Der Strassenjunge.
Erzählung von Walther Kabel.
(Nachdruck verboten.)
Als Percy Gifford am Vormittag des 30. April sein Arbeitszimmer im Kriegsministerium betrat, fand er folgenden Brief seiner Tante, der Lady Warrington, vor:
„Lieber Neffe! Bei den vielen Vorbereitungen, die unser für heute nachmittag geplantes erstes Gartenfest zur Feier des Einzuges des 1. Mai erforderte, haben wir ganz vergessen, Dich einzuladen. Soeben erst erinnerte mich Felicia, die mit Lord Cowper vom Tennisplatz zurückkehrte, an diese Unterlassungssünde. Selbstverständlich erwarten wir Dich. Du gehörst ja zur Familie. Ich schicke diesen Brief ins Ministerium, damit Du ihn ganz bestimmt noch rechtzeitig erhältst. Nebenbei — hättest Du Dich in den letzten Tagen bei uns blicken lassen, so wäre es in mehrfacher Beziehung für Dich besser gewesen, — ganz abgesehen davon, daß Deine Person dann nicht bei der Aufstellung der Liste der Einzuladenden übersehen worden wäre. — In alter Liebe … Deine Tante Helene Warrington.”
Hauptmann Gifford war über den letzten Teil dieses Schreibens recht wenig entzückt. Nochmals überflog er die letzten Sätze … „In mehrfacher Beziehung für Dich besser gewesen …” stand da. Und das war doch sicherlich nichts anderes als eine Warnung von Tante Warrington, die Lord Cowper, seinen hartnäckigsten Nebenbuhler um die Gunst seiner ebenso schönen wie reichen Cousine Felicia, auch nicht sonderlich schätzte und dem von ihr bevorzugten Neffen leise andeuten wollte, daß es für seine Werbung um Felicia eben besser gewesen wäre, wenn er dem andern nicht so oft Gelegenheit gelassen hätte, mit seiner Angebeteten allein zu sein. Ja, fraglos war dies die richtige Lösung, sagte er sich ingrimmig und machte sich dann ziemlich unlustig an seine Arbeit.
Nach einer Stunde wurde er zu dem Vorstand der fünften Abteilung des Kriegsministeriums, zu Lord William Gifford, seinem Onkel, gerufen.
„Ich bin mit deinen bisherigen Leistungen sehr zufrieden, Percy,” begann dieser mit einem fragenden Blick auf die Aktentasche, die der Hauptmann ängstlich unter dem Arm festklemmte. — „Ich sehe auch, du hältst dich genau an die Instruktion. In der Tasche befindet sich doch deine jetzige Arbeit, nicht wahr? … Gut so! Nie etwas von geheimen Papieren in deinem Zimmer zurücklassen, nie ..., auch wenn du es nur auf wenige Augenblicke verläßt! Wir sind selbst hier nicht vor Spionen sicher, — vergiß das nicht! Entweder zurück mit den Sachen in den Archivraum oder bei Gängen hier im Ministerium alles mitnehmen! —
Doch nun zu dem eigentlichen Zweck dieser Unterredung. Ich habe hier eine Zusammenstellung der amerikanischen Kriegshäfen nebst genauen Zeichnungen der sie schützenden Festungsanlagen. Du siehst hier in den Zeichnungen mit feinen roten Strichen die Punkte markiert, die wir bei einem Renkontre mit Amerika auf Grund unserer bisherigen Informationen als die günstigsten bei einem Angriff von der Landseite festgelegt haben. Der erste Lord der Admiralität fordert nun von uns bis morgen mittag eine Ergänzung dieser Pläne an der Hand von Aufzeichnungen und Skizzen, die in diesem Umschlage eingeschlossen sind und uns von unserem Militärattaché als äußerst wichtig letzthin zugestellt wurden. — Hier, packe die Papiere mit in deine Ledertasche ein, damit nichts verloren geht! — Ich freue mich wirklich, Percy, dir diese Arbeit anvertrauen zu können. Erledigst du sie zur Zufriedenheit des ersten Lords, so dürfte dir eine Vorpatentierung sicher sein. — Morgen mittag lieferst du die Arbeit an Oberst Palmer ab! Ich muß nach Dover zur Besichtigung der neuen Unterseeboote reisen, kann daher auch nicht nachmittags zum Gartenfest zu Warringtons. — Richtig — daran denke ich erst jetzt: Du wirst unter diesen Umständen gleichfalls auf das Maifest verzichten müssen! Schadet nichts! Die Pflicht geht vor, nicht wahr, Percy? So haben es noch alle Giffords stets gehalten … !”
Es war beinahe zwölf Uhr, als der Hauptmann in sein Zimmer zurückkehrte und sich mit verzweifeltem Eifer zunächst an die Sichtung des Materials für seine neue Aufgabe machte fest entschlossen, heute das Feld dem jetzt ehrlich verhaßten Nebenbuhler allein zu überlassen. Aber je weiter der Zeiger der Uhr vorrückte, je mehr Percy überschauen konnte, wieviel Zeit er für seine Ausarbeitung brauchen würde, desto häufiger irrten seine Gedanken ab und formten sich endlich zu einem bestimmten Entschluß.
Percy wollte am Nachmittag zu Warringtons hinausfahren und dafür lieber nach seiner Heimkehr in seiner Wohnung die Nacht durcharbeiten, ohne sich schlafen zu legen, trotzdem es aufs strengste verboten war, irgendwelche Papiere, und sei es nur für Stunden, aus den Räumen des Ministeriums zu entfernen. Und diese letztere Vorschrift zu übertreten, wurde ihm am schwersten. Aber die Sehnsucht, Felicia Warrington wiederzusehen, und der Wunsch, endlich Gewißheit über die Aussichten dieser bisher so still verborgenen Liebe zu erhalten waren stärker als alle Bedenken.
*
Der dem Hauptmann Gifford zugeteilte Bürodiener, ein Irländer, namens James Morris, vertauschte nach dem Fortgange seines Herrn in fieberhafter Eile seine Dienstkleidung mit einem unscheinbaren Zivilanzug. Und wenige Minuten nachher befand er sich bereits auf dem Wege zu Lord Edward Cowper, der vor einiger Zeit ein vornehmes Junggesellenheim in einer der Nebenstraßen in der Nähe des Kriegsministeriums bezogen hatte. — Edward Cowper, der letzte Sproß eines altadligen Geschlechts, gehörte zu jenen fragwürdigen Existenzen, wie sie das Londoner Klubleben mit seinen Spielzirkeln, in denen oft fabelhafte Summen umgesetzt werden, hervorzubringen und über Wasser zu halten vermag.
James Morris hatte nun schon mehrere Male vergeblich an der Flurtür zu Lord Cowpers Wohnung geläutet. Endlich hörte er einen leisen Schritt und sah auch hinter dem in die Tür eingelassenen Fensterchen ein spähendes Auge erscheinen. Dann stand der Lord in elegantem, hellem Gehrockanzug, eine Rosenknospe im Knopfloch, vor ihm.
„Was gibt’s, Morris? … Und diese Unvorsichtigkeit — wie können Sie nur!” sagte Cowper hastig, mit gedämpfter Stimme, ohne den Besucher einzulassen. „Ich habe auch wenig Zeit, muß sofort zu den Warringtons zu dem Gartenfest.”
Der Irländer flüsterte ihm jedoch schnell einige Worte zu, die ihre Wirkung nicht verfehlten. — Dann saßen sie sich in Lord Edwards Wohnzimmer gegenüber.
„Hauptmann Gifford,” begann Morris hastig, „hat heute verschiedene Dokumente und Pläne mit sich genommen, die er vormittags von Oberst Gifford ausgehändigt erhielt. Ich habe, als ich ihm neue Tinte in das Schreibzeug füllte, genau hingesehen. Es waren Zeichnungen von Festungen mit darangeklebten langen Beschreibungen. Als er vor einer Viertelstunde etwa das Ministerium verließ, hatte er sich das Paket mit den Papieren unter den Rock geknöpft. Es zeichnete sich ganz deutlich ab. Für mich besteht kein Zweifel: augenblicklich befinden sich in Hauptmann Giffords Wohnung Urkunden, die in unseren Händen … zu Geld werden könnten. Euer Gnaden verstehen mich, nicht wahr?”
Lord Cowper nickte eifrig. „Ja, Sie haben recht, Morris, wir müssen versuchen, die Urkunden in unsere Finger zu bekommen. Die Frage ist nur, wie man’s anfangen soll!” …
Der Irländer wiegte den Kopf bedenklich hin und her. „Ja, das „wie”. Euer Gnaden, — das wird uns schwer fallen …! Mit Gewalt ist da nichts zu machen. Der Hauptmann hat einen alten Diener, der die Wohnung kaum verläßt, und nachts wacht der große Windhund mit seinem gefährlichen Gebiß über seinem Herrn! Nur List kann zum Ziele führen … Ja — Euer Gnaden, nur List …” Und dabei blinzelte Morris sein Gegenüber bedeutungsvoll an.
*
Percy Gifford erreichte den letzten Zug nach London noch mit knapper Not. Er war der einzige der Gäste, der die Einladung der Familie Warrington, die Nacht in einem der zahlreichen Fremdenzimmer ihres Landsitzes zuzubringen, ausgeschlagen hatte, wobei er jedoch seiner Tante, Lady Helene, gegenüber einige aufklärende Andeutungen über eine noch zu erledigende Arbeit machte.
Den wahren, so schwerwiegenden Grund seiner bestimmten Weigerung erfuhr nur eine, — Felicia, vor der Gifford fernerhin keine Geheimnisse mehr zu haben brauchte. — Aufatmend lehnte der glückliche Percy sich jetzt in die Polster des leeren Abteils erster Klasse zurück, nachdem er seinen regenfeuchten Paletot über den gegenüberliegenden Sitz zum Trocknen ausgebreitet hatte. Eine Stunde Eisenbahnfahrt lag vor ihm, eine köstliche Stunde des Alleinseins, wo er die beste Gelegenheit hatte, nochmals die Ereignisse dieses Tages zu überdenken … Und immer wieder quoll der Herzensjubel in ihm empor, erstickte ihn fast. Nie hatte er geahnt, daß soviel Seligkeit in einer Menschenbrust Platz haben könnte …
Felicia Warrington war sein, war seine Braut geworden, heute, an diesem letzten Tage des April … So überraschend schnell war das alles gekommen, so ganz anders, als er sich früher stets den weihevollen Augenblick des zagenden Liebesgeständnisses ausgemalt hatte … —
Die Räder kreischten kurz unter den sie pressenden Bremsen auf. Der Zug hielt, und Hauptmann Gifford kletterte verträumt aus seinem Abteile heraus. — Auch hier in London strömte der Regen wie eine Sintflut vom Himmel herab. Nur durch Zufall fand der glückliche Bräutigam noch einen gerade frei gewordenen Taxameter und ratterte darin seiner in einer vornehmen, stillen Straße gelegenen Wohnung zu. Endlich hielt das Gefährt. Er bezahlte schnell, nahm seinen Paletot um die Schultern und schritt die Stufen zu seiner Haustür empor. Schon hatte er den Schlüssel umgedreht, gerade die Hand auf den Drücker gelegt, als der wimmernde Laut einer Kinderstimme ihn erschreckt zur Seite blicken ließ. In der dunklen Ecke der großen, zweiflügeligen Tür kauerte, in einen zerfetzten, triefenden Umhang gehüllt ein vielleicht zehnjähriger Knabe, der jetzt bei des Hauptmanns leisem Anruf scheu den Kopf hob, sich aufzurichten versuchte, aber mit einem Wehlaut wieder zurücksank.
„Was tust du hier, Kleiner?” fragte er mitleidig. „Geh’ nach Hause, du wirst dich erkälten! Da, nimm das!” Und er hielt ihm eine kleine Goldmünze unter die Augen.
Aber der Junge rührte sich nicht, schenkte auch dem Goldstück keinerlei Beachtung. Nur das wimmernde Stöhnen wurde stärker und der kleine Körper zitterte jetzt wie Espenlaub.
„So sprich doch, Kind! Ich meine es nur gut mit dir,” ermunterte er nochmals den Kleinen.
„Herr, ich habe Hunger — solchen Hunger!” erklang ein feines Stimmchen. „Ich kann nicht gehen, bin schon umgefallen, und alle meine Streichhölzer liegen dort — dort hinten im Schmutz. Ach, Herr, nicht zur Polizei, nicht zur Polizei!” flehte er mit gerungenen Händen, wieder in Tränen ausbrechend. „Sie sperren mich ein! Ich soll nicht betteln… Und die Mutter schlägt mich doch, wenn ich ohne Geld nach Hause komme!”
Percy Gifford kannte das Londoner Straßenleben, das Elend und die Armut in den niederen Volksschichten nur zu gut. Er begriff alles. Dieser Junge war eines jener bedauernswerten Geschöpfe, die von den Eltern auf die Gasse hinausgeschickt wurden, — am Arm ein Körbchen mit Zündholzschachteln, nur notdürftig bekleidet, um das Mitgefühl der Passanten zu erregen, — einer jener kleinen Straßenhändler, die nichts weiter als abgerichtete Bettler sind. Dieser arme Junge sollte einmal fühlen, daß es wirklich noch barmherzige Menschen gab, sollte sich einmal ordentlich satt essen und im warmen behaglichen Zimmer schlafen!
Percy Gifford war’s, als ob er jetzt Felicias liebes Gesicht vor sich sah, das ihn zustimmend anlächelte. Da überwand er sich, nahm das Kind in seine Arme und trug’s die wenigen Stufen zu seiner im Hochparterre gelegenen Wohnung empor. Zehn Minuten später saß Bill Sanders, wie er sich nannte, in trockene, ihm allerdings viel, viel zu große Wäsche und eine Reisedecke gehüllt, in einem Sessel vor dem Mitteltisch in des Hauptmanns Arbeitszimmer und schlang gierig die kalten Speisen hinunter, die ihm vorgesetzt wurden. Percy Gifford hatte davon Abstand genommen, seinen alten Diener, der in einem kleinen Gemache hinter der Küche schlief, zu wecken, und alles selbst aus dem Eisschranke hervorgesucht, auch dem Kinde beim Ausziehen der völlig durchnäßten Lumpen geholfen. Jetzt stand er dabei und freute sich, wie es dem Kleinen schmeckte. Auch Rostan, der große Windhund, hatte mit dem seltsamen Gaste nach anfänglichem Anknurren schnell Freundschaft geschlossen.
Vorsichtig begann der Hauptmann den Jungen nach seinen näheren Verhältnissen auszuforschen. Was der Kleine ihm stockend erzählte, hatte er vorausgeahnt. Bill Sanders war das jüngste von sechs Geschwistern, die Mutter Witwe, arm, so blutarm! Sie wohnte da draußen in dem verrufenen Vorstadtviertel, das Percy nur dem Namen nach bekannt war.
Nach allen möglichen Einzelheiten fragte der Hauptmann. Und immer schauten ihn diese so merkwürdig altklugen, fast lauernden Kinderaugen erst eine Weile nachdenklich an, ehe er eine Antwort erhielt. „Arme, verschüchterte Seele, armer, kleiner Kerl!” dachte der mitleidige, weichherzige Percy immer wieder, — der ahnungslose blinde Percy, dem es vollkommen entging, wie dieselben Augen aufmerksam jeden Gegenstand im Zimmer musterten, und wie es öfters in höhnischem Triumph in ihnen aufblitzte.
Dann, als das Kind gesättigt war, bereitete er ihm auf dem Divan in der Ecke ein weiches Lager, führte auch Rostan hinaus ins Schlafzimmer, damit der Hund den Kleinen nicht stören sollte. Nur das Licht auf seinem Schreibtische brannte, so daß der Hintergrund des weiten Raumes in graue Dämmerung gehüllt war. Bald hörte er auch, wenn er aufhorchend in seiner Arbeit eine Pause machte, die tiefen regelmäßigen Atemzüge des armen Jungen, dem die Erschöpfung sicherlich einen tiefen, traumlosen Schlaf brachte. So entschwanden die Stunden. Aber mit Hauptmann Giffords Arbeit wollte es nicht recht vorwärts gehen. Vergebens suchte er sich durch eine Zigarre und öfteren Genuß selbst übergebrühten Tees frisch zu erhalten. Seine Gedanken irrten immer wieder ab, umschwärmten Felicia Warrington und zauberten ihm so eine große Sehnsucht ins Herz. Und in solcher Stimmung schaffte es sich schlecht. Mit verzweifelter Anstrengung konzentrierte er nach solchen Abwegen sein Denken aufs neue auf seine Aufgabe. Öfters schon waren ihm die Augen vor Müdigkeit zugefallen. Gewaltsam riß er sie wieder auf… . Er mußte ja fertig werden… . Mußte … —
Eine weitere halbe Stunde verging. Percy Gifford war jetzt fest in seinem Schreibtischsessel eingeschlafen, den Kopf in die Hände gestützt, die auf der Tischplatte ruhten. Er schnarchte, und die lauten, rasselnden, sägenden Töne, die bald anschwollen, bald zu einem dumpfen Schnauben sich milderten, brachten in die kleine Gestalt dort hinten auf dem Diwan plötzlich Leben. Vorsichtig richtete sich der Junge erst zu sitzender Stellung auf, glitt dann von seiner Lagerstatt herab und schlich lautlos zu seinen zerlumpten Kleidern, die in einer Ecke zu einem Haufen geschichtet, unordentlich dalagen. In wenigen Sekunden hatte er sie übergestreift, ohne das geringste Geräusch zu verursachen. Das vorhin so leidensvoll aussehende Kindergesicht war jetzt vollkommen verändert. In diesen spitzen, scharfen Zügen, um diese fest aufeinandergekniffenen Lippen und in den forschenden, unruhigen Augen, die unermüdlich den Schläfer umspielten, wohnte die ganze frühreife Energie und Verderbtheit des Londoner Gassenbuben.
Langsam schob sich der Junge über den weichen Teppich näher an den Schreibtisch heran, immer näher, bis er dicht neben seinem schlafenden, ahnungslosen Wohltäter stand. Eine schmutzige Kinderhand griff dann behutsam nach den Zeichnungen, nach den mit Worten und Zahlen dicht bedeckten Zetteln und zusammengefalteten Bogen, nahm sie Stück für Stück an sich, legte sie zusammen und schob sie trotz des leichten Knitterns gleichmäßig sacht in die lederne Aktentasche. Nur an drei Blätter wagte sich die diebische Hand nicht heran… Denn auf diesen ruhten fest Percy Giffords Arme.
Bill Sanders — der arme, kleine Kerl! — hatte sein Werk fast vollendet — fast! Noch hieß es, sich mit der Beute auch glücklich und ungesehen aus dem Staube machen. Und das war wohl das Schwerste… Ruhig eilten jetzt seine Blicke über die Fenstervorhänge hin, prüfend und überlegend. Aber — wozu sollte er wohl die schöne goldene Uhr die da neben dem dicken Portemonnaie auf dem Mitteltische lag, nicht mitgehen heißen? Und Uhr und Geldbörse verschwanden gleichfalls lautlos in der Ledertasche. — Dann schlich der Junge zum Fenster und schlug die Stores zurück. Draußen graute bereits der Morgen. Eile tat nun wirklich not. Gewandt wie eine Katze kletterte er auf den Fensterknopf. Mit knirschendem Geräusche dreht sich der Fensterverschluß, der eine Flügel öffnet sich … In das stille Zimmer dringt von der Straße her ein dumpfes Aufschlagen, wie von dem Fall eines Körpers auf die Steinplatten des Trottoirs, — darauf ein halb unterdrückter Schmerzensschrei hinein, der bald in wimmerndes Weinen verklingt … Klappend stößt die Zugluft den Fensterriegel wieder zu… . — Aber Percy Gifford erwacht nicht, träumt weiter von zwei roten, weichen Lippen, von Felicia Warrington, von seinem Glück… . —
Zwei Stunden später findet der alte Diener seinen Herrn noch in derselben Stellung schlafend vor. Und nach weiteren zehn Minuten jagt der völlig verzweifelte Hauptmann in einem schnell herbeigeholten Wagen dem Hauptquartier der Londoner Polizei in Skotland1 Yard zu, läßt sich bei dem diensthabenden Inspektor melden und trägt ihm den Fall vor, bittet um schleunige Hilfe, beruft sich auf die Wichtigkeit der gestohlenen Papiere und erreicht, daß ungesäumt alle verfügbaren Detektivs dem Jungen auf die Spur gehetzt werden. Mehr kann Percy Gyfford2 für den Augenblick nicht tun. Völlig gebrochen kehrt er in seine Wohnung zurück… Wenn die Dokumente nicht wiedergefunden werden, wenn sie ins Ausland, in die Hände einer fremden Macht gelangen, ist er entehrt für alle Zeiten, dann muß er Felicia aufgeben, muß … .
*
Auf der nach dem Parke zu gelegenen großen Terrasse des Landhauses der Lady Warrington sitzt an demselben Vormittag um die lange Frühstückstafel eine vergnügte Gesellschaft beisammen, — all die Damen und Herren, die der wolkenbruchartige Regen nach dem gestrigen Gartenfest in dem gastfreundlichen Hause zurückgehalten hat.
Lady Helene Warrington, die vor wenigen Minuten von einem Diener in das Haus gerufen worden war, erschien jetzt wieder auf der Terrasse und näherte sich unauffällig ihrer Tochter, der sie leise einige Worte zuflüsterte, worauf die beiden Damen anscheinend in heiterem Gespräch Arm in Arm in den Garten hinabschritten. Doch das erste Gebüsch, das sie vor den Augen der Gäste verbarg, gestattete ihnen, diese Komödie aufzugeben. Felicia stützte sich jetzt schwer auf den Arm ihrer Mutter und blickte sie flehend an:
„Sag mir alles, Mama, … was ist mit Percy geschehen! Deine vorsichtigen Andeutungen lassen mich das Schlimmste befürchten…”
„Ja, wenn ich das nur selbst recht wüßte, Kind!” meinte Lady Warrington, die von ihrer einzigen Tochter bereits gestern abend in das neueste Herzensgeheimnis eingeweiht worden war, erregt und in schlecht verhehlter Sorge. „Soeben ließ sich ein Herr bei mir melden, der sich dann als Kriminalinspektor Wilson vorstellte. Er bat mich um Entschuldigung, daß er gezwungen sei, hier in meinem Hause eine Verhaftung vorzunehmen. Und denk’ dir, Kind, auf wen er es abgesehen hat! Auf Lord Cowper, den ich ihm jetzt durch einen Diener in den Salon bitten lassen mußte.”
„Aber, Percy, Mama, — wie hängt denn das alles mit Percy zusammen …?” jammerte Felicia mit verängstigten Augen.
Lady Warrington zuckte ratlos die Achseln. „Hierüber vermag ich dir nur des Polizeibeamten eigene, knappe Worte zur Aufklärung zu wiederholen… „Mylady,” sagte er höflich auf meine Frage, „was man Lord Edward Cowper eigentlich zur Last legte, „der Herr hat Ihrem Herrn Neffen, dem Hauptmann Gifford, wichtige Dokumente entwendet. Ich ersuche Mylady jedoch, hiervon zu niemandem etwas verlauten zu lassen… — Das ist alles, was ich weiß!” — —
Inzwischen hatte Lord Cowper sorglos den Salon betreten, in dem der Kriminalinspektor ihn erwartete.
„Sie haben mich zu sprechen gewünscht,” begann er hochfahrenden Tones.
„Kennen Sie einen Irländer James Morris, Lord Cowper?”, fragte der Beamte ernst und schlug dabei seinen Rock etwas zurück, so daß die kleine Legitimationsmarke auf seiner Weste sichtbar wurde.
Cowper erblaßte und griff taumelnd nach der Lehne des nächsten Sessels… Der Beamte wußte genug und sprach jetzt schnell weiter:
„Das einzige Kind dieses James Morris, eines Witwers, ist ein uns seit längerer Zeit schon bekannter und trotz seiner Jugend sehr geschickter Taschendieb. Heute in den Morgenstunden hat dieser Junge mit größtem Raffinement dem Hauptmann Gifford aus dessen Arbeitszimmer geheime Papiere gestohlen, ist aber, als er aus dem Fenster des Hochparterre hinaussprang, verunglückt, und konnte sich mit dem über dem Knie gebrochenen rechten Beine nur bis zur nächsten Straßenecke schleppen, wo er aufgefunden und in die nächste Sanitätsstation eingeliefert wurde. Dort fand man bei dem Knaben dann verschiedene, in einer Ledertasche eingeschlossene Dokumente, über deren Herkunft Bill Morris zunächst jede Angabe verweigerte, bis man in einem in derselben Aktentasche befindlichen Portemonnaie eine auf den Namen des Hauptmannes Percy Gifford ausgestellte Mitgliedskarte des Union-Klubs entdeckte. Hierauf gab der Junge alles weitere Leugnen auf. Die Papiere sind dem Hauptmann Gifford bereits wieder zugestellt. — Der Urheber dieses hochverräterischen Streiches aber sind Sie, Lord Cowper. Und daher — im Namen des Gesetzes, erkläre ich Sie für verhaftet!”
Lord Edward ergab sich ohne Widerstand in sein Schicksal. Und die eingehende Untersuchung, die in kurzer Zeit sein gefährliches Treiben als Spion völlig aufdeckte, endete mit seiner und des Irländers Morris Verurteilung zur Verschickung nach Neukaledonien. — Von den noch im letzten Augenblicke vereitelten Diebstahl der Dokumente des Kriegsministeriums drang nichts in die Öffentlichkeit, da der Spionageprozeß gegen Lord Cowper und Genossen hinter verschlossenen Türen verhandelt wurde. Trotzdem wurde aber dem Hauptmann Gifford nahegelegt, seinen Abschied baldigst einzureichen. — Für Bill Morris, den „armen, kleinen Kerl”, hatten die Ereignisse jener Mainacht jedoch die besten Folgen. Durch Fürsprache von Lady Warrington wurde er vor der Einlieferung in eine der überaus strengen Fürsorge-Erziehungsanstalten bewahrt und zu einem Gärtner einer der Warringtonschen Güter in die Lehre gegeben, wo er bald die letzten verderblichen Einflüsse seines früheren Lebens überwand, und dann später als ein brauchbarer Mensch in die Dienste Percy Giffords zu treten, der sich in Wales größere Besitzungen gekauft hatte und dort, fern von dem Treiben der Großstadt, in Gesellschaft seiner Gattin und seiner blühenden Kinder ein glückliches Dasein führte.
Anmerkung:
Walther Kabel arbeitete diese Erzählung gekürzt und leicht abgeändert unter dem Pseudonym W. v. Lensen in den Roman Die Basar-Hyäne der Argus-Kriminal-Bibliothek als Kapitel 6 ein.
Die Erzählung erschien unter dem Titel Der Streichholzjunge 1911 in: Das Neue Blatt. Ein illustriertes Familien-Journal, Heft 30, 42. Jahrgang, S. 477–479.
Später erneut abgeändert veröffentlicht als: „Armer kleiner Kerl“! In: Salonblatt. Moderne illustrierte Wochenschrift für Gesellschaft, Theater, Kunst und Sport, Heft 1 des 12. Jahrgangs [1917] auf den Seiten 11–12.
Fussnoten:
1Schreibweise der Vorlage übernommen.
2Schreibweise der Vorlage übernommen.