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Der Menageriedampfer

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Der Menageriedampfer.

 

W. Belka.

 

„Ich sage Ihnen, Landsmann, – dieses New Orleans ist ein ganz verwünschtes Nest! Nicht nur, weil sich hier so viele freche Farbige umhertreiben, vom Gelb des Kreolen bis zum Tiefschwarz des reinen Negers, was auf die benachbarten früheren Sklavenstaaten zurückzuführen ist, sondern hauptsächlich des Fiebers wegen. Und daß wir dieses hier nie ganz loswerden, daran ist der Mississippi mit seinem versumpften Delta schuld. Dort ist die Brutstätte aller möglichen Krankheitskeime, die uns der Seewind, nachdem er sich über dem Golfe von Mexiko genügend mit Feuchtigkeit gesättigt hat, mitbringt.“

Der alte Rob Dieter führte mit der knochigen braunen Hand das Rumglas zum Munde und nahm einen gehörigen Schluck.

Er saß mit dem jungen Steuermann Peter Larsen an einem kleinen Tische auf der mit einem Sonnensegel überdachten Veranda einer Kneipe in der Nähe des Hafens von New Orleans und hatte bereits das dritte Quart Rum vor sich, obwohl er mit dem Landsmanne, den er vorhin am Hafenbollwerk kennen gelernt hatte, kaum eine halbe Stunde in Bill Smousers Taverne weilte.

„Über das Fieber brauchen Sie nicht zu reden, mein Alter!“ meinte Larsen mit einem traurigen Lächeln. „Das habe ich hier am eigenen Leibe durchgemacht. Die zwei Monate Lazarettaufenthalt, die hinter mir liegen, habe ich ja gerade dem Gelben Fieber zu verdanken.“

Rob Dieter machte große Augen.

„Wahrhaftig – Gelbfieber?! Und Sie sind durchgekommen, Steuermann?“

„Wie Sie sehen …! Aber von mir ist dafür auch eigentlich nur noch das Skelett übrig geblieben.“

„Stimmt – stimmt! Überflüssiges Fett haben Sie nicht auf den Knochen, so wahr ich jeden Morgen erst vier Quart Rum brauche, ehe ich wieder ganz Mensch werde. – Hm, Landsmann, – und in diesem Zustande wollen Sie sich anmustern lassen …?! Den Dienst an Bord eines Schiffes halten Sie ja gar nicht aus!“

„Ich muß! Mein Geld ist alle. Und Verwandte oder Bekannte besitze ich nicht, die mir aushelfen könnten. Ja – ich muß, weil ich schleunigst zurück nach Deutschland will! Ich sehne mich nach der Heimat, nach deutscher Sauberkeit, Ordnungsliebe und Gründlichkeit. Amerika hat mir nie behagt, nie! – Aber – wo ich mich auch meldete, – kein Reeder, kein Kapitän wollte etwas von einem Steuermann wissen, der sich kaum erst auf den Beinen halten kann. Vorhin, als wir uns zufällig trafen und miteinander bekannt wurden, kam ich eben wieder von einem Heuerbureau. Auch dieser Gang war umsonst gewesen.“

Rob Dieter – eigentlich lautete sein Vorname Robert; der war ihm aber zu lang – schaute sinnend in sein Glas, das er langsam auf der Tischplatte hin und her schob.

„Steuermann, vielleicht hätte ich was für Sie“, sagte er dann. „Freilich – es ist ein elender Kasten von Dampfer. Aber – der Kapitän nimmt Sie an, wenn Sie nicht zu viel fordern – sicherlich! Ich selbst fahre nämlich auch mit der „Texas“ nach Hamburg, – nicht als Matrose, nein, als … Menageriewärter. Es ist mal was anderes, und den Beruf habe ich in meinem abenteuerlichen Leben merkwürdigerweise noch nicht ausgeübt. Sonst bin ich schon so ziemlich alles gewesen – vom Zeitungsverkäufer bis zum Kanalisationsarbeiter.“

Peter Larsen wurde aufmerksam.

„Also „Texas“ heißt der Dampfer?“ fragte er eifrig. „Könnten wir nicht mal an Bord gehen und sehen, ob der Kapitän zu sprechen ist? – Solche Dinge schiebe ich nicht gern auf die lange Bank. Ob’s ein alter Kasten von Schiff ist – das bleibt sich gleich. Bis Hamburg wird er ja wohl noch zusammenhalten!“

Rob Dieter schüttelte den Kopf.

„Gießen Sie die Eislimonade auf die Straße – oder ich begleite Sie nicht!“ brummte er. „Ich sage Ihnen nochmals: So ein labberiges Zeug ist nichts für einen Mann! Trinken Sie ein Quart Rum, damit Sie Farbe bekommen! Eine Leiche nimmt niemand als Steuermann an!“

Larsen sah ein, daß der Alte nicht so ganz unrecht hatte und bestellte sich ein Glas.

Aber wie stark stieg ihm nun das ungewohnte Getränk zu Kopf, – ungewohnt, da er in den zwei Monaten im Lazarett nie einen Tropfen Alkohol genossen hatte.

Er taumelte beinahe, als sie dann aufbrachen. Aber was die Gesichtsfarbe anbetraf, da hatte der Rum doch geholfen.

Die „Texas“ lag in einem schmalen Seitenarm des Hafens. – Larsen hatte Glück. Der Kapitän war anwesend. Und nach einer halben Stunde besaß der Dampfer einen neuen Steuermann.

Nun erfuhr dieser auch, daß die „Texas“ bestimmt war, eine amerikanische Menagerie zu einer Gastspielreise nach Europa zu bringen. Der größte Teil der Tiere war bereits im Zwischendeck verladen. Jetzt arbeiteten ein paar Zimmerleute auf dem Vorschiff nur noch an den Stützen und Schutzdächern für die Raubtierkäfige, die an Deck bleiben sollten und heute abend mit dem Ladekran auf den Dampfer gehoben werden sollten, dessen Besatzung recht zusammengewürfelt war. Sie bestand aus acht Leuten, wozu noch sechs Menageriewärter und der Dresseur der Raubtiere, ein Franzose, hinzukamen. Das sonstige Personal und der Besitzer der Tierschau wollten mit einem schnelleren Dampfer vorausfahren, um in Hamburg die nötigen Vorbereitungen für die spätere Rundreise durch Europa zu treffen.

Ein Zufall war’s, daß die „Texas“ dann an demselben Junitage 1908 den Hafen von New Orleans verließ, an dem auch der deutsche Schnelldampfer „Hollandia“ aus Bremen abfuhr. Beide Schiffe ereilte später ein ähnliches Schicksal.

* * *

Kurz bevor die „Texas“ ihren Liegeplatz verließ, traf von dem Besitzer der Menagerie noch für den Kapitän andere Order ein. Er sollte nicht geradewegs nach Hamburg gehen, sondern vorher noch die Niederlassung Frederiksdal an der Südspitze von Grönland anlaufen, um dort sechs Eisbären an Bord zu nehmen, die inzwischen für die Tierschau dort gefangen worden waren. Da dieser Abstecher bis hinauf in die Nähe des nördlichen Polarkreises beinahe eine Verdoppelung der ursprünglich angenommenen Fahrtdauer bedeutete, wurde auch die Heuer (Sold für die Besatzung) beträchtlich erhöht. Hieran lag nun freilich Peter Larsen sehr wenig. Er war bitter enttäuscht, daß die Heimkehr nach Deutschland auf diese Weise wieder um Wochen verzögert wurde, blieb aber trotzdem auf der „Texas“, da er fürchtete, so bald doch kein anderes Schiff zu finden, auf dem er anmustern konnte.

Die ersten zehn Tage ging auch auf der Reise alles gut. Das Wetter war günstig, und der alte Kasten von hölzernem Schraubendampfer kam leidlich vorwärts.

Das Leben an Bord war insofern für Larsen ganz interessant, als er Gelegenheit hatte, tagtäglich die verschiedensten Tiere zu beobachten und in ihren besonderen Gewohnheiten zu belauschen.

Dann aber erkrankte ganz plötzlich einer der Tierwärter, ein Mulatte, unter Erscheinungen, die dem deutschen Steuermann nur zu gut bekannt waren.

Larsen nahm daher auch den Kapitän, einen dem Whisky über Gebühr verfallenen Engländer, bei Seite und erklärte ihm, der Mulatte habe das Gelbe Fieber, an dem er selbst monatelang auf den Tod daniedergelegen hätte.

Der Kapitän, dreiviertel trunken wie immer, beschwor den jungen Deutschen, doch nur über diese Sache zu schweigen, sonst könne man damit rechnen, daß die ganzen übrigen Leute aus Angst vor Ansteckung in den Rettungsbooten sich davonmachen würden.

Jedenfalls merkte Larsen, daß der Engländer schon vorher gewußt hatte, welch’ furchtbarer Gast an Bord der „Texas“ gekommen war.

Das Gelbe Fieber ist eine wahre Geißel für so und so viele Häfen in heißen Ländern. Einmal erst als Epidemie auftretend, was meistens der Fall ist, läßt es sich schwer bekämpfen. Noch schlimmer wütet es aber an Bord von Handelsschiffen mit ihren ungenügenden sanitären Einrichtungen und bei dem engen Zusammenhausen einer Anzahl von Menschen. Daß Fahrzeuge, auf denen auf hoher See Gelbfieber ausbrach, ihre Besatzung bis zum letzten Mann verloren haben, ist sehr häufig vorgekommen. Richtige Totenschiffe waren es, die dann führerlos, von einem Pesthauch der Verwesungsgerüche umgeben, das Meer durchirrten. Trafen sie ein anderes Schiff und hat dieses erst festgestellt, welcher unheimliche Würger auf dem scheinbar verlassenen Segler oder Dampfer gewütet hatte, so suchte es schleunigst das Weite. War’s ein Kriegschiff, so nahm es sich das verpestete Fahrzeug als Zielscheibe für seine Geschütze und bohrte es in den Grund.

Meerestragödien hat das Gelbe Fieber hervorgerufen, deren furchtbare Einzelheiten in manchem Seeroman eine Rolle spielen. Und nun war dieser entsetzliche Dämon auch auf der „Texas“ eingekehrt! Kein Wunder, daß der Kapitän in seiner Verzweiflung fast weinerlich seinen Steuermann beschwor, diese Tatsache vor den übrigen Leuten geheimzuhalten. War es doch schon oft genug vorgekommen, daß eine Schiffsbesatzung trotz der Drohungen des Kapitäns ein Fahrzeug preisgegeben hatte, – davonruderte, um dem Verderben zu entfliehen.

Peter Larsen war für dieses Ansinnen jedoch nicht zu haben, machte vielmehr dem Engländer allerlei Vorschläge, wie man der Gefahr einer Weiterverbreitung der Seuche begegnen könne.

Da wurde der Trunkenbold grob, suchte den Deutschen einzuschüchtern.

„Sie sind’s gewesen, der mir das Gelbfieber mitgebracht hat – Sie allein, der eben erst aus dem Krankenhause entlassen war!“ brüllte er. „Und wenn ich dies den Leuten mitteile, schmeißen sie Sie über Bord! Ich warne Sie, sich in diese Angelegenheit …“

Er mußte sich unterbrechen, da Rob Dieter die Kajüte betrat. Der alte, rotnasige, verwitterte Bursche war ganz bleich.

„Käpt’n“, meldete er, „soeben ist noch ein Mann erkrankt. Und der Koch sagt, die beiden hätten das Gelbe Fieber, was ich ihm auch glaube, da die armen Kerle quittengelb aussehen.“

Der Engländer fluchte, wie dies nur ein Angehöriger der frommen Britennation vermag. Aber das half ihm wenig.

Als er jetzt an Deck rannte, da das Quietschen der Davitrollen ihm verriet, daß die Boote ausgeschwungen wurden, kam er gerade noch zur Zeit, um die Leute mit dem Revolver in der Faust wieder auf das Schiff zurückzujagen.

Von Stund an war es mit Zucht und Ordnung auf der „Texas“ vorbei. Die meisten an Bord waren jetzt beständig betrunken. Und der Kapitän lieferte ihnen willig die Branntweinfäßchen aus. Vertrat er doch wie so viele Seeleute den Standpunkt, daß Alkohol nicht nur ein Allheilmittel, sondern auch sozusagen eine Schutzimpfung gegen Ansteckung sei.

Und er schien hiermit recht behalten zu sollen. Die beiden Kranken starben zwar nach vier Tagen, aber weitere Fälle kamen nicht vor – zunächst nicht!

So verging abermals eine Woche.

Die „Texas“ hatte mittlerweile bereits die Bänke von Neufundland hinter sich gelassen und näherte sich langsam der grönländischen Küste.

Dann packte sie ein viertägiger Sturm, der sie weit nach Osten verschlug. Kaum hatte sich das Unwetter gelegt, als ganz plötzlich gegen Abend gleichzeitig drei Mann erkrankten.

Der unheimliche Würger war wieder da. Und diesmal blieb er an Bord. – Bisher waren die Tiere wenigstens notdürftig noch gefüttert worden, was in der Hauptsache Rob Dieter zu danken war, der, mochte er auch noch so viel Rum seinem Körper zuführen, stets seine gesunden fünf Sinne beisammen behielt und trotz all seiner Fehler ein stark ausgeprägtes Pflichtbewußtsein besaß. Man mußte es ihm lassen, daß er außer Peter Larsen der einzige blieb, der die Furcht vor der Ansteckung nicht durch stete Trunkenheit zu bekämpfen suchte. Im übrigen glich die „Texas“ jetzt wieder wie nach den beiden ersten Krankheitsfällen einem Schiff von Irrsinnigen. Die Heizer bedienten die Kessel nicht mehr. Das Feuer erlosch, die Schraube stand still. Die von dem Kapitän nach dem ersten Fluchtversuch der Leute halbzerstörten Boote machten einen zweiten derartigen Versuch unmöglich. Niemand fand auch mehr die Willensstärke, sie auszubessern.

Um die „Texas“ wenigstens steuerfähig zu halten, setzten Larsen und Rob Dieter ein paar Notsegel, ebenso wie sie sich auch um die Tiere kümmerten und abwechselnd das Steuer bedienten.

Die drei Mann starben schon am nächsten Abend. Das Gelbfieber schien es mit seinem Vernichtungswillen jetzt besonders eilig zu haben. In fünf Tagen lag die ganze Besatzung mit Ausnahme der beiden Deutschen und des Kapitäns danieder. Schon jetzt drangen wahre Pestgerüche aus dem Deckeingang zum Mannschaftslogis hervor. Die Gesunden hatten nicht daran gedacht, die Toten dem Meere zu übergeben. Sterbende und Leichen füllten die Leutekajüte. Larsen und der alte Rob, schon längst mit der disziplinlosen, trunkenen Besatzung zerfallen, hielten sich nicht für verpflichtet, auch hier zuzugreifen, zumal es gegen das Gelbfieber auf einem Schiff, wie die „ Texas“ es war, keine Rettung gab. Fehlten doch sämtliche Medikamente. Nichts dergleichen war vorhanden, nichts, obwohl die Seedampfer verpflichtet sind, einen Medizinkasten stets mitzuführen.

Wieder drei Tage später gab es auf der „Texas“ nur drei Lebende. Larsen, der infolge des eben überstandenen Gelbfiebers eine neue Ansteckung nicht zu fürchten brauchte, hatte schließlich doch aus Mitleid, ein essiggetränktes Tuch vor dem Munde, das Mannschaftslogis betreten. Das, was er dort zu sehen bekam, überstieg seine schlimmsten Erwartungen. Mit gesträubten Haaren, blaß wie der Tod, gelangte er wieder halb ohnmächtig an Deck.

Zu Rob Dieter sagte er nur: „Es ist grauenhaft … Alle sind gestorben, alle …“

Da schlossen sie den Eingang der Leutekajüte ab. Auch Larsen hätte sich um keinen Preis der Welt in das Massengrab dort unten nochmals hinabgewagt.

Als der Steuermann dann die Kajüte des Kapitäns betrat, um diesem das Furchtbare zu melden, fand er den Engländer, der seit Tagen auch nicht eine einzige Minute mehr nüchtern geworden war, mitten in der Kajüte liegend vor – mit quittengelbem Gericht, geschwollenen Gliedern und … einem Gebetbuche neben sich. Das war so recht bezeichnend für den Charakter dieses Mannes. Jetzt, wo der Tod seine Krallen nach ihm ausstreckte, besann er sich auf Gott.

Nur zwölf Stunden lebte der Kapitän noch. Den Leichnam warfen die Deutschen über Bord.

Inzwischen hatte die „Texas“, ganz wie der Wind umsprang, bald diesen, bald jenen Kurs genommen. Larsen hatte nicht die Zeit, sich auch noch um die Stellung der Segel zu kümmern. Er hatte ungefähr berechnet, daß man sich östlich der Insel Island befinden müsse. Und seine Hoffnung war, hier einem Fischdampfer zu begegnen, der Rob Dieter und ihn an Bord nahm – vielleicht! Und hinter dieses Vielleicht machte er ein großes Fragezeichen.

Am 17. Juli erkrankte dann auch der alte Rob. – Larsen pflegte ihn getreulich. Aber zu helfen war dem vielgereisten Abenteurer nicht mehr. Sein Lebensweg war zu Ende.

Gerade als der Steuermann die in ein altes Segel gehüllte Leiche seines letzten Gefährten am 18. Juli mittags dem Meere übergab, hatte die „Texas“ sich einem schon vorher am Horizont aufgetauchten Eisberge so weit genähert, daß Larsen eine an einer Stange befestigte seltsame, gelbliche Flagge erkennen konnte. Die Stange war dicht am Rande des riesigen, weißen Eiskolosses aufgestellt und bedeutete sicherlich, wie der Steuermann sich sofort sagte, ein Notzeichen von Schiffbrüchigen, die sich auf die schwimmende Insel aus Eis gerettet hatten. Weiter war ihm aber auch klar, daß er allein nicht länger auf dem Dampfer bleiben könne. Wie sollte er wohl für die Tiere sorgen, das Schiff steuern und sich selbst seine Mahlzeiten zubereiten …?! Das war unmöglich! Schon jetzt hatten die Raubtiere in den Käfigen auf dem Vorderdeck seit anderthalb Tagen kein Fleisch mehr erhalten, brüllten dumpf und drohend und waren offenbar infolge der Verwesungsdünste, die trotz der geschlossenen Tür aus dem Mannschaftslogis hervordrangen, in größte Aufregung versetzt.

Larsen suchte aus allen diesen Gründen, nachdem er den Raubtieren noch schnell einige Stücke des gedörrten, besonders zubereiteten Pferdefleisches in die Käfige geworfen hatte, die „Texas“ in eine Bucht des Eisriesen hineinzusteuern, die bei ziemlich engem Eingang sich nachher zu einem ausgedehnten Wasserbecken erweiterte. Dort gedachte er den Dampfer festzulegen, nach den Schiffbrüchigen den Eisberg – es war einer der größten, den der Steuermann je gesehen hatte, und maß gut eine halbe Meile bei nicht viel weniger Breite – zu durchforschen und mit diesen dann gegebenen Falles zu beraten, was weiter geschehen solle, um vielleicht die kostbare Tierladung der „Texas“ und das Schiff selbst zu retten.

Es sollte anders kommen. – Der Dampfer, von Larsen geschickt in die Bucht hineingebracht, hatte bei steifer Brise mit prall gefüllten Segeln so viel Fahrt, daß ein paar zu allem Unheil plötzlich sich einstellende Windstöße ihn mit einer von dem Steuermanne nicht vorhergesehenen Geschwindigkeit vorwärts-, und nach Durchquerung der Bucht auf eine unter Wasser sich vorschiebende Eisspitze jagten, die das Schiff schräg von vorn wie ein Rammsporn traf, ihm die Steuerbordwandung unter der Wasserlinie meterweit aufriß und sich schließlich in der Gegend des Maschinenraumes als riesiger Dorn in dem Leibe der „Texas“ festbohrte.

Gewiß – Larsen hatte, um die Schnelligkeit zu mindern, den Heckanker fallen lassen. Aber dieser faßte nicht, so daß der Anprall auf die Eiszacke stark genug war, um die beiden Masten der „Texas“ kurz über dem Deck umknicken zu lassen.

Als der furchtbare Stoß erfolgte, stand der Steuermann gerade in der Nähe des Mittelaufbaues, so daß er sich durch einen schnellen Sprung – halb war es ein Hineingeschleudertwerden! – durch die offene Tür in die Kapitänskajüte vor dem herabkrachenden Hintermaste schützen konnte.

Dann hörte er auch schon vom Vorderdeck her das wilde Toben der Raubtiere, deren Käfige sicherlich von dem anderen Maste getroffen worden sein mußten, genau so wie hier die über dem Mittelaufbau liegende Kommandobrücke schwer beschädigt worden war.

Plötzlich durchzuckte ihn ein heißer Schreck.

Wie nun, wenn die Käfige, die durch die Gewalt des Anpralles sicher gegeneinander geworfen waren, nunmehr so böse zugerichtet waren, daß die Tiere ins Freie gelangen konnten …?! – Ausgeschlossen war dies nicht.

Kaum hatte er sich diese neue Gefahr überlegt, als er auch schon die Kajüte verließ und die wenigen Schritte nach dem schmalen Gange hineilte, der den Mittelaufbau der Länge nach durchschnitt und die Verbindung zwischen Vorder- und Hinterdeck herstellte.

Ein einziger Blick von hier aus sagte ihm genug.

Die fünf Löwen aus dem größten Zwinger waren bereits herausgeschlüpft und machten sich gerade über das von Larsen offengelassene Pferdefleischfaß her. Auch weiter vorn rührte es sich. Dort hatten in einem Dressurkäfig sechs prächtige Exemplare von schwarzen Panthern gehaust. Nur das Dach dieses Behälters war eingedrückt. Aber das genügte den geschmeidigen Räubern. Ein schlanker schwarzer Tierkörper nach dem anderen kam zum Vorschein.

Der Steuermann hatte genug gesehen.

Und zu alledem hörte er noch durch das entstandene Leck das Wasser brausend sich in den Laderaum ergießen, merkte, daß der Dampfer sich immer mehr nach Backbord überlegte.

Hier gab es kein langes Zaudern. Er mußte das Schiff verlassen, und zwar sofort – sofort, wenn er eben nicht wollte, daß die Bestien ihn hier in einer der Kabinen des Mittelaufbaues belagerten.

Eilig zog er sich zurück, lief nach dem Heck und schlüpfte die Treppe hinab, die von der hinteren Luke nach unten führte. Die Luke zog er wieder zu. Er befand sich nun in tiefster Dunkelheit, tastete sich langsam weiter den Gang bis zum Zwischendeck hin, in dem das harmlosere Getier untergebracht war. Hier herrschte eine schwache Dämmerung, da durch die Bullaugen (runde Fenster mit sehr dickem Glas) nur spärlich Licht eindrang.

Die Luft im Zwischendeck war dick und geschwängert mit den scharfen Gerüchen all der Tiere, die man hier zusammengepfercht hatte: Affen, Papageien, kanadische Füchse, Gürteltiere und viele andere Arten, meist sehr wertvolle Exemplare, wie denn überhaupt die auf der „Texas“ verladene Menagerie nur sehr wertvolles lebendes Inventar besaß.

Larsen dauerten die Tiere von Herzen. Er wußte, daß sie dem Tode geweiht waren. Mit manchen hatte er geradezu Freundschaft geschlossen. Da war zum Beispiel ein Pavian, ein stattliches Männchen, das dem Steuermanne regelmäßig die Hand bittend entgegenstreckte, wenn dieser an dem Käfig vorbeikam. Larsen hatte ihn Moritz getauft, und der Affe hörte schon vollständig auf diesen Namen.

Sonst hatte Moritz stets sein Stückchen Zucker erhalten. Heute eilte sein Freund an ihm achtlos vorüber. Absichtlich schaute Larsen nicht hin. Er fürchtete fast, den verständigen, immer etwas traurigen Augen des Pavians zu begegnen.

Weiter kam er an den großen Kisten vorüber, in denen, in Decken gehüllt, die ungiftigen Riesenschlangen lagen. – Nun hatte er die Stelle im Vorschiff erreicht, wo eine viereckige Ladetür in der Schiffswand an Backbord etwa vier Meter über dem Wasserspiegel angebracht war. Er stieß sie auf und beugte sich hinaus.

Seine Vermutung traf zu. Die „Texas“ lag hier kaum drei Meter von dem Eisufer der Bucht entfernt, das ein paar Vorsprünge sogar bis auf anderthalb Meter bis an den Vordersteven vorstreckte.

Im Augenblick hatte Larsen an dem oberen inneren Riegel der Ladepforte ein Tau befestigt. Schon wollte er sich daran hinabgleiten lassen, als er wieder an Moritz, den Pavian, dachte. Der sollte nicht elend zu Grunde gehen …! Wenigstens nicht verhungern, falls der Dampfer nicht völlig sank.

Im Zwischendeck standen auch die Kisten mit der Nahrung für das Affenvolk. Der Steuermann öffnete sie und ließ dann Moritz frei. Der schwang sich sofort oben auf die Käfige und turnte dort herum.

Und wieder siegte bei Larsen das warme Herz für die Tiere. Mochten sie sich wenigstens hier im Zwischendeck noch einer halben Freiheit eine Weile erfreuen …!!

So eilte er denn von Käfig zu Käfig, machte die Türen auf und sorgte auch dafür, daß die Futtervorräte allen leicht zugänglich wurden. Nur die Füchse und noch ein paar andere nicht ganz harmlose Arten mußten bleiben, wo sie waren.

Dann erst dachte er an sich selbst, schwang sich an dem Tau außenbords beinahe bis zum Wasserspiegel hinab und setzte es nun in pendelnde Bewegung, bis er über einem der Eisvorsprünge schwebte. Geschickt verstand er hier festen Fuß zu fassen.

Sofort duckte er sich aber auch hinter einem nahen Eisblock zusammen, da über dem Relingrande des Vorschiffes soeben der Kopf eines der Löwen aufgetaucht war.

Dann hörte er ein furchtbares Gebrüll an Deck, dem gleich darauf jämmerliche Klagelaute folgten, die aber schnell wieder erstarben.

Larsen ahnte, was dort oben auf der „Texas“ geschehen war. Einer der Löwen hatte sicherlich einen Panther erwischt und nach kurzem, ungleichem Kampfe überwältigt.

Während der Steuermann jetzt den Zustand des Dampfers näher prüfte, insbesondere, ob dieser noch immer mehr sich füllte und sank, was jedoch nicht der Fall zu sein schien, erblickte er plötzlich in der offen gelassenen Ladepforte einen Pavian, der sich an dem herabhängenden Tau zu schaffen machte.

Wahrhaftig – es konnte nur Moritz sein. Und – kein Zweifel, nun schaute der kluge Affe zu ihm hinüber, sprang zum Zeichen seiner Freude in sehr komischer Weise auf dem Lukenrande hin und her und glitt dann mit einemmal an dem Hanfseile abwärts, setzte es in Schwingungen und landete ebenso geschickt wie vorher Larsen auf dem Eise.

Das Benehmen des Affen, der noch nie mit seinen vier Greifhänden so eisigkalten Boden berührt hatte, entlockte Larsen ein Lächeln. Kaum fühlte Moritz die Kälte, als er eine wütende Grimasse schnitt und einen Satz nach vorwärts tat, in der Hoffnung, so auf eine Stelle zu gelangen, die nicht in seinen Füßen und Händen diese unangenehme Empfindung hervorrief. Es blieb nicht bei dem einen Satz. Und dann überwand er einen noch in ihm schlummernden Rest von Scheu vor dem Menschen und schwang sich dem Steuermann auf die Schulter.

Peter Larsen war gerührt von diesem Beweis von Anhänglichkeit, streichelte Moritz, nahm ihn, da er noch immer hinter dem Eisblock hockte, auf die Knie, zog die warme Wolljacke, die er über der blauen, doppelreihigen trug, aus, und wickelte den Pavian bis zum Halse ein. Der Affe ließ sich diese Fürsorge ohne weiteres gefallen. Er hatte wohl schon gemerkt, daß es hier recht kühl war, und gegen Kälte war Moritz genau so empfindlich wie alle seine Artgenossen.

Nun erst schaute Larsen sich um und suchte einen Weg, der ihn, ohne daß ihn die Raubtiere bemerken konnten, weiter ins Innere der schwimmenden Eisinsel führte.

Moritz unter dem Arm schlich er geduckt von Eisblock zu Eisblock, bis er an eine Schlucht gelangte, die ihn mit ihren steilen, weißen Wänden völlig deckte.

Hier machte der Steuermann erst einmal einen Augenblick halt, schöpfte Atem, streichelte abermals den klugen, kleinen Gefährten und eilte dann weiter, indem er zusah, daß er die Richtung nach jener Stelle des Eisberges einschlug, wo er die seltsame gelbe Fahne bemerkt hatte.

Nach einer Viertelstunde erreichte er auch den betreffenden Punkt am Ufer des weißen Kolosses, erreichte ihn mit völlig durchnäßten Füßen, da der Mittagsonnenschein auf dem Eisberge in all den Tälern und Klüften seiner phantastischen Oberflächengestaltung eine Unmenge von Wasserrinnsalen hervorgerufen hatte, die entweder murmelnd sich zu größeren, nach dem Meere hin abfließenden Bächen vereinigten, oder aber tiefer gelegene Stellen in Tümpel und Teiche verwandelten.

Larsen sah nun, daß die Fahnenstange nichts anderes als ein langer Bootshaken war, von dem man die Eisenspitze abgebrochen hatte. Das Flaggentuch aber bestand aus zwei Streifen gelben Öltuches, die ohne Zweifel unten von einem Ölmantel von auffallend gelber Farbe abgeschnitten worden waren.

Von dieser merkwürdigen Fahne führte so etwas wie ein Pfad über das Eis nach einer engen Bucht hin, in der Larsen zu seiner Überraschung einen Ponton vorfand, der halb auf eine flache Uferstelle hinaufgezogen war und in dem außer zwei Paar Rudern noch eine kleine Harpune und ein paar Stricke lagen.

Der Ponton war ein plumpes, aus Zinkblech gefertigtes etwa fünf Meter langes Fahrzeug. Wie dieses Boot, das doch nur im Binnenlande bei Brückenbauten, Arbeiten an Flußregulierungen und so weiter gebraucht wird, hierhin gelangt sein könnte, war dem Steuermanne ziemlich unerklärlich. Jedenfalls aber bestätigte es seine Vermutung, daß auf dem Eisberg irgendwelche Schiffsbrüchigen hausten.

Auch hier lief etwas wie ein Pfad von dem Ponton ein Tal entlang auf die Eishügel zu, die die Mitte des weißen, treibenden Kolosses bildeten. Und in diesem Tale entdeckte Larsen auch weitere Anzeichen dafür, daß die schwimmende, glitzernde Insel bewohnt sei. Holzstücke lagen hier und da, auch Reste von Robben, deren Knochen wahrscheinlich Seevögel sauber abgenagt hatten.

Das Tal stieg allmählich an und mündete auf eine schmale, mit Eisblöcken übersäte Ebene. Es war ein wahres Labyrinth von schmalen, feuchten Gassen und Stegen, und Larsen atmete auf, als er aus diesem unübersichtlichen Eisgelände wieder heraus war.

Jetzt hatte er einen von Hügeln und spitzen Schroffen eingefaßten, tiefen Kessel vor sich, in dessen tiefstem Teile sich eine Ansammlung von Wasser befand, die wieder nach einer Seite hin einen Abfluß durch eine schmale, tiefe Spalte besaß.

Während Larsen hier noch regungslos dastand und mit entzücktem Blick die von den Sonnenstrahlen in leuchtende Diamanten verwandelten Eisspitzen und -zacken der kleinen Gebirgswelt ringsum betrachtete, fuhr er plötzlich zusammen.

Er hatte eine menschliche Stimme vernommen – einen lauten Ruf – – ein deutsches Wort:

„Trudi …“

Schnell wandte er sich nach links, machte dann einige Schritte, um einen kleinen Eishügel zu umgehen …

Nun verharrte er ganz regungslos auf demselben Fleck.

Dort zu seiner Linken auf einer flachen Kuppe stand etwas wie ein niedriges Häuschen aus Holz, eigentlich mehr eine Bretterbude mit nach hinten abgeschrägtem Dache. Und vor diesem Hüttchen stand ein Knabe, ein Gewehr am Riemen über der Schulter, in der Hand aber ein paar Möwen.

Und jetzt trat gebückt aus dem niedrigen Eingang des Häuschens ein Mädelchen heraus, ein Kind mit langen, dunklen Locken, die unter einem blauen Glanztuchhut hervorquollen …

Kaum 150 Meter war die Kuppe von der Stelle entfernt, wo Peter Larsen stand. – Er hatte gute Augen, sehr gute. So sah er denn, daß die Kinder – denn auch der Knabe konnte nicht viel älter als vierzehn Jahre sein – in Anzüge aus Robbenfellen gekleidet waren, daß sie plumpe Stiefel aus demselben Material an den Füßen und ihre Gesichter jene sonngebräunte Farbe hatten, wie sie die in den Eisregionen des Festlandes ebenso stark wirkende Bestrahlung durch das leuchtende Tagesgestirn auch den Hochtouristen bald verleiht.

Die Kinder sprachen eifrig miteinander. Und nun hob der Knabe, wahrscheinlich stolz auf seine Jagdbeute, die Möwen hoch empor.

Larsen erwartete, daß jeden Augenblick auch ein Erwachsener aus der Hütte heraustreten würde.

Aber niemand erschien. Der Knabe legte die Möwen jetzt auf eine Kiste, die vor der Hütte stand, nahm die Flinte von der Schulter und wollte in dem Häuschen verschwinden.

Da konnte der Steuermann seine Ungeduld doch nicht länger zügeln, rief ein lautes Hallo! hinüber und winkte den erschreckt herumfahrenden Kindern mit der Hand, in dem er sich gleichzeitig nach dem Hüttchen zu in Bewegung setzte.

Die beiden kleinen Bewohner des Eisberges kamen ihm zögernd entgegen. Der Knabe hatte die Flinte wie zur Verteidigung gegen feindliche Absichten des Fremden schußfertig unter den Arm genommen. Dann rief er, und aus dem Ton seiner Stimme merkte man gleichzeitig eine gewisse Unruhe, aber auch hoffnungsvolle Freude heraus:

„Halt! – Wer sind Sie?!“

Es waren wieder deutsche Worte, die des Steuermannes Ohr erreichten.

Und sofort entgegnete er:

„Anscheinend ein Landsmann von Euch, – wenn Ihr nämlich Deutsche seid!“

Nun erst waren die Kinder sicher, daß ihnen von dem fremden, blondbärtigen Manne in dem blauen Seemannsanzug und der Schirmmütze auf dem Kopf, der einen Affen so vorsorglich im linken Arm trug, keine Gefahr drohe.

Sie liefen auf den Steuermann mit froh erregten Gesichtern zu. Und dann gab es hier auf dem schwimmenden Eiskolosse eine Begrüßung zwischen drei Landsleuten, ein hastiges, freudiges Fragen und Antworten, daß Larsen ordentlich weich zu Mute wurde.

Im Triumph führten ihn die Kinder, die so viel Trauriges und Schweres erlebt hatten, nun nach ihrem Hüttchen. Larsen sah, daß dieses aus den verschiedenartigsten hölzernen Gegenständen zusammengeschlagen und daß das Dach mit einem Stück Öltuchplane überspannt war. Er mußte sich sehr bücken, um hineinzugelangen, staunte dann aber, wie behaglich es innen eingerichtet war.

Den Fußboden bedeckten zwei Eisbärenfelle. Im Hintergrunde stand an jeder der Seitenwände eine niedrige Lagerstatt; in der Mitte wieder ein Tisch, darum zwei Klappstühle, wie sie auf Dampfern gebraucht werden. Rechts neben der Tür erhob sich ein aus Zinkblech hergestellter und zum Kochen mitbenutzter Ofen, in dem noch ein Holzfeuer glühte.

Angenehm warm war’s in dem Häuschen, das in den Seitenwänden je eine Fensteröffnung besaß, die mit einem durchsichtigen Stoffe überzogen waren, – mit fettgetränkter Leinwand, die des Knaben Hemde geliefert hatte.

Nun erfuhr Larsen auch näheres über die Schicksale dieser beiden kleinen Robinsons, die auf der schwimmenden, weißen Insel bereits über zwei Wochen hausten.

Der Knabe hieß Karl Mießke. Einfacher Eltern Kind, hatte er mit diesen zusammen sich auf dem deutschen Dampfer „Hollandia“ auf der Fahrt nach Island befunden, als das Schiff im Nebel mit einem Eisberge zusammenstieß und bald versank. Dem Knaben war es gelungen, sich selbst und seine Spielgefährtin Trudi, die einzige Tochter des reichen Herrn von Herberstein, mit Hilfe des Pontons zu retten, indem er den Eiskoloß zu erreichen und hier aus allerlei Schiffsüberresten das Hütt[chen zu bauen gedachte. Anschließend hatten die Schiff]brüchigen[1] dann im Eise eine gut verschlossene Kiste mit verschiedenen ihnen sehr nützlichen Gegenständen gefunden, darunter auch zwei Vorderladergewehre, Beile, Harpunen und anderes. (Die Erlebnisse Karls und Trudis sind im vorhergehenden Heft „Auf leuchtendem Boden“ eingehend geschildert).

Während der Knabe, zum Teil mit etwas berechtigtem Stolz, ausführlich berichtete, wie er dies und jenes sozusagen aus dem Nichts geschaffen hätte, schloß Trudi mit dem Affen Freundschaft, den Larsen auf eine der Bettstätten gesetzt hatte.

Moritz ließ sich ruhig von dem Mädelchen den Kopf krauen, begann schließlich sogar mit ihr zu spielen, indem er sich ganz in die wollene Umhüllung einrollte, um dann plötzlich den Kopf blitzschnell herauszustecken und nach Trudis Händen zu haschen.

Als dem Pavian auch dies langweilig wurde, schlüpfte er ganz aus der wollenen Jacke heraus und machte eine Entdeckungsreise durch die Hütte, nachdem er zunächst Larsen auf die Schulter geklettert war und sich an den Kopf des Steuermannes angeschmiegt hatte, als wolle er auf diese Weise andeuten, daß er Larsen als seinen eigentlichen Herrn und Beschützer betrachte.

Durch diesen kleinen Zwischenfall wurde der letzte Überlebende der „Texas“ daran erinnert, daß der arme Moritz hier kläglich in kurzem verhungern müsse, da die Kinder lediglich Nahrungsmittel zur Verfügung hatten, die der Pavian verschmähte. Als Larsen nun auch seinerseits die Schreckenstage auf dem Menageriedampfer geschildert hatte, schloß sich hieran eine richtige Beratung, was nun zu geschehen habe. Der Steuermann, der längst eingesehen hatte, welch’ heller Kopf dieser frische, mutige Junge war, hätte sehr gern einen Teil der lebenden Ladung der „Texas“ gerettet, war aber noch nicht einig mit sich, wie er dies anfangen solle.

„Erörtern wir die Sache einmal Punkt für Punkt, lieber Karl“, meinte er zu ihm, dem er nicht verhehlte, wie sehr er dessen Tatkraft und praktischen Sinn anerkannte. „Die Gefahr der Ansteckung durch Krankheitskeime des Gelben Fiebers an Bord der „ Texas“ ist beseitigt, nachdem das Schiff, das bei der geringen Wassertiefe der Strandungsstelle nicht mehr weiter sinken dürfte, hier in der kalten Luft gelegen hat. Lehrt doch die Erfahrung, daß das furchtbare Gelbfieber eine rein tropische Krankheit ist, die in kälteren Gegenden sehr schnell erlischt und nie epidemisch wird. Wir könnten also die „Texas“ ruhig betreten. Dort lauern auf uns nun aber andere Gefahren: die Raubtiere, die aus ihren halbzertrümmerten Käfigen entwichen sind. So schade es auch ist, sie abzuschießen, so werden wir doch nicht darum herum kommen. Ich finde jedenfalls kein anderes Mittel, uns vor ihnen zu sichern. Sind wir erst unumschränkte Herren des Schiffes, so läßt sich das übrige Getier leicht erhalten. Ich rechne nämlich mit Bestimmtheit darauf, daß wir demnächst einem Fahrzeug begegnen werden, welches uns Hilfe bringt. Dies kann vielleicht schlimmsten Falles noch zwei Wochen dauern. So lange wird unser Eisberg sicherlich noch zusammenhalten und auch keine Neigung zeigen, etwa nach Veränderung des Schwerpunktes durch Abschmelzen seiner unteren Teile umzukippen, was diese Gäste aus dem hohen Norden nur zu gerne tun, nachdem sie einige Zeit wärmere Meeresteile durchwandert haben. Ich bin einmal vor zwei Jahren Zeuge einer solchen Umlagerung eines Eiskolosses geworden, den wir weiter nach den Neufundland-Inseln zu antrafen. Jener Eisberg, der nicht viel kleiner als unsere weiße Insel war, zeigte schon von weitem durch sein Schwanken an, daß er nicht mehr ganz fest auf den Beinen war, d. h., daß der unter Wasser befindliche Teil zu einer glatten Fläche abgeschmolzen war und kein genügendes Gegengewicht mehr gegen die hochragenden Überwasserteile bildete. Plötzlich trat dann für den Eisriesen die Katastrophe ein: er verlegte von selbst seinen Schwerpunkt, die ganze gewaltige Masse kam ins Rollen und die bisherige Unterseite blieb dann als neue Oberfläche über Wasser. Durch diese Bewegung des Kolosses entstanden Wogen, die unser Schiff wild hin und her warfen. – Wie gesagt, unser Eiseiland hier schwimmt noch so ruhig und sicher, daß ein ähnlicher Vorgang bei ihm fürs erste nicht zu befürchten steht. Wir werden uns also nicht etwa umsonst die Mühe machen, die Tiere am Leben zu erhalten, die ja, falls eine solche Katastrophe in kurzem sich ereignete, ebenso wie wir selbst elend umkommen würden.“

Karl, der schon sehr begierig war, die „Texas“ sich aus nächster Nähe anzusehen, schlug nun vor, man solle doch in dem Ponton das Wrack besuchen und an Ort und Stelle dann weitere Entschlüsse fassen. Trudi müsse natürlich inzwischen hier in der Hütte bleiben. Für sie sei ein solcher Ausflug nichts. Außerdem hätte sie ja auch auf den Pavian aufzupassen.

Das Mädelchen war ganz einverstanden. Moritz war schon sehr zutraulich geworden und ließ sich jetzt mit Zwieback füttern, von dem die Kinder noch einen winzigen Vorrat besaßen.

Bevor Larsen und Karl aufbrachen, schärfte der Steuermann der kleinen Trudi noch ein, während der Abwesenheit ihrer männlichen Beschützer die Hütte nicht zu verlassen, da es nicht ausgeschlossen sei, daß vielleicht einer der schwarzen Panther von dem Wrack auf das Eis gelange, um hier auf Raub auszugehen. – Trudi versprach ganz folgsam zu sein und verriegelte dann auch die Tür hinter den Abziehenden.

* * *

Eine halbe Stunde später näherte sich der Ponton mit den beiden Gefährten, die jeder mit einem Gewehr bewaffnet waren und außerdem noch drei Harpunen mitgenommen hatten, der „Texas“.

Der Dampfer hatte inzwischen seine Lage nicht verändert. Da der Wind inzwischen nachgelassen hatte, war die Oberfläche des Wassers so glatt, daß man bis auf den Grund sehen konnte. Die „Texas“ stützte sich mit dem Heck auf einen Eisblock, während das Vorschiff sich zwischen zwei anderen Blöcken festgekeilt hatte. Außerdem wurde sie noch durch die in die Steuerbordwand eingedrungene Eiszunge gestützt.

Vom Ponton aus war von den Raubtieren, die Herren des Decks waren, nichts zu bemerken. Die Reling der „Texas“ hatte eine beträchtliche Höhe und ragte selbst über die Köpfe der Löwen hinaus. Deshalb ruderte man das Zinkblechboot jetzt auch leise an dem Wrack vorüber und legte am Eisufer der Bucht in der Nähe einer leicht zu ersteigenden Anhäufung von Blöcken an, die Larsen erkletterte, um von diesem erhöhten Standpunkt aus einen Überblick über das Deck zu gewinnen.

Drei Löwen lagen vor dem Mittelaufbau in der Sonne und ließen sich durch die warmen Strahlen behaglich bescheinen. Weiter nach dem Vorschiff zu waren die halbzerfleischten Körper von zwei Panthern zu sehen. Von den übrigen Bestien war nichts zu bemerken. Es fehlten also zwei Löwen und vier Panther. Möglich daß sie sich wieder in die durch den stürzenden Mast beschädigten Käfige zurückgezogen hatten.

Obwohl Larsen sich auf seinem Beobachtungsposten gut gedeckt gehalten hatte, mußte ihn doch einer der Löwen erspäht haben. Das mächtige Tier, ein Berberlöwe mit rostbrauner Mähne und riesigem Kopf, war plötzlich aufgestanden und kam langsam nach vorn, sprang dann mit einem Satz auf das über die Reling hinausragende Schutzdach der hier aufgestellten Käfige und äugte, mißtrauisch, mit dem Schweif hin und her pendelnd, zu dem Steuermann hinüber.

Larsen hatte sich jetzt ganz hinter den Eisblöcken zusammengeduckt. Als er nach einer Weile wieder den Kopf hob und nach der „Texas“ hinüberblickte, war der Löwe auf dem Schutzdach noch weiter vorgedrungen und stieß nun ein dumpfes Brüllen aus, das auch die beiden anderen sich sonnenden Tiere alarmierte.

Ein längeres Verweilen auf dem Eishaufen hatte keinen Zweck. Larsen eilte daher wieder nach dem Boote, welches dann dicht unter den geschwungenen Bug auf Backbord gebracht wurde, wo es den Blicken des Löwen oben entzogen war.

Aus der Ladepforte hing noch das Tau herab. Larsen hatte schon vorher dem Knaben Bescheid gesagt, daß man für den Pavian Futter mitnehmen wolle. Als er nun mit einem kurzen: „Warte auf mich, ich bin gleich wieder zurück“ in das Zwischendeck hinaufklettern wollte, hielt ihn Karl jedoch zurück.

„Herr Steuermann,“ flüsterte er, „mir ist inzwischen eingefallen, wie wir die Raubtiere ohne Gefahr für uns in die Käfige zurückjagen könnten. Wenn wir zwei lange Kesselschürstangen nehmen und am Hakenende dicht mit ölgetränkter Putzbaumwolle umwickeln, so müßte das ein Paar Fackeln geben, vor denen die Löwen vielleicht in ihren Käfig zurückweichen dürften, den wir dann mit bereitgehaltenem Material ausflicken müßten.“

Die Idee war gut. Das sah Larsen sofort ein. Es fragte sich nur, ob man noch in den Maschinenraum würde eindringen können. Aber versucht sollte es jedenfalls werden.

Nachdem der Ponton an dem herabhängenden Tau befestigt worden war, kletterten sie nun beide in das Zwischendeck hinauf. Hier sah es in dem langen Gange zwischen den Käfigreihen ziemlich wild aus. Die Affen und die Papageien – unter letzteren gab es viele sehr kräftige Kakadus – schienen sich eine Schlacht geliefert zu haben, bevor sie sich dahin einigten, friedlich nebeneinander zu leben. Federn, Haarbüschel und Stroh aus den Tierbehältern waren überall umhergestreut. Im übrigen saß die ganze, buntgemischte Gesellschaft oben auf den Käfigen und geriet nun beim Erscheinen der beiden Menschen in wilden Aufruhr.

Karl hätte sich zu gern ein wenig länger in diesem interessanten Raum aufgehalten. Aber Larsen drängte zur Eile. Ihn beschäftigte nebenbei noch die geheime Sorge, daß die fehlenden Panther und Löwen vielleicht auf den Eisberg gelangt sein und den Weg nach dem Hüttchen finden könnten; er würde erst wieder beruhigt sein, wenn er sich an Deck persönlich überzeugt hätte, wo die Tiere eigentlich steckten.

Der Eissporn war, wie schon erwähnt, gerade in der Gegend des Maschinenraumes wie eine riesige Nadel, auf die die „Texas“ sich aufgespießt hatte, eingedrungen. – Larsen sah sofort, daß der Weg zu den Feuerungsanlagen, wo man die Schüreisen holen wollte, versperrt war. Dann besann er sich aber auf die in den Achterräumen (achtern, hinten) verstaute sonstige Ausrüstung der Menagerie. Dort mußte es doch sicher ebenfalls lange eiserne Reinigungsstangen für die jetzt auseinander genommenen Raubtierdressurkäfige geben.

Eine Laterne war bald gefunden, und dann auch wirklich das Gesuchte: Eisenstangen, die nicht allzu schwer waren, so daß auch der Knabe eine davon handhaben konnte.

Die Umwickelung mit allerlei ölaufsaugenden Stoffen und das Tränken mit Petroleum nahm ebenfalls einige Zeit in Anspruch. Dann begaben die beiden Gefährten sich zu der Luke, durch die Larsen ein paar Stunden vorher unter Deck gelangt war. Sehr leise und vorsichtig hob der Steuermann den Lukendeckel an. Das Achterdeck war leer. Also schnell hinaus ins Freie. Gleich darauf flammten auch die beiden schweren Riesenfackeln auf, deren schwarzen, beizenden Qualm der kaum merkliche Luftzug nach Backbord hinübertrieb.

Karl stöhnte doch etwas unter der Last der Eisenstange. Aber er biß die Zähne zusammen. Hier durfte er nicht „schlapp machen“ …!

Möglichst lautlos drangen die beiden in Richtung auf den Gang des Deckaufbaus vor. Diese enge, überdachte Gasse mußten sie schnell passieren, um nicht in dem Qualm zu ersticken. Dicht vor dem Gange angelangt, erblickten sie nun auch den ersten Löwen. Das majestätische Tier kam gemessenen Schrittes von den Käfigen her, blieb bei den toten Panthern stehen und beschnupperte sie. Nun hob sich der mächtige Kopf wieder in die Höhe, nun hatten die großen Augen die lodernden, qualmenden Brände und dahinter die Menschen erblickt.

„Vorwärts!“ raunte Larsen dem Knaben zu.

Der Gang war gerade breit genug, um beide nebeneinander durchzulassen. Im Augenblick hatten sie ihn durchschritten, blieben nun stehen und überschauten das Vorderdeck.

Die beiden sich noch immer sonnenden Löwen waren hochgeschnellt und zurückgewichen. Man merkte, daß ihnen die roten Flammenzungen und der schwarze Rauch Schrecken einflößten.

Einen Moment legten Larsen und Karl die Fackeln auf die Deckplanken, nahmen die Gewehre von der Schulter und stellten sie an die Wand des Aufbaues, nachdem sie die Hähne gespannt hatten. Dann rückten sie weiter vor. Die Löwen wurden immer unruhiger, liefen hin und her, zogen aber doch nach dem Vorschiff zurück.

Jetzt mußte es sich entscheiden, ob der Plan gelingen würde. Der dunkelgefärbte Berberlöwe schien am ängstlichsten zu sein. Larsen wußte, daß er dem Dresseur stets tadellos gehorcht hatte und an französische Kommandos gewöhnt war. Ihm kam ein guter Gedanke.

Scharf und befehlend rief er daher dem Tiere zu:

„Hektor – allons, couche-toi!“ (vorwärts leg’ dich nieder!)

Der Löwe stutzte, blickte zurück. Dann schwenkte er nach rechts ab und drängte sich zwischen Gitter und Käfigwand, an der durch den stürzenden Mast hier zwei Bretter herausgeschlagen waren, in den Käfig hinein.

Dieses Beispiel half. Auch die beiden anderen Tiere verschwanden in der Öffnung.

„Schnell nach!“ rief der Steuermann. Und gleich darauf versperrte auch schon seine Fackel diesen Ausweg aus dem Käfig, der sich leicht wieder schließen ließ, da die starken, innen mit Eisenblechstreifen benagelten Bretter nach außen herausgedrückt waren.

Die drei Löwen hatte man also sicher.

Nun wurden die anderen Käfige mit aller Vorsicht in Augenschein genommen. Die Raubtiere – Leoparden, Pumas, zwei graue Bären und kleinere Arten – waren bis auf die beiden Löwen und die vier Panther vollzählig da. Der Pantherkäfig mit dem eingedrückten Dach war leer. Nun schwand also auch der letzte Zweifel, daß die Bestien tatsächlich auf den Eisberg hinübergelangt waren.

„Wir müssen sofort nach der Hütte“, meinte Larsen. „Ich wäre froh, wenn wir Trudi erst heil vor uns sähen!“

Da packte auch Karl die Angst. – Im Nu waren sie wieder im Ponton und ruderten nach der kleinen Bucht, dem ständigen Liegeplatze des Zinkblechbootes. Von dort war es zu dem Häuschen am nächsten.

Jeder mit einer Harpune außer dem Gewehr in der Hand eilten sie über das bröcklige Eis das Tal hinan den Hügeln zu.

Jetzt lag das Hüttchen vor ihnen. Ringsum keine Spur von einem Raubtier. Die Tür war geschlossen, und aus dem runden Blechschornstein stieg ein wenig Rauch friedlich in die Luft.

Karl stieß einen gellenden Trillerpfiff aus, indem er den gekrümmten Zeigefinger in den Mund steckte.

Auf dieses bekannte Begrüßungssignal öffnete Trudi die Tür und trat ins Freie. Und dem Steuermann und dem Knaben fiel ein Stein vom Herzen.

Das Mädelchen war sehr enttäuscht, daß die beiden Gefährten für Moritz nichts mitgebracht hatten.

„Er schläft jetzt. Sobald er aufwacht, wird er Hunger haben. Zwieback schmeckt ihm nicht. Ihr wolltet doch Bananen und Feigen holen.“

Als sie dann hörte, wie es jetzt mit der Sicherheit auf der weißen Insel stand, meinte sie:

„Ihr müßt also schnell die Löwen und Panther totschießen. Moritz darf doch nicht hungern.“

Larsen strich dem Kinde lächelnd über die dunklen Locken.

„Moritz soll seine gewohnte Kost haben, auch ohne die vorherige Beseitigung der vierbeinigen neuen Gäste. Diese Jagd stellst Du Dir wohl einfacher vor, als sie es in Wirklichkeit ist, Trudi. Vergiß nicht, daß wir nur Vorderladergewehre haben, deren Treffsicherheit ich …“

Plötzlich unterbrach er sich, um lebhafter fortzufahren:

„Nein, daß ich auch daran nicht gedacht habe …!! Auf der „Texas“ befinden sich ja in der Kabine des Dresseurs zwei moderne Hinterlader und ein paar Revolver …!! Also ein Grund mehr, daß wir drei sofort wieder nach dem Dampfer aufbrechen. Der Pavian kann auch mit. Du wirst ihn ja gern tragen, nicht wahr, Trudi?“

So kam es, daß auch das Mädelchen das Wrack sich schon heute ansehen konnte, freilich nur vom Boote aus, da Larsen dieses Mal die Kinder nicht mit an Bord nahm. Er wollte sie nicht unnötig der Gefahr einer Ansteckung aussetzen.

Jetzt ließ er sich genügend Zeit, um nicht nur die Schußwaffen des Dresseurs zu holen, sondern auch sowohl den Raubtieren als den Bewohnern des Zwischendecks Futter und Wasser zu geben. Besonders die Affen hatten im Zwischendeck mit den Vorräten, deren Behälter Larsen ja geöffnet hatte, bösen Unfug getrieben, viel umhergestreut und mutwillig verdorben. Ein Glück, daß dieser Vergeudung nun gesteuert wurde.

Der Steuermann begann daher das Verschüttete zusammenzulesen, eine Arbeit, bei der die Musikbegleitung durch das Gekreisch der Papageien und das Schnattern der Affen gebildet wurde. – –

Die Kinder saßen derweil in dem Boot, das unterhalb der Ladepforte wieder festgemacht war, und plauderten von diesem und jenem.

Die verschiedenartigen Tierlaute auf dem Zwischendeck drangen undeutlich auch bis zu ihnen hin und verstärkten noch Trudis Sehnsucht, das Menagerieschiff auch näher zu besichtigen.

Karl sah nach der Uhr. Nun war Larsen bereits [eine][2] Dreiviertelstunde an Bord der „Texas“. Und gut zwanzig Minuten war es her, daß er den Kindern aus der offenen Pforte zugerufen hatte, er müsse notwendig die Vorräte wieder einsammeln, die die Affenbande verschüttet habe.

Trudi merkte, daß ihr Kamerad mit einemmal sehr still wurde.

„Was hast Du nur, Karl? Du machst ja ein so nachdenkliches Gesicht?“ meinte sie, dem wieder in die Wolljacke eingehüllten Pavian, der auf ihrem Schoße lag, den Hals krauend.

„Ich … ich ängstige mich so etwas um Larsen“, erwiderte der Knabe zögernd. „Man hört und sieht nichts mehr von ihm. Ich möchte beinahe ins Zwischendeck hinaufsteigen und mal nach ihm sehen. Vielleicht ist ihm etwas zugestoßen.“

„Oh – dann komme ich mit! – Bitte, bitte, Karl, Du darfst mir das nicht abschlagen …!“

„Du weißt, Larsen will nicht, daß wir zwecklos an Bord gehen, Trudi“, meinte der Knabe fest. „Du bleibst also im Boot.“

Früher war Trudi von Herberstein ein sehr verwöhntes, eigenwilliges Kind gewesen. Und auf der untergegangenen „Hollandia“ hatte sie sich oft genug mit Karl gezankt. Aber die furchtbare Schiffskatastrophe und das Robinsonleben auf dem Eisberg hatten sie gründlich gebessert.

Daher fügte sie sich jetzt auch ohne Widerrede.

Karl turnte an dem Tau in die Höhe, kroch durch die Pforte in das dämmerige Zwischendeck und schaute sich nach Larsen um. Ihm fiel hier sofort auf, daß die Papageien und Affen sämtlich verschüchtert und still auf den Käfigen saßen.

Langsam schritt er weiter. Dann erblickte er den Steuermann. Der stand kerzengerade mitten im Gange zwischen den Tierbehältern, – regungslos, wie versteinert.

„Gut, daß Sie da sind, Herr Larsen“, rief Karl und kam näher. „Wir waren nämlich Ihretwegen …“

Das nächste Wort blieb ihm in der Kehle stecken.

Jetzt erst erkannte er, weshalb der Steuermann so starr und steif in derselben Körperhaltung verharrte.

Der Junge war leichenblaß geworden, zurückgeprallt …

Eine gelb und schwarz gefleckte Riesenschlange hatte sich von den Beinen an um Larsens Körper in fünf Spiralen hochgewunden. Ihr Kopf bewegte sich jetzt wie spielend über dem Haupte des Steuermannes hin und her …

Karl fühlte, wie sich ihm die Haare vor Entsetzen sträubten …

Aber mit aller Gewalt suchte er diese halbe Lähmung von sich abzuschütteln. Wie hilfesuchend eilte sein Blick jetzt durch den Raum. Da – in Reichweite seiner Hand lehnte an einen Käfig Larsens Doppelbüchse. Deren einer Lauf war mit Rehposten geladen, wie der Knabe wußte.

Als der Junge dann den kühlen Gewehrkolben in den Fingern fühlte, wurde er ganz gefaßt.

Larsen stand mit dem Gesicht von Karl abgewandt, konnte nicht sehen, was hinter ihm vorging …

Der Knabe hob die Büchse. Er feuerte nicht den ersten Schuß aus ihr ab, war an ihr Gewicht gewöhnt.

Und als er nun aus kaum vier Schritt Entfernung nach dem Schlangenkopf zielte, der etwa zwei Handbreit über dem Haupte des Steuermannes langsam hin und her pendelte, dachte er unwillkürlich an den Tellschuß – an den Apfel auf dem Haupte des Kindes, den des Vaters Pfeil treffen sollte …

Jetzt hörte die Pendelbewegung einen Moment auf. Die Riesenschlange schien mißtrauisch geworden zu sein …

Da schoß auch schon aus der Mündung des einen Laufes ein Feuerstrahl hervor. Die groben Bleikugeln hatten auf diese kurze Distanz den Schlangenschädel förmlich zerfetzt; die Spiralen glitten vom Leibe des Steuermannes herab, der Körper des Reptils wand sich in wilden Zuckungen am Boden, und … Larsen sank dem Knaben ohnmächtig in die Arme, der ihn sofort bis zur Ladepforte schleppte und hier niederlegte, wo die frische, kühle Luft mit dazu beitragen mußte, den Bewußtlosen schneller ins Leben zurückzubringen.

Der Schuß hatte im Zwischendeck einen furchtbaren Lärm hervorgerufen. Affen und Papageien kreischten und schrien wie besessen durcheinander.

Karl ließ sich jetzt von Trudi mit einem Ruder einen nassen Lappen heraufreichen, legte diesen Larsen auf die Stirn und öffnete ihm auf der Brust die Kleider.

Trotzdem dauerte es eine ganze Weile, ehe der Steuermann zu sich kam.

Er mußte sich sehr, sehr schwach fühlen, da der Knabe sich tief über ihn beugen mußte, um zu verstehen, was Larsens Lippen flüsterten.

„Fort von hier … Noch mehr Schlangen entwichen …“

Karl verstand, blickte ängstlich um sich. Noch war nichts zu befürchten. So zog er denn eiligst das Tau hoch, band es dem Steuermann um die Brust und ließ die schwere Last in das Boot hinabgleiten, wobei Larsen nach Möglichkeit mithalf, indem er sich an das straff gespannte obere Ende des Seiles anklammerte.

Zum Glück hatte der Steuermann die aus der Kabine des Tierbändigers geholten Schußwaffen dicht an der Ladepforte niedergelegt, so daß Karl sie mitnehmen konnte.

Dann ruderte der Knabe das Boot zur Bucht hinaus. Larsen lag mit geschlossenen Augen, noch immer blaß wie der Tod, im Vorderteil. Neben ihm saß Trudi und befeuchtete ihm immer wieder das Gesicht.

Gestützt auf den Knaben und eine der Harpunen schleppte Larsen sich nachher mühsam bis zur Hütte, wo er dann auf eine der Lagerstätten gebettet wurde.

Drei Tage brauchte er, ehe er sich wieder leidlich wohl fühlte. Während dieser Zeit hatten die Kinder das Häuschen kaum verlassen. Und der Pavian mußte schon mit Zwieback zufrieden sein.

Von den Raubtieren hatte man keines in der Nähe der Hütte bemerkt. Karl wäre es lieber gewesen, eine der Bestien hätte sich gezeigt. Zu gern würde er die Hinterladergewehre ausprobiert haben.

Am 22. Juli morgens konnte Larsen dann den ersten kurzen Spaziergang im Freien machen. Inzwischen hatte er den Kindern erzählt, wie er in jene furchtbare Lage geraten war.

Sicherlich hatte das neugierige Affenvolk den Kasten mit den Riesenschlangen, dessen Deckel nur durch einen Haken verschlossen war, geöffnet und es den Reptilien auf diese Weise ermöglicht, in das Zwischendeck hinter die Käfige zu schlüpfen. So kam es, daß eine der Schlangen ganz plötzlich sich um die Beine des Steuermannes wand, der vor Schreck wie versteinert war und erst einen klaren Gedanken fassen konnte, als das Reptil ihn bereits umwickelt hatte. Er wußte, daß seine einzige Rettung in seiner völligen Bewegungslosigkeit bestand, hoffte auch, daß Karl, durch sein langes Ausbleiben argwöhnisch gemacht, ihm zu Hilfe eilen würde. Hätte er sich gerührt, so würde ein einziges Zusammenziehen der Spiralen des Schlangenleibes genügt haben, ihm sämtliche Rippen einzudrücken. – –

Dieser erste Spaziergang bekam dem Steuermann so gut, daß er sich entschloß, sofort nach dem Mittagessen nach dem Dampfer zu rudern, um die Raubtiere zu füttern, die jetzt seit Tagen ohne Nahrung waren.

Wieder machten Trudi und Moritz, die bereits unzertrennlich waren, die Fahrt mit. Larsen und Karl kletterten dann an der Ankerkette auf Deck, um nicht das Zwischendeck durchschreiten zu müssen. Jeder hatte jetzt ein modernes Gewehr, einen Revolver und eine Harpune mit sich.

Zu ihrer Überraschung verhielten sich die ausgehungerten Raubtiere ruhiger, als man gedacht hatte. Schnell wurden ihnen große Stücke des gedörrten Pferdefleisches in die Käfige geworfen und Wasser in die Trinkbehälter gegossen. Das Reinigen der Käfige sollte erst gegen Abend erledigt werden.

Dann wurde eine der noch auf dem Vorderdeck liegenden, umwickelten Eisenstangen frisch mit Petroleum getränkt und als Fackel mit ins Zwischendeck genommen, wo Larsen den beiden noch in Freiheit befindlichen Riesenschlangen zu Leibe wollte. Daß der geöffnete Kasten drei Reptilien enthalten hatte, wußte er genau.

Das Zwischendeck wurde vom Heck aus durch die Luke und den Gang betreten. Als die beiden Gefährten die Tür aufstießen und hineinleuchteten, bot sich ihnen ein Anblick, den sie nie vorausgeahnt hätten. Daß die halb verhungerten Affen und Papageien regungslos, traurig und still auf den Käfigen hocken würden, hatten sie erwartet.

Aber das andere nie …!

In dem Gange zwischen den Käfigreihen lagen mit in der Mitte unförmig aufgetriebenen Leibern die beiden Riesenschlangen. Sie hatten ohne Frage jede einen der größeren Affen erwischt und hinuntergeschlungen, waren jetzt in diesem Zustande wehrlos und konnten daher ohne besondere Gefahr wieder in die Kiste gepackt werden.

Dann erhielt das Getier Wasser und Futter. Schnell wurde es nun wieder in dem Zwischendeck lebendig, so daß Trudi, die jetzt auch hinauf durfte, ihre helle Freude an dem munteren Treiben hatte. –

Als man eine Stunde später nach der Hütte zurückkehrte, bekam man den ersten der entsprungenen Löwen zu Gesicht. – Aber wie sah das einst so prächtige Tier aus …! Nicht zum Wiedererkennen! Die vier Tage auf dem feuchten Eisberg, auf dem es für die Bestien keinerlei Nahrung gab – denn auf Robbenfang verstand sich wohl ein Eisbär, aber kein dressierter Leu! – hatten aus dem Könige der Tiere ein Geschöpf gemacht, dessen Fell sich nicht einmal mehr zu einem Bettvorleger eignete, wie Larsen gutgelaunt erklärte. Und das Verhalten des Löwen entsprach auch seinem Äußeren. Er lief davon, blieb mit eingekniffenem Schwanz in etwa 200 Meter Entfernung stehen und brüllte jämmerlich, – wirklich jämmerlich.

Der Steuermann dachte denn auch gar nicht daran, ihm eine Kugel zuzusenden, sondern meinte zu Karl:

„Noch zwei Tage, und wir können die Bestien mit Leichtigkeit in einem der Dressurkäfige fangen. Wenn wir eine Robbe erlegen, abhäuten und dann über das Eis bis zu dem am Ufer der Bucht aufgestellten Käfig ziehen, locken wir die Ausreißer unweigerlich in die Falle“.

Für diese interessante Löwenjagd sollte sich jedoch am nächsten Tage noch eine Anzahl weitere Teilnehmer auf der schwimmenden Insel einfinden. Gegen zehn Uhr vormittags landete neben der „Texas“, auf der die drei Gefährten gerade mit dem Einfangen der Papageien und Affen, die wieder in ihren Käfigen untergebracht werden sollten, beschäftigt waren, ein großes Boot von einem Frachtdampfer, der das Notsignal, die Ölstoffflagge, bemerkt hatte. Es war ein deutsches Schiff, das von Island kam, und dessen Besatzung in dem Wiedereinfangen der Raubtiere eine angenehme Zerstreuung sah.

Es gelang denn auch wirklich, die beiden Löwen und die vier Panther wieder dingfest zu machen, worauf die „Najade“, die nur mit Ballast nach Hamburg unterwegs war, die Menagerie an Bord nahm, um auf diese Weise noch ein schönes Stück Bergungsgeld zu verdienen.

Die „Texas“ und den Eisberg überließ man ihrem Schicksal.

Larsen, Trudi und Karl standen noch lange auf der Kommandobrücke der „Najade“ und schauten der immer kleiner werdenden weißen Insel nach, die, vom Abendrot übergossen, wie ein leuchtender Rubin auf dem Meere schwamm.

Und das Mädelchen meinte fast traurig:

„Unser liebes, kleines Hüttchen …! Ich hätte noch so gern ein paar Tage darin gewohnt …!“

Dann streichelte sie Moritz, der auf ihrer Schulter hockte und eine Banane kunstgerecht abschälte. – Und den Pavian behielt sie auch. Ihr Vater kaufte ihn ihr als Andenken an die Robinsonzeit auf dem Eisberge und den Menageriedampfer.

 

Das nächste Heft enthält:

Der Untergang der „Karpentaria“.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hier fehlt in der Vorlage eine Zeile. Der Text wurde sinngemäß ergänzt.
  2. Fehlendes Wort „eine“ ergänzt.