Erlebnisse einsamer Menschen
(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)
W. Belka.
Am 16. September 1915 hatte der Küstendampfer „Karpentaria“ die südaustralische, am St. Vinzent-Golf gelegene Hafenstadt Adelaide verlassen, um seine gewöhnliche Tour Adelaide-Portland-Melbourne und zurück zu erledigen, zu der er genau vierzehn Tage gebrauchte.
Die „Karpentaria“ war ein uralter Kasten von Schraubendampfer und hätte längst als Alteisen und Brennholz verkauft sein müssen. Wenn er trotzdem stets außer reichlicher Fracht auch zahlreiche Passagiere mit sich führte, so lag das nur daran, weil er eben an jedem kleinen Küstennest anlegte, das sonst keinerlei Verbindung mit dem Inneren des Landes hatte.
Besonders seit Ausbruch des Weltkrieges, der sich sehr bald auch in Australien durch gesteigerte Ausfuhr aller möglichen Handelsartikel, hauptsächlich Gefrierfleisch und Getreide, und die damit verbundene Inanspruchnahme aller verfügbaren Seeschiffe bemerkbar machte, waren die Geschäfte des Besitzers der „Karpentaria“, der gleichzeitig auch ihr Kapitän war, glänzend gestiegen. –
In den ersten vier Tagen hatte das Wetter die diesmalige Reise außerordentlich begünstigt.
Kapitän Buller, dick, rotnasig und stets nach Whisky duftend, lehnte neben den beiden Insassen der besten Kabine an die Reling und deutete mit der Hand geradeaus.
„Morgen sind wir in Portland, meine Herren. Dann muß es aber fix gehen mit dem Ausladen Ihrer vierzig Klaviere. Ich kann mich dort nicht lange aufhalten. – Hoffentlich werden Sie die Wimmerkasten auch schnell los. Eine gewagte Spekulation bleibt’s immer! Ob gerade die Farmer in der Umgegend von Portland so musikliebende Frauen und Töchter haben wie Sie annehmen, möchte ich doch bezweifeln.“
James Buller grinste dazu etwas schadenfroh. Den beiden Amerikanern gönnte er einen Fehlschlag schon. Was hatten die auch hier nach Australien zu kommen und den Alteingesessenen den Verdienst wegzuschnappen.
Tom Lomper zuckte die Achseln.
„Das lassen Sie alles nur unsere Sorge sein, Kap’tän! Wir werden die Wimmerkasten schon loswerden.“
Und sein Kompagnon Jack Fritt fügte hinzu, sie hätten bisher bei ihren Unternehmungen noch stets Erfolg gehabt. Also würde auch diese Sache wohl glücken.
Buller sah nicht, daß Jack Fritt dabei seinem Freunde verstohlen zublinzelte, worauf dieser den breiten, brutalen Mund zu einem Hohnlachen verzog.
Gleich darauf kam der Obersteward des Dampfers herbeigeeilt und meldete Buller, daß es unten im Salon soeben zwischen dem verd… Deutschen und zwei Engländern zu einem heftigen Streit gekommen sei, im Verlaufe dessen dieser Master Müller dem einen Gentleman eine derbe Ohrfeige versetzt habe.
Das war für Buller eine gute Gelegenheit, dem Deutschen, der allerdings seit zwei Jahren die australische Staatsangehörigkeit besaß und daher bis jetzt samt seiner Familie auf freiem Fuße belassen war, eins gehörig auszuwischen.
Wie ein gereizter Stier rannte Buller, gefolgt von den beiden Amerikanern, in den Salon. Aber der Ingenieur Müller hatte sich mit den Seinen inzwischen auf das Hinterdeck begeben, wo er ruhig die ängstlichen Vorwürfe seiner Gattin hinnahm, die ihn jetzt anflehte, sich nicht nochmals zu Handgreiflichkeiten hinreißen zu lassen.
Die beiden Kinder des Ehepaares, der vierzehnjährige Fritz und das zwölfjährige Ännchen, standen dabei, als die Eltern diese Dinge besprachen und in der Mutter Augen helle Tränen aufstiegen, während der Ingenieur in ohnmächtiger Wut die Fäuste drohend nach dem Salon hin erhob.
„Liebes Weib“, sagte er, seine Erregung mühsam unterdrückend, „man hat unser altes Vaterland und unsere Landsleute hier dauernd derart geschmäht, daß mir einmal die Geduld reißen mußte.“
Da wälzte sich auch schon von dem Mittelaufbau des Dampfers her eine laut schreiende Menschenwoge heran. Ganz vorn befand sich der Kapitän, und neben ihm der lange, dürre Engländer, dessen eine Backe hoch geschwollen war. Wo des Riesen Müller Hand zuschlug, da gab es stets Beulen.
Die zumeist aus gebildeten Leuten sich zusammensetzenden Passagiere der ersten Kajüte schienen jetzt geradezu von einer Raserei befallen zu sein. Der Haß gegen Deutschland, das trotz des Krieges noch immer stolz und unbesiegt geblieben, kam hier wieder einmal in einer Weise zum Ausbruch, die deutlich zeigte, wie urteilslos all diese Menschen in Wirklichkeit waren.
Schimpfworte regneten auf die deutsche Familie herab, und als nun der halbbetrunkene Kapitän, den die beiden Amerikaner fast noch mehr aufhetzten als dies der geohrfeigte Engländer tat, Müller jetzt noch zubrüllte: „Schuft, ich lasse Dich in Eisen legen!!“ da wäre es fraglos abermals zu Tätlichkeiten mit dem starken, erbitterten Ingenieur gekommen, wenn nicht in demselben Augenblick ein Matrose Buller zugerufen hätte:
„Achtung – ein Zyklon …!!“
Diese Warnung vor dem gefährlichen, gerade in den südlichen Gewässern Australiens so häufigen und meist urplötzlich auftretenden Wirbelsturm genügte, um die wütende Menge sofort zu zerstreuen.
Im Nu war das Deck von Passagieren leer. Nur die deutsche Familie, die beiden Amerikaner und die Matrosen, die hier zu tun hatten, waren noch geblieben.
Im Augenblick wurde es jetzt finstere Nacht, trotzdem die Sonne erst in drei Stunden untergehen sollte. Mit unheimlichem Heulen kam der Sturm dann vom Lande her näher und näher. Da hielt es Müller ebenfalls für geraten, die Seinen in der engen Kabine vor der Wut der Elemente in Sicherheit zu bringen. Die Amerikaner aber verharrten weiter an Deck, standen leise flüsternd da und beobachteten, in wie unzureichender Weise die Befehle des Kapitäns von der bestürzten, kopflosen Besatzung ausgeführt wurden.
„Der Zyklon kommt uns gerade recht“, meinte Tom Lomper befriedigt lächelnd. „Die „Karpentaria“ flüchtet in die offene See hinaus. Alles sehr günstig für uns. In einer Stunde, denk’ ich, kannst Du die Knallschote losgehen lassen, Jack.“ –
Die Stunde war um. Der Wirbelwind hatte dem Dampfer übel mitgespielt. Die See ging haushoch, und der alte, halbwracke Kasten rollte so fürchterlich, daß fast alles an Bord seekrank war. Der Vordermast lag bereits umgeknickt über der Reling, die er an dieser Stelle wie Pappe eingedrückt hatte. Beständig wurde das Deck von schweren Brechern überflutet. Und die Finsternis war so groß, daß man buchstäblich kaum die Hand vor Augen sehen konnte.
Plötzlich tauchte Jack Fritt unten im Maschinenraume auf und rief den Heizern zu: „Boys, ich werde Euch helfen …! Ihr müßt ja mehr tot als lebendig in dieser heißen Hölle sein …!!“
Und sofort ergriff er eine Schaufel und begann geschickt die Kohlen in den glühenden Rachen des Kessels zu werfen.
Niemand bemerkte, daß er dabei ein schwarzes Etwas, das ungefähr einem Kohlenstück glich, fallen ließ und zwar so, daß es sehr bald mit der nächsten Ladung Kohlen mit in die Feuerung wandern mußte.
Dann warf Jack Fritt die Schaufel hin und eilte mit den Worten: „Boys, ich hole noch meinen Freund“ davon, – wieder an Deck zu Tom Lomper, der inzwischen in der gemeinsamen Kabine die wertvollsten Sachen der beiden in einen kleinen Koffer zusammengepackt hatte.
Gleich darauf ertönte in den unteren Schiffsräumen eine starke Explosion. Sofort hörte die Umdrehung der Schraube auf, und wenige Minuten später hatte die „Karpentaria“ bereits, jetzt ein willenloser Spielball der riesigen Wogenberge, so starke Steuerbordschlagseite, daß man vermuten mußte, sie wäre schwer leck geworden.
Buller glaubte, es habe eine Kesselexplosion stattgefunden. In Wahrheit hatte eine Dynamitpatrone, die in der Feuerung explodiert war, dem Schiffe den Rest gegeben.
In wilder Hast wurden die Boote zu Wasser gebracht. Auch Müller suchte den Seinen in einem derselben einen Platz zu verschaffen, wurde aber roh zurückgestoßen. Und wieder keine fünf Minuten später war die deutsche Familie allein auf dem sinkenden Dampfer.
Wie so oft bei dem launischen Zyklon, hatte auch dieser nur ein begrenztes Gebiet des Meeres heimgesucht, so daß die „Karpentaria“, bevor sie noch gänzlich versank, in verhältnismäßig ruhiges Wasser geraten war. Mittlerweile hatte der tatkräftige Ingenieur aus den Kisten der auf dem Vorderdeck untergebrachten Klaviere in aller Eile ein Floß hergestellt. Hierbei machte er nun die überraschende Entdeckung, daß diese großen, festen Holzkisten alles andere nur keine Klaviere enthielten. Steine, mit Papier und Lumpen umwickelt, bildeten den Inhalt, so daß das Gewicht eines Klaviers vorgetäuscht worden war.
Müller hatte sofort die richtige Erklärung für diesen merkwürdigen Steinballast: die Amerikaner hatten die vierzig Klaviere fraglos gegen die Gefahren der Seereise hoch versichert und auch bestimmt damit gerechnet, daß die „Karpentaria“ samt ihrer Ladung untergehen würde. Sie wollten also einen Versicherungsbetrug verüben, bei dem sie, wenn er glückte, nach Müllers Schätzung gut ihre 25 000 Dollar verdienen mußten.
Glücklich kam der Ingenieur mit dem primitiven Floß, auf dem er noch allerlei Nahrungsmittel untergebracht hatte, von dem sinkenden Dampfer frei. Und die Vorsehung war der deutschen Familie auch weiter gnädig. Die See beruhigte sich mehr und mehr, und nur ein leichter Wind blieb noch von dem furchtbaren Zyklon übrig, der über eine Stunde mit der „Karpentaria“ Fangball gespielt hatte. – –
Drei Tage später, als gerade das letzte Trinkwasser auf dem Floß die trockenen Lippen der deutschen Schiffbrüchigen benetzt hatte, führte dieselbe Meeresströmung, die das plumpe Fahrzeug beständig nach Südwesten zu davongetragen hatte, die bereits völlig Verzweifelten dicht an einer felsigen, langgestreckten Insel vorüber, an deren Nordspitze zu landen dem Ingenieur schließlich nach vielen Anstrengungen glückte, wobei sowohl er als auch seine Gattin und der kräftige Fritz mit schmerzenden Händen die roh aus Brettern zurechtgeschnittenen Ruder handhabten, ohne die man sicher an dem Eiland vorbeigetrieben wäre.
Als die vier Menschen festen Boden unter den Füßen hatten, als sie nun hoffen konnten, hier wenigstens kärglich ihr Leben fristen zu können, da sank die Gattin des Ingenieurs, ihre Kinder fest umschlingend, in heißem Dankgebet zu Gott in die Knie, während ihr Mann mit gefalteten Händen nach Westen in das prachtvolle Abendrot der untergehenden Sonne blickte. –
Nachdem das Floß mit einem Strick an einer Felszacke des Ufers befestigt worden war, erklomm die Familie die steilen Uferfelsen, um sich davon zu überzeugen, was hinter diesen schroffen, wenn auch nicht gerade hohen Hügeln mehr nach dem Innern der Insel zu verborgen war.
Von der Höhe der Steilküste hatte man dann beim letzten Lichte des scheidenden Tages einen guten Fernblick über das Eiland. Aber – es sah jenseits des Felskranzes der Uferanhöhen ziemlich trostlos aus …!! Diese senkten sich allmählich abwärts und gingen in eine vollkommen flache Ebene über, die mit einer spärlichen Pflanzenschicht – Gräsern und Sträuchern, bedeckt war. Einzelne Bäume unterbrachen das Eintönige dieses Bildes. Wie eine grünbraune Tenne in Form einer mächtigen Schüssel war das Innere des Eilandes, dessen Länge der Ingenieur auf eine halbe Meile bei etwa 1500 Meter größter Breite schätzte.
Fritz, überhaupt ein sehr lebhafter Knabe, wandte den Blick jetzt auch nach der Seeseite hin. Dann zuckte er plötzlich erschreckt zusammen.
„Vater – das Floß!!“ rief er angstvoll. Befanden sich auf diesem doch noch allerlei Gegenstände, die man hier sehr nötig brauchte, um den Kampf ums Dasein aufnehmen zu können.
Das Floß hatte sich, gehoben von der steigenden Flut, von selbst losgemacht und war bereits von der Strömung gut hundert Meter in die See hinaus entführt worden.
Der Ingenieur bemerkte kaum, welch neues Mißgeschick ihnen drohte, als er auch schon eiligst die Felshügel nach dem Strande zu wieder hinabkletterte, am Ufer die Schuhe, Jacke und Weste abwarf und dem Ausreißer nachschwamm.
Frau Marie Müller und ihr Töchterchen verfolgten mit angstvoller Spannung jede Bewegung des Ingenieurs, der mit langen Stößen auf das Floß zustrebte. Fritz war dem Vater nachgeeilt und stand am Ufer auf einem Felsblock, um gleichfalls den Ausgang dieses Zwischenfalls zu beobachten.
Da sah er in dem ruhigen Wasser unweit des Schwimmers plötzlich ein grauschwarzes, schmales Etwas herausragen: die Rückenflosse eines Hais!
Nur zu gut wußte er, was diese hornartig gekrümmte Spitze bedeutete, die sich dort auf den Vater zubewegte.
In wilder Angst formte er die Hände vor dem Munde zum Sprachrohr.
„Vater – ein Hai – ein Hai!!“
Der Schwimmer hatte den Ruf vernommen. Man sah, wie er hastiger Arme und Beine bewegte.
Oben auf der Höhe der Strandhügel schrien Mutter und Kind gellend in lähmendem Entsetzen auf.
Der Ingenieur, einsehend, daß er das Floß nicht mehr erreichen könne, suchte im Bogen wieder an das Ufer zurückzugelangen. Beinahe wäre ihm dies auch geglückt. Da – im letzten Augenblick, als er bereits den steinigen Grund unter den Füßen fühlte, kam die gefährliche Meeresbestie herangeschossen und schnappte mit ihrem furchtbaren Gebiß nach den Beinen des wehrlosen Mannes.
In den linken Unterschenkel bohrten sich die Zähne des Hais ein, ließen nicht los. Ein fast lautloser Kampf entspann sich im Wasser, – lautlos, da der Ingenieur den Seinen durch Schmerzens- und Hilferufe nicht verraten mochte, welche Qualen er litt und mit welcher Kraft der Hai versuchte, ihn ins tiefere Wasser zu ziehen. Nur die Schwanzschläge der Bestie und die Bewegungen des Mannes, der alles an Energie darangab, um sich den Seinen zu erhalten, brachten das Wasser in Aufruhr und zeigten Fritz, daß es wohl einen besonderen Grund haben müsse, wenn der Vater jetzt plötzlich nicht mehr von der Stelle kam, vielmehr langsam nach rückwärts gezerrt wurde.
Kaum hatte der Knabe sich dann richtig zusammengereimt, in welch’ schrecklicher Gefahr der Vater schwebte, als er auch schon ohne Zögern sich ins Wasser warf und der Stelle zustrebte, wo sich der Hai vorläufig noch ohne größeren Erfolg bemühte, sein Opfer mit fortzuziehen und es in den Tiefen des Meeres zu ertränken. Fritz war ein guter Schwimmer und ein nicht minder guter Taucher. Künste, die er mit Altersgenossen in Adelaide, wo der Ingenieur in einer Maschinenfabrik bis vor kurzem beschäftigt gewesen war, spielend geübt hatte, kamen ihm hier jetzt zugute. Mit seinem festen Jagdmesser, dem Geschenk eines der Familie befreundeten Herrn in der Hand ließ sich Fritz hinter dem Vater auf den Grund sinken, tastete, ohne recht zu wissen, was er in der Aufregung tat, an dem spindelförmigen Leibe des Hais entlang, bekam die große Rückenflosse zu packen und zog dann die Schneide des Messers mit aller ihm zur Verfügung stehenden Kraft an der Bauchseite der Bestie entlang, – einmal – nochmals – nochmals, bis ihm die Luft knapp wurde und er wieder auftauchen mußte.
Blutige Nebel wallten jetzt im Wasser auf. Und plötzlich entschlüpfte dem Munde des bleich gewordenen, von dem Untier gepackten Mannes ein lauter, freudiger Schrei: die Zähne der schwer verletzten Bestie hatten losgelassen.
Fritz hatte schon den einen Arm des Vaters ergriffen und half ihm, das kaum fünfzig Meter entfernte Ufer zu erreichen, wo der Ingenieur taumelnd vor Schwäche zu Boden sank.
Auch die Mutter und das kleine Ännchen waren herbeigeeilt und mühten sich jetzt um den Verwundeten, dessen linker Unterschenkel die Spuren des Haifischgebisses in Gestalt zahlreicher blutender Wunden zeigte.
Der Ingenieur fand gerade noch die Kraft, seinem Sohne ein paar Worte zuzurufen. Dann sank er in eine tiefe Ohnmacht.
„Gut auswaschen die Wunden!“ hatte der Vater mit erstickter Stimme verlangt.
Fritz wußte, weshalb dies unbedingt geschehen mußte. Die Bißwunden von Haifischen sind deshalb so gefährlich, weil sie nur zu leicht in Eiterung übergehen.
Während Frau Marie und Ännchen sich um den Bewußtlosen bemühten und die Bißstellen reinigten, erstieg Fritz wieder die Uferhöhen, um mehr nach dem Innern der Insel zu für die Seinen eine Unterkunft für die Nacht zu suchen. Der aufgeweckte, kräftige Bursche hielt sich jetzt für verpflichtet, den Vater zu vertreten und für diesen, für die Mutter und die kleine Schwester zu sorgen.
Etwa hundert Meter nach Westen zu fand er zu seiner freudigen Überraschung in den Felsen eine schmale, gewundene Schlucht, die eine sehr bequeme Verbindung vom Strande nach der weiten, flachen Heide darstellte. Sofort beschloß er, in der Nähe dieses Hohlweges im Schutze eines Gebüsches eine Hütte aus Zweigen für den kranken Vater zu errichten, in der aber auch Mutter und Schwester unterkommen könnten. Jedenfalls mußte der Verletzte recht bald von dem feuchten Strande hier nach der gesünderen Heide geschafft werden.
Fritz begab sich daher zunächst nach der Stelle zurück, wo der Vater unter der Obhut seiner Gattin und seines Töchterchens auf dem steinigen, nassen Boden lag.
Der Ingenieur hatte sich inzwischen von seinem Ohnmachtsanfall wieder leidlich erholt. Gestützt auf Frau Marie und den Knaben versuchte er nun die Strecke bis zum Hohlwege zu Fuß zurückzulegen. Immer wieder mußte der traurige Zug haltmachen, da dem Erschöpften die Kräfte zu schwinden drohten. Aber der starke Mann biß die Zähne zusammen, und endlich war die enge Schlucht glücklich passiert und das Innere der Insel, diese flache weite Ebene, erreicht. Hier wurde in aller Eile aus Gras und Moosstücken ein Lager für das Familienoberhaupt hergestellt. Dann wollte Fritz mit dem Bau einer Hütte sofort beginnen. Aber der Vater meinte mit schwacher Stimme, man solle damit bis morgen warten, wo er soweit wiederhergestellt zu sein hoffe, um selbst das Nötige anordnen zu können.
In der engen Lichtung eines Gebüsches hatte Müller vorläufig eine Lagerstätte gefunden. Und hier richtete Fritz nun mit Hilfe der Schwester noch drei weitere Moosbetten her.
Inzwischen war die Nacht herbeigekommen. Der Himmel hatte jedoch seine unzähligen Lämpchen angezündet, die die Dunkelheit in eine geheimnisvolle Dämmerung verwandelten. Bald ging auch noch der Mond auf, so daß die Ebene nun in ein reizvolles Silberlicht getaucht war, was vollauf genügte, um sich leidlich zurechtfinden zu können.
Als Fritz merkte, daß die Seinen nach den furchtbaren Aufregungen der letzten Stunden fest eingeschlafen waren, erhob er sich leise und schlich davon.
Die Gedanken hätten ihn doch munter gehalten, diese sorgenden Gedanken, wie man hier auf diesem entlegenen Eiland das Leben fristen solle, – besonders ob es hier Wasser und irgendwelche Nahrungsmittel gab. Das waren ja Fragen, von denen alles abhing, – alles …!
Und so wanderte Fritz denn langsam über die weite, mit Gräsern, stellenweise auch mit großen Moospolstern bedeckte Ebene hin. Ohne bestimmte Absicht schlug er die Richtung nach Süden ein, so daß er das Innere der Insel der Länge nach durchquerte.
Viel zu sehen gab es hier nicht. Überall fand er dieselben Strauchgruppen eines harten Knüppelholzes mit großen, lederartigen Blättern. Hin und wieder scheuchte er auch hühnerartige Vögel auf, die dann stets sehr niedrig und halb laufend davonstrichen. Der Boden gab stellenweise nach, als handele es sich um sumpfiges Terrain. Aber Wasser trat nirgends zu Tage.
Nach etwa einer halben Stunde näherte er sich den südlichen Uferhöhen der Insel. Da blieb er plötzlich stehen. Vor ihm breitete sich ein langer, dichter Gebüschstreifen aus. Und mitten in diesem dunklen Strich des niedrigen Gehölzes schimmerte ein Feuer durch die Zweige.
Fritz wußte nicht recht, ob er diese Entdeckung mit Freude begrüßen sollte. Vielleicht waren es Wilde, die hier hausten. Vielleicht aber auch Schiffbrüchige, die gern bereit waren, gemeinsam mit der deutschen Familie den Daseinskampf aufzunehmen. – Immerhin war Vorsicht geboten.
Der Knabe kroch daher am Boden entlang, schob sich lautlos in die Büsche hinein und kam unbemerkt dem Feuer auf vier Schritte nahe. Dieses brannte auf einer kleinen, runden Lichtung. Und um dasselbe hatten sich sieben Personen gelagert, alles alte, aber leider nicht gerade liebe Bekannte von der „Karpentaria“ her.
Da waren zunächst die beiden Amerikaner Tom Lomper und Jack Fritt. Dann der lange Engländer, den der Ingenieur für die Schmähungen Deutschlands so nachdrücklich gestraft hatte. Dieser Master Floot war Kaufmann in Adelaide. Er hatte seine Gattin bei sich, die schon auf dem Dampfer durch ihre auffallende Kleidung und ihr vorlautes Wesen sich bemerkbar gemacht hatte. Jetzt freilich sah Frau Floot wie eine armselige, halbgerupfte Henne in ihrem zerknitterten, nassen Kleide und den unordentlichen Haaren aus.
Weiter lagerten hier noch der dicke, rotnasige Kapitän Buller und zwei andere Passagiere der untergegangenen „Karpentaria“. Diese waren beide Franzosen, Handlungsreisende einer Firma aus Brisbane, stutzerhaft angezogene und ausgemergelte Gestalten, deren äußere Aufmachung jetzt genau so übel zugerichtet war wie die der Frau Floot.
Einer dieser Franzosen, Charles Herieux mit Namen, erzählte gerade mit großer Wichtigkeit, daß er auf seinem Rundgang um die Insel die deutsche Familie bemerkt und auch beobachtet habe, wie der offenbar verletzte Ingenieur von den Seinen durch die Schlucht nach der Ebene geleitet wurde.
„Also hat die verd… Bande sich doch gerettet“, meinte Floot in rachsüchtigem Tone. „Nun, dann wird sich ja wohl noch Gelegenheit bieten, daß ich meine Rechnung mit diesem Müller ausgleiche …!!“
Aber der Kapitän, der heute völlig nüchtern war, schüttelte dazu nur mißbilligend den Kopf.
„Wir haben allen Grund, hier Frieden zu halten“, erklärte er. „Vergessen wir nicht, daß wir uns in derselben traurigen Lage wie die Deutschen befinden. Unser Boot ist an den Klippen zerschellt. Auch wir haben nichts als das nackte Leben und zwei Fäßchen Schiffszwieback gerettet. Gibt es hier kein Trinkwasser, so …“
Er beendete den Satz nicht, machte vielmehr eine Handbewegung, die andeuten sollte, daß dann eben alle verloren waren.
Frau Floot begann jetzt zu weinen. Bald gingen ihre Tränen in laute Vorwürfe gegen Buller über, den sie dafür verantwortlich machte, daß die „Karpentaria“ gesunken war und dieser Schicksalsschlag sie getroffen habe.
Es kam zu recht erregten Auseinandersetzungen, bei denen sich alle übrigen gegen Buller zusammentaten. Der Kapitän bewies jetzt aber, daß er in nüchternem Zustande ein verständiger Mann war. Obwohl man ihm unrecht tat, lenkte er doch ein und meinte, man solle lieber zweckloses Streiten unterlassen und Frieden halten. Trotzdem blieb aber der lange, hagere Master Floot dabei, daß er diesem Deutschen doch noch eins auswischen werde. In dieser Beziehung dürfe ihm niemand hineinreden – niemand, auch der Kapitän nicht, der hier jetzt übrigens gar nichts mehr zu sagen habe.
Jedenfalls merkte der im Gebüsch verborgene Knabe, daß diese Mitbewohner der Insel gerade keine willkommene Nachbarschaft darstellten.
Ebenso leise wie vorher kroch er nun wieder ins Freie und schlug den Rückweg nach dem Lagerplatz der Seinen ein.
Fritz wanderte jetzt am Fuße der westlichen Randhügel entlang. Er wollte auf diese Weise auch gleich noch einen neuen Teil der Insel kennen lernen. Der landschaftliche Charakter des Eilandes war jedoch auch hier der gleiche. Nur standen die Büsche an der Westseite offenbar dichter und hatten auch eine größere Höhe. Ebenso bemerkte der Knabe bei dem ungewissen Mond- und Sternenlicht ein paar Bäume, deren gebogener Stamm parallel zum Erdboden gewachsen war, so daß nur die eigentliche Krone ihre Zweige in die Luft reckte. Außerdem waren die Hühnervögel auf dieser Seite der Insel recht zahlreich, und Fritz konnte feststellen, daß die großen Tiere zumeist in der Nähe kuppelförmiger Haufen hochgingen, wenn er sich nahte. Über die Bedeutung dieser Anhäufungen von trockenen Aststücken, Moos, Blättern und Vogelunrat vermochte er sich nicht klarzuwerden. Nester waren es nicht. Das sah man auf den ersten Blick. Einen der Haufen warf er mit dem Fuße halb auseinander. Aber auch diese oberflächliche Untersuchung gab ihm keinerlei Anhaltspunkte über den Zweck der merkwürdigen Bauten.
Dann gebot dem Knaben plötzlich eine in das Land einschneidende, nach Norden zu gekrümmte Bucht halt. Das Meer drang hier wie durch ein steiles Felsentor gut vierhundert Meter weit als stilles Gewässer ins Innere des Eilandes ein. Die Ufer der Bucht waren recht dicht bewachsen. Daher hatte man auch nichts von dieser Abzweigung der See vorhin bemerkt, als man von der Höhe der nördlichen Randberge die Insel überschaute.
Der mutige und verständige Junge, dessen ganzes Verhalten bewies, daß er weit über seine Jahre hinaus auch geistig ausgereift war, folgte jetzt dem Ostufer der Bucht, die sich, wie schon erwähnt, im Bogen nach Norden zu noch gut dreihundert Meter weitererstreckte und schließlich an einem recht hohen, zerklüfteten Hügel endete, der steil aus dem Wasser aufstieg.
Die Umgebung dieser Wasserrinne erschien Fritz so freundlich und anheimelnd, daß er sich sofort vornahm, dem Vater den Vorschlag zu machen, hier in der Nähe sich niederzulassen. Leider sollte er jedoch so bald keine Gelegenheit finden, mit dem Verwundeten sich zu verständigen. Als er sich nun dem Lagerplatz der Seinen näherte, der keine zehn Minuten von dem Nordende der Bucht entfernt war, hörte er schon von weitem angstvoll die Mutter seinen Namen rufen.
Die arme, bedauernswerte Frau war mit einem Male über qualvollen, stöhnenden Lauten aufgewacht, die sich der Brust ihres Mannes entrangen. Der Ingenieur hatte hohes Fieber, wie seine Gattin zu ihrem Schreck sehr bald feststellte, und auch der von dem Haifisch so böse zugerichtete Fuß war stark geschwollen.
Kaum hatte der Knabe von der Mutter gehört, was während seiner Abwesenheit geschehen war, als er sofort ein Feuer mit Hilfe des Feuerzeuges seines Vaters anzündete und die Wunden in Augenschein nahm. Diese sahen recht schlimm aus, waren an den Rändern stark gerötet und wie kleine Beulen aufgetrieben.
Da andere Heilmittel nicht zur Verfügung standen, schlug Fritz der Mutter vor, den Kranken sofort nach der Bucht zu schaffen, wo man den Fuß leicht ständig durch nasse Umschläge kühlen könne.
Die arme Frau, ohnehin eine etwas unselbständige Natur, hatte gegenüber dieser traurigen Heimsuchung völlig den Kopf verloren und war mit allem einverstanden. Immer mehr sah der Knabe jetzt ein, daß die ganze Verantwortung für das Wohl und Wehe der Seinen allein auf seinen Schultern ruhe.
In kurzem hatte er aus Ästen, über die des Vaters leinener, langer Mantel sowie Moosstücke gebreitet wurden, eine Art Schleife hergestellt, auf der man den infolge des hohen Fiebers recht unruhigen Kranken nach dem Ufer der Bucht zog, wo in nächster Nähe des Wassers ein neuer Lagerplatz hergerichtet wurde.
Es war eine überaus aufregende Nacht für die drei Menschen, die hier in der Einsamkeit der kleinen Insel um das Leben des Gatten und Vaters mit dem tückischen Würger Tod kämpften. Wie sehr ersehnten sie die Tageshelle herbei, da nach Untergang des Mondes und nach dem Verblassen der Sterne eine graue, trübe Dunkelheit über dem Eiland lastete, die nur zu sehr dazu angetan war, die Stimmung der drei Menschen noch mehr niederzudrücken. – Fortwährend wurden die Umschlagtücher erneuert, die man aus des Knaben Unterzeug hergestellt hatte. Als dann endlich der Morgen zu grauen begann, schien das Fieber nachzulassen. Der Kranke schlief ein. Und auch Frau Müller und Ännchen streckten sich jetzt auf Fritz’ Zureden in der Nähe zum Schlafe aus.
Der Knabe hatte den Seinen, um sie nicht noch mehr in Aufregung zu versetzen, absichtlich nichts von seinen Beobachtungen im Südteil der Insel erzählt. Aber der Gedanke an die Anwesenheit der ebenso erbitterten wie herzlosen Feinde ließ ihm keine Ruhe. Obwohl er müde zum Umsinken war, glaubte er an seine eigene Person erst zu allerletzt denken zu dürfen. Die Hauptsache erschien ihm jetzt, irgendwo einen sicheren Unterschlupf, vielleicht auf einem der nahen Hügel, zu finden, wo man vor den Belästigungen des dürren Engländers und dessen gleichgesinnten Genossen leidlich geschützt war.
Nachdem er daher den fest schlummernden Vater mit dem leichten Mantel zugedeckt hatte, wandte er sich der schroffen Felskuppe zu, die mit ihrem Südteil steil in das Wasser der Bucht abfiel. Erst jetzt sah er, daß sie eine recht bedeutende Ausdehnung und Höhe besaß und nach Westen zu in die Randhügel der Insel überging. Inzwischen war es genügend hell geworden, um alle Einzelheiten dieses bescheidenen Berges zu erkennen. Etwa zehn Meter über dem Wasserspiegel gab es dort oben eine breite Terrasse, deren Hinterwand das abermals jäh emporragende Gestein bildete. Einzelne Büsche und Gräser hatten sich auf der breiten Felsplatte angesiedelt. Fritz sagte sich, daß es kaum einen günstigeren Platz geben könne als diesen, um in der Verborgenheit die Genesung des Vaters abwarten zu können. – Aber – wie dort hinaufgelangen?! Das war die große Schwierigkeit …!
So begann er denn mit zäher Ausdauer nach einer Stelle zu suchen, wo man vielleicht die Terrasse erklimmen könnte. Schließlich entdeckte er dann an der Westseite eine Geröllhalde, die es ermöglichte, nach einer anstrengenden Kletterpartie die Felsabplattung zu erreichen. Diese hatte die Form eines stumpfwinkligen Dreiecks, dessen Spitze eine tiefe Felsspalte bildete, die sich in die Rückwand hineinzog. Als Fritz diese Spalte nun betrat, sah er zu seiner freudigen Überraschung, daß sie weiter nach hinten einen Tunnel bildete, der, allmählich sich senkend, in eine Schlucht im Nordteil des Hügels mündete. Und vor der Mündung standen hier, als habe die Natur neidisch diesen bequemen Zugang zu der Terrasse verhüllen wollen, eine ganze Menge der lederblätterigen Sträucher, zwischen denen hier noch Dornen mit langen Ranken und sehr scharfen Stacheln wucherten.
Der Knabe, hochbefriedigt von dem Erfolge seines kurzen Ausflugs, kehrte jetzt nochmals nach der Terrasse zurück. Während er den Tunnel durchschritt, fiel es ihm auf, daß es in diesem von Dämmerlicht erfüllten Felsengange auffallend kühl war. Die Luft schien sogar stark mit Feuchtigkeit gesättigt zu sein, da an den Steinwänden sich Moose und Flechten angesetzt hatten.
Hierdurch aufmerksam gemacht, untersuchte Fritz den vielleicht drei Meter breiten und ebenso hohen Tunnel genauer. So kam es, daß er an der östlichen Wand ein mit Wasser gefülltes, offenbar recht tiefes Loch wahrnahm. Sofort bückte er sich, schöpfte mit der Hand etwas von dem Wasser und kostete es. Es war kalt und schmeckte ganz angenehm.
Eine weitere Untersuchung des Bodengesteins des Tunnels klärte den Knaben sehr bald auch über die Entstehung dieses natürlichen Brunnens auf. Das Regenwasser, das in die Spalte vorn eindrang, war bis hierher geflossen und hielt das Loch nun dauernd gefüllt.
Kein Wunder, daß der brave Junge jetzt, tief ergriffen über dieses Geschenk einer gütigen Vorsehung, die Hände faltete und Gott aus tiefstem Herzen dankte. – –
Vier Stunden später, gegen acht Uhr morgens, war der Kranke bereits in der Felsspalte oben auf der Terrasse weich gebettet und durch manchen Schluck des frischen Wassers erquickt.
Fritz hatte seiner Mutter und Ännchen sehr dringend eingeschärft, sich ja nicht außerhalb dieses Verstecks zu zeigen, damit die Mitbewohner der Insel, deren Anwesenheit er den Seinen jetzt mitgeteilt hatte, ihnen den selten günstigen Platz nicht streitig machten.
Gegen neun Uhr bemerkte der Knabe dann auch wirklich die beiden Amerikaner und den hageren Engländer, die von Süden her am Ostufer der Bucht daherkamen. Sie beachteten den Felshügel und die Terrasse jedoch nicht weiter und verschwanden nach Norden zu, offenbar in der Absicht, sich nach der deutschen Familie umzusehen.
Kaum waren sie verschwunden, als Ännchen ganz zaghaft erklärte, sie habe furchtbaren Hunger.
Hunger …!! Fritz durchzuckte ein heißer Schreck. Wahrhaftig, über all den Aufregungen hatte er gar nicht daran gedacht, daß die Seinen seit mehr denn zwölf Stunden nichts mehr genossen hatten.
So erklärte er denn der Mutter, er wolle versuchen, ob er nicht einen der hühnerartigen Vögel erlegen könne, die er in der Nacht gesehen hatte. Mit äußerster Vorsicht schlich er durch den Tunnel und die Schlucht ins Freie und wandte sich, stets hinter Büschen sich deckend, nach Süden. Gerade hier hoffte er jetzt keinem der Feinde zu begegnen.
Bei dieser Wanderung stieß er wieder auf eine Anzahl der am Boden hinkriechenden Bäume. Und nun, wo das helle Tageslicht ihm diese Vertreter der australischen Flora (Pflanzenwelt) deutlich zeigte, erkannte er in ihnen die auf dem kleinsten der Kontinente so sehr beliebten Bunya-Bunya-Bäume, deren faustgroße Nüsse einen ähnlichen Geschmack wie die Walnuß haben und die sehr nahrhaft sind. Der Bunya-Bunya trägt das ganze Jahr über Früchte, eine Eigentümlichkeit, die er mit vielen tropischen Baumarten teilt. Die australischen Baumkänguruhs, eine kleinere Abart dieser Klasse von Beuteltieren, nährt sich hauptsächlich von seinen Nüssen.
Fritz sammelte nun eine ganze Menge davon in seiner zu einem Rucksack zusammengeknoteten Jacke und verbarg diese dann im Gebüsch, um nun noch zu versuchen, ob er nicht einen der Vögel erlegen könne. Dies wollte ihm aber durchaus nicht gelingen. Die Tiere waren zu scheu.
Daher machte er sich schließlich etwas enttäuscht auf den Heimweg. Die Steine, die er als Wurfgeschosse mitgenommen hatte, warf er jetzt weg, nahm sich aber vor, sich aus einem passenden Ast eines Bunya-Bunya einen Bumerang zu schnitzen, eine Waffe, mit der er während eines halbjährigen Aufenthaltes mit den Eltern in Inneraustralien recht gut umzugehen gelernt hatte. Er schnitt sich dann auch einen starken Ast ab und trug ihn mitsamt dem gefüllten Rucksack nach der Terrasse, wo sowohl Ännchen als auch die Mutter sich sofort über die Nüsse hermachten.
Dem Ingenieur ging es etwas besser. Aber die Geschwulst des Beines war noch stärker geworden, so daß Fritz sofort beschloß, es mit einem anderen Heilmittel zu versuchen. Vorhin hatte er nämlich festgestellt, daß die dicken, harten Blätter der einzigen hier auf der Insel vertretenen Strauchart einen scharfen, eigenartigen Geruch hatten. Dieser Geruch hatte ihn an ein Erlebnis auf der einsamen Farm in Inneraustralien erinnert, wo sein Vater damals eine Bewässerungsanlage gebaut hatte. Ähnlich duftende Blätter waren in zerquetschtem Zustande von einem Schafhirten zur Heilung einer Brandwunde an der Hand benutzt worden. Und jener halbverwilderte Mann, ein geborener Irländer, hatte die Heilkraft der Blätter sehr gelobt.
So wurde denn ein feuchter Verband aus einem Brei dieser Blätter hergestellt. Der Kranke hatte dazu nur zufrieden genickt und leise gesagt:
„Sehr richtig, mein Junge. Es ist eine Abart des Kreosotstrauches[2].“
Dann wurde es Fritz aber auf einmal ganz schwindlig zumute. Alles drehte sich um ihn. Und schleunigst legte er sich nun nieder, um ebenfalls ein paar Stunden zu schlafen. Erst am Nachmittag erwachte er. Vor ihm stand die Mutter mit Tränen in den Augen. Dem Ingenieur ging es jetzt, wo der Abend kam, wieder schlechter. Das Fieber stieg, und der Kranke phantasierte viel. Immerhin hatte der eine Blätterbrei doch schon gewirkt. Sofort wurde nun ein neuer Umschlag vorbereitet. Während Fritz die Blätter zwischen zwei Steinen zerrieb, fiel ihm wieder etwas anderes ein. Er dachte daran, daß der Blätterabguß einer bestimmten Eukalyptus-Art, des sog. Fieberbaumes, als Heilmittel in Australien viel benutzt wurde. Vielleicht hatte diese Abart des Kreosotstrauches eine ähnliche Wirkung …! So nahm er denn ein paar Blätter und zerkaute sie. Sie schmeckten sehr bitter. Tatsächlich merkte er dann nach einer Stunde schon, daß ihm Schweißperlen auf die Stirn traten und seine Hände feucht wurden.
Als nach Anbruch der Dunkelheit das Fieber bei dem Kranken noch mehr stieg, fragte der Knabe die Mutter, ob man es nicht mit diesem Mittel einmal versuchen solle. Die vor Angst um das Leben des jetzt völlig teilnahmslos daliegenden Gatten ganz gebrochene Frau nickte nur. Sie hatte bereits alle Hoffnung aufgegeben.
Fritz sprach der Mutter liebreich zu und träufelte den Saft aus einem frisch bereiteten Blätterbrei dem Bewußtlosen in den Mund. Und hier wirkte das Mittel. Nach zwei Stunden erfolgte ein starker Schweißausbruch, der dem Kranken sichtlich Linderung verschaffte.
Zwei Tage kämpften Mutter und Sohn noch gegen die schwere Erkrankung mit aller Sorgfalt und Hingabe an. Dann war das Schlimmste überstanden.
Mittlerweile hatte Fritz genügend Zeit gefunden, den Bumerang fertigzustellen und auch sonst allerlei Arbeiten zu verrichten, um die traurige Lage der Seinen zu erleichtern.
So hatte er den vordersten Teil der Felsspalte durch aufgeschichtete Steine, deren Zwischenräume er mit Moos verstopfte, in eine Art offenen Gemachs verwandelt, ebenso am Rande der Terrasse noch eine Anzahl Sträucher eingepflanzt, um durch einen grünen Vorhang den Schlupfwinkel nach außen hin abzuschließen. Weiter war er am frühen Morgen, wenn er nicht zu fürchten brauchte einem der Mitbewohner des Eilandes zu begegnen, nach dem Meeresstrande geeilt und hatte hier nach größeren Muscheln, Krebstieren und Schildkröten gesucht. Die Muscheln wurden als Gefäße benutzt, und einige flache, sehr dickwandige ließen sich sogar zur Not als Kochgeschirre verwenden, in denen nachts auf einem Herde aus Steinen für den Kranken kräftige Brühen aus Schildkrötenfleisch bereitet wurden.
Der lange Engländer oder dieser oder jener seiner Genossen waren noch ein paarmal in der Nähe der Bucht erschienen. Und aus dem ganzen Verhalten der Männer ging klar hervor, daß sie eifrig nach dem Versteck der Deutschen suchten. Fritz nahm sich daher auch stets sehr in acht, wenn er sich am Tage ins Freie wagte. Bisher hatte er auch stets Glück gehabt.
Am Morgen des vierten Tages nach der Landung der Schiffbrüchigen auf der Insel erwachte der Ingenieur zum erstenmal völlig fieberfrei. Das Glück und die Freude der Seinen ist schwer zu schildern. Gewiß – er war noch sehr, sehr schwach, aber alle Gefahr war jetzt beseitigt.
Nachmittags unternahm der Knabe dann wieder einen kurzen Ausflug nach der Stelle, wo die vielen Bunya-Bunya-Bäume wuchsen. Er wollte zusehen, ob er jetzt nicht einen der Vögel mit dem Bumerang erbeuten könne.
Es war ein sehr heißer, windstiller Tag. Bisher war hier kein Tropfen Regen gefallen. Trotzdem blieben die Gräser auf der Heide ziemlich frisch, ein Beweis, daß der Boden ziemlich viel Feuchtigkeit besitzen müsse.
Fritz merkte, daß fremde Hände jetzt hier ebenfalls Nüsse abgeerntet hatten. Dies konnten nur die Mitbewohner des Eilandes getan haben, die noch immer im Süden in der Lichtung hausten.
Nach zwei mißglückten Versuchen gelang es dem Knaben dann wirklich, einen der hochbeinigen Vögel zu erlegen. Und heute nahm er nun auch die Gelegenheit wahr, die merkwürdigen Haufen genauer zu besichtigen. Zu seinem großen Erstaunen fand er ganz unten in einem der Haufen zwei gesprenkelte Eier, die bereits angebrütet waren. Auch drei weitere dieser aus allem möglichen Material bestehenden Gebilde enthielten Eier – offenbar solche der hühnerartigen Vögel, die außer Seevögeln als einzige auf der Insel vorkamen. Nachher erfuhr Fritz von seinem Vater, daß es sich um sog. Großfußhühner handelte, die tatsächlich ihre Eier nicht selbst ausbrüten, sondern diese Arbeit eigens dazu von ihnen hergerichteten Düngerhaufen, die starke Wärme entwickeln, überlassen.
Auf dem Rückwege wäre Fritz beinahe den beiden Amerikanern in die Arme gelaufen. Im letzten Augenblick schlüpfte er noch schnell in ein Gebüsch. Ganz dicht kamen Lomper und Fritt an ihm vorüber. Aber wie sahen die beiden Männer aus …!! Ihre Gesichter waren eingefallen, und in ihren Augen lag ein Ausdruck wilder Verzweiflung. Müde, halb taumelnd schlichen sie vorbei, um dann im Schatten des nächsten Gebüsches sich matt auf den Boden zu werfen.
„Wasser – Wasser!!“ stöhnte Fritt, indem er ein paar Gräser ausraufte und sie zu kauen begann.
Und nach einer Weile sagte dann sein Gefährte:
„Haben wir deshalb die „Karpentaria“ in die Tiefe geschickt, um hier verdursten zu müssen …?! Man könnte fast meinen, Gott wolle uns für unser Verbrechen strafen …! Ich halte es keine 24 Stunden mehr ohne Wasser aus …!! Und Frau Floot dürfte vielleicht noch heute sterben …“ –
Eine Viertelstunde später berichtete Fritz dem Vater, was er bei seinem Ausflug erlauscht hatte.
Müller nickte ernst mit dem Kopf.
„Ich wußte, daß die Schurken einen Versicherungsbetrug ausgeführt haben. Der Untergang des Dampfes ist ihr Werk. Trotz alledem ist es unsere Pflicht, den Leuten zu Hilfe zu kommen.“
Dann gab er Fritz genaue Anweisungen, wie dieser sich verhalten solle. Gleich darauf brach der Knabe nach dem Süden der Insel auf.
Als er dem Lagerplatz der sieben Menschen sich näherte, die hier in stumpfer Verzweiflung den Wahnsinn als die letzte Folgeerscheinung des Durstes erwarteten, kam ihm Buller, der Kapitän, entgegengeschwankt.
„So seid Ihr wirklich noch auf der Insel …?!“ lallte er mühsam. „Habt Erbarmen mit uns! Ihr müßt Wasser gefunden haben, – nicht wahr? Wir hier sind dem Tode nahe.“
Fritz empfand Mitleid mit dem einst so kraftstrotzenden Manne, der jetzt nichts als eine Ruine war.
„Mein Vater läßt Euch sagen, daß er Euch Wasser geben will, wenn Ihr schwört, uns im Nordteil der Insel nicht zu belästigen. Eine gedachte Linie, vom südlichsten Punkte der Bucht nach Osten zu gezogen, dürft Ihr nicht überschreiten.“
Der Schwur wurde von allen geleistet. Dann nahm Fritz die beiden leeren Fäßchen, die vordem Schiffszwieback enthalten hatten, mit und versprach, sie in einer Stunde gefüllt an einer bestimmten Stelle der Bucht niederzustellen.
Als die Stunde um war, hatten die sieben Halbverdursteten sich an dem vereinbarten Punkte eingefunden und tranken die Fäßchen bis zum letzten Tropfen leer.
Fritz stand dabei und freute sich, daß er und die Seinen imstande gewesen waren, auf diese Weise feurige Kohlen auf dem Haupte derjenigen zu sammeln, die früher nichts als Schmähworte gegen die Deutschen im Munde geführt hatten.
Leider sollte der Knabe gleich darauf erfahren, daß besonders der hagere Floot alles andere als Dankbarkeit empfand.
In anmaßendem Befehlston verlangte er jetzt von Fritz, dieser solle sofort die Fässer nochmals füllen.
Aber der Knabe erwiderte, eingedenk der vom Vater erhaltenen Anweisungen:
„Sucht nur in den Felsenhügeln am Strande genau nach! Dort werdet Ihr zweifellos irgendwo eine ähnliche Ansammlung von Regenwasser finden, wie sie uns zur Verfügung steht.“
Floot, durch das Wasser wieder zu Kräften gelangt und seinen Schwur völlig mißachtend, packte Fritz ganz plötzlich, hielt den sich Wehrenden fest und rief:
„Warte, Bursche, ich will Dich lehren, so frech mit einem Engländer zu sprechen! Denkst Du, es paßt mir, um jeden Tropfen Wasser zu betteln?! Auf der Stelle führst Du mich nach Eurem Versteck, auf der Stelle …!“
Buller wollte sich einmischen. Aber der Amerikaner Fritt brüllte ihn an…:
„Floot hat recht. Es wäre ja noch besser, wenn wir in dauernder Abhängigkeit von den Deutschen bleiben wollten …!! – Los, Junge, – oder ich schneide mir einen Zweig ab und gerbe Dir so lange das Fell, bis Du gehorchst!“
Fritz wurde bleich. Schlagen – ihn schlagen …!! Und dieser Schurke wollte es tun, von dem der Vater erklärt hatte, der Kerl gehöre an den Galgen!!
Mit einem plötzlichen Ruck riß er sich los und rannte davon. Floot und Fritt versuchten ihn zu fangen, gaben die Verfolgung aber schnell wieder auf. Ihre Körper waren zu sehr geschwächt. Aber in seiner maßlosen Wut zog der Amerikaner nun seinen Revolver aus der Tasche und feuerte sämtliche sechs Schüsse hinter dem Flüchtling drein, freilich ohne zu treffen.
Buller hatte die beiden jetzt eingeholt, schlug Fritt die Waffe aus der Hand und fuhr ihn an:
„Mensch – sind Sie wahnsinnig geworden!! Sie handeln wie ein Verrückter …!“
Fritt lachte nur höhnisch. Dann wandte er sich an die anderen:
„Kommt, wir wollen die Deutschen in ihrem Nest aufstöbern gehen. Es muß hier in der Nähe der Bucht liegen. Wir haben vier Revolver zur Verfügung. Damit läßt sich schon eine gewichtige Sprache reden.“
Und trotz des Widerspruches Bullers setzten die fünf Männer, während Frau Floot sich im Schatten eines Gebüsches niederließ, sich nach Norden zu in Bewegung. –
Inzwischen hatte Fritz längst die Terrasse erreicht und dem Vater erzählt, wie es ihm ergangen war.
Der Ingenieur sagte nur leise: „Fast habe ich ähnliches erwartet.“ Dann mußte Fritz sich am Rande der Terrasse auf die Lauer legen. Die Gebüsche deckten ihn vollkommen.
Sehr bald erschienen auch die fünf Männer, die auf dem Boden nach Spuren suchten, die sie vielleicht nach dem Versteck der Deutschen hinführen konnten.
Daß sie auf diese Weise nie zum Ziele kommen würden, war dem Knaben klar. Er sah daher auch der neueren Entwicklung der Dinge mit großer Ruhe entgegen. In der Tat endete dieser Streifzug der fünf auch mit einem völligen Mißerfolg. Unverrichteter Sache mußten sie schließlich kehrtmachen.
Buller, der bei Frau Floot zurückgeblieben war, empfing sie mit finsterem Gesicht.
„Nun könnt Ihr zusehen, wo Ihr Trinkwasser herbekommt!“ meinte er wütend. „Müller wird uns keinen Tropfen mehr verabfolgen.“
Aber es zeigte sich schon eine Stunde später, daß der Himmel es selbst mit den schlimmsten Schurken bisweilen zu gut meint. Die Schwüle des Tages löste sich in ein schweres tropisches Gewitter auf, das von einem starken Regengusse begleitet war. So erhielten die Bewohner des Südteiles der Insel unverdienterweise das ersehnte Naß, das sich in den Felsen hier und da in größeren Pfützen ansammelte.
Die Lage der Deutschen war infolge ihrer großmütigen Hilfsbereitschaft nur noch schlechter geworden. Die Feindseligkeiten mit den Anhängern des dürren Engländers waren jetzt sozusagen eröffnet worden.
Der Ingenieur verhehlte sich nicht, daß irgend etwas geschehen müsse, um die Leute zunächst wenigstens ihrer Schußwaffen zu berauben. Alles weitere würde sich dann schon finden.
Da kam das Gewitter. Es goß in Strömen. Und die Deutschen hätten es in ihrem offenen Gemach wohl sehr ungemütlich gehabt, wenn Fritz nicht den Wohnraum klugerweise unter einem weit überragenden Teil der Felsspalte angelegt haben würde.
Leider ließ sich jetzt sofort nichts gegen Floot und seine Genossen unternehmen. Fritz hätte zu gern versucht, den Plan des Vaters zur Ausführung zu bringen. Das Wie mußten die Umstände ergeben. Jedenfalls hatte der Ingenieur zu der Findigkeit und Tatkraft seines Sohnes jetzt das vollste Vertrauen, nachdem der Knabe in so umsichtiger Weise für die Seinen gesorgt hatte. Vorläufig mußte man also abwarten, bis das Unwetter sich gelegt haben würde.
Das Gewitter ging jedoch in einen starken Landregen über, der bis zum Abend anhielt. Dann erst, als auch ein kräftiger Wind die Ebene leidlich getrocknet und die letzten Wolken verjagt hatte, brach Fritz, von dem Vater nochmals zur größten Vorsicht ermahnt, nach dem Südteil der Insel auf. Mond und Sterne spendeten auch heute wieder genügend Licht, um die Umgegend weit genug überschauen zu können.
Fritz fand den alten Lagerplatz der sieben Personen jedoch zu seiner Überraschung leer. Bei näherem Nachdenken sagte er sich allerdings dann selbst, daß Floot und sein Anhang bei dem Unwetter sicher anderswo als hier im Gebüsch einen Unterschlupf haben würden. Die Leute jetzt in der Nacht zu finden, erschien ihm allerdings ziemlich aussichtslos. Trotzdem wollte er wenigstens noch in der Nähe sich nach ihnen umsehen. Hierbei entdeckte er dann, daß es auch hier im Süden des Eilandes einen Hohlweg nach der See hin gab, der in Gestalt eines ziemlich breiten Tales die Randhügel durchschnitt Als er, eigentlich ohne bestimmte Absicht, jetzt dieses Tal passiert hatte, gewahrte er zu seiner Rechten am Strande ein Boot, in das gerade als letzter der dicke Kapitän Buller hineinkletterte.
Noch mehr bemerkte er aber: Draußen in See kreuzte eine Bark vor der Insel in kurzen Schlägen hin und her …!
Fritz besann sich nicht lange. Er durfte das Boot nicht abfahren lassen! Es mußte die Deutschen ebenfalls mitnehmen. So rannte er denn eiligst vorwärts, indem er mit lauter Stimme rief: „Halt – halt …!“
Ein Hohngelächter antwortete ihm. Die Ruderer legten sich in die Riemen, und kein anderer als der lange Floot war es, der ihm zubrüllte:
„Viel Vergnügen hier! Ihr könnt ja eine Kolonie gründen!“ – Er fügte noch mehr hinzu: Schimpfreden auf Deutschland, den Kaiser und das ganze deutsche Volk.
Fritz erkannte an der Bauart des Bootes, daß dieses zu einem Walfischfänger gehörte. Sicherlich war es ein englischer Segler …! Unter diesen Umständen hatten die Seinen und er allerdings nichts zu hoffen … –
Die Bark setzte gleich darauf alle Segel und verschwand. Der Knabe kehrte traurig nach der Terrasse zurück.
Ein Monat ist seit den zuletzt geschilderten Ereignissen vergangen.
Auf der Terrasse über der Bucht sieht es jetzt ganz, ganz anders aus. An ihrem Rande erhebt sich eine niedrige Mauer von Steinen. Und links neben der Felsspalte an der Rückwand steht eine Hütte aus demselben Baumaterial mit einem Dach von geflochtenen Zweigen und Ästen, über das Moosstücke gebreitet sind. An der anderen Seite der Felsspalte wieder befindet sich ein zweites, niedrigeres Hüttchen, davor eine Art großer Käfig, in den eine Anzahl junger Großfußhühner eingesperrt sind.
Ein aus Astwerk hergestellter Zaun teilt die Terrasse zwischen den beiden Hütten in einen Wirtschaftshof und einen Vorgarten. Letzterer hat zierlich abgeteilte Beete, in die man die wenigen Blumen gepflanzt hat, die auf der Insel vorkommen.
Alles sieht sauber, gefällig und anheimelnd aus. Der praktische Sinn des längst völlig wieder hergestellten Ingenieurs hat hier sozusagen aus dem Nichts eine kleine Ansiedlung geschaffen, die den Vorteil bietet, gleichzeitig eine kleine Festung zu sein.
Soeben kommt das Mädelchen aus der Felsspalte heraus. In einem Körbchen trägt es Käferlarven, die es auf der Heide gesammelt hat und die für das Hühnervolk bestimmt sind. Ännchen sieht frisch, munter und sonnverbrannt aus.
Da erscheint auch die Mutter in der offenen Tür des Wohnhäuschens. Auch von ihrer Stirn sind die Sorgenfalten geschwunden. Heiter begrüßt sie ihr Töchterchen.
„Ich muß sofort wieder nach der Bucht hinab“, erklärt Ännchen. „Vater und Fritz haben wieder zwei Robben erlegt, und die Angeln lieferten ebenfalls guten Fang. Die Beute soll sofort nach der Schlucht in den Keller geschafft werden. Es ist heute so heiß, und da verdirbt das Fleisch so leicht.“
Frau Müller geht wieder an die Zubereitung des Mittagessens, und das Mädelchen streut den Hühnern Futter hin, um dann die Terrasse zu verlassen.
Um die Krümmung der Bucht biegt ein Floß und hält auf die Anlegestelle seitwärts der Terrasse zu. Vater und Sohn bewegen taktmäßig die Ruder. Auf dem primitiven Fahrzeug, das aus den Trümmern des gescheiterten Rettungsbootes der „Karpentaria“ hergestellt ist, die die Ansiedler glücklich geborgen haben, liegen zwei Robben, eine Anzahl Fische und daneben die Waffen der beiden männlichen Mitglieder der kleinen Kolonie: Lanzen, Bogen und Pfeile. Die Eisenspitzen hat man aus den Metallbeschlägen der Bootsreste geschmiedet. Und diese hatten auch dazu ausgereicht, um eine Axt, ein Beil sowie anderes notwendiges Handwerkszeug herzustellen.
„Die Robben werden täglich zahlreicher“, sagte Fritz eben zu seinem Vater. „Bald werden wir genügend Felle besitzen, um uns dauerhafte Kleider daraus anfertigen zu können. Und der Tran ist auch nicht zu verachten.“
„Du darfst nicht vergessen, mein Junge“, erwiderte der Ingenieur, „daß wir dem Winter entgegengehen. Wenn wir hier auf unserer Insel auch nicht eben viel davon merken werden, höchstens geringere Wärme und zahlreichere Regenfälle, so treten jetzt doch bereits die Robben aus den Südpolargegenden ihre Wanderungen in mildere Gegenden an. Das kommt uns nur gelegen. Wo hätten wir sonst wohl das Leder zu Riemen und zu manchem anderen hernehmen sollen, wenn diese Gäste aus kälteren Regionen nicht gewesen wären …! – Sieh’, da ist auch Ännchen schon am Anlegeplatz.“
Bald war die ganze Beute in die Schlucht geschafft, in die der Felsentunnel einmündete. Hier hatte der Ingenieur eine tiefe Felsspalte, in der es stets recht kühl war, als Vorratskeller eingerichtet. Gesondert lagerten hier Felle, gebrannte Tongefäße mit ausgeschmolzenem Tran, Bunya-Bunya-Nüsse, geräucherte Fische und verschiedenes andere.
Gleich darauf rief auch die Mutter die Familie zum Mittagessen. Dieses wurde vor der Hütte in der sog. Laube eingenommen, einem mit Robbenfellen als Sonnendach überspannten Vorplatz, unter dem ein Tisch und zwei Bänke standen.
Heiter und froh verlief die Mahlzeit wie immer. Nach dem Essen nahmen Vater und Sohn ihre aus dem harten Bunya-Bunya-Holze hergestellten Grabscheite zur Hand und begaben sich nach der Heide.
Daß diese nichts anderes war als ein ausgetrocknetes Torfmoor, hatte der Ingenieur sehr bald nach seiner Genesung festgestellt. Daher war es auch Fritz bei seinem ersten Gange über die Ebene aufgefallen, daß der Boden stellenweise so sehr weich und elastisch war.
Seit einer Woche bereits arbeiteten Vater und Sohn an einer tiefen Grube, die sie mitten in dem Torfmoor aushoben. Den fetten Torf, den sie hierbei gewannen, formten sie zu Ziegeln und bauten daraus mächtige bienenkorbähnliche Haufen. Um dieses Brennmaterial war es dem Ingenieur jedoch keineswegs zu tun. Zu dieser ganzen, mühseligen Arbeit zwang ihn vielmehr die Holzarmut der Insel. Gewiß – Sträucher gab es hier genug, auch zahlreiche Bunya-Bunya-Bäume. Aber letztere mußte man schonen und durfte sie nicht umhauen. Daher hatte Müller mit Hilfe seines wackeren Jungen die Grube auszuheben begonnen. Hoffte er doch, daß man in tieferen Schichten vielleicht auf Baumstämme stoßen würde, die noch gut erhalten waren und die man zum Bau eines seetüchtigen Bootes verwenden konnte.
Torfmoore haben ja schon die seltsamsten Dinge zutage gefördert. Ganze Wälder hat man in ihnen gefunden, allerlei Altertümer, so besonders nicht wenige Nachen und menschliche und Tierleichen, die auffallend wenig verwest waren.
Hier freilich schien alle Mühe umsonst zu sein. Nichts als Torf, schwarzbraune, fette Torferde, gab es an dieser Stelle. Kaum daß hin und wieder ein etwas stärkerer Ast gefunden wurde.
Unverdrossen, wenn auch ohne sich zu überanstrengen, arbeiteten Vater und Sohn in der bereits gegen vier Meter tiefen Grube. Schuhe und Strümpfe hatten sie sich ausgezogen und die Beinkleider hoch aufgekrempelt. An den Füßen trugen sie eine Art Sandalen aus Robbenleder, um sich nicht die Haut der Fußsohlen an den kleinen Holzstückchen, mit denen der Torf vermischt war, zu ritzen. Meist standen sie bis weit über die Knöchel in dem dicken, zähen Brei und füllten die feuchte Masse in feste, geflochtene Körbe, die dann an Lederriemen nach oben gezogen wurden. Um dieses Hochschaffen des ausgestochenen Torfes zu erleichtern, hatte der Ingenieur über der Grube eine ebenso einfache wie sinnreiche Winde angebracht.
Fritz hatte sich gerade, um sich auszuruhen, auf seinen Spaten gestützt, den er in die bereits von der Sonne recht schnell ausgetrocknete eine Wand der Grube getrieben hatte, als sein Vater sein Grabscheit des öfteren in den weichen, schwarzen Boden stieß und dann triumphierend rief:
„Junge – hier unten liegt etwas Hartes – ein größerer Gegenstand …! – Endlich also ein Lichtblick! Es wäre doch auch ein Jammer gewesen, wenn wir uns diese ganze Arbeit umsonst gemacht hätten!!“
Fritz hatte seinen Spaten schon zur Hand genommen, und mit wahrem Feuereifer wurde nun die Torfschicht über dem noch nicht seiner Natur nach festzustellenden Dinge da unten entfernt.
Dann kam zuerst ein seltsam geformter Pfahl zum Vorschein. Als Fritz die noch daranhaftenden Torfstücke mit den Fingern abgekratzt und der Ingenieur gleichzeitig den Holzpfahl noch weiter freigelegt hatte, zeigte es sich, daß es sich fraglos um den schnabelartig verlängerten Vordersteven eines großen Fahrzeuges handelte, der reich mit Schnitzereien bedeckt war und in einen häßlichen Götzenkopf auslief.
Vier Tage später hatten Vater und Sohn dann das altertümliche, breite Boot, das eine Länge von gut zehn Meter besaß, ganz aus der Torfmasse herausgeschaufelt und es auch innen vollständig gesäubert. Es war sehr gut erhalten und aus dem Holze einer Eukalyptusart gefertigt, die an Härte und Dauerhaftigkeit dem Teakholz nicht viel nachgibt. Müller schätzte das Alter des Fahrzeuges auf gut 800 Jahre und erklärte es für malaiischen Ursprungs, wenigstens der Art der Verzierungen nach. Es hatte ungefähr Ähnlichkeit mit den Wikingerschiffen, besaß auch einen hoch emporragenden Hintersteven und acht Ruderbänke. Bis auf ein paar altertümliche Waffen aus einem bronzeähnlichen Metall war es leer gewesen, als die Katastrophe eingetreten war, die es an diese Stelle bannte.
Die ganze Tätigkeit der vier Ansiedler drehte sich jetzt um das Boot. Der Ingenieur hatte nach einigem Kopfzerbrechen Mittel und Wege gefunden, das schwere Boot trotz der geringen, zu Gebote stehenden Arbeitskräfte bis nach der Bucht zu schaffen, wo es dicht am Ufer völlig gesäubert, abgedichtet und mit einem Verdeck sowie Kuttertakelung versehen wurde. Dies alles fertigzubringen, nahm viele Wochen in Anspruch.
Genau am Weihnachtstage 1915 wurde es dann zu Wasser gebracht. Es war jetzt ein Schifflein daraus geworden, dem man sich schon anvertrauen durfte. Und nach den ersten Probefahrten, die die volle Gebrauchsfähigkeit der aus Robbenfellen zusammengenähten Segel ergaben, beschloß das Familienoberhaupt, mit dem seltsamen Kutter, der „Hoffnung“ getauft und gut verproviantiert worden war, in See zu stechen, um nach Norden zu auf das Festland von Australien zuzuhalten.
* * *
Unsere vier Ansiedler erreichten schließlich auch wieder bewohnte Gegenden. Aber nach welchen neuen Mühsalen und Abenteuern …! Das Schicksal hatte ihnen noch mancherlei unliebsame Überraschungen vorbehalten, bei denen der hagere Floot und seine Genossen eine große Rolle spielten.
Wenn einer unserer lieben Leser für das fernere Ergehen der Familie Müller und besonders des wackeren Fritz Interesse hat, so wird er in dem nächsten Hefte dieser Sammlung unter dem Titel „Die brennende Insel“ Ereignisse in Gedanken miterleben können, die noch weit abwechslungsreicher und spannender sind als die hier geschilderten. Sie werden ihm auch beweisen, daß der strafende Arm der göttlichen Gerechtigkeit oft seltsame Mittel zur Entlarvung habgieriger Naturen findet, denen Menschenleben als ein Nichts gegolten haben, nur um sich auf leichte Art zu bereichern, wie dies eben von den beiden verbrecherischen Amerikanern Tom Lomper und Jack Fritt versucht worden war.
Ende.
Das nächste Heft enthält:
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.
Anmerkungen: