingelegter Elfenbeinarbeit, Götzenbilder, Altäre aus Stein mit Opferschalen und bronzenen Buddhafiguren darauf und andere Gegenstände, die nur für den Altertumsforscher Wert hatten.

August Strina atmete sichtlich erleichtert auf, als man wieder in den Hofraum hinaufstieg. Ihm war es in der Gesellschaft der regungslosen Gestalten, denen man als Augen rundliche Glasstücke in die Augenhöhlen eingesetzt hatte, unheimlich gewesen.

Inzwischen hatte Menke den Steuermann in alles eingeweiht, was ihn und seine drei Landsleute betraf. Restraaten verdiente dieses Vertrauen durchaus, wie sich auch später zeigte.

Die sechs Gefährten beschlossen nun, zwei der oberen Gemächer des Radschaschlosses wohnlich herzurichten und zu beziehen. Dorthin wurde aus den Mumienkammern, wie Menke das Erdgeschoß getauft hatte, alles heraufgeschafft, was man irgend brauchen konnte.

Man führte dann ein recht beschauliches Leben auf den vier Inseln, vertrieb sich die Zeit durch Jagd auf Seevögel und Angeln und suchte gelegentlich auch einmal in den Mumienkammern nach den verheißenen Schätzen, an deren Vorhandensein Mikaua immer noch fest glaubte. Doch auch jetzt, wo sechs Personen die Wände, den mit Steinplatten belegten Fußboden und schließlich selbst die Decken der Erdgeschoßräume abklopften und sozusagen zentimeterweise absuchten, wurde nichts gefunden, – – wenigstens zunächst nichts.

Doch dies gehört nicht mehr hierher. Erwähnt sei nur noch, daß es den sechs Gefährten später glückte, mit dem „Rächer“ sich trotz der diesem aufpassenden englischen Schiffe durchzuschlagen, und daß die Deutschen endlich auch die Heimat erreichten.

Was es mit den Schätzen des Radschaschlosses auf sich hatte, soll im nächsten Bändchen erzählt werden.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Steuermann Restraaten.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.