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Ihr Junge

Ihr Junge.

Kriminal-Novelle von Walther Kabel.

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1. Kapitel.

Frau Seiler war mit dem Herrichten des einfachen Abendessens fertig. Sie nahm die Küchenlampe, die bisher über dem Herde an einem Nagel an der Wand gehangen hatte, herunter und stellte sie auf den mit einem vielfach ausgebesserten, aber peinlich sauberen weißen Leinentuche bedeckten Tisch, der vor dem Fenster der kleinen Küche stand. An dem Tische saß ihr Einziger, der zwölfjährige Fritz, ein Junge mit kecken, frischen Zügen, und wartete mit einem Heißhunger, wie man ihn nur in jenen glücklichen Jahren empfindet, der Dinge, die da kommen sollten. Es gab Schmorkartoffeln und ein paar Scheiben Wurst dazu, außerdem noch einen Rest vom Mittag, Pflaumensuppe mit Klößen, Fritzchens Lieblingsgericht. Frau Seiler merkte wohl, wie verlangend ihres Kindes Augen den vollen Teller Suppe musterten. Und gutmütig schob sie ihm denselben hin. Als der Junge endlich gesättigt war, — die Mahlzeit hatten Mutter und Kind nur durch gelegentliche Bemerkungen unterbrochen, — räumte Frau Seiler das Geschirr wieder ab. Fritz nahm nun die Zeitung zur Hand, die der Monteur Werner sich hielt, der seit ungefähr zwei Wochen das Vorderzimmer bewohnte. Die erste Seite interessierte Fritz nicht weiter. Nur „Neues aus aller Welt“ hielt er einer Durchsicht für wert. Dort standen doch bisweilen kurze Nachrichten, die sein für alles Abenteuerliche schwärmendes Knabenherz höher schlagen ließen: Berichte über Diebstähle, Unfälle aller Art, Kämpfe zwischen Polizeibeamten und Einbrechern und ähnliches. Auch heute war da wieder eine Notiz, die er begierig Wort für Wort las. Immer aufs neue überflog er einige Zeilen, die seine besondere Aufmerksamkeit erregten.

Jetzt konnte er die Neuigkeit doch nicht länger für sich behalten. „Mutter, hör' mal zu, was hier in der Zeitung steht“, rief er ganz erregt in das Geklapper der Teller und Schüsseln hinein.

Frau Seiler ließ das Handtuch, mit dem sie soeben einen Teller trocken gerieben hatte, sinken. Fritz faßte das richtig als eine Aufmunterung zum Vorlesen auf.

„Wie uns unser N.W.-Korrespondent mitteilt, war Paul Nötig, der in Verbrecherkreisen unter dem Spitznamen Schuster-Karl bekannt ist, und den die Kriminalpolizei der Reichshauptstadt dringend in Verdacht hat, den verwegenen Einbruch in das Juweliergeschäft der Gebrüder Heiser allein ausgeführt zu haben, im vorigen Sommer hier in unserer Provinzialstadt drei Monate unter falschem Namen bei dem Schuhmacher Albrecht in der Gneisenaustraße als Geselle tätig, — natürlich nur, um für einige Zeit gänzlich von der Bildfläche zu verschwinden. Unsere Leser werden sich an die erwähnte Beraubung einer der ersten Juwelierfirmen Berlins noch erinnern. Das Geschäft der Gebrüder Heiser, Königliche Hoflieferanten, liegt Unter den Linden. Vor etwa drei Wochen fanden die Eigentümer, als sie am Montag morgen die Geschäftsräume betraten, den eisernen Geldschrank, in dem sie vorsichtigerweise die wertvollsten Waren über Nacht stets einschlossen, erbrochen und völlig ausgeraubt vor. Ein Loch in der Decke des Ladens zeigte, daß die Einbrecher — zuerst nahm man an, daß mehrere an der Sache beteiligt gewesen waren — sich aus einem Zimmer der oberen gerade leerstehenden Wohnung durch den Fußboden Zugang zu den wohlverwahrten Verkaufsräumen verschafft hatten. Die Ermittelungen der Kriminalpolizei ergaben dann, daß offenbar nur ein Einbrecher die Ausraubung des Geschäftes trotz der mannigfachen Schwierigkeiten vorgenommen hatte. Man fand nämlich an der glatten Politur des Geldschrankes einige Fingerabdrücke, die, wie sich leicht aus dem Verbrecheralbum feststellen ließ, nur solche des berüchtigten Schuster-Karl sein konnten. Alle Versuche, dieses Verbrechers habhaft zu werden, sind bisher leider vergeblich gewesen, obwohl sofort sämtliche Häfen und Grenzstationen überwacht wurden und die Polizei auch im Binnenlande eine geradezu fieberhafte Tätigkeit entwickelte. Der Umstand, daß Paul Nötig alias Schuster-Karl sofort nach dem Einbruch spurlos aus der Hauptstadt verschwunden war, beweist nur noch mehr, daß einzig und allein dieser verwegene Spitzbube als Täter in Frage kommt. Zunächst nahm man sogar an, Schuster-Karl könnte vielleicht wieder in unserer Stadt, die ihm von seinem vorjährigen Aufenthalt recht gut bekannt sein muß, einen Unterschlupf gesucht haben, was sich jetzt allerdings als irrig herausgestellt hat, da unsere Kriminalpolizei hier bereits jeden auch nur etwas verdächtigen Fremden sich genauer angesehen hat. Vielmehr ist man jetzt der Ansicht, daß es Schuster-Karl in irgend einer Verkleidung doch geglückt sein muß, ins Ausland zu entwischen. Trotzdem werden die Recherchen nach ihm noch mit ungeschwächtem Eifer fortgesetzt. Steht doch demjenigen, der ihn fängt und den Raub wieder herbeischafft, eine Belohnung von nicht weniger als 3000 Mark in Aussicht. Und diese Summe dürfte für die Berufskriminalisten stets ein neuer Ansporn sein. Erwähnt sei noch, daß der Firma Heiser für nicht weniger als 135000 Mark Brillanten, teils gefaßt, teils ungefaßt, auf diese Weise gestohlen wurden.“

Fritz Seiler war bei dem Vorlesen dieses ziemlich ausführlichen Berichtes beinahe der Atem ausgegangen. Noch nie hatte er sich zu einer solchen Vortragsleistung aufgeschwungen. Jetzt meinte er, indem er seine Mutter mit glänzenden Augen ansah:

„Denk' dir, Mutter, 3000 Mark Belohnung. Drei … drei tausend Mark! Ja, wer sich die so verdienen könnte …!“

Frau Seiler seufzte leise auf. Ihr Junge hatte recht. Das war ein kleines Vermögen. Was hätte sie nicht mit dem Gelde alles anfangen können! — Unwillkürlich begann sie Luftschlösser zu bauen. Eine andere, größere Wohnung könnte sie sich nehmen und darin ein richtiges Atelier für Damenmoden einrichten. Lehrmädchen könnte sie sich halten, auch ein oder zwei gelernte Hilfskräfte … Und dann würde sich auch so langsam die feinere Kundschaft einstellen, bei der mehr zu verdienen war als jetzt bei den Dienstmädchen, für die sie bisher ausschließlich gearbeitet hatte. …

Ein Geräusch in der nach der Straße zu gelegenen Stube schreckte sie aus ihrem Sinnen auf. Wo hatten sich nur ihre Gedanken hinverirrt … Das waren ja alles nur schöne Träume, und die Wirklichkeit so anders, so dürftig.

Das Handtuch trat wieder in Tätigkeit. Schnell reinigte sie die letzten Teller und stellte sie in den Schrank. Da klopfte es auch schon. Auf ihr "Herein" betrat der Monteur Werner die Küche. Es war ein älterer, peinlich sauber gekleideter Mann mit vollem, leicht ergrautem Haupthaar und ebensolchem Schnurrbart, dessen intelligentem, gesundem Gesicht die Brille vor den meist halb zugekniffenen Augen einen besonders würdigen Anstrich gab.

„Guten Abend allerseits“, meinte er gemütlich und schüttelte Mutter und Kind zur Begrüßung kräftig die Hand.

„Na, Frau Seiler, haben Sie vielleicht für mich noch etwas zum Abendbrot da?“ fragte er, sich schwer in den leeren Stuhl an dem Küchentisch fallen lassend.

„Nicht viel, Herr Werner. Wenn Sie mit ein paar belegten Broten und einer Flasche Bier zufrieden sind, das kann ich Ihnen vorsetzen.“

„Sie wissen ja, ich bin nicht anspruchsvoll“, meinte er gemütlich. „Also nur her mit Ihren Kostbarkeiten. Ich habe tüchtigen Hunger. Hier bei Ihnen schmeckt es mir noch immer besser, als in der Kneipe, in all dem Tabakrauch und Lärm. Und wenn Sie erlauben, esse ich gleich hier am Küchentisch. Da kann man wenigstens nebenbei noch ein vernünftiges Wort miteinander reden. Und danach verlangt einem so alten Junggesellen wie mir wirklich einmal.“

Während Frau Seiler für ihren Mieter die bescheidene Mahlzeit zurechtmachte, unterhielt der Monteur sich mit Fritz, dessen Freundschaft er sich durch verständnisvolles Eingehen auf die Interessen des Knaben und gelegentliche kleine Geschenke längst erworben hatte.

„Na, Fritz, genießt du denn auch deine Ferien recht ordentlich?“ hatte er das Gespräch eingeleitet.

„Und ob, Herr Werner. Ich bin den ganzen Tag draußen in den Feldern und im Walde. Wir Jungens hier in der Vorstadt haben es ja viel — viel besser, als die mitten in der Stadt. Ein paar Schritt, und wir sind im Grünen. Ja, Herr Werner, Sie und Mutter sollten jetzt mal mit in den Wald und auf die Heide kommen. Die Bäume und Sträucher haben schon alle kleine Blättchen. So früh wie in diesem Jahre haben wir noch nie draußen Ritter und Räuber spielen können.“

„Na, wir sind ja auch schon fast eine Woche nach Ostern. Und das Fest fiel diesmal recht spät“, meinte der Monteur freundlich. Die frische Art des Knaben, dessen Offenheit und diese bei jeder Gelegenheit wieder hervortretende große Anhänglichkeit an die Mutter machten ihm den Jungen von Tag zu Tag lieber. In dem kleinen Burschen steckte ein gesunder Kern. Das merkte man sofort.

„Also Ritter und Räuber spielt ihr auch?“ setzte er die Unterhaltung lächelnd fort. „Ja, ja, das war auch mal mein Lieblingsspiel. Da könnt ihr euch drüben in der großen Heide mit ihren dicht bewachsenen Schluchten ordentlich auslaufen. Ist gesund und besser wie Stubenhocken. Später im Leben, wenn's erst heißt, das tägliche Brot verdienen, bekommt man meist wenig genug frische Luft zu schnappen.“ — Da Frau Seiler inzwischen den Teller mit den belegten Broten vor ihn auf den Tisch gestellt hatte, begann er jetzt behaglich zu essen.

Fritz benutzte diese Gelegenheit, um seinen grünen Filzhut vom Kleiderhaken zu nehmen und schnell hinauszuschlüpfen. Er schlenderte um das Haus herum und schaute zu dem kleinen Giebelfenster empor. Dort oben hauste der Schuster Albrecht, ein Witwer, mit seinen beiden Söhnen Hans und Karl. Bei dem hatte im vorigen Sommer der Schuster-Karl gearbeitet, auf den Fritz sich noch recht gut besann. Das war ein kleiner, stämmiger Mensch gewesen mit einem auffallend blassen Gesicht; und stets freundlich zu jedermann. Besonders mit den Brüdern Albrecht hatte er auf recht vertrautem Fuße gestanden. Für einen so gefährlichen Einbrecher hätte Fritz den allerdings nie gehalten.

Der Junge blickte sich jetzt erst vorsichtig um. Dann steckte er den gekrümmten Zeigefinger in den Mund und stieß einen besonderen Pfiff aus, der langsam zu gellender Höhe anschwoll und in einem kunstgerechten Triller endigte. Schnell wie ein Schatten huschte er hierauf über den Hof und verschwand hinter dem langgestreckten Stallgebäude in der Dunkelheit.

Fritz lauschte in den Abend hinaus, aber heute schien das Zeichen, das er zwischen sich und seinen Spielkameraden verabredet hatte, unbeachtet zu bleiben. Es war ihm überhaupt schon aufgefallen, daß Hans und Karl nicht mehr so häufig wie früher seine Gesellschaft aufsuchten, und wenn ihn auch nicht gerade Freundschaft mit den beiden verband, fühlte er sich von ihrem Benehmen doch peinlich berührt. Seine Mutter sah den Umgang mit den Söhnen des Schusters Albrecht nicht besonders gerne; es waren aber die einzigen mit Fritz gleichaltrigen Knaben aus der Nachbarschaft, und da von ihnen bis jetzt etwas Schlimmes nicht bekannt war, ließ sie ihren Jungen, welcher eines Bruders entbehrte, gewähren. Ein offenes Auge wollte sie ja jedenfalls behalten und sobald es geboten schien, den Verkehr verbieten.

Jetzt bemerkte Fritz, wie zwei Gestalten langsam und vorsichtig hinter dem Hause hervorkamen. Es waren die Brüder Hans und Karl; der größere trug ein ziemlich umfangreiches Paket unter dem Arm.

„Wo bleibt ihr denn?“ frug Fritz ungeduldig. „Wir können doch, ehe es vollständig dunkel wird, noch ein bißchen wettlaufen.“

„Pah! Die dumme Spielerei!“ meinte Hans wegwerfend, „dazu haben wir keine Zeit und Lust mehr!“

„Wir müssen für Vater eine Besorgung in der Stadt machen“, fügte Karl, als er das erstaunte Gesicht seines jungen Freundes sah, erklärend bei.

„Nun, da kann ich euch ja noch ein Stück begleiten“, meinte Fritz unbefangen.

„Dann wird es dir zu spät, und deine Mutter wird sich um dich sorgen; bleib nur hier.“

„Jawohl; sie macht uns dann vielleicht noch Vorwürfe, wir hätten dich überredet, mit uns zu gehen.“

Fritz schwieg; er war unangenehm berührt, denn er merkte, daß seine Kameraden ihn los sein wollten.

„Aber morgen haben wir Zeit“, sagte Karl, der offenbar den unangenehmen Eindruck, den ihre Worte auf Fritz gemacht, wieder verwischen wollte. „Dann können wir zusammen einen Ausflug in den Wald machen und Ritter und Räuber spielen. Im Wald ist es jetzt am schönsten.“

„Wir müssen nun aber eilen,“ fügte Hans bei, „denn wir haben einen weiten Weg in die Stadt zu machen. Also auf morgen!“

Damit gingen sie in der Richtung, die ins Innere der Stadt führte. Seltsam erregt blickte Fritz den beiden nach; es kam ihm sonderbar vor, daß man ihn so rasch abschüttelte und auf morgen vertröstete. Langsam schlenderte er dem Hofe zu, aber unter dem Tor blieb er noch einige Minuten stehen, und als er zufällig den Kopf rückwärts wandte, bemerkte er, wie die Brüder Albrecht den Weg nach der Stadt verließen und die entgegengesetzte Richtung einschlugen.

Das reizte ihn. Nun war es ihm klar, daß sie ihn belogen und etwas vor ihm verbargen. Was hatten sie vor? Wohin wollten sie heimlich gehen?

Der Knabe fühlte ein unbezähmbares Verlangen, das zu ergründen. Was hinderte ihn, den beiden nachzugehen? Rasch entschlossen führte er sein Vorhaben aus. Aber Vorsicht war geboten, damit sie ihn nicht bemerkten. So schlich er sich in einiger Entfernung unter Vermeidung jedes Geräusches den Brüdern nach.

Sie machten einen eigentümlichen Weg hinaus in die einsame Heide, die mit Ginstergebüsch bedeckt war, und deren Schluchten ihnen immer so vortreffliche Schlupfwinkel bei ihren Spielen boten. Fritz kannte die nähergelegenen Stellen wohl, aber dahin richteten seine Freunde ihre Schritte heute nicht. Sie wandten sich einer noch viel unwegsameren Gegend zu, die wohl selten von dem Fuße eines Wanderers betreten wurde. Mehr als einmal hielten sie in ihrem Wege inne und blickten spähend um sich; dann ließ sich Fritz rasch auf den Boden fallen, und das überall üppig wuchernde Ginstergesträuch verbarg ihn in der rasch zunehmenden Dunkelheit vollständig. Er selbst mußte seine Augen und sein Gehör anstrengen, damit ihm nichts entging.

Da tönte durch die Stille des Abends der heisere Schrei eines Käuzchens. Der Knabe zuckte unwillkürlich zusammen. Es war ihm eigentümlich zumute hier, weitab von jeder menschlichen Behausung, auf Schleichwegen, die offenbar das Licht des Tages scheuen mußten. Es kamen ihm alle möglichen abenteuerlichen Erzählungen in den Sinn, und als jetzt auch der Mond sein gespenstisches Licht über die einsame Gegend und die beiden lautlos dahin huschenden Knabengestalten warf, überkam ihn ein unbehagliches Gefühl, und er wünschte, daheim bei seiner Mutter geblieben zu sein.

Aber nur einen Augenblick! Seine Neugierde war zu sehr erregt, und er wollte keinenfalls unverrichteter Dinge wieder heimkehren. Jetzt konnte er deutlich eine dicke, verkrüppelte Kiefer bemerken, welche den Brüdern als Wegmarke zu dienen schien, denn sie wandten sich direkt diesem Punkte zu. Es dauerte nicht lange, da sah er im vollen Mondlicht ihre Gestalten an dem Baume stille stehen. Wieder ertönte der schauerliche Ruf eines Nachtvogels, und in dem nämlichen Augenblick waren die beiden Knaben spurlos verschwunden!

Mit ungläubigen Staunen spähte Fritz mit Anstrengung aller Sinne nach der Stelle, wo er eben noch seine beiden Kameraden erblickt. Unbeweglich blieb er einige Minuten, dann schlüpfte er entschlossen bis zu der Kiefer vor. Sie stand am Rande einer Ginsterschlucht, die so steil abfiel, daß es ihm unfaßbar war, wie die beiden hier hätten hinunterklettern sollen. Nichts war von ihnen zu entdecken, kein Ton war vernehmbar, die Gegend lag ruhig und friedlich, und wenn der Knabe seiner Sache nicht so sicher gewesen, hätte er alles für eine Sinnestäuschung halten können.

Nun aber, sagte er sich, mußte er nach Hause; es war spät geworden, und seine Mutter war gewiß um ihn besorgt. Heute konnte er nichts mehr entdecken, aber er merkte sich genau den Platz und beschloß, bei nächster Gelegenheit diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Alle möglichen Gedanken erfüllten seine kindliche Einbildungskraft, während er raschen Schrittes heimwärts eilte.

 

Zweites Kapitel.

Inzwischen war die Mutter des unternehmungslustigen Jungen in ernster Sorge gewesen und hatte mehrfach nach ihm gerufen. Der Abend rückte immer weiter, und sie überlegte gerade mit Herrn Werner, wo sie ihren Sohn wohl finden könne, als sie das Öffnen des Hoftores zu vernehmen glaubte. Frau Seiler lehnte sich über den Tisch und öffnete den einen Fensterflügel, um hinauszuhorchen.

„Fritz, Fritz!“ rief sie laut auf den Hof hinaus.

„Ja, Mutter — ich komme!“ antwortete des Jungen Stimme ganz aus der Nähe. Und wenige Sekunden später kam er herein, sagte höflich wie immer guten Abend und hängte seinen Filzhut an den Kleiderhaken.

„Du sollst abends nicht so lange draußen bleiben“, vermahnte Frau Seiler ihn streng. „Von jetzt an findest du dich spätestens um neun Uhr wieder ein.“

„Ihr habt wohl wieder Ritter und Räuber gespielt?“ meinte der Monteur ablenkend. „Du bist ja noch ganz außer Atem.“

Fritz war nur zögernd in den Lichtkreis der Lampe getreten. Er wich auch dem Blicke Werners ängstlich aus, als er jetzt unsicher erwiderte:

„Ja … Ritter und Räuber und Versteck.“

Der Monteur war aufmerksam geworden. Der Junge sprach die Unwahrheit — kein Zweifel. Das war ihm deutlich vom Gesicht abzulesen.

„Wohl mit deinen Freunden, den Albrechts?“ forschte er jetzt absichtlich weiter.

„Ja.“ Wieder dieselbe Unsicherheit, dieselbe Verlegenheit.

Der Monteur wußte nicht, was heute in den Knaben gefahren war. Der hatte doch fraglos irgend etwas zu verheimlichen. Sollte der Verkehr mit den Albrechts doch nicht so ganz gefahrlos sein …! Da mußte er dahinterkommen. Das war er schon Frau Seiler schuldig.

Bald darauf sagte er den beiden gute Nacht und zog sich in sein Zimmer zurück.

Als Fritz Seiler am nächsten Morgen nach dem Kaffee seine Freunde durch den wohlbekannten Signalpfiff benachrichtigte, daß er jetzt bereit sei, mit ihnen zu dem verabredeten Ausflug nach dem Walde aufzubrechen, harrte seiner abermals eine Enttäuschung. Die Brüder waren nicht mehr daheim, wie ihm der Schuster von oben durch das Fenster zurief. So musste er sich denn auf eigene Faust die Zeit zu vertreiben suchen. Da fiel ihm ein, daß ja heute der große Wanderzirkus eintreffen sollte, dessen Riesenreklameplakate schon seit Tagen an allen Säulen klebten. So eilte er denn auf dem nächsten Wege nach dem unbebauten Terrain, welches dicht vor dem Osttore der Stadt lag und nur von der nach der Vorstadt führenden breiten Allee durchschnitten wurde. Dort sollte zur Linken der Straße das Riesenzelt der Zirkusschau errichtet werden, und dort traf Fritz Seiler unter einer Schar lärmender Knaben, die sich neugierig um die mächtigen Zirkuswagen drängten, auch die Brüder Albrecht.

Die Begrüßung fiel recht kühl aus.

„Warum habt ihr mir denn nicht gesagt, daß ihr hierher gehen wolltet?“ meinte Fritz ärgerlich. — „Der Vater hat uns nach der Stadt geschickt“, brummte Karl, der Jüngere und Schlauere von beiden. „Wir können hier auch nicht mehr lange bleiben. Vater braucht die Schusternägel.“

Wirklich verschwanden sie auch bald in der Richtung nach der Stadt, trotzdem die Zirkusleute gerade mit dem Aufrichten der hohen Mastbäume begannen, die die Zeltleinwand tragen sollten. Die Brüder ahnten jedoch nicht, daß ihr Freund ihnen heimlich folgte. Unbesorgt durcheilten sie die Straßen und verschwanden dann in einem der besseren Delikateßwarengeschäfte.

Fritz Seiler wartete gegenüber in einem Hausflur. Die Türe hatte er bis auf einen schmalen Spalt angelehnt, so daß er nicht zu fürchten brauchte, auf seinem Lauscherposten entdeckt zu werden. Er konnte sogar einen Teil des Ladens, dessen breite Flügeltüren weit offen standen, bequem übersehen. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, daß die Brüder — denn weitere Kunden waren um diese frühe Stunde noch nicht vorhanden — eine ganze Anzahl von Dauerwürsten, verschiedene Flaschen und mehrere Konservenbüchsen einkauften. Als sie dann wieder auf der Straße erschienen, trug der ältere wirklich ein offenbar recht schweres, großes Paket.

Zunächst glaubte Fritz, die Albrechts hätten all die schönen Sachen vielleicht im Auftrage eines Fremden eingekauft. Denn daß diese für den Haushalt des Schusters bestimmt sein könnten, war ausgeschlossen. Dazu ging es bei den Albrechts viel zu knapp her. Bald hatte er dann aber Gelegenheit, zu beobachten, daß die Brüder das inhaltsreiche Paket tatsächlich nach ihrer Wohnung brachten. Und gleich darauf erschienen sie wieder auf dem Hofe, wo Fritz Seiler, ganz harmlos tuend, mit seinem selbstgefertigten Bogen nach der Stalltür schoß.

„Du bist auch schon hier?“ fragte Karl Albrecht etwas erstaunt.

„Ja, beim Zirkus war nichts mehr zu sehen“, meinte Fritz. „Das Zelttuch war schon hochgezogen, als ich fortging.“

Dann begannen die Jungen ein Preisschießen nach einem Zeitungsblatt, das sie an die Stalltüre geheftet hatten, und auf dem eine schwarzumrandete Anzeige das Zentrum darstellte. Hans Albrecht hatte großmütig drei Geldpreise, fünfzig, dreißig und zehn Pfennig für die besten Schüsse ausgesetzt. Jetzt herrschte wieder volle Einstimmigkeit unter dem Kleeblatt. Fritz gewann zu seiner großen Freude den ersten Preis, ganze fünfzig Pfennig, ein Kapital, über das er nicht oft verfügte. Als er den Brüdern dann aber nachher den Vorschlag machte, nachmittags an den Fluß zu gehen, um zu angeln, gebrauchten sie allerhand Ausflüchte. Sie müßten erst zu ihrer Tante, und dann sollten sie dem Vater beim Umgraben des Kartoffelfeldes hinter dem Hause helfen.

Fritz war klug genug, sich nicht anmerken zu lassen, daß er sie durchschaute. Fraglos hatten sie wieder etwas vor, wovon er nichts erfahren sollte. Nun, er wollte ihnen schon hinter ihre Schliche kommen. —

 

Drittes Kapitel.

Nach dem Mittagessen machte sich Fritz dann mit Erlaubnis seiner Mutter zu einem längeren Spaziergang auf. Und Frau Seiler gab ihm noch fürsorglich ein paar dicke, gut belegte Stullen mit auf den Weg.

Es mochte gegen vier Uhr nachmittags sein. Über einem Brombeergesträuch, das am Rande der Ginsterschlucht wucherte, spielten zwei Zitronenfalter, die der warme Frühlingssonnenschein ans Tageslicht gelockt hatte. Sie schwebten tändelnd auf und ab, ließen sich bisweilen auf die sprossenden Blätterknospen des Strauches nieder, um sich dann wieder graziös zu erheben …

Fritz Seiler, der im Schutze eines dichten Ginstergestrüpps lag, hatte den Schmetterlingen nun schon eine ganze Weile zugeschaut. Dann aber dachte er wieder an sein Vorhaben. Und beinahe erschreckt über seine Versäumnis schaute er jetzt desto angestrengter im Kreise umher, indem er sich leicht auf den Händen aufrichtete. Wie lange er diesen Beobachtungsposten schon inne hatte, wußte er nicht. Die Zeit war ihm wie im Fluge vergangen. Es gab da so allerlei zu sehen, was dem Jungen neu erschien, trotzdem er Wald und Feld als großen Spielplatz sehr gut kannte. Ein paar Feldmäuse huschten ungestört durch die Gräser vor ihm; bald wieder verfolgte er einen Maulwurf mit den Blicken, der eine Röhre dicht unter der Erdoberfläche aushob, so daß der Boden sich über seinem vorwärtswühlenden Körper wölbte. Die Stullen, die ihm die Mutter mitgegeben, waren längst verzehrt. Und die Sonne rückte höher und höher. Aber der Erfolg dieses Tages schien auszubleiben. Kein menschliches Wesen war zu sehen; nichts störte die Ruhe in der Natur.

Fritz Seiler hatte sich seinen Platz der Stelle gegenüber ausgesucht, wo gestern abend die Gestalten der Gebrüder Albrecht ihm so plötzlich entschwunden waren. Er lag genau gegenüber am anderen Rande der Ginsterschlucht, sogar ganz genau gegenüber. Denn er entsann sich sehr wohl, daß die Brüder Albrecht gestern gerade auf die dicke verkrüppelte Kiefer zugegangen waren, die als einziger größerer Baum halb über dem Abhange hing. Unter der Kiefer wucherten die Bombeer- und Ginstersträucher ganz besonders dicht. Aber zu den Früchten dieser Brombeerstauden war nicht zu gelangen. Dazu fiel die Schlucht zu steil ab. Und Fritz wunderte sich, wie die Sträucher in dem lehmartigen Erdreich überhaupt hatten Wurzel fassen können. —

Wieder verging eine geraume Zeit. Hier in der Ginsterheide herrschte tiefe Ruhe. Nur die Mäuse raschelten durch die Gräser … Da schnellte er empor. Er hörte einen eigentümlichen Pfiff, ähnlich dem, wie er zwischen ihm und den Brüdern Albrecht als Signal verabredet war. Der Pfiff ertönte gerade in seinem Rücken, und jetzt vernahm er auch seitwärts leise Schritte. Vorsichtig bog er den Kopf dorthin. Zuerst war sein Spähen vergeblich. Aber dann schob sich ein geschmeidiger Körper vielleicht fünf Schritte von ihm dem Rande der Schlucht zu; jetzt konnte er die ganze Gestalt sehen, das Gesicht erkennen …

Fast stockte ihm der Atem. Denn neben ihm lag der jüngere Albrecht und schaute angestrengt in das grüne Wirrsal von Sträuchern hinüber, die unter der verkrüppelten Kiefer wucherten. Und dann — dann sah Fritz, wie drüben plötzlich aus dem Gestrüpp unterhalb der Kiefer ein Kopf auftauchte. Gleichzeitig erschien auch Hans Albrecht neben der Kiefer, wie aus dem Erdboden gewachsen, und ließ an einer Schnur schnell dasselbe Paket hinunter, das die Brüder vormittags nach Hause gebracht hatten. Aus dem Gestrüpp reckte sich jetzt neben dem Kopf, dessen Gesichtszüge Fritz nur undeutlich erkennen konnte, und die ihm doch merkwürdig bekannt vorkamen, ein Arm empor, ergriff das Paket, und Kopf und Arm verschwanden wieder, als habe die Erde sie verschluckt. — Auch von dem älteren Albrecht war nichts mehr zu sehen.

Eine ganze Weile blieb es ruhig. Nichts regte sich; die drei am Rande der Schlucht verteilten Gestalten schienen mit dem Erdboden eins zu sein. Aber Fritz Seilers Augen wanderten immer wieder abwechselnd von dem einen zum andern, irrten auch über das Gestrüpp unter der Kiefer hin. Dann kam wieder der Pfiff, nur leiser, dann ein Rascheln neben ihm, das sich bald in der Ferne verlor.

Die Dämmerung sank herab, und es wurde empfindlich kühl. Trotzdem hielt Fritz Seiler auf seinem Platze noch aus. Allerdings — zu sehen gab es nichts mehr. Aber er wußte ja auch genug. Wie schlau die drei, die er eben beobachtet hatte, sich durch die Pfiffe verständigten, wie vorsichtig sie waren! — Erst als die Dunkelheit die Ginsterschlucht und ihre Umgebung dicht einhüllte, verließ er seinen Posten. Die Glieder waren ihm steif geworden. Die Zähne schlugen ihm vor Kälte zusammen. Aber trotzdem glitt er leise und geschmeidig dahin, blieb öfters stehen und lauschte. — Unangefochten langte er daheim an, zwar müde und ausgehungert, aber doch in einer frohen Siegerstimmung. Seine Ausdauer war ja endlich belohnt worden. Jetzt endlich wußte er: das Geheimnis, welches die Albrechts so sorgfältig vor ihm verbargen, ruhte dort draußen in der Ginsterschlucht. Es völlig zu lüften, darauf stand jetzt sein ganzes Sinnen und Trachten. —

Auch an diesem Abend hatte der Monteur Werner sich wieder von Frau Seiler sein Abendbrot besorgen lassen. Nach der Mahlzeit blieb man noch eine Stunde beisammen. Fritz war heute merkwürdig wortkarg. Er hörte kaum darauf hin, was die Mutter mit ihrem Mieter sprach. Seine Gedanken umtosten fortwährend die Ginsterschlucht. Aber vergeblich versuchte er sich all das, was er in dem Treiben der Brüder Albrecht in den letzten Tagen so Auffälliges beobachtet hatte, zusammenzureimen. Er fand keine Lösung. Und noch eins gab es, was ihn quälte. Wo hatte er doch schon dieses Gesicht gesehen, das da heute nachmittag an dem Abhang zwischen dem Gestrüpp aufgetaucht war? — Auch darüber zergrübelte er sich umsonst den Kopf. Eine seltsame Unruhe erfüllte ihn. Wenn nur die Mutter bald schlafen gehen wollte. Vielleicht, daß es ihm noch in dieser Nacht gelang, für einige Stunden heimlich zu entwischen. Denn nur während der Nacht durfte er es wagen, der Ginsterschlucht einen Besuch abzustatten. Da waren die Brüder Albrecht daheim, da würde ihm auch ihr Freund, dem sie das Paket mit den Lebensmitteln vom Rande des Abhanges heruntergelassen hatten, nicht im Wege sein. Jedenfalls wollte er schon heute seine Maßregeln so treffen, daß ihm das lautlose Verschwinden aus der Küche nach Möglichkeit erleichtert würde.

Dem Monteur war des Knaben so auffällig verändertes Wesen ein Gegenstand leiser Sorge. Werner merkte sehr wohl, daß des Jungen ganzer Ideenkreis durch irgend etwas völlig in Anspruch genommen war. Woher auch sonst diese Zerstreutheit, dieses stumme Vorsichhinbrüten und das merkwürdige Zusammenschrecken, wenn er einmal eine Frage an ihn richtete. Fritz ahnte nicht, daß zwei Augen ihn unausgesetzt betrachteten — zwei Augen, die die langjährige Übung befähigte, weit mehr zu sehen als andere.

Es wurde doch wieder zehn Uhr, bevor der Monteur sich verabschiedete. In seinem Zimmer entledigte er sich dann der Stiefel, schlüpfte in seine leichten Morgenschuhe und verließ durch die zweite, auf den Flur mündende Tür das Haus. Er hatte sich auch seine kurze Deckelpfeife angezündet und konnte nun jedem, dem sein Verweilen auf dem Hofe aufgestoßen wäre, harmlos erklären, daß er draußen noch habe ein Pfeifchen rauchen wollen. Das war eine so harmlos klingende Ausrede. So wanderte er denn im Schatten des Stallgebäudes auf und ab, behielt aber das Seilersche Küchenfenster stets im Auge. Jetzt kam Fritz heraus, um, wie immer, die Laden anzuhalten, die seine Mutter von innen festschraubte. Daß Fritz dabei denjenigen der beiden Fensterladenflügel, an dem in einer vorspringenden Eisenschiene das Gewinde für die lange, von innen zu handhabende Schraube eingeschnitten war, zuerst anlehnte und so nur dieser eine Flügel fest an das Fenster gezogen wurde, während der andere sich ohne Mühe jederzeit auch von innen öffnen ließ, konnte Frau Seiler nicht bemerken. Sie fühlte ja, wie die Schraube fester und fester faßte und mußte daher annehmen, das Fenster sei wie immer gut verwahrt. — Ein anderer aber hatte dafür diese einfache Manipulation desto deutlicher gesehen und daraus seine Schlüsse gezogen, — der Monteur Werner, der jetzt, nachdem der Knabe wieder im Hause verschwunden war, dicht an das Fenster herantrat und nachsah, ob er sich auch nicht getäuscht hatte. Der eine Ladenflügel war wirklich nur angelehnt. Und da hörte er auch die helle Stimme des Jungen in der Küche. Er verstand jedes Wort, so dicht stand er vor dem Fenster. Und das, was er hörte, wandelte den soeben in ihm aufgetauchten Verdacht zur Gewißheit: Fritz Seiler wollte in der heutigen Nacht heimlich zu irgend einem Zweck das Haus verlassen! — Denn wozu hatte er wohl sonst die Mutter gefragt, ob er nicht den einen Fensterflügel etwas öffnen dürfe. Es rieche in der Küche noch so sehr nach den Speckscheiben, die für Herrn Werner zum Abendbrot gebraten worden waren. Und warum hatte der Junge dann gerade den Fensterflügel geöffnet, den der nur angelehnte Ladenflügel nur scheinbar schützte …!

So kam es, daß Werner sich vornahm, diese Nacht nicht in seinem bequemen warmen Bett zuzubringen. Er mußte herausbekommen, was der Junge für Heimlichkeiten vorhatte. Und daß ihm dies gelingen würde, daran zweifelte er keinen Augenblick. Das war ja sein Beruf. Denn Monteur — diese Tätigkeit übte er hier in der Provinzialstadt nur auf höheren Befehl aus, ebenso lange, bis er den gefaßt hatte, dem er schon auf der Spur zu sein glaubte. —

 

Viertes Kapitel.

Fritz Seiler lag wach in seinem Bette und lauschte. Er hörte jetzt deutlich, wie Herr Werner in seiner Stube die Fenster schloß und den Wecker aufzog. Dann wurde alles still. Nach einer Weile vernahm er von drüben laute Schnarchtöne. Der Monteur schlief fest. Der war also nicht mehr zu fürchten. Aber die Mutter, die dort neben dem Herde in dem zusammenlegbare Rahmenbettgestell ruhte, ob die nicht aufwachen würde, wenn er sich die Kleider, die Schuhe überstreifte …?! — Doch es mußte gewagt werden, mußte …

Leise erhob er sich. Jetzt knarrte die Diele. Sein Herz begann ihm bis in den Hals hinauf zu klopfen. Aber die Mutter atmete ruhig weiter. Warum Werner da drüben auch gerade jetzt mit dem Schnarchen aufhören mußte! Das hatte so schön alles übertönt.

Einer seiner Stiefel glitt ihm aus den Händen und fiel polternd auf die Diele. Fritz warf sich auf die Kissen zurück. Aber nichts regte sich. Er wurde nun dreister; und endlich, endlich — ein Schwung, er war auf dem Fensterbrett, ein Satz, er stand auf der Erde, war frei! Blitzschnell glitt er in den dunklen Schatten, den das Stallgebäude warf. Hier wartete er, horchte und spähte umher.

In der Ferne schlug eine Uhr zwölf. Er zählte die Schläge: zwölf, — ihn überlief es kalt. Aber dann schaute er in den hellen Mondschein, der alle Gegenstände so klar hervortreten ließ. Die Regung von Furcht verschwand wieder. Bald huschte eine schattenhafte Gestalt um die Stallecke und verlor sich in den einsamen Straßen.

Lautlos schwebte um die wunderlich gekrümmten Äste der Kiefer am Rande der Ginsterschlucht eine Eule. Bald strich sie höher, bald niedriger dahin — geräuschlos, gespensterhaft. Jetzt hatte sie sich in den obersten Zweigen niedergelassen. Kein Laut durchdrang das Schweigen der Nacht, keine Bewegung in den Sträuchern, in den gelblichen, langen Gräsern. Wie Frühjahrsduft lagerte es über der Erde. Der scharfe Geruch der verwitterten Blumenpracht des entschwundenen Sommers wurde gemildert durch die Ausstrahlungen des neuen, überall keimenden Lebens. So war's denn seltsam feierlich in dieser Einsamkeit, die der Mond in ein helles Silberlicht tauchte, ein Licht, das so dunkle Schatten zeichnete, so eigenartige Gebilde aus den Sträuchergruppen und Ginsterbüschen schuf.

Da kam's über die hell beschienene Erde dahergeschlichen, geräuschlos, behutsam. Ein Körper glitt über den Boden, indem er jede Deckung, jeden Schatten ängstlich ausnutzte. Bisweilen machte er Halt. Dann schien's, als lausche der Betreffende in die Nacht hinein. Aber nichts regte sich. Weiter schob sich der Körper vorwärts, der Schlucht und der Kiefer entgegen. — Mißtrauisch hatten die an diese eigene Beleuchtung gewöhnten Augen der Eule das Nahen des Eindringlings verfolgt. Jetzt schien‘s dem Tier auf seinem Sitze nicht mehr geheuer. Es schwang sich in die Luft und begann weite Kreise über der Schlucht zu ziehen.

Indessen war der behende Körper näher gekommen. Er lag wie ein dunkler Fleck auf der hell beschienenen Erde, ganz dicht am Rande des Abhangs, vielleicht zwei Meter seitwärts von dem verkrüppelten Baume. Mehrere Minuten lang blieb er so liegen. Und über ihm schwebte der Nachtvogel dahin, mißtrauisch, neugierig. Aus der Ferne hallte der klagende Ruf eines Käuzchens herüber, schwoll an, verhallte in einem schrillen Ton.

Fritz Seiler war unangefochten bis an die Ginsterschlucht gelangt. Wenn er bei seinen früheren Ausflügen in die Heide sich vor den Schrecken der Nacht, vor jedem wispernden Blatt und krachenden Zweige gefürchtet hatte, so ließ er sich jetzt durch derartige Regungen nicht mehr beeinflussen. Über seine Jahre hinaus reif, wie alle Kinder, die von Jugend an den harten Daseinskampf miterleben und, in beschränkten Verhältnissen aufwachsend, frühzeitig an den Sorgen der Eltern teilnehmen lernen, verfügte er daneben noch über einen für sein Alter ungewöhnlichen Mut, der zum größten Teil aus seiner Verstandesschärfe entsprang mit der er alle Vorkommnisse nüchtern und vorurteilsfrei an sich herantreten ließ. Trotzdem war er immer noch soweit Kind geblieben, daß ihn lediglich sein Hang für alles abenteuerliche und Geheimnisvolle mit einer geradezu zwingenden Gewalt zu diesem nächtlichen Ausfluge in die Ginsterberge getrieben hatte, ohne sich dabei des Unerlaubten seiner Handlungsweise und der Folgen, die daraus für ihn entspringen konnten, bewußt zu werden.

Er lag jetzt am Rande des Abhanges, keine fünf Meter von der Stelle entfernt, wo der Kopf und der Arm des fremden Mannes so plötzlich aus dem Gestrüpp aufgetaucht war. Nochmals vergewisserte er sich, daß er allein in der Heide war. Vorsichtig hob er den Kopf und spähte umher — hinunter in die Tiefe der Schlucht, deren östlicher Abhang in schwarze Finsternis gehüllt war, hinüber zu der einsamen Kiefer, die ihm mit der Lösung des Rätsels eng zusammenzuhängen schien. Da hörte er den unheimlich klagenden Schrei des Käuzchens, sah auch die Eule um den verkrüppelten Baum schweben. Aber ihn focht das nicht an.

Über der Ginsterheide und ihren Geheimnissen lagerte die Einsamkeit mit

mächtigem Schweigen. Selbst das leise Säuseln und Schwirren des durch die Büsche und Gräser ziehenden Lufthauches fehlte in dieser windstillen Nacht. Da erhob sich Fritz langsam und schlich vorsichtig im Schatten einiger Ginsterstauden auf die Kiefer zu. Jetzt hatte er sie gerade vor sich; er kroch lautlos, wie eine Schlange, noch näher heran. Mit den Händen tastete er den Boden vor sich ab, legte Zweige und Steine beiseite. Nur zentimeterweise schob er sich vor, alle seine Sinne waren gespannt. Seine Augen wanderten unablässig im Kreise umher, seine Ohren lauschten und horchten. Und jetzt — jetzt konnte er den Arm ausstrecken, berührte schon die rissige Rinde der Kiefer. Da duckte er sich wieder auf die Erde und lag längere Zeit still, um für den gefährlichsten Teil seines Vorhabens neue Kräfte zu sammeln. Er fühlte unwillkürlich mit der Hand nach dem Kolben der Pistole, die er sorgsam auf der Brust verwahrt hatte.

Es war das eine jener billigen Feuerwaffen, wie man sie in jedem Eisengeschäft kaufen kann — großkalibrig, Vorderladereinrichtung mit Zündhütchen. Die Pistole hatte seinem Vater gehört. Schon längst hatte er sie heimlich an sich genommen und zusammen mit dem Päckchen Pulver und den wenigen, großen, runden Kugeln im Stalle versteckt gehabt. Er wußte, wie alle Jungen von der Straße, mit Schußwaffen umzugehen und hatte sie heute scharf geladen mitgenommen. —Jetzt, als er den hölzernen Kolben und die kalten Eisenteile mit seinen Fingern berührte, überkam ihn doch plötzlich ein Gefühl der Unruhe. Furcht war es nicht. Aber blitzschnell überlegte er, ob er es denn wirklich wagen würde, von der Waffe im Notfalle Gebrauch zu machen. Er zögerte. Sollte er sie nicht doch lieber hier ins Gras legen — war es nicht vielleicht besser? — Er behielt die Waffe bei sich. Und nun richtete er sich wieder auf und schob sich noch weiter vorwärts, so daß sein Körper halb über dem Rande der Schlucht hing. Seine rechte Hand drückte die Gräser beiseite, die den Fuß des Baumes dicht umstanden. Er brauchte nicht lange zu suchen. Was er vermutet hatte, fand er bestätigt: um die Kiefer war, verborgen unter dem üppig wuchernden Gras ein dicker Strick geschlungen.

Jetzt begann sein Herz doch plötzlich schneller zu schlagen. Er stand vor der Entscheidung. Nochmals ein vorsichtiger Blick in die Runde, dann ergriff er das Tau, ließ sich langsam herabgleiten und hing jetzt in der Luft …

So vorsichtig er auch gewesen, er hatte es doch nicht hindern können, daß ein wenig Erde herabrieselte. Lauschend hielt er den Atem an und suchte vorsichtig das Ende des Taues zwischen die Füße zu bekommen. Auch das gelang. Langsam rutschte er, als alles ruhig blieb, tiefer, bis er auf einem Vorsprung Halt fand. Behutsam setzte er die Beine auf den Boden. Vor sich hatte er jetzt jenes dichte Gestrüpp von Brombeerbüschen und Ginsterstauden, aus dem der Fremde sich hochgereckt hatte, um das Paket in Empfang zu nehmen. Aber vergebens suchte er dieses Gewirr mit den Blicken zu durchdringen.

Wieder begann sich Fritz Seilers Herzschlag zu beschleunigen. Er hörte in dieser beängstigenden Stille die pochenden Töne so deutlich. Als er jetzt zufällig emporschaute zu der verkrüppelten Kiefer, die über ihm ihre wenigen Äste gegen den hellen Himmel ausstreckte, sah er die große Eule um den Baum schweben, ohne jedes Geräusch, wie ein Gespenst. Und jetzt schrie ganz in der Nähe das Käuzchen, klagend, warnend — hui i hui i …

In dem Augenblick hätte Fritz Seiler etwas darum gegeben, wenn er weit —meilenweit fort gewesen wäre. Eine wahnwitzige Angst überkam ihn plötzlich, er zitterte am ganzen Körper, kalter Schweiß bedeckte seine Stirn. Schon streckte er die Arme aus, faßte das Tau fester, um wieder zum Rande der Schlucht emporzuklettern. Aber seine bebenden Finger versagten. Die Furcht hatte seine Muskeln wie im Starrkrampf gelähmt.

Minuten waren vergangen. Bewegungslos hatte der Junge auf dem schmalen Vorsprung gestanden, bewegungslos den Sturm seiner Gedanken über sich hintoben lassen. Wie hilfesuchend schaute er jetzt zum Himmel empor, dorthin, wo der Mond wie eine silberne Scheibe über den Büschen strahlte. Da war's ihm, als ob's nicht ein ferner Stern sei, der sein weißes Licht über diese Einsamkeit ausgoß, sondern als ob das Auge Gottes schirmend und wachend zu ihm hinabblickte. Plötzlich horchte er mit so ganz anderen Empfindungen auf das wieder langsamer werdende Klopfen seines Herzens. Und dann versuchte er, wie zur Probe, ob seine Kräfte ihm den Rückweg möglich machen würden. Er spannte die Muskeln an. Ja, sie gehorchten wieder; er fühlte, daß er nun mit wenigen Griffen oben am Rande, in Sicherheit sein konnte. Und mit dieser Überzeugung kam auch der alte Wagemut zurück.

Wenn er jetzt heimkehrte, dann war auch diese Nacht vergebens geopfert, all die überstandene Angst umsonst gewesen! Und sollte er feige vor dem letzten zurückbeben, sollte er sich wieder wie eine Memme benehmen, auch wenn das Käuzchen vielleicht nochmals schrie?

Langsam ließen Fritz Seilers Finger das Seil fahren. Seine forschenden Blicke glitten über die Umgebung hin, über die Ränder der Schlucht, über den jenseitigen Abhang, auch hinunter in die Tiefe. Aber nirgends ein Anzeichen, daß außer ihm noch jemand in der Ginsterschlucht weilte. — Dann kehrten sie zurück und richteten sich geradeaus in das dichte Gestrüpp vor ihm, bohrten sich darin fest und suchten. Aber nirgends schien eine lichtere Stelle zu sein. Überall rankten sich gleich verschlungen die Brombeerstauden und die hohen Ginsterbüsche. Wie ein Vorhang lag dieses grüne Gewirr vor der Wand des Abhanges. Leise Zweifel überkamen ihn da. Sollte er sich getäuscht haben? Sollte es dahinter gar kein Versteck, keinen Eingang in eine verborgene Höhle geben?! Sollte er sich so in seinen Vermutungen getäuscht haben! Wozu aber sonst der Strick …?! Und woher war auch der fremde Mensch gekommen, dessen Kopf und Arm er hier hinter dem Gestrüpp so deutlich gesehen hatte …! Nein, hier mußte es noch mehr zu entdecken geben, ohne Zweifel …

Der Vorsprung, auf dem Fritz Seiler stand, war so schmal, daß er sich jetzt, als er vorsichtig niederkniete, ganz zusammenkrümmen mußte. Seine Hände tasteten nun vorsichtig in das Gebüsch hinein. Unhörbar glitten seine Finger über den Erdboden, die Wurzeln der Sträucher hin. Er mußte sich langsam vorwärts schieben, um seine Untersuchung weiter ausdehnen zu können. So fand er endlich das Loch in dem Gestrüpp, nachdem er einige Ranken hochgehoben und einen lose in der Erde steckenden Busch beiseite gelegt hatte. Wie eine Schlange wand er sich hinein. Es dauerte unendlich lange, bis er sich mit dem Oberkörper in dem Gestrüpp befand. Es war jetzt dunkel um ihn her, so dunkel, daß er sich nur auf seinen Tastsinn verlassen konnte. Vorsichtig fuhren seine Finger in das Dunkel, schoben Zweige und Ranken beiseite, bis sie auf etwas stießen, das sich wie ein dickes Tuch anfühlte. Ja, es war ein schwerer Stoff, der da vor ihm hing. Immer wieder ließ er fseine Finger prüfend darüber hingleiten. Jetzt hatte er auch gemerkt, daß dieses Tuch in der Mitte übereinander lag wie ein zweiteiliger Vorhang. Mit äußerster Behutsamkeit kroch er nun weiter, bis sein Kopf den Stoff berührte. Und langsam, langsam streckte er beide Hände aus und schob die übereinanderliegenden Teile der Decke auseinander, — so weit, daß er hoffen konnte, auch den dahinter verborgenen Raum zu überblicken. Aber so sehr er auch seine Augen anstrengte, er sah nichts als schwarze, undurchdringliche Finsternis.

Allmählich wagte er sich noch weiter vor. Das Tuch war über seinen nachgleitenden Fußspitzen wieder zugefallen. Er hob den rechten Arm und beschrieb damit langsam einen Halbkreis durch die Luft, bis er seitwärts auf eine Wand stieß, — rauhe Bretter, die übereinander gelegt waren. Dasselbe tat er nach links hin und fühlte auch hier dieselbe Wand. Also war er in einem gut einen Meter breiten Gange. Eine dumpfe Luft, die ihm beinahe den Atem benahm, lagerte in diesem Gange. Dann war's ihm plötzlich, als ob Tabakrauch ihm entgegenwehe. Er sog die Luft prüfend ein — ja, es war Tabakrauch. Nun begann wieder dieses schrittweise Vordringen, dieses Tasten mit den Händen, diese Art der Vorwärtsbewegung, bei der alle seine Muskeln bis zum Äußersten gespannt waren. Plötzlich — er mochte vielleicht fünf Schritte vorgedrungen sein, stießen seine Finger an einen feinen Draht, der über den Gang in einer Höhe von einem halben Meter hinlief. Und zugleich war's ihm auch, als hörte er in der Ferne ein feines Klingen, wie das Aufschlagen eines Glöckchens.

Atemlos machte er Halt und starrte vor sich hin in die Finsternis. Und dann — dann war's ihm, als käme etwas auf ihn zugekrochen; er glaubte unterdrückte Atemzüge zu vernehmen. Und … wieder überkam ihn da das entsetzliche Angstgefühl. Er merkte, ihm nahte sich das Verhängnis, — da vor ihm war's —und jetzt, jetzt faßte eine Hand nach seinem Kopf, glitt über sein Haar hin. Da riß es ihn empor — war's das Entsetzen oder ein plötzlicher Mut — er sprang auf, stieß mit dem Kopfe hart gegen die Decke des Ganges, taumelte halb ohnmächtig nach rückwärts. Und, — ein letzter Versuch zur Rettung, — er griff im Niederstürzen nach der Pistole, streckte sie vor sich in die Dunkelheit, spannte den Hahn mit zitternden Fingern und drückte ab …

Ein wilder Aufschrei mischte sich in den Donner des Schusses, ein Stöhnen aus den Tiefen der Erde … Fritz Seiler floh entsetzt denselben Weg zurück, den er gekommen.

 

Fünftes Kapitel.

Werner schlich, nachdem er sich zunächst schlafend gestellt hatte, wieder auf den Hof hinaus und verbarg sich dort hinter einem Haufen Brennholz, von wo aus er das Seilersche Küchenfenster bequem im Auge behalten konnte. Seine Geduld wurde auf keine allzu harte Probe gestellt. Sehr bald sah er eine kleine Gestalt sich geschickt aus dem Fenster schwingen. Er wartete nun, bis Fritz Seiler ein gutes Stück voraus war, und folgte ihm dann unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln. So lange es nur, durch die Straßen ging, bot dem angeblichen Monteur diese Jagd keine Schwierigkeiten. Als dann aber der Schatten des Waldes beide aufnahm, da mußte er seine ganze Umsicht gebrauchen, um die Spur nicht zu verlieren. So kamen sie denn schließlich in die Heide, ― ein Gebiet, das Werner ganz unbekannt war. Hier, wo das Mondlicht die Gegend beinahe in Tageshelle tauchte, und er daher weiter zurückbleiben mußte, verlor er den Jungen, der aus Händen und Füßen vorwärtskroch, zwischen den Sträuchern bald aus den Augen. Trotzdem gab er die Sache nicht auf. Er hatte sich die Richtung gemerkt, in der der Knabe sich fortbewegte, und verfolgte diese nun, indem er ebenfalls tief gebückt über den Boden glitt. Öfters machte er Halt, um sich zu verschnaufen. Jetzt hörte er links von sich ein Käuzchen schreien. Argwöhnisch richtete er sich auf; weil er an irgend ein Signal dachte. Aber nichts regte sich. Ziemlich mißgestimmt setzte er seinen anstrengenden Marsch fort. Eine Viertelstunde mochte vergangen sein, als er abermals, jetzt aber bedeutend näher, den Ruf des Käuzchens vernahm. Er lauschte. Nichts — nichts. Gerade wollte er sich aufrichten, um besser Umschau zu halten, da schlug ein dumpfer Knall an sein Ohr, ein Knall, den er sich nicht recht erklären konnte. Ein Schuß? — Dafür war die Detonation zu dumpf. — Aber was konnte es sonst gewesen sein? — Vergeblich grübelte er darüber nach. Nicht lange. Denn der Knall war von vorn gekommen — also vorwärts! Er stürmte mit weiten Sätzen dahin, übersprang niedriges Gestrüpp, umging größere Gesträuchgruppen und machte nicht eher Halt, als bis er keuchend am Rande einer tiefen Schlucht stand. Vor ihm lag steil wie eine Wand die eine Seite der Schlucht. Seine Augen glitten prüfend über die nächste Umgebung hin, blieben dann auf der einsamen Kiefer haften, die kaum zwei Meter rechts von ihm halb über dem Abgrund hing.

Plötzlich schien es, als ob Werner wie eine leblose Masse zusammenbrach. Lang ausgestreckt, bewegungslos lag er da; nur sein Kopf ragte aus den Gräsern hervor. Jetzt hörte er ganz deutlich unterhalb der Kiefer ein Rauschen und Brechen von Zweigen. Eine Gestalt erschien unten auf dem schmalen, mit Gestrüpp bestandenen Vorsprung und klomm in wilder Hast den Abhang empor. Es war Fritz Seiler … Nun umfaßte der Junge die Kiefer, schwang sich hoch und wollte in wilder Hast davonstürmen. Da bannte ihn ein Zuruf … „Fritz — Fritz!“ Er erkannte die Stimme sofort. Mit einem Jubelruf stürzte er seinem alten Freunde in die Arme.

Es dauerte eine geraume Weile, bis Werner den an allen Gliedern zitternden Knaben beruhigt hatte. Dann erzählte Fritz. Nichts verschwieg er, nichts. Bald wußte Werner Bescheid. Etwas wie ein zufriedenes Lächeln flog über sein Gesicht. Er ahnte, wen er dort unten finden würde …

„Freu' dich, Junge, daß du so mit heiler Haut davongekommen bist“, sagte er leise. „Das Abenteuer hätte böse für dich ablaufen können.“ Und nach kurzem Überlegen fuhr er fort …: „Ich werde dir jetzt mal einen Vorschlag machen, Fritz. Du wirst dich hier zwischen die Sträucher legen und warten, bis ich wiederkomme. Passieren kann dir hier nichts. Ich muß einmal da hinunter und zusehen, wer dieser geheimnisvolle Bewohner der Höhle eigentlich ist. — Oder hast du Furcht vor dem Alleinsein? Sag' es nur ganz offen.“

„Nein, Herr Werner, jetzt, wo ich Sie in der Nähe weiß, hab' ich wieder Mut“, meinte der Junge tapfer. Und gehorsam duckte er sich gleich darauf zwischen den Ginsterbüschen nieder, ohne eine weitere Anordnung seines Beschützers abzuwarten. Auch Werner zögerte nicht länger, seine Entdeckungsfahrt unter die Erde anzutreten. Nachdem die elektrische Taschenlaterne und die mehrschüssige Pistole, die er beide aus alter Gewohnheit zu Hause eingesteckt hatte, in den Jackettaschen untergebracht waren, wo er sie leicht erreichen konnte, kniete er sich hin, ergriff mit beiden Händen das Tau und turnte mit einer Geschicklichkeit, die man seinen Jahren kaum zugetraut hätte, bis zu dem Vorsprung hinab. Hier ließ er das Licht seiner kleinen Lampe aufflammen und musterte zunächst vorsichtig den durch das Gestrüpp so schlau verborgenen Höhleneingang. Dann drang er weiter vor. Bald stand er in dem mit Brettern ausgeschlagenen, weit über einen Meter hohen Gang. Der helle Lichtkegel huschte über dessen Wände hin, deutlich, jede Einzelheit preisgebend. Er hatte nicht vermutet, hier einen so raffiniert und so sachgemäß angelegten Schlupfwinkel vorzufinden. Das waren wahrhaftig starke, behauene Stützen, und die Bretter sogar oberflächlich behobelt! Sicher irgendwo von einem Holzhof gestohlen, dachte sich Werner.

Geräuschlos schritt Werner, die Pistole schußfertig in der Rechten weiter. Als er vielleicht vier Meter vorwärtsgekommen war, machte der Gang eine Wendung nach der linken Seite hin. An der Biegung angelangt, ließ er erst vorsichtig das Licht seiner Laterne in die Finsternis vor ihm hineinfallen. Und da —beinahe wäre er entsetzt zurückgeprallt ― erblickte er in einer Ecke des Raumes, zu dem der Gang sich hier erweiterte, auf dem Boden eine Gestalt lang ausgestreckt liegen. In demselben Augenblick erklang ein qualvolles Stöhnen. Die Gestalt

bewegte sich unruhig hin und her. Mit einem schnellen Blick überflog Werner nochmals den unterirdischen Raum, der vielleicht vier Meter im Quadrat maß. Er brauchte nichts zu befürchten. Es befand sich niemand weiter darin. Einige Kisten sowie ein Tisch und zwei Stühle, aus Brettern roh zusammengeschlagen, stellten die ganze Ausstattung dieses Verbrechernestes vor. Näher herantretend, ließ er den Schein der Laterne über die Gestalt am Boden hingleiten. Werner kannte dieses Gesicht trotz des stoppeligen Vollbartes nur zu gut …

Schuster-Karl machte jetzt einen verzweifelten Versuch, sich aufzurichten. Mit angstvoll geweiteten Augen starrte er in den strahlenden Lichtkegel, der ihn derart blendete, daß er die dahinterstehende Person nicht erkennen konnte.

„Hans — Karl, seid ihr's?“ stöhnte er auf.

„Nein, Schuster-Karl — Kriminalwachtmeister Werner aus Berlin“, sagte der Beamte streng.

Der Einbrecher sank kraftlos zurück. Die schwere Schußwunde an der linken Schulter machte ihn wehrlos. Er dachte an keinen Widerstand. Ruhig ließ er's geschehen, daß Werner nun die Wunde untersuchte, aus der noch immer das Blut hervorquoll.

„Seien Sie froh, daß ich da bin, Sie wären sonst hier jämmerlich verblutet“, meinte der Beamte, indem er aus seinem Taschentuch und einigen Leinwandfetzen, die er von dem Hemd des Verwundeten herunterriß, einen kunstlosen Verband herstellte. Beim Anlegen schrie Schuster-Karl mehrmals vor Schmerzen auf. Plötzlich verstummte er ganz. Er war, erschöpft von dem reichlichen Blutverlust, in Ohnmacht gefallen.

Der Kriminalbeamte war schnell mit sich einig geworden, was weiter zu geschehen habe. Er eilte durch den Gang bis auf den Vorsprung zurück, rief Fritz Seiler herbei und schickte ihn nach der Polizeiwache der Vorstadt. Er selbst blieb bei dem Schwerverletzen, den er nicht ohne Aufsicht lassen konnte. Zwei Stunden später, als schon der Morgen graute, trafen die von Fritz Seiler geführten Polizeimannschaften mit einer Tragbahre an der Schlucht ein. Schuster-Karl war inzwischen wieder zu sich gekommen und hatte, nachdem ihm von Werner klargemacht worden war, daß er der Beraubung der Juwelierfirma Heiser durch die an dem Panzerschrank gefundenen Fingerabdrücke völlig überführt sei, nach einigem Zögern die Stelle in der Höhle angegeben, wo die Diebesbeute vergraben lag. Zu diesem Geständnis bequemte er sich wohl nur in der Hoffnung, dadurch mit einer gelinderen Strafe wegzukommnen, vielleicht auch, weil seine geistige Spannkraft durch die Wunde, die die von Fritz Seiler aufs Geratewohl abgefeuerte Kugel ihm beigebracht hatte, völlig gelähmt worden war. Die geraubten Brillanten fanden sich dann auch außer zwei Ringen, die der Verbrecher sofort in Berlin versetzt hatte, um sich vorläufig mit etwas Bargeld zu versehen, vollzählig vor.

Es war bereits heller Tag, als sich ein stiller Zug durch die Heide der Vorstadt zu bewegte. Voran gingen der Kriminalwachtmeister und Fritz Seiler, dahinter zwei Polizeibeamte, die die Krankenbahre trugen, auf der Schuster-Karl, jetzt schon mit der leichten Röte der ersten Wundfieberanfälle auf dem Gesicht, wimmernd und stöhnend lag. Den Schluß bildeten drei weitere Beamte. Unterwegs gab Werner seinem kleinen Freunde, da er zunächst noch auf dem Polizeibureau allerlei zu erledigen hatte, was mit der Festnahme des lange gesuchten Einbrechers zusammenhing, genaue Verhaltungsmaßregeln.

„Am besten wäre es, wenn du dich in die Küche zurückschleichen könntest, ohne daß die Mutter aufwacht. Ich werde sehr bald wieder bei euch draußen sein, und dann würde ich ihr das Nötige berichten. Auf die Weise könnten ihr deine Abenteuer ohne große Aufregungen für sie mitgeteilt werden. Diese sind aber nicht zu vermeiden, wenn sie dein Fehlen bereits bemerkt hat oder dich jetzt beim Einsteigen in das Fenster ertappt. Suche sie in diesem Falle nach Möglichkeit zu beruhigen, mein Junge, und sage nur, ich würde später alles zu ihrer vollen Zufriedenheit aufklären. Ich bin sogar überzeugt, daß sie dir dann keinen Vorwurf aus deiner nächtlichen Herumtreiberei mehr machen, im Gegenteil ihrem Fritz sehr, sehr dankbar sein wird. Geld fällt heutzutage nicht so leicht vom Himmel, das wird sie selbst am besten wissen.“

Diese letzte Bemerkung, verstand Fritz allerdings nicht. Sie schien ihm auch so gar nicht zu den vorhergehenden Sätzen Werners zu passen. Aber er hatte hierfür weiter keine Gedanken. Er dachte nur immer dasselbe: „Wenn es dir doch nur gelingen wollte, unbemerkt wieder in dein Bett zu schlüpfen.“ — Nicht weil er sich vor einem Tadel, vor einem harten Wort der Mutter fürchtete. Die wollte er als wohlverdient gerne hinnehmen. Wovor ihm weit mehr bangte, waren ihre Tränen, ihre Klagen über seine Ungeratenheit. Er liebte seine Mutter mit aufrichtiger Hingabe, und ihr Schmerz bereitet zu haben und Zeuge dieser ihrer Traurigkeit sein zu müssen, war für ihn die empfindlichste Strafe.

Doch er hatte Glück. Wie er sich mit äußerster Vorsicht in das Fenster zurückschwang und hinter sich den Fenster- und den Ladenflügel wieder anlehnte, atmete Frau Seiler noch immer tief und gleichmäßig. Und glücklich erreichte er auch sein Lager, streifte schnell die Kleider ab und schlüpfte unter das Zudeck. Aber schlafen konnte er nicht mehr, obgleich es ihm wie Blei in den Gliedern lag. Die Ereignisse dieser Nacht zogen immer wieder wie die aufregenden Szenen einer phantastischen Räubergeschichte an seinem Geiste vorüber. ― Endlich rührte sich die Mutter in ihrem Bett. Da war er auch schon mit einer ihm sonst nicht eigenen Schnelligkeit auf den Füßen, zog sich notdürftig an, schraubte die Fensterladen los und stieß sie von innen gegen die Hauswand, daß nun das helle Tageslicht in die blitzsaubere Küche flutete. Mit doppelter Zärtlichkeit. immer in dem Bewußtsein seiner Schuld, sagte er der Mutter dann guten Morgen.

 

Sechstes Kapitel.

Eine halbe Stunde später saßen Mutter und Kind am Kaffeetisch. Jetzt erst bemerkte Frau Seiler, wie blaß ihr Junge aussah und wie tiefe Schatten er unter den matten Augen hatte. Auf ihre besorgte Frage erhielt sie eine ausweichende Antwort, und scheu bog er sein in verräterisches Rot getauchtes Gesicht über seine Tasse. Schon wollte Frau Seiler, der diese Anzeichen eines schlechten Gewissens nicht entgangen waren, weiter in ihn dringen, als sie in der Vorderstube das Monteurs Schritte hörte und gleich darauf auch Werner die Tür etwas öffnete und fragte, ob er nähertreten dürfe.

Das erste, was Frau Seiler bei seinem Eintritt entfuhr, war ein erstauntes: „Aber Herr Werner, Sie sehen heute ja ganz verändert aus …!“

Dieser streckte ihr, nachdem ein schneller Blick in ihr Gesicht ihn belehrt hatte, daß sie bis jetzt noch völlig ahnungslos war, vergnügt schmunzelnd die Hand hin.

„Das glaub‘ ich gern. Die Brille und meine etwas gebückte Haltung, ebenso der altersgraue Kopf und der ebenso gefärbte Schnurrbart, ― das war ja auch alles Schwindel, liebe Frau Seiler.“

Sie begriff nicht sofort. Inzwischen hatte er auch Fritz freundschaftlich begrüßt und zog sich nun ohne weitere Aufforderung einen Stuhl an den Tisch.

„Ja, Frau Seiler,“ begann er wieder, „hier neben Ihnen sitzen heute zwei große Sünder, die viel zu bekennen haben. Zunächst komme ich heran. Wie Sie mich heute in meiner wahren Gestalt sehen, ohne die Brille mit den Fensterglasscheiben, ohne das gefärbte Haar, bin ich nicht mehr der Monteur Karl Werner, als den Sie mich polizeilich angemeldet haben, sondern der ― erschrecken Sie nicht zu sehr — Berliner Kriminalwachtmeister gleichen Namens, vierzig Jahre alt, ledig und auch sonst unbestraft“, fügte er mit gutem Humor hinzu. — „Bitte nicht dieses entsetzte Gesicht, liebe Frau Seiler. Ich bin auch als „Kriminaler“ derselbe gemütliche Mensch wie als Monteur Werner, wenigstens allen Leuten gegenüber, die die Polizei nicht zu fürchten brauchen. Nun hören Sie weiter. Von dem Einbruch in das Juweliergeschäft Heiser in Berlin wissen Sie das Nötige. Fritz hat Ihnen ja den letzten Artikel aus der Zeitung, der nebenbei bemerkt auf meine Veranlassung erschien, vorgelesen. Wir hatten von Berlin aus die Spur des mutmaßlichen Täters, des berüchtigten Schuster-Karl, bis zu dem Knotenpunkt der Eisenbahnen wenige Meilen von hier verfolgen können. Daraufhin wurde ich hierher geschickt, um weitere Nachforschungen nach seinem Verbleib anzustellen. Der Verdacht lag nahe, daß Paul Nötig, der bürgerliche Name des gesuchten „schweren Jungen“, sich in dieser Stadt oder deren Umgegend verborgen hielt, da er mit den hiesigen örtlichen Verhältnissen von seiner vorjährigen Arbeitszeit bei dem Schuhmacher Albrecht gut vertraut war. Nach altem Rezept mietete ich mich also hier bei Ihnen als harmloser Monteur Werner ein, tat auch stets, als ob ich pünktlich zur Arbeit ging, um keinen Argwohn gegen meine Person aufkommen zu lassen. In Wirklichkeit streifte ich Tag für Tag die hiesigen Herbergen und Kneipen ab, besuchte auch die nächsten Dörfer und einzelnen Gehöfte, um nach Paul Nötig zu forschen. Vor etwa einer Woche, als ich abends nach Hause kam, glaubte ich den Gesuchten in der schlecht erleuchteten Kirchstraße erkannt zu haben. Es glückte mir aber nicht, ihm auf den Fersen zu bleiben. Er entwischte mir in der Dunkelheit zwischen den Fourage-Speichern des Traindepots. Ganz genau wußte ich ja nicht, ob der Betreffende wirklich Schuster-Karl gewesen war, ebensowenig, ob er gemerkt hatte, daß ich ihm nachschlich. Um ihn nun für alle Fälle nicht scheu zu machen und ihn nicht womöglich von hier zu vertreiben, ließ ich durch Vermittlung der hiesigen Polizei jenen Artikel in die Blätter einrücken, in dem gesagt war, daß die Polizei annehme, Nötig sei glücklich ins Ausland entkommen. Diese absichtliche Irreführung des Publikums geschah also lediglich in der Absicht, um den Einbrecher, der sicherlich jede Zeitung aufmerksam las, wieder in volle Sicherheit zu wiegen. So standen die Dinge, als jemand anders in diese Verbrecherjagd unabsichtlich handelnd eingriff, ― hier unser kleiner Fritz. — Ja, liebe Frau Seiler, da machen Sie ganz mit Recht ein erstauntes Gesicht. Fritz ist wirtlich mein bester Bundesgenosse gewesen, und wer weiß, ob wir Schuster-Karls je habhaft geworden wären, wenn dieser kleine abenteuerliche Bursche mich nicht zu dem Schlupfwinkel dort draußen in der Ginsterschlucht geführt hätte.“

Werner erzählte nun mit aller Ausführlichkeit, wie der Knabe zuerst auf den Gedanken gekommen war, den Brüdern Albrecht nachzuspionieren und welche Ereignisse sich dann als Folge davon in der verflossenen Nacht in den einsamen Ginsterbergen abgespielt hatten.

Frau Seiler war zunächst völlig sprachlos, als der Beamte seinen Bericht beendet hatte. Dann aber war ihre erste jammernde Frage:

„Ums Himmels Willen, Herr Werner, nun muß der Fritz ja vor Gericht, weil er den Nötig angeschossen hat. Dies Unglück …, dies Unglück!“

„Keine Sorge, liebe Frau Seiler“, beruhigte Werner sie schnell. „Davon kann keine Rede sein. Fritz hat in Notwehr gehandelt, außerdem den Schuß auch mehr aus Schreck als mit Absicht abgefeuert. Ich kenne das Gesetz gut genug, um Ihnen die feste Versicherung geben zu können, daß dieser unglückliche Zufall für Ihren Jungen nicht die geringsten Folgen haben wird. Vor Gericht wird er allerdings erscheinen müssen, das ist bestimmt, aber nur als Zeuge in der Verhandlung gegen den Einbrecher, der bereits im Krankenhaus liegt und nach Aussage der Ärzte in vier Wochen völlig wiederhergestellt sein wird. Die Hauptsache aber, Frau Seiler, ― trocknen Sie schnell die Tränen, denn es kommt etwas sehr Erfreuliches für Sie! — Fritz wird zweifellos die Hälfte der für die Ergreifung des Täters und die Wiederherbeischaffung der geraubten Kostbarkeiten ausgesetzten Belohnung von 3000 Mark zugesprochen werden, also1500 Mark.“

Da zog ein heller Freudenschimmer über Frau Seilers blasses Gesicht.

„Meinen Sie wirklich …?“, fragte sie nochmals unsicher.

„1500 Mark ist das mindeste“, versicherte der Beamte ernsthaft. „Und die sind Fritz so sicher, daß Sie auf meine Verantwortung hin darauf schon Schulden machen können“, fügte er übermütig hinzu.

Frau Seiler konnte nicht anders, sie nahm ihren großen Jungen auf den Schoß und küßte ihn immer wieder, während ihr die hellen Freudentränen über die Wangen liefen. So konnte nun also doch ein Teil ihrer Luftschlösser, die sie vor zwei Tagen gebaut hatte, Wirklichkeit werden. Mit diesem kleinen Kapital in Händen würde sie sich schnell emporarbeiten. Die Energie. die nötige Umsicht und Geschicklichkeit besaß sie ja. —

Dennoch sollte sich ihre Zukunft ganz, ganz anders gestalten. Ein halbes Jahr später nahm der Kriminalwachtmeister Werner Mutter und Kind mit sich nach Berlin. Frau Seiler hieß jetzt Frau Werner und wurde ein glückliches Frauchen. Die 1500 Mark, die Fritz als seinen Anteil von der Belohnung erhielt, wurden vorläufig überhaupt nicht angerührt, sondern lagen wohlverwahrt in der Sparkasse, als späterer Zuschuß für das Studium, wie Fritzens neuer Vater bestimmt hatte.

 

Schluß

 

Anmerkung:

Die Novelle ist eine stark gekürzte und in Teilen abgeänderte Fassung des Romans „Das Geheimnis der Ginsterschlucht“ von 1908.

 

Textquelle:

Sterne und Blumen. Belletristisches Unterhaltungsblatt. 1914, Nr. 14-18

Druck und Verlag der Aktiengesellschaft „Badenia“ in Karlsruhe.