Erlebnisse einsamer Menschen
(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)
W. Belka.
„Du bist ein ganz garstiger, frecher Junge …!“
„Und Du eine eingebildete, dumme Göre …!“
Die beiden Kinder standen sich mit zorngeröteten Gesichtern wie die Kampfhähne gegenüber.
Nicht zum ersten Male. Nein, schon an zwei anderen Tagen hatte das von Karl Mießke erfundene Spiel mit einem ähnlichen Streit geendet. Dann war Trudi Herberstein stets bis zum folgenden Tage auf dem vornehmen Promenadendeck geblieben und hatte das Vorschiff mit seiner bunt zusammengewürfelten Gesellschaft gemieden.
Nur bis zum folgenden Tage. Denn dort, wo Trudi eigentlich an Bord der „Hollandia“ hingehörte, auf dem Promenadendeck, war es so schrecklich langweilig, während es bei Karl Mießke auf dem Vorschiff stets etwas Neues zu beobachten gab, ganz abgesehen von dem Reiz, den das Geschicklichkeitsspiel mit den runden Pappscheiben bot, die in bestimmte Felder einer mit Kreide auf das Deck gezeichneten Figur geworfen werden mußten. –
Trudi war bei dem Worte „Göre“ zusammenzuckt. Sie kannte es nicht. Aber sicher war es ein schlimmes Schimpfwort. Noch nie hatte ihr Karl dieses „Göre“ ins Gesicht geschleudert. Zu gern hätte sie ihn gefragt, was es bedeute. Aber sie überwand die Neugier und lief eilends davon.
Als Frau von Herberstein, eine blasse, vornehme Dame, ihr einziges Kind mit so hochgeröteten Wangen auf sich zukommen sah, rief sie Trudi ärgerlich zu:
„Warst Du etwa schon wieder auf dem Vorderdeck?! Ich habe Dir doch verboten, dorthin zu gehen.“
Trudi warf den Kopf in den Nacken, daß ihr blauer Glanztuchsüdwester ihr ins Genick rutschte und der Wind ihre leicht geringelten dunklen Locken nun ungehindert zausen konnte.
„Verboten hast Du es mir nicht, Mama“, meinte sie halb trotzig, halb die Gekränkte spielend. „Du hast nur gesagt, der Karl sei kein passender Verkehr für mich. Aber Papa hält den Karl doch auch für einen ordentlichen, braven Jungen.“
Herr von Herberstein, der neben seiner Gattin in einem zweiten Liegestuhl Zeitung gelesen hatte – es war die Bordzeitung der „Hollandia“, die auf dem Schiffe täglich für die Passagiere gedruckt wurde und die die neuesten, mit Hilfe der drahtlosen Telegraphie eingegangenen Nachrichten aus den verschiedensten Weltgegenden enthielt, – also Herr von Herberstein mischte sich jetzt ein und erklärte, der Knabe sei doch Trudis einziger Altersgenosse unter den gesamten sechshundert Passagieren der „Hollandia“, und deshalb könne man es ihr nicht verargen, daß sie sich auf dem Vorschiffe beinahe mehr zu Hause fühle als auf den Decks der ersten Kajüte.
Damit war die Sache erledigt. Gegen den Willen und die Absichten des Papas gab es keine Auflehnung, – auch Mama durfte dies nicht wagen. –
Trudi langweilte sich bald. Nachdem sie im Damensalon des eleganten Schiffes die ausliegenden Modezeitungen durchgeblättert hatte, bummelte sie planlos umher. – Schade, daß sie sich wieder mit Karl gezankt hatte …! Eigentlich trug sie wohl selbst daran die Hauptschuld. Sie verlangte vielleicht zu oft, daß ihr Spielgefährte nachgeben solle. Und Karl war nun einmal schon trotz seiner vierzehn Jahre ein recht selbständiger kleiner Bursche, war helle, wie die Berliner sagen.
Schließlich setzte sie sich in einen leeren Liegestuhl, der abseits hinter einer straff gespannten Leinwand stand, zog sich auch die dazugehörige weiche Decke über den Unterkörper und … schlief ein. –
– – – – – – – –
Die „Hollandia“ war nach New York bestimmt. Aber auf Umwegen. Am 25. Juni 1908 hatte sie Bremen verlassen und sollte eine Menge Auswanderer nach Island bringen, dabei vorher noch die Orkney- und Fär Öer-Inseln[1] anlaufen und sich dann erst wieder südlich nach New York wenden.
Diese auf drei Wochen Dauer berechnete Fahrt machte nun auch eine Anzahl wohlhabender Leute zum Vergnügen mit, da sie viel Interessantes bieten mußte, gerade weil man Häfen besuchte, die den Touristen gewöhnlich nicht auf so bequeme Weise zugänglich sind. Zu diesen Vergnügungsreisenden gehörten auch Herbersteins, während Karl Mießkes Eltern, die bisher in Berlin sich schlecht und recht durchgeschlagen hatten, in der Hauptstadt Reykjavik auf der in einer Höhe mit der Südspitze von Grönland gelegenen Insel Island eine neue Schlosserei gründen wollten, verlockt durch die Schilderungen eines dänischen Auswandereragenten, der die Erwerbsmöglichkeiten auf Island in den allerrosigsten Farben zu malen verstand.
Als Trudi in ihrem Versteck einschlief, war es fünf Uhr nachmittags. Die „Hollandia“ hatte am Morgen die Fär Öer verlassen und dampfte nun mit voller Geschwindigkeit nach Westen, um Reykjavik möglichst noch vor dem nächsten Abend zu erreichen
Das Wetter war bisher klar und nur wenig windig gewesen. Nun kam plötzlich Nebel auf. Es wurde recht kühl, und die meisten Passagiere der ersten Kajüte zogen sich in die Gesellschaftsräume zurück. Frau von Herberstein und ihr Gatte fanden im Salon anregende Unterhaltung mit Bordbekanntschaften und dachten nicht weiter an Trudi, um die man sich auch nicht zu ängstigen brauchte, da sie für ihre zwölf Jahre schon recht verständig, wenn auch noch ganz kindlich war.
Da der jetzige Kurs der „Hollandia“ wenig befahren war und südlich der Treibeisgrenze lag, ließ der Kapitän sein stolzes, schnelles Schiff mit voller Maschinenkraft weiter durch die Nebelmassen jagen. Zusammenstöße mit einem entgegenkommenden anderen Fahrzeuge oder einem Eisberge waren hier ja nicht zu befürchten. – –
Karl Mießke hatte der davonlaufenden kleinen Freundin erst trotzig nachgeschaut, dann aber, ärgerlich über sich selbst, die Pappscheiben eingesammelt und sich in die Küche der Zwischendecker begeben, um hier den Köchen etwas behilflich zu sein, die ihm dafür manchen Extrabissen zukommen ließen. Hunger hatte Karl nämlich nur einmal am Tage, und das war immer …
Als er gegen sechs Uhr nachmittags wieder an Deck stieg – mit vier dick belegten Butterbroten in der Tasche, hatte sich das Aussehen des Meeres sehr verändert.
Nebel trieb jetzt in dichten Wolken, nur selten lichtere Stellen bildend, über der See. Das war ein recht unheimliches Bild. Sah es doch so aus, als ob der große Dampfer gegen eine graue Wand anzurennen suchte, die beständig vor ihm zurückwich.
Der hagere Knabe mit den strohblonden Haaren stand an der Reling und schaute hinaus in die wallenden Nebelmassen, die er bisher während der Seereise in solcher Dichtigkeit noch nicht beobachtet hatte. Ihn fröstelte. Diese feuchten, grauen Schleier strömten förmlich eine starke Kälte aus. Neben ihm lag ein Ölmantel über einem Klappstuhl. Wahrscheinlich der des dritten Steuermannes Lüders. Viele Mäntel von dieser eigelben Farbe gab es an Bord nicht. – Nun – mit Lüders stand Karl auf allerbestem Fuße. Der würde ihn nicht anschnauzen, wenn er den Mantel überzog.
Karl blickte an sich herunter. Der Mantel reichte ihm bis an die Füße, und dreimal hätte er sich darin einwickeln können. – Er mußte lächeln. Wie ein Weib sah er darin aus – wahrhaftig! – Wenn ihn Trudi so beschauen könnte …! Die würde ihren Spaß daran haben. Sicherlich. – Ob er nicht mal versuchte, sich auf das Promenadendeck einzuschmuggeln, um nach der kleinen Freundin auszuspähen? – Aber dazu mußte er von irgend einem Manne der Besatzung so etwas wie einen Auftrag haben, dort etwas zu holen oder zu bestellen. Dann konnte ihn keiner der aufgeblasenen Kajütenwärter grob anfahren und fortjagen, wenn man ihn bemerkte.
Karl besann sich, daß unter Aufsicht des dritten Steuermannes ganz vorn auf Deck vorhin eine Anzahl Matrosen die dort verstauten kleinen Zinkblechpontons, die für einen Brückenbau in Reykjavik bestimmt waren, neu gelagert hatte. So ging er denn weiter nach der Spitze zu und merkte nun erst, daß auch auf der „Hollandia“ selbst die Nebel schwer und dicht lasteten.
Hm – da war es eigentlich überflüssig, von Lüders sich einen Auftrag zu besorgen. Man konnte ja hier auf Deck keine acht Schritt weit sehen. Bei einiger Vorsicht entging man wohl den Kajütwärtern.
Gleich darauf stand Karl auf der Steuerbordseite des Promenadendecks, das dem „Volke“, den Zwischendeckern, streng verboten war, damit „das reiche Pack ganz unter sich war“, wie Karls Vater immer sagte.
Hm – Trudi hier zu finden, war wohl ausgeschlossen. Wie ausgestorben lag diese „feine Gegend“ da. – Ob man’s versuchte …? – Na – probieren konnte nichts schaden!
Die Möwenschreie klangen wunderbar echt. Aber nützen taten sie nichts. Trudi meldete sich nicht.
Nach einer Weile wandte Karl das Mittel auch auf Backbordseite an.
Aha …!! – Das war Trudis Antwortpfiff. Sie konnte pfeifen wie ein Gassenjunge.
Dann stand er vor ihr. Sie lag noch in dem Deckstuhl und empfing den Spielkameraden mit einer stolzen Handbewegung wie eine Königin.
„Ich will wissen, was das Wort Göre bedeutet, – sonst rede ich nicht mehr mit Dir!“
Karl dachte erst, es sei am besten, so etwas zu schwindeln. – Aber nein: das paßte ihm nicht. Das hatte er nicht nötig. – Und daher sagte er:
„Wir Berliner nennen Göre so ein kleines freches, schnippisches Mädchen, Trudi. – Daß ich Dich so genannt habe, tut mir jetzt leid.“
Da streckte sie ihm die Hand hin, und der Frieden war wieder geschlossen. Dieses Einsehen eines begangenen Unrechts fiel ihr selbst ja so sehr schwer. Das Karl ein solches Eingeständnis nie scheute, obwohl er doch sonst so schwer nachgab, imponierte ihr mächtig. –
Sie kamen überein, sich ganz vorn in die Spitze der „Hollandia“ zu stellen, wo man dann nichts wie Nebel vor sich hatte. Trudi mußte aber die Decke umnehmen und sich fest einwickeln. Der Kälte wegen. Sie trug ja auch nur über dem blauen Matrosenkleidchen mit dem breiten, weißen Kragen ihr wolliges Mäntelchen, das nur so aussah, als ob es wärmte, durch das der Wind aber mit Leichtigkeit hindurchpustete.
Trudi freute sich, daß sie in der großen Decke nun auch so abenteuerlich ausschaute wie Karl in dem gelben Ölmantel. Eilig huschten sie nach vorn. Niemand kümmerte sich um sie.
Fünf Minuten standen sie dann etwa auf ihrem Ausguck, als der Knabe zu Trudi sagte, ob sie nicht auch merkte, wie es plötzlich immer kälter würde.
Dabei nahm er eine dunkle, schwere Ölplane, die hinter ihnen über die eine Ankerwinde geworfen war, und hüllte sie beide darin ein.
„Hu – die reine Eisluft!“ meinte Trudi und klapperte absichtlich mit den Zähnen. „Ich glaube, wir fahren langsamer. Scheint es Dir nicht auch so, Karl?“
Der Junge wollte bejahend antworten.
Wollte …! Er kam nicht mehr dazu …!
Ein furchtbarer Stoß erschütterte urplötzlich den Dampfer, Splittern und Krachen wurde hörbar, die Kinder flogen nach vorwärts – mit den Köpfen gegen den Eisenrand der Reling, fielen bewußtlos auf das Deck, während sich die Ölplane wie schützend über sie breitete …
Die „Hollandia“ zeigte sofort nach dem Zusammenstoß mit dem Eisberge, dessen Nähe der Kapitän leider zu spät an dem Sinken der Temperatur der Luft gemerkt hatte, starke Steuerbordschlagseite, das heißt, sie lag nach der rechten Schiffsseite hin tiefer im Wasser, so daß das Deck eine schräge Fläche bildete.
Wilde Szenen begannen sich an Bord des schwer beschädigten Dampfers abzuspielen. Die Ruhe der Offiziere, ihre Versicherungen, daß keine Gefahr vorhanden sei und alle gut und sicher in den Booten untergebracht würden, das energische Auftreten des Kapitäns – nichts half. Kopflos, schreiend, gepackt von der Selbstsucht der Todesangst, gab es einen Kampf um die Boote, der nicht von Menschen, sondern von Bestien ausgefochten zu werden schien. Und hier zeigte das „reiche Pack“ der ersten Kajüte leider, daß es noch die Zwischendecker an rücksichts1osem Selbsterhaltungstrieb bei weitem übertraf – bei weitem.
Jedenfalls dachte zum Beispiel die vornehme, müde Frau von Herberstein erst an Mann und Kind, als sie längst als eine der ersten im Boote saß. Nun sie beschwichtigte das leise sich regende Gewissen damit, daß die beiden sicherlich auch gerettet werden würden.
Herr von Herberstein rannte hin und her, suchte eine Weile nach Trudi, schwang sich dann aber auch in eines der Boote. Trudi war vielleicht schon zusammen mit den Frauen, die zuerst geborgen worden waren, von Bord des schnell sinkenden Schiffes gegangen.
Zehn Minuten nach dem Zusammenstoß lagen die Decks der „Hollandia“ still und verlassen da.
Wieder vergingen zehn Minuten. Die Rettungsboote waren längst, geschleppt von den zwei Barkassen, nach Westen zu verschwunden.
Nach dem, was Steuermann Lüders, der in der einen Barkasse den Befehl hatte, den Passagieren soeben erklärte, mußte der Dampfer nun schon gesunken sein.
„Diese verd… Eisberge sind ja gerade deshalb so gefährlich, weil sie oft heimtückischerweise Hunderte von Metern lange Eisspitzen, besser Eiszungen, unter Wasser vorstrecken“, hatte er gesagt. „Und auf einen solchen Rammsporn ist unsere „Hollandia“[2] aufgerannt, der ihr die Steuerbordseite weit aufgerissen hat. Jetzt liegt sie sicherlich schon auf dem Grunde des Meeres.“
– – – – – – – –
Steuermann Lüders irrte sich. Zwei Eiszungen hatten die „Hollandia“ beschädigt, die dicht nebeneinander wie die Spitzen eines Zweizacks lagen. Und diese zweite Zacke war von unten wie ein enormer Haken in den Boden des Vorschiffes eingedrungen und hielt den Dampfer zur Hälfte über Wasser. Das Hinterschiff war etwa bis zur Kommandobrücke verschwunden, das Vorschiff ragte dafür ziemlich steil empor, so daß das Deck jetzt eine abschüssige Fläche darstellte. – –
Unter der Ölplane, die sich über die bewußtlosen, als einzige Passagiere an Bord zurückgelassenen Kinder ausgebreitet hatte, regte es sich.
Karl Mießke stand gleich darauf, noch recht unsicher auf den Beinen und mit einer blutigen, mächtigen Beule über dem linken Auge, mußte sich aber ordentlich nach hinten zurücklehnen, um auf dem schrägen, nassen Deck nicht auszurutschen.
Langsam erholte er sich, sammelte er seine Gedanken.
Der Nebel war lichter geworden Die Lage des Schiffes war deutlich zu erkennen. Ein furchtbarer Schreck durchzuckte den Knaben. Nirgends eine lebende Seele – nirgends! Das Hinterschiff im Wasser verschwunden! Alle Boote weg …! – Man hatte Trudi und ihn also übersehen – vergessen …! Sie waren allein …, ganz auf sich angewiesen.
Ein Schluchzen wollte sich aus Karls Kehle hervorringen, ein paar Tränen rollten ihm über die Backen …
Dann fiel sein Blick auf die Zinkblechpontons, von denen zwei sich losgemacht und bis zur Kommandobrücke gerutscht waren, – bis dicht an die Stelle, wo die Wellen das Deck überspülten.
Wie ein Ruck ging es da durch den Körper des hageren, für seine Jahre fast zu lang aufgeschossenen Jungen. Die Tränen versiegten. Er bückte sich, sah nach Trudi … – Gott sei Dank, sie atmete, schlug nun plötzlich auch die Augen auf, seufzte und setzte sich aufrecht. Ihre Stirnhaare waren mit Blut verklebt. Und die Beule dort war noch böser als die Karls.
Fliegenden Atems teilte der Knabe der Spielgefährtin alles Nötige mit. Langsam begriff Trudi das Entsetzliche.
„Ich werde uns retten … Bleibe hier sitzen … Oder nein – versuche aufzustehen und geh’ in die Zwischendecksküche hinab. Nimm hier die Ölplane mit und packe alles Eßbare hinein, was Du findest. Die elektrische Beleuchtung des Vorschiffes funktioniert noch. Man hat sicher gleich nach dem Zusammenstoß die Akkumulatoren eingeschaltet. Du wirst Dich also leicht zurechtfinden.“
Trudi wollte sich nicht feige zeigen. Ihr war noch so wirr im Kopf. Sie schwankte, als sie aufstand. Aber Karl stützte sie, und so brachte er sie bis zur Treppe, die zur Zwischendecksküche hinabführte.
Der Junge stand nun allein vor einem der fünf Meter langen Pontons. Er wollte ihn über die Reling heben, die hier nur noch einhalb Meter über dem Wasserspiegel lag. Das Boot war zu schwer. Wieder packte ihn verzweifelte Angst.
Halt – die Davits …!! (Davit, Kran für die Schiffsboote).
Sie besaßen ja die spielend leicht gehenden Winden mit den doppelten Rollen, die so große Kraft entwickelten. Wenn nur erst das eine Ende des Pontons auf der Reling ruhte, dann würde alles weitere schon gelingen.
Und es glückte wirklich. Das Zinkblechboot schwamm. Zwei Paar Riemen (Ruder) waren in jedem am Boden befestigt. Die genügten vollauf.
Da erschien auch schon Trudi oben im Eingang der Schiffstreppe.
„Hilf mir, Karl. Das Bündel ist zu schwer“, rief sie ihm zu.
Wenige Minuten später stießen sie von der „Hollandia“ ab.
Mittlerweile war der Nebel fast ganz verschwunden. Keine dreihundert Meter von dem Dampfer entfernt schwamm ein riesiger Eisberg. Es war jetzt gegen acht Uhr abends, also noch vollkommen hell. Ganz deutlich erkannte Karl die gewaltigen Abmessungen der Eismasse, ihre zackigen Hügel, Klüfte und Spitzen.
Der breite, schwerfällige Ponton mit den beiden stumpfen Enden war für die Kräfte des Knaben kaum vorwärts zu bringen. Das merkte er sehr bald. Nur langsam entfernten sie sich von der „Hollandia“, die fast regungslos in ihrer merkwürdigen Stellung festlag und nur die kaum erkennbaren Schwankungen des Eisberges mitmachte, auf dessen Unterwasserzacke sie sich aufgespießt hatte.
Schon nach hundertfünfzig Metern mußte Karl sich ausruhen, so sehr schmerzten ihm die Arme vom Rudern.
Trudi selbst war es, die jetzt sagte:
„Am besten ist, wir sehen zu, daß wir auf den Eisberg hinaufgelangen. Dort warten wir, bis die Boote der „Hollandia“ uns abholen, die doch sicherlich umkehren werden, wenn man uns vermißt.“ Die ganze unbedachte Hoffnungsfreudigkeit eines kindlichen Herzens sprach aus diesen Worten.
Karl war nicht so fest überzeugt, daß man nach ihnen suchen würde. Wer weiß, ob die Rettungsboote sich nicht zerstreut hatten und daher gar nicht festzustellen war, ob auch alle Passagiere mitgenommen seien. – Aber er hütete sich, dem jetzt wieder ganz tapferen kleinen Mädelchen seine Bedenken mitzuteilen.
„Ja – wir müssen auf den Eisberg“, erwiderte er. „Ich allein kann mit dem Ponton nichts anfangen. Und wir haben ja auch Lebensmittel für einige Tage, so daß …“
Hinter ihnen kam’s aus der Tiefe des Meeres wie dumpfes Krachen hervor.
Die Kinder blickten sich um – nach der „Hollandia“ hin. In das wracke Schiff war plötzlich Leben gekommen. Es sank mit dem Heck noch tiefer, pendelte hin und her und stand mit einemmal senkrecht im Wasser still. Jetzt sah man aus dem Schiffsboden in der Nähe des Bugs eine mächtige, blinkende Eismasse herausragen. Es war die Eiszacke, die die „Hollandia“ bisher über Wasser gehalten hatte und die nun, wohl infolge des ungeheuren Gewichtes, das sie zu tragen hatte, abgebrochen war.
Mit furchtbarem Knall sprengte jetzt die in dem Schiffskörper zusammengepreßte Luft, die durch die Decköffnungen brausend entwich, das Deck selbst. Noch ein paarmal taumelte der Dampfer wie trunken umher und schoß dann in die Tiefe hinab, einen Strudel erzeugend, dessen Wirkung sich bis zu dem Ponton äußerte, indem dieser mit fortgerissen wurde und der Stelle zutrieb, wo das Wrack soeben versunken war und ein tiefer Trichter im Wasser sich gebildet hatte.
Einen Moment saß Karl wie erstarrt da. Dann griff er zu den Rudern und arbeitete mit Leibeskräften, um gegen die verderbliche, unheimliche Gewalt des Strudels anzukämpfen. Viel nützte es nicht, daß er den letzten Atem hergab, daß er nachher in den Handflächen große Blasen hatte. Aber immerhin bewahrte er das Zinkblechboot vor dem Schlimmsten, vor dem Schicksal, samt seinen Insassen in die Tiefe hinabgezogen zu werden. Freilich half bei dieser Rettung auch die breite Form des Pontons wesentlich mit.
Als die Wasser sich wieder beruhigt hatten, als der erschöpfte wackere Junge wieder zu Atem gekommen war, tauchten auch schon ringsum die verschiedenartigsten hölzernen Gegenstände auf, die sich von dem versunkenen Wrack freigemacht hatten und hochgekommen waren: ein paar Lukendeckel, sieben Tische, einige Dutzend Klappstühle, acht Rettungsringe, vier Korkwesten, ein langer und ein kurzer Bootshaken, zwei leere Holzkisten und … der große Kasten, in dem der Zwischendeckerkoch seine zehn Legehühner untergebracht hatte. Die Hühner waren tot, – nicht ertrunken, sondern durch den Wasserdruck in der Tiefe umgekommen.
All diese Dinge schaffte Karl jetzt in den Ponton.
Trudi half ihm dabei, so gut sie konnte. Was zu schwer war, um in das Boot gehoben zu werden, nahm man ins Schlepptau.
Der Eisberg hatte sich inzwischen, mit einer Strömung treibend nach Süden zu weiter entfernt, ebenso wie er nun auch, sich um sich selbst drehend, den Kindern ein anderes Eispanorama zeigte.
Mit schmerzenden Händen und Muskeln, die Zähne zusammenbeißend und doch vor Schmerzen mit Tränen in den Augen, ruderte Karl hinter dem weißen Koloß her.
Aber eine halbe Stunde verging, ehe es ihm dann gelang in eine Bucht der schwimmenden Eisinsel hineinzusteuern und den Ponton hier an einer flachen Uferstelle festzumachen. – –
Die Eisberge, die als gefährliche Gäste der Nordpolarmeere in den ersten Monaten der warmen Jahreszeit sich im Atlantischen Ozean einfinden und schon manchem Schiffe verhängnisvoll geworden sind, entstehen dadurch, daß enorme Gletscher an Steilküsten über diese hinwegragen, abbrechen, ins Meer fallen, hier mit Packeismassen zusammenfrieren, wodurch die abenteuerlichen Formen entstehen, und dann ihre Wanderung gen Süden antreten, sobald die Polarmeere genügend eisfrei sind. Ihre Größe ist naturgemäß sehr verschieden. In den Atlantischen Ozean gelangen jedoch nur die mächtigsten dieser Kolosse, da kleinere inzwischen durch die Wärme des Meereswassers, der Luftschichten und der Sonnenstrahlen schmelzen, das heißt allmählich sich auflösen. Eisberge von vier Kilometer Länge und einer Überwasserhöhe von achtzig bis hundert Meter sind keine Seltenheit. Daß eine solche Eisinsel, die langsam, sich kaum merklich drehend, weiterzieht, sowohl die Temperatur der Luft als auch des Wassers in weitem Umkreise verändert, ist selbstverständlich. Plötzliches Sinken des Thermometers und Abnahme der Wärme des Wassers warnen daher das im Nebel oder in dunkler Nacht dahineilende Schiff zumeist rechtzeitig vor der Nähe eines solchen gefährlichen Wanderers. Auch das Brandungsgeräusch der Wellen, die gegen den Eiskoloß anrennen, ist eine Mahnung zur Vorsicht für den Seemann. Freilich – es können auch infolge besonderer Wind- und Strömungsverhältnisse diese Anzeichen wegfallen oder doch erst zu spät bemerkt werden. Welch’ furchtbare Katastrophen durch Eisberge angerichtet werden, lehrt am besten der Untergang des Riesendampfers „Titanic“, bei dem bekanntlich über tausend Menschen den Tod fanden, hier freilich durch die Schuld des englischen Kapitäns, der mit seinem Schiffe durchaus einen Rekord aufstellen wollte und ohne Rücksicht auf die Sicherheit der ihm anvertrauten Passagiere trotz der Meldung, daß Eisberge in der Nähe seien, mit voller Geschwindigkeit weiterfuhr. –
Nachdem Karl das Boot festgemacht hatte, wurden zunächst alle geborgenen Gegenstände weiter nach dem Innern an eine geschützte Stelle unterhalb eines Eishügels geschafft. Nur der Hühnerkäfig, in dem noch das arme ertrunkene Federvieh lag, mußte am Ufer bleiben, da er zu schwer war.
Inzwischen hatte der Knabe, der sich jetzt für der Spielgefährtin Wohl und Wehe für verantwortlich hielt, sich schon überlegt, wie er zunächst für eine Unterkunft sorgen solle.
Aus Tischen, Lukendeckeln und allem anderen vorhandenen, sich dazu eignenden Material stellte er eine Bretterbude her, die er mit der Ölplane, in die die Lebensmittel eingebunden gewesen waren, bedeckte. – Auf der weißen Insel war es kühl. Karl schätzte die Temperatur auf höchstens drei Grad Wärme. An Umhüllungen, um sich gegen diese rauhe Luft zu schützen, besaßen die beiden kleinen Schiffbrüchigen nur ihre Kleider, die Decke, die Trudi hatte umnehmen müssen, und den gelben Ölmantel, den der Knabe anhatte.
Jetzt mußte das Mädelchen über die Decke auch noch den Mantel ziehen, der natürlich ein Stück nachschleppte. Dann stellte Karl ihr einen Klappstuhl in die primitive Hütte, bei deren Bau weder ein Nagel noch Mörtel und Steine verwendet waren, deren Boden aber aus vier Lukendeckeln bestand, die also sozusagen Dielen besaß. Der Eingang führte unter den Beinen eines Tisches hindurch, so daß man nur kriechend in dieses „komische Häuschen“, wie Trudi es nannte, hineingelangen konnte.
Damit die Gefährtin ebenfalls Beschäftigung und Bewegung hatte, mußte sie jetzt die Lebensmittel in einer Ecke der Bude sorgfältig aufschichten: einige Büchsen Konservenfleisch, andere wieder gefüllt mit Gemüsen, anderthalb Brote, ein Säckchen Mehl, eine Blechdose voll Zucker, ein 2-Pfund-Päckchen Butter und eine große Tüte Zwieback.
Karl ging jetzt wieder nach der Bucht hinab, die von dem Eishügel, an dessen Fuß die Bude stand, etwa 150 Meter entfernt war. Ihm war nämlich ein Gedanke gekommen, wie er vielleicht für das Hüttchen einen Ofen herstellen könnte. – Der Hühnerstall hatte ein mit Blech benageltes Dach. Das Blech – es war starkes Zinkblech, ähnlich dem,[3] wie es auch bei dem Bau der Pontons Verwendung gefunden hatte – ragte vorn, wo die mit einem Drahtgitter bespannte Tür sich befand, weit zum Schutz gegen den Regen über.
Das Blech versuchte der Knabe nun loszulösen. Es war nur hier und da mit breitköpfigen, kurzen Nägeln auf die Bretter aufgenagelt. Mit der eisernen Spitze des kleineren Bootshakens gelang es ganz gut, die Nägel zu lockern, die Karl dann sorgfältig sammelte. So gewann er außer einigen vierzig Nägeln noch sechs Blechplatten, die zu einem Ofen, in die richtige Form gebracht, und zu einem Schornstein wohl genügen würden, wie er sich freudig überlegte.
Trudi war nicht wenig erstaunt, als er dann ein viereckiges Stück eines Bleches auf den Boden des Hüttchens in einer Ecke festnagelte, wobei er die Eisenspitze des großen Bootshakens, die er, die Stange in eine Eisspalte klemmend, losgebrochen hatte, als Hammer benutzte, und dann über dieser ersten feuerfesten Unterlage recht geschickt ein ofenähnliches Gebilde schuf, dem er sehr erfinderisch durch Draht, den er aus dem Gitter der Käfigtür erhielt, genügende Festigkeit gab. Freilich – ganz dicht geriet weder der Ofen noch das als Schornstein dienende Blechrohr. Als Karl aber ein Feuer mit Hilfe seines Luntenfeuerzeuges in dem neuen Ofen anzündete, entsprach dieser allen Erwartungen. Sehr bald war der niedrige, enge Raum angenehm durchwärmt, so daß man ganz behaglich das Abendessen einnehmen konnte, bei dem zunächst die Brote verzehrt wurden, die der Knabe für seine Hilfe in der Zwischendeckerküche geschenkt erhalten hatte.
Bei dem Mädelchen zeigten sich jetzt doch die Spuren großer Abspannung nach all den überstandenen Aufregungen. Sie wurde plötzlich sehr müde, und Karl beeilte sich, für sie ein Lager herzustellen, indem er von einem nicht mitbenutzten Tische die Beine abschlug, die Platte mit den Seitenleisten nach unten auf den Boden legte, um die Kälte des Dielenbodens etwas zu mildern, und von den Klappstühlen die dichten, festen Stoffsitze lostrennte, am Ofen trocknete und als Unterbett und Kissen verwendete. Die Decke gab ein gutes Zudeck ab, und Trudi war denn auch sofort eingeschlafen, nachdem sie dem kleinen Freunde die Hände gedrückt hatte.
Der Knabe selbst dachte noch nicht an Ruhe und Erholung. Trudi hatte während der Mahlzeit immer wieder so hoffnungsfroh davon geplaudert, daß ja spätestens morgen früh die Boote der „Hollandia“ da sein würden, um sie beide abzuholen. Und Karl war es sehr schwer geworden, seine inzwischen noch stärker gewordenen Bedenken gegen diese Annahme für sich zu behalten. Welche Enttäuschung würde es für das verwöhnte Kind abgeben, wenn sie erst einsah, daß ihre Hoffnung sich nicht erfüllte und eine ganz ungewisse Zukunft, ein Leben als Robinsons auf einem treibenden Eisberge vor ihnen lag …?! War es da nicht vielleicht besser, diese bestimmte Erwartung etwas zu dämpfen?! – Nein, Karl bekam es doch nicht über das Herz, gleich jetzt, wo man soeben gemeinsam einem drohenden Tode entronnen war, diese Illusionen in der Seele der Kleinen zu zerstören.
Er selbst dachte über ihre Lage ganz, ganz anders. Selbst wenn die Boote bald kehrtmachten, – von dem Dampfer würden sie keine Spur mehr entdecken, womit man ja auch nicht rechnen konnte. Und daß es den beiden Zurückgelassenen geglückt sein könnte, auf den Eisberg zu gelangen, daran würde niemand denken – niemand! Die Suche nach den Kindern würde man eben sicherlich nur deswegen unternehmen, um den Eltern und den Passagieren zu beweisen, wie man alles tat, um die Verschwundenen wiederzufinden.
Trotzdem wollte Karl aber an einer weithin sichtbaren Stelle am Ufer der weißen Insel die Stange des großen Bootshakens aufrichten und daran als Flagge ein paar Stücke des Gummimantels, der unten ohnehin ganz gut verkürzt werden konnte, befestigen.
Dies war seine nächste Arbeit. In der Nähe der Bucht fand er denn auch eine passende Stelle, wo der Fahnenmast aufgestellt wurde.
Es gab aber noch andere Gründe für ihn, die ihn veranlaßt hatten, heute auf Nachtruhe vorläufig zu verzichten. Gerade weil er voraussah, daß seiner Spielkameradin und ihm ein Robinsondasein bevorstand, dessen Zeitdauer und Ausgang völlig ungewiß war, mußte er alles tun, um ihre Lage nach Kräften günstiger zu gestalten. Und hierzu gehörte, daß er versuchte, womöglich noch mehr Gegenstände, die von dem gesunkenen Wrack inzwischen sich gelöst hatten und als leichter und beweglicher als der Eisberg diesem schneller gefolgt und vielleicht an dessen Rändern angespült waren, zu bergen. Deshalb machte er nun auch trotz seiner schmerzenden Hände den Ponton wieder flott und ruderte langsam um den Eisberg herum, stets scharf nach Strandgut (angetriebene Schiffstrümmer und Teile der Ladung) auszuspähen.
Die Nacht war windstill, und jene lichte Dämmerung, die im Sommer anstatt der Dunkelheit in diesen hohen Breiten herrscht, gestattete ihm, gleichzeitig auch etwas mehr als bisher von den Größenverhältnissen des Eisriesen zu erkennen. (In der Stadt Bergen in Norwegen, die etwa 8 Grad südlicher liegt als die Untergangsstelle der „Hollandia“, wird es zum Beispiel im Juli nie richtig dunkel, so daß nächtliche Straßenbeleuchtung sich erübrigt.)
Die Küstenbildung der weißen Insel war sehr unregelmäßig. Tiefe Buchten wechselten mit weit vorspringenden Halbinseln, flache Uferstrecken mit steil wie Mauern abfallenden Strandpartien ab. Jedenfalls betrug die größte Länge nach Karls Schätzung aber gut eine halbe Meile bei einer durchschnittlichen Breite von etwa dreitausend Meter. Ziemlich in der Mitte zog sich ein Höhenrücken mit phantastisch geformten Zacken, Spitzen und turmähnlichen Eisgebilden entlang.
Die Gesamtmenge dieser Eismasse mußte geradezu enorm sein. Darf man doch nicht vergessen, daß Eisberge stets nur mit ein Achtel ihres wahren Umfanges aus dem Wasser hervorragen, das heißt also, daß die weitaus größere Masse sich den Blicken entzieht. Gerade hierdurch entsteht ja auch für Schiffe die Gefahr, auf unterirdische Spitzen, die der Koloß vorstreckt, zu stoßen. –
Es war jetzt kurz vor Mitternacht, wie Karl auf seiner billigen Nickeluhr ablas. Die letzten Wolken hatten sich verzogen. Und als nun das Mondlicht den Eisriesen bestrahlte, verwandelte sich dieser in Wahrheit in eine Wunderwelt. Die höher gelegenen Teile schimmerten in einem zarten Hellblau, das in den beschatteten Stellen alle Farbenabstufungen von Blau durchmachte. Wie eine Geisterinsel erschien das weiße, majestätisch ruhig dahinziehende Eiland jetzt.
Karl besaß für einen Knaben sehr viel Sinn für Naturschönheiten. Er konnte sich nicht sattsehen an dieser wunderbaren, magischen Beleuchtung. – Aber die rauhe Wirklichkeit gemahnte ihn bald wieder an seine Pflicht.
Seine Vermutung, daß noch hölzerne schwimmfähige Gegenstände des Wrackes an die Oberfläche gestiegen und hier irgendwo angetrieben sein könnten, bewahrheitete sich. Noch zwei Lukendeckel, drei hölzerne lange Bänke vom Vorderdeck und kleinere Dinge fand er, bis die Ladung des Bootes fast zu groß für seine Kräfte war.
Erst als der Horizont im Osten schon mit blendender Helle den alsbaldigen Aufgang der Sonne anzeigte, landete er wieder an der alten Stelle der Bucht. In diesen Stunden hatte sich der Eisberg, wie Karl aus dem Stande der Sterne vorhin und aus der Richtung des Sonnenaufgangs feststellen konnte, wahrscheinlich zweimal um sich selbst gedreht. Während der Bootfahrt war ihm dies entgangen, da er die Gestade noch zu wenig mit ihren besonders kennzeichnenden Formen im Gedächtnis behielt, um die wiederholte Wiederkehr derselben Uferbildungen zu bemerken.
Er schaffte sofort die geborgenen Gegenstände in die Nähe des Hüttchens, nachdem er sich überzeugt hatte, daß seine kleine Gefährtin noch fest schlief. Dann fiel ihm ein, die toten Hühner dadurch vor dem Schlechtwerden zu schützen, daß er sie in eine schmale, tiefe Eisspalte legte. Er wollte eben alles, was als Nahrungsmittel zu verwenden war, auch ausnutzen, um mit den knappen Vorräten länger auszukommen.
Bevor er dann die Hütte wieder betrat, um sich nun ebenfalls zum Schlafe hinzustrecken, erlebte er noch das geradezu zauberhaft schöne Schauspiel des Sonnenaufgangs, der die blanken Spitzen und Schroffen der Hügel in allen Farben aufleuchten ließ, daß es schien, als ob die sämtlichen Kuppen dort aus klarem Glase bestanden.
Die Wärme in der primitiven Bude hatte dank der Öltuchplane, die diese vollständig einhüllte, gut vorgehalten. Er streckte sich daher auf den Boden hin, rollte den Ölmantel als Kopfkissen zusammen und war auch sofort eingeschlafen.
Als er erwachte, stand Trudi heiter und sorglos lachend vor ihm. Durch den Eingang kam eine blendende Lichtflut hinein: der Widerschein der Sonne, die die Eismassen traf und der so stark war, daß beinahe die Augen vor dieser Überfülle von Beleuchtung schmerzten.
„Langschläfer!“ rief das Mädelchen lachend. „Ich habe bereits einen weiten Spaziergang hinter mir. Wie wundervoll ist doch unsere Eisinsel, wie seltsam alles ringsum! Nie habe ich gedacht, daß es derartiges auf der Welt geben könne. Denke Dir, Karl, dort in den Hügeln gibt es einen richtigen See, angefüllt mit so klarem Wasser, daß man das Eis auf dem Grunde erkennt. Nur etwas finde ich nicht schön an unserem Eiland. Es ist überall so feucht und schlüpfrig. Und von den Anhöhen rinnen überall kleine Bächlein herab – überall, bilden hier und da Wasserlachen, um die herum das Eis schon ganz bröcklig ist.“
Karl warf den Ölmantel bei Seite und stand schnell auf. – Ach – wie schmerzten ihm aber die Knochen von dem harten Lager …! Als er sich jetzt den Rücken rieb, meinte Trudi verständnisinnig:
„Mir ist’s nicht besser gegangen …! Auch ich fühle, daß ich nicht in einem richtigen Bett geschlafen habe.“ Dann dachte sie schon wieder an etwas anderes. „Ich habe auch nach den Booten der „Hollandia“ ausgeschaut, aber nichts von ihnen entdeckt. Nun – meinetwegen könnten wir schon noch ein paar Tage hier bleiben, Karl. Ich finde es ganz lustig, die Robinsons zu spielen.“
Der Knabe atmete auf. – Unter diesen Umständen wird Trudi auch die Eröffnung, daß auf die Boote überhaupt nicht zu rechnen ist, sehr ruhig hinnehmen, sagte er sich. –
Dann frühstückten sie: Schiffszwieback und ein wenig Fleisch aus einer Konservenbüchse, die Karl geöffnet hatte. – Während sie aßen, erklärte er seiner Schicksalsgefährtin, daß man bis zum Abend sehr fleißig sein müsse, weil er beabsichtige, eine bessere Hütte an einer noch günstigeren Stelle mehr im Innern der weißen Insel zu bauen.
Trudi war ganz einverstanden damit.
Von ihrer jetzigen Behausung führte ein ziemlich ebenes Tal zwischen flachen Eiswänden in mehrfachen Biegungen bis nach dem Binnensee hin. Diesen Weg schlugen sie ein, um einen neuen Bauplatz zu suchen. Karl sagte sich sehr richtig, daß er die geplante Hütte nicht an einer Stelle errichten dürfe, wo infolge des allmählichen Schmelzens der Oberschichten des Eises sich Wasser ansammeln könnte. Daher entschied er sich auch für die flache Kuppe eines Hügels unweit des Binnensees. Dieser war etwa 400 Meter lang und 100 Meter breit. In seinem klaren Wasser spiegelten sich die blinkenden Höhen ringsum deutlich wider. – Die Eislandschaft hier war gerade infolge des Vorhandenseins dieses Wasserbeckens von eigenartigem Reiz. Eine schöner gelegene Stelle für ein Wohnhüttchen konnte man kaum finden, zumal kleine Berge in fast geschlossenem Kreise die Kuppe umgaben und den Wind abhielten, während das Schmelzwasser wieder bequem in den See abfließen konnte.
Das Hinaufschaffen der hölzernen Reichtümer der beiden Robinsons nach dem Bauplatz geschah mit Hilfe eines Schlittens, den Karl schnell zusammengenagelt hatte. Die nötigen Nägel gewann er aus dem Hühnerkäfig, den er auseinander schlug, wodurch er noch eine Anzahl von Brettern erzielte.
Karl besaß keinerlei Ehrgeiz als Baumeister. Das neue Häuschen war nichts als eine Bretterbude mit nach hinten etwas abfallendem Dach; sehr klein, sehr niedrig, aber sonst recht praktisch eingerichtet. Der Fußboden lag zum Schutze gegen die Nässe auf den von der „Hollandia“ stammenden Rettungsringen. Mancherlei anderes berücksichtigte der Knabe ebenfalls, was der eigenartige Boden der weißen Insel erforderte. Der Ofen wurde jetzt gleichzeitig als Herd eingerichtet, da man ja leere Konservenbüchsen als Kochgeschirre benutzen konnte. Die Spalten zwischen den aus Tischplatten und Brettern bestehenden Wänden lehrte Karl die kleine Freundin mit Korkstücken abdichten, die den übrigen Rettungsringen und den Schwimmwesten entnommen und mit des Knaben Taschenmesser zurechtgeschnitten wurden. Das Dach erhielt anstatt eines Belags von Teerpappe hier einen solchen von Öltuch.
Als der Abend anbrach, war man doch nur mit dem Nötigsten fertig geworden. Beendet wurde der Bau erst am folgenden Tage gegen Mittag. Dann aber enthielt er sogar schon einen kleinen Tisch, um den drei Klappstühle herumstanden, eine Art Schrank und zwei Betten, die freilich nichts als längliche, niedrige Kasten mit kurzen Füßen waren.
Auch die zweite Nacht hatte den beiden Kindern durch schmerzhafte Druckstellen am Körper gezeigt, wie notwendig es war, sich auf irgend eine Weise Polster oder dergleichen zu beschaffen.
Während des Mittagessens, das die kleinen Bewohner des Eisberges wegen des so gut gelungenen Hüttenbaues in besonders froher Stimmung einnahmen (es gab heute gekochtes Huhn. Das nötige Wasser hatte Karl durch Auftauen von Süßwassereis gewonnen), berieten sie eifrig, wo man nur eine geeignete Füllung für Bettunterlagen, die aus dem Stoff der Klappstühle von Trudi zusammengenäht werden sollten, herbekommen könne.
Schließlich sahen sie aber ein, daß alles Kopfzerbrechen hier nichts half. Gewiß – die Hühnerfedern langten zur Not zu einem Kopfkissen für Trudi. Aber damit war der Hauptübelstand der Lagerstätten noch nicht behoben. – Dann hatte Karl jedoch einen glücklichen Gedanken. Von der großen Ölplane war noch so viel übriggeblieben, um damit die Rahmen der Betten so benageln zu können, daß man nicht mehr auf dem harten Holz, sondern wie in einer Hängematte auf dem straff gespannten Öltuche lag. Das war schon ein großer Vorteil gegen früher.
Am Nachmittag dieses zweiten Tages ihres Robinsondaseins unternahmen die Kinder abermals einen Ausflug, jetzt aber möglichst am Rande des Eisberges bleibend, um wieder nach Wrackstücken ausspähen zu können.
So gelangten sie auch an eine breite Bucht, die jedoch nur durch einen verhältnismäßig schmalen Kanal mit dem offenen Meere verbunden war. Zu ihrer großen Überraschung fanden sie hier den niedrigen Strand mit einer Menge von Seehunden bedeckt, die offenbar den warmen Sonnenschein genießen wollten. Aber noch mehr sahen sie: Scharen von Möwen schwärmten hier umher, ließen sich oft auf die Eisfelsen nieder und erhoben sich wieder kreischend in die Lüfte. – Gewiß – einzelne Seevögel hatten den Eisberg in der Nähe des Binnensees wohl auch schon umschwärmt. Aber in solcher Menge waren sie dort doch nicht zu bemerken wie hier.
Beim Nahen der Kinder watschelten die Seehunde eilig zum Wasser, plumpsten hinein und schwammen dem gegenüberliegenden Ufer der Bucht zu, wobei nur ihre stumpfen Nasen über die Oberfläche hinausragten.
Nachdem die Bucht umgangen war, mußten Trudi und Karl eine Hochfläche ersteigen. Und hier machte erstere eine seltsame Entdeckung. Aus dem Eise ragte etwas wie ein eckiger Holzklotz hervor, der sich bei näherem Zusehen als die Ecke einer starken, eichenen Kiste entpuppte, deren anderer Teil in der Tiefe der hier undurchsichtigen milchigen Eismassen eingefroren war.
Ob man auf einem der schillernden Gäste aus den Polargegenden nämlich Gletscher- oder Süßwassereis oder aber Pack- oder Salzwassereis vor sich hat, verrät dem Kundigen schon die Farbe. Ersteres ist stets klar und durchsichtig, letzteres streifig, milchig und weicher.
Karl hatte einen lauten Jubelruf ausgestoßen, als erst feststand, daß es sich um eine Kiste handelte. Mit Hilfe seines Universalinstrumentes, der abgebrochenen Eisenspitze des großen Bootshakens, begann er nun sofort mit Feuereifer den Fund aus dem Eise herauszuhacken, wobei Trudi ihm mit dem kleineren Bootshaken, den der Knabe an Stelle einer Stoßwaffe gleichfalls mitgenommen hatte, wacker half.
Es war ein mühseliges Stück Arbeit. Die Kiste war zwar flach, aber recht lang und lag fast senkrecht nach unten zu. Doch die Hoffnung, in dem starken Eichenkasten für sie wertvolle Dinge zu finden, gab den Kindern stets neuen Ansporn.
Der Deckel der Kiste war, wie man nun feststellte, durch zwei verrostete Eisenhaken verschlossen. Dann lag die ganze Kiste frei. Aber Karl vergoß noch manchen Tropfen Schweiß, ehe er sie aus dem tiefen Eisloche herausgezogen hatte.
Endlich konnte man nachsehen, was sie eigentlich enthielt. Ihr Gewicht war ja recht vielversprechend.
Die Haken waren leicht zu öffnen. Karl schlug den Deckel zurück. Ein lederner Sack kam zum Vorschein, der das Innere fast ganz ausfüllte. Oben war eine Naht sichtbar, die dick mit einer fettigen Masse verschmiert war.
Der Knabe konnte seine Ungeduld nicht länger zügeln, nahm sein Taschenmesser und trennte die Naht auf.
Zu oberst fand man in dem Sacke ein vergilbtes Papier. Verwaschene Schriftzüge waren darauf zu sehen, aber nicht mehr zu entziffern. Weiter enthielt der Ledersack ein altertümliches Fernrohr, zwei Pistolen, drei Beile mit kurzen Stielen, drei Fäßchen und, abermals in einem Ledersack, zwei Vorderladergewehre, von denen das eine eine doppelläufige Schrotflinte war. Ganz unten schließlich lagen noch eine breite Schiffsaxt ohne Stiel und sechs Eisenspitzen für kleinere Harpunen.
Als Karl nun die Fäßchen aufschlug, fand er zwei davon mit steinhart gewordenem Schwarzpulver gefüllt, das dritte mit Schroten verschiedener Größe und einer Blechdose, in der Zündhütchen lagen.
Die stark eingefetteten Schußwaffen und eisernen Instrumente waren noch in tadellosem Zustande.
Kein Wunder also, daß Karl vor Freude jetzt ein lautes Hurra ausstieß.
„Trudi, ist das Pulver noch brauchbar, auch die Zündhütchen, so sollst Du schon morgen ein feines Möwendaunenkissen haben“, rief er vergnügt. „Für uns bedeutet der Inhalt dieser Kiste, die sicher einmal als Magazin von Polarfahrern irgendwo hoch im Norden niedergelegt und die nun nach langen Jahren mit unserem Eisberg südwärts gebracht worden ist, eine Bereicherung, wie sie geeigneter kaum sein kann. Denk’ Dir, – wir haben jetzt richtige Beile, eine Axt, Harpunen, Schußwaffen!! Das ist heute ein glücklicher Tag in unserem Robinsondasein. Den müssen wir uns merken.“
„Heute ist der 12. Juli“, sagte Trudi leise. „Mama hat ja heute Geburtstag. – Wahrhaftig – ich hätte mich nicht daran erinnert, wenn Du nicht eben diese Bemerkung gemacht haben würdest.“
Karl suchte diese Gedanken bei der kleinen, bisher so mutigen Gefährtin schnell zu verscheuchen.
„Komm’, Trudi, – holen wir sofort unseren Schlitten. Wir wollen die Kiste sofort nach unserer Behausung schaffen“, meinte er dringend. „Regnet es in der Nacht, so erleiden die Sachen Schaden. Das darf nicht sein.“ –
Zwei Stunden später hatte Karl bereits in der Hütte mit dem Messer das Pulver wieder gelockert und lud nun den einen Lauf der Schrotflinte, den er dann draußen abfeuerte, nur um festzustellen, ob das Pulver sich noch entzündete.
Der Knall des Schusses rief in den Eishügeln einen donnernden Widerhall hervor.
Trudi hatte sich mit den Fingern die Ohren zugehalten. Aber noch ehe der Feuerstrahl aus der Mündung fuhr, ließ sie mit erschrecktem Gesichtsausdruck die Arme sinken, fuhr bei der Detonation des Schusses erschreckt zusammen, rief dann aber sofort:
„Karl – Karl – dort – dort – – es sind zwei Eisbären, – sieh nur, sieh …!!“
Der Knabe blickte nach der angedeuteten Richtung hin.
Wirklich, … zwei Eisbären! Und was für mächtige Tiere …!! – Da zuckte ihm auch durch den Sinn, daß Steuermann Lüders ihm eines Tages an Bord der „Hollandia“ erzählt habe, wie er einmal im Atlantik einem Eisberge begegnet sei, auf dem sogar drei Eisbären auf einer vorspringenden Halbzunge offenbar Seehunden aufgelauert hätten und daß durchaus nicht selten diese nordischen Raubtiere auf einem treibenden Eisfelde oder -berge die Reise gen Süden wider ihren Willen mitmachten.
Karls erste Bestürzung legte sich schnell. Die beiden Bestien kamen vom Ufer des Binnensees her und waren noch einige hundert Meter entfernt.
Schleunigst schob der Knabe Trudi in die Hütte.
Zum Laden der Gewehre blieb ihm keine Zeit mehr. Und – gingen die Raubtiere, die vielleicht sehr ausgehungert waren, sofort zum Angriff auf das schwache Hüttchen über, so waren dessen Bewohner verloren.
Blitzschnell überlegte Karl sich das. Die aus einer Tischplatte bestehende Tür mit ihren schwachen Scharnieren, die vom Hühnerkäfig stammten, besaß ja nicht einmal ein Schloß, nur innen einen Holzriegel …! Und die beiden Fensteröffnungen in den Seitenwänden konnten auf die von außen einzufügenden Laden auch nicht stolz sein …! Diese Laden zu schließen, dazu war erst recht keine Zeit …!!
Mit einem Wort: Es stand geradezu verzweifelt um das Schicksal der beiden Robinsons, – falls Karl nicht Mittel und Wege fand, die Bestien zu verscheuchen.
Und er fand dieses Mittel, – das einzige, das es vielleicht gab.
Das kleinere der Pulverfäßchen stand noch draußen vor der Hütte auf der Eichenkiste. Der losgesprengte Deckel war nur lose aufgelegt. Karl ergriff das Fäßchen, lief damit einer Vertiefung zu, die etwa fünfzig Meter vor dem Häuschen lag, stellte es hier auf das Eis und rannte wieder zurück, holte das schon gerupfte Huhn, das es zum Abendessen geben sollte, und ein brennendes Holzscheit aus dem Ofen. Dieses löschte er aus, daß es nur noch glimmte, und stützte das Scheit, das an einem Ende durch das Huhn beschwert war, so auf das Eis, daß, wenn der gerupfte Vogel aufgehoben wurde, das glühende Ende des Holzstückes in das offene Fäßchen hineinfallen mußte.
Diese Mine war mehr wie unzuverlässig, was die Aussicht auf rechtzeitige Explosion anbetraf. Aber – gelang der Plan, so mußten die Bestien zum mindesten so erschreckt werden, daß sie eine Weile verstreichen ließen, ehe sie sich der Hütte zu nähern wagten.
Die Eisbären hatten inzwischen, wiederholt halt machend, eine Stelle erreicht, wo man sie nicht sehen konnte, da dort eine breite Spalte das Eis durchzog. Karl lud jetzt hastig beide Gewehre, indem er der verängstigt zur Tür hinauslugenden Freundin beruhigend zusprach.
Dann tauchte einer der Eisbären dicht bei der Vertiefung auf, in der das Pulverfäßchen stand. Vorsichtig schritt er sehr langsam darauf zu. Das Huhn schien ihn trotz des leicht qualmenden Scheites zu locken.
Auch von dem zweiten Raubtiere konnte man jetzt den Kopf und den Rücken bemerken. Es stand offenbar dicht vor der seltsamen Mine, wahrscheinlich auch nicht abgeneigt, den sauberen Vogel sich anzueignen.
Dann schoß plötzlich der oben stehende Eisbär, ein deutliches Brummen ausstoßend, mit einem halben Sprung auf den anderen zu. Futterneid trieb ihn vorwärts. Er gönnte dem Artgenossen die Abendmahlzeit nicht …
Das sollte beiden zum Verderben gereichen.
Die Bestie vor dem Fäßchen streckte schnell die Pranke aus, zog den Vogel an sich …
Ein Knall und ein Luftstoß folgten, die die Kinder, welche mit atemloser Spannung die Eisbären beobachtet hatten, zurücktaumeln ließen. Und die Kraft der Explosion genügte auch, um ein paar Bretter des Daches loszureißen und samt der aufgenagelten Ölplane fortzuschleudern.
Aber dies waren nicht die einzigen Wirkungen der in die Luft gehenden Pulverladung.
Die beiden Eisbären waren nach verschiedenen Richtungen hin meterweit fortgeflogen. Der eine lag jetzt vor der Hütte und suchte vergeblich wieder auf die Beine zu kommen. Der andere war in die Spalte nach dem See hin gefallen.
Karl war überzeugt, daß die Stichflammen der Explosion die Bestien geblendet hatten, ergriff jetzt die Kugelbüchse, deren Lauf mit fünf Rehposten geladen war, und jagte diese aus nächster Nähe dem jetzt halb liegenden, halb aufrecht sitzenden Eisbären von seitwärts in die Brust und erlöste wirklich schon mit diesem ersten Schusse das nicht nur erblindete, sondern auch sonst übel zugerichtete Tier von seinen Leiden. Auch die andere Bestie war tot. Der Sturz in die Spalte und die Stoßkraft des Pulvers hatten sie schnell verenden lassen.
Als die Kinder nun gemeinsam die doppelte Beute besichtigten, meinte Trudi bedauernd:
„Schade, daß die Pelze so stark versengt und durch die Pulverkörner so sehr geschwärzt sind. Die Felle hätten ein Paar feine Teppiche abgegeben.“
Karl erwiderte, er hoffe bestimmt, die langhaarigen, dichten Pelze, die doch nur am Kopf und am Halse beschädigt seien, durch Waschen wieder ansehnlicher machen zu können. – Tatsächlich gelang ihm dies auch, nachdem er die Tiere am folgenden Vormittag abgehäutet hatte.
In den nächsten drei Tagen ereignete sich nichts von Wichtigkeit. Nur das bisher ruhige, klare Wetter änderte sich mit einem Male. Regen und Sturm peitschten die Wasser des Atlantischen Ozeans und zwangen die Kinder, in ihrer Behausung zu bleiben. Der von Wogen umbrandete Eisberg verriet durch leichtes Schwanken, daß er in diesem Aufruhr der Elemente doch nicht seine Unbeweglichkeit bewahren konnte. Die Brandung schritt stets mit der Umdrehung des Eiskolosses vorwärts, da die Wellen stets neue Uferpartien trafen. Überall rieselte und rauschte es jetzt auch in verstärktem Maße in den Tälern, Klüften und Schlünden des schwimmenden Eiseilandes. Der Binnensee stieg schnell, – in zwei Tagen um gut zwei Meter. Dabei war die Luft und der niederrauschende Regen bei dem Südwinde so warm, daß die Eisschmelze schnelle Fortschritte machte. In den Hügeln krachten manche unterwaschene Spitze, manches riesige Eishorn zusammen, gingen in Trümmer und verstopften die Talausgänge, so daß die Wasser aufgestaut wurden und zahlreiche donnernde Fälle sich bildeten. Kurz: um die Hütte herum gab es ein ständiges Lärmen, als brande die See bis an den Fuß der Kuppe, auf der das Häuschen stand.
– – – – – – – –
Am dritten Morgen unternahm Karl dann einen kurzen Ausflug nach den Ufern des Binnengewässers. Hier fand er eine Stelle, wo dessen Wasser ein paar mächtige Eisblöcke bereits so weit unterspült hatten, daß jeden Augenblick an diesem Punkte ein Abfluß entstehen konnte, der den See größtenteils entleeren mußte.
Diese Katastrophe trat ein, als die Kinder gerade ihr Mittagessen einnahmen. Mit einem Knall, als würden zahlreiche Batterien auf einmal abgefeuert, drückte die Wassermenge des Sees die Eisblockbarriere in das dahinterliegende Tal, das sich bis zum Meere hinzog, hinab. Polternd, donnernd und brausend ergoß sich der Inhalt des Beckens abwärts. Die Gewalt der dahinschießenden Flut war so groß, daß sie alle Hindernisse auf ihrem Wege beseitigte und daß es wie ein Zittern durch den Eisriesen ging.
Die Kinder waren sofort ins Freie geeilt. Die Durchbruchstelle lag rechts von der Hütte, und das großartige Schauspiel des sich in das Meer jetzt entleerenden Sees war genau zu verfolgen, zumal der Himmel sich gerade aufgeklärt hatte und keine Regenschleier die Aussicht beeinträchtigten.
Der Boden des Binnensees bildete nun nicht etwa eine glatte, gewölbte Fläche, sondern zeigte überall Erhöhungen und Vertiefungen, war eben nichts als die Sohle eines großen, mit Eisblöcken bestreuten Tales, daß durch besondere Umstände mit Wasser angefüllt war. Wie dies geschehen, sei hier kurz erläutert. – Der enorme Wasserinhalt des Tales stammte nicht etwa lediglich von der allmählichen Eisschmelze her. Um die weite Vertiefung auf diese Weise zu füllen, dazu hätte der Eisberg sich schon monatelang in südlicheren Breiten aufhatten müssen. Nein, der größere Teil des Wassers dieses Binnensees war aus dem Meere geschöpft, ein Vorgang, der sich leicht durch die besonderen Eigenschaften der treibenden Eiskolosse erklären läßt.
Auf ihrer Wanderung nach Süden verkleinert sich der unter Wasser befindliche Teil der Eisberge durch Abschmelzen verhältnismäßig rasch, bis dieser Prozeß schließlich so weit gediehen ist, daß der Schwerpunkt der ganzen Masse sich ändert und ein mehr oder weniger vollständiges Umkippen stattfindet. – Auch bei der weißen Insel unserer kleinen Abenteurer hatte sich etwas Derartiges ereignet, das heißt, eines Tages war es dem Eisriesen eingefallen, das oberste zu unterst zu kehren. Dabei war dann eben das Tal, das bisher sozusagen im Wasser mit dem Kopfe nach unten gehangen hatte, bei der Verlegung des Schwerpunktes regelrecht vollgeschöpft worden, wie dies auch ein Löffel tut, den man erst mit der Wölbung nach dem Schüsselboden zu hält, dann dreht und gleichzeitig etwas über die Wasseroberfläche hinaushebt. –
Bereits nach zehn Minuten etwa hatte sich das Becken fast völlig entleert. Überall standen freilich noch Wasserlachen, und der tiefste Teil bildete auch noch einen kleinen Teich.
Karl hatte schon eine Weile scharf nach einer entfernten Stelle des jetzt trockenen Seebodens hingespäht, wo sich zwischen den hier besonders zahlreichen Eisblöcken ein paar dunkle Flecke hin und her bewegten.
Jetzt hatte er erkannt, um was für Tiere es sich handelte, denn Tiere konnten es ja nur sein.
Es waren Seehunde, – – Seehunde hier mitten auf dem Eisberge! – Noch nie hatte Karl bisher bemerkt, daß der Binnensee lebende Wesen barg. Und nun watschelten dort drüben wahrhaftig vier – fünf Seehunde umher, die offenbar durch das plötzliche Verschwinden des Wassers in größte Unruhe versetzt worden waren.
Als er Trudi nun auf die Tiere aufmerksam machte, rief sie sofort:
„Ich muß sie mir aus der Nähe ansehen!“ Und weg war sie.
Umsonst strengte Karl, nachdem er sich die beiden Gewehre aus der Hütte geholt hatte, seine Beine an. Trudi war doch früher an Ort und Stelle. Und der Knabe kam gerade noch zur rechten Zeit, um beobachten zu können, wie die Seehunde sich jetzt einer nach dem anderen in ein etwa vier Meter breites, unregelmäßig rundes Loch stürzten, zwischen dessen Eisblockeinfassung Wasser wie aus einer Quelle hervorsprudelte.
Als Karl nun das Loch erreicht hatte, besser gesagt eine Erhöhung dicht vor dem Loche, auf der auch schon Trudi stand, war von den Seehunden nichts mehr zu sehen. Weit mehr als diese gefräßigen Fischräuber interessierte den Knaben jetzt aber diese Öffnung in dem Eise, aus der mit anscheinend erheblichem Drucke so viel Wasser hervorquoll, daß ein stattlicher Bach sich murmelnd nach der Mitte des einstigen Sees hin verlor, um hier dann wieder, nachdem er sich in den noch verbliebenen Teich ergossen hatte, durch die Durchbruchstelle dem Meere zuzueilen.
Nachdem Karl eine Viertelstunde lang voller Interesse sowohl diesen unterirdischen Zufluß des früheren Wasserbeckens als auch die Wasserhöhe des Teiches genau beobachtet hatte, glaubte er eine Erklärung für die Tatsache gefunden zu haben, daß der Wasserinhalt des Teiches sich nicht weiter verringerte.
Das Eisloch, aus dem das Wasser hervorkam, mußte sich nach unten zu immer mehr erweitern und wie ein Trichter durch das ganze Massiv des Eisberges hindurchgehen. Obwohl durch die infolge des Verschwindens des Sees nun entstandene Gewichtsverringerung der aus dem Meere ragenden Teile des Eisberges dieser sich beträchtlich gehoben haben, das heißt noch weiter sichtbar geworden sein mußte, zeigte das aus dem Loche hervorquellende Wasser, daß der oberste Rand der Öffnung tiefer als die Meeresoberfläche lag, während durch den Abfluß des Teiches nach der See hin ein Gewichtsausgleich geschaffen wurde, der der eigenartigen Quelle ein vorläufiges Weiterbestehen sicherte.
Die Hauptsache aber blieb, daß Karl nun wußte, wie die Seehunde hier mitten auf die weiße Insel gelangt waren: durch das Eisloch, das höchstwahrscheinlich noch Abzweigungen besaß, die in geringer Tiefe den Eiskoloß durchzogen.
Trudi machte aus ihrer Enttäuschung über das Verschwinden der Seehunde kein Hehl. Sie meinte, die Wassersäugetiere müßten doch sicherlich bald wieder auftauchen. Erst als Karl ihr erklärte, daß hiermit wohl kaum zu rechnen sei, war sie bereit, wieder nach der Hütte zurückzukehren.
Nach dieser kurzen Periode unfreundlichen Wetters zeigte sich der Juli wieder ganz von seiner besten Seite. Der Knabe, durch das Erscheinen der Eisbären zur Vorsicht gemahnt, nahm jetzt regelmäßig auch bei Ausflügen in die nächste Nähe der Behausung die Gewehre mit. Aber mit den beiden weißen Polarräubern war – vorläufig – das schwimmende Eiland von gefährlichen Vierfüßlern befreit.
Das Leben der beiden kleinen Robinsons wäre nun ein leidlich angenehmes gewesen, wenn nicht zwei Umstände recht störend gewirkt hätten: einmal die jetzt von Tag zu Tag sich steigernde Ungeduld Trudis auf Befreiung von dem wandernden Eiskoloß, – eine Ungeduld die sich häufig in Tränen und Klagen Luft machte, und zweitens die Nässe des Bodens, die das Schuhwerk derart aufweichte, daß die Kinder trockene Füße kaum mehr kannten.
Nachdem das Mädelchen sich eines Tages stark erkältet hatte, sah Karl ein, daß hier irgendwie Abhilfe geschafft werden müsse. So wurde er denn Robbenjäger. Mit der Harpune lauerte er den scheuen Tieren auf und lernte er sehr bald, sie kunstgerecht zu erlegen. Aus den Fellen fertigte er Schuhe aus mehreren Lagen Haut an, die er mit Robbentran gut einfettete.
Als die Kinder vierzehn Tage auf dem Eisberg weilten, besaßen sie auch bereits sehr praktische Fellanzüge, die nur den einen Fehler hatten, daß sie nicht gerade angenehm dufteten.
Inzwischen war die weiße Insel, soweit Karl dies beurteilen konnte, kaum merklich nach Süden zu weiter gewandert, vielmehr nach Westen durch beständige Ostwinde abgedrängt worden. Der Knabe vermutete dies, weil in diesen zwei Wochen die Temperatur nicht zu-, sondern eher etwas abgenommen hatte. Nachtfröste gehörten jetzt zur Regel, und am Morgen war der Boden dann so spiegelglatt, daß man sich darauf nur mit Hilfe der breiten Fellschuhe halten konnte.
Es ist wohl selbstverständlich, daß Karl es auch nicht verabsäumt hatte, nach vorüberfahrenden Schiffen Ausschau zu halten. Aber das Meer war hier wenig belebt. Nur vier Dampfer und drei Segler sichtete er in weiter Ferne. Doch so nahe, um durch Rauchsignale die Aufmerksamkeit der Fahrzeuge zu erregen, kam keines von ihnen.
Dann aber trieben Wind und Strömung einen halb wracken Dampfer, ein wahres Totenschiff, in dieselbe Bucht hinein, in der die Kinder seiner Zeit die sich sonnenden Seehunde auf dem Ufereise überrascht hatten.
Von Stund an begann für unsere kleinen Robinsons ein anderer, weit aufregenderer Abschnitt ihres Einsiedlerdaseins auf dem schwimmenden Eiskoloß.
Anderseits brachte das Totenschiff ihnen aber auch die Befreiung. Mit Hilfe des einzigen Überlebenden des Dampfers „Texas“ gelangten sie glücklich in die Heimat zurück, wo man sie längst als tot betrauert hatte.
Ihre Erlebnisse bis zu ihrem Eintreffen im Hafen von New York sollen im nächsten Heft „Der Menageriedampfer“ geschildert werden.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Anmerkungen: