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Die Erlöserin

Die Erlöserin.

 

Eine Geschichte vom Zoppoter Strande

von Walther Kabel.

 

 

I.

[…]1

Über Nacht war ein Sturm aufgekommen, brauste vom Nordostwinkel der Ostsee über die weite Wasserfläche dahin, führte die Wogen an der Spitze Helas vorüber und warf sie mit voller Kraft gegen den Zoppoter Strand. –

Als Egon Medem dann nach kaum einer Stunde den Steg betrat, hörte er schon von weitem das Schreien und Rufen der Fischer, die eilfertig am Strande hin und herliefen, um ihre Boote in Sicherheit zu bringen. Mühsam kämpfte er gegen die Windstöße an und stand dann endlich oben auf dem Stegkopf, im Mittelpunkt eines Rundpanoramas, wie es die Phantasie eines Malers nicht schöner auf die Leinwand zaubern kann. –

Und am Spätnachmittag lockte es ihn wieder hinaus. Da waren die Kolonnaden dicht besetzt … und der Steg so leer. Wieder lehnte er auf der weißgestrichenen Brüstung und schaute auf die brodelnden Wellen, sah am Horizont einen großen Segler in das offene Meer hinaus flüchten und einen kleinen Dampfer der Hafeneinfahrt von Neufahrwasser zusteuern … Der Dampfer wippte wie ein Kork auf den Wellen, erschien und verschwand wieder, aus seinem Schornstein stieg dicker Qualm empor, der in dem Orkan verpuffte wie Zigarrenrauch. –

Schließlich lenkte er seine Schritte dem Kurgarten zu. Aber vergebens ging er langsam durch die Tischreihen, um vielleicht alte Bekannte zu treffen. Niemand … er war hier durch eine dreijährige Abwesenheit fremd geworden. In Gedanken versunken schlenderte er die Seestraße empor und bog unbewußt in den Weg ein, der zum Kirchhofe führte.

Eine wehmutsvolle Stimmung trieb ihn auf diesen stillen Platz mit den blumengeschmückten Hügeln und den Kreuzen aus Holz, Eisen und Stein darauf … Blumen und frische Kränze überall, wenig ungepflegte Gräber. Schattige Gänge gab’s hier unter den alten Bäumen, die jetzt der Sturm rauschen und raunen ließ von Liebe und Entstehen, von Leben und Vergehen. Und wie die Gräser und Blumen mitwisperten und die verdorrten Kränze auf den Kreuzen knitterten und hin- und herschwangen! –

Auch hier machte sich das Toben der Winde bemerkbar. Aber hier war’s so anders, so viel feierlicher. –

Er ging langsam durch die Hauptallee, las die Grabsteinschriften, die Psalmen und Sprüche auf den Steinen und blieb vor einer mit geschmackvollem Gitter umfriedeten Grabstätte stehen, die zwei Hügel umfaßte. Auf zwei Tafeln konnte man Namen und Daten lesen, die einst den Lebenden, seinen Eltern, gehört hatten. –

Die eiserne Tür kreischte in den Angeln, er trat ein, setzte sich auf die einfache Holzbank und stützte die Hände gefaltet auf den Stock. Über ihm rauschten die alten Linden und in der Ferne das Meer. Nichts störte die Andacht dieses Wiedersehens, das der Weltflüchtige hier an dem Grabe der Eltern feierte, nichts seine Gedanken, die unwillkürlich rückwärts lenkten in die Vergangenheit …

 

 

II.

In einer stürmischen Oktobernacht, als der Wind um die einsame Strandvilla heulte, ward er geboren. Und das Erste, was er mit bewußten Kinderaugen schaute, war das Meer, die Unendlichkeit … Das war der Tummelplatz seiner Jugend, der Freund seiner reiferen Jahre, dem er so oft sein Herzeleid geklagt und den er so oft wie eine erste Liebe in törichten Liedern angedichtet hatte. Die tönende Brandung hatte ihm sein Leben lang immer wieder Neues zu erzählen gewußt; seine Phantasie hatte sie mit hübschen Seejungfern mit schuppenglänzendem Fischschwanz bevölkert, die ihm zuzwinkerten und riefen: ‚… Komm … komm’, die ihm das Weib vorzauberten so rein, durchsichtig und erfrischend wie die Wassertropfen – mit Ungeheuern, die rote Augen in fahlen, faltigen Gesichtern hatten, dazu gelbgrüne wogende Haare wie Seetang, lange dürre Finger und krumme Krallen mit widerlicher Beweglichkeit … die gellend lachten und höhnend sich die Wissenden nannten … Er kannte das Meer zu allen Jahreszeiten; es war sein bester Freund, sein schlechtester Lehrer.

So wurde er Träumer, einer von denen, die sich ihre eigene Welt schufen und in dieser Scheinwelt allein glücklich waren. Als aber das Leben ihn anpackte und er sich wehren mußte gegen die ersten Angriffe des Schicksals, als er merkte, daß dieses Leben nicht einen milden König, sondern einen scheinbar so unberechenbaren Tyrannen über sich hatte, da würde er sich vielleicht noch zurecht gefunden haben in den Irrwegen des Daseins, wenn nicht … sie gewesen wäre … sie …! –

So war auch in sein Leben das Hindernis hineingekommen, das große Wenn, das immer … Weib heißt …

Als Egon Medem’s rückschweifende Gedanken so weit gekommen waren, seufzte er tief auf und leise murmelten seine Lippen einen Namen, den einen Namen. Und da fühlte er wieder das schneidende Weh in der Brust, merkte, daß die Wunde noch … lange nicht vernarbt war … Mit der Hand fuhr er über die Stirn, als wollte er die anstürmende Sehnsucht nach Glück verscheuchen und erhob sich schnell, ging den Weg zurück, den er gekommen … einer, in dessen Herzen die Vergangenheit so frisch erstanden war, als läge sie erst seit gestern zurück. –

Die Nacht kam, und der Orkan ließ nicht nach. Er umheulte das Kurhaus, setzte sich unter Sparren und Ecken fest, schlug die Fensterflügel klirrend auf und zu und rüttelte den hohen Bau, als wollte er ihn in seinen Grundfesten erschüttern. Der Himmel hatte sich bezogen, und nur hin und wieder blinkte ein einsamer Stern auf … –

Vor dem Sofatisch in seinem Zimmer saß Egon Medem und rauchte mechanisch seine Zigarette, blies den Rauch nachlässig in die Luft und starrte vor sich hin mit weltentrücktem Ausdruck in dem sonnverbrannten, eigentlich so energischem Gesicht. Das elektrische Licht, das von der Decke gleichmäßig verteilt herabstrahlte, beschien umbarmherzig deutlich seine Züge, die trotz ihrer Unregelmäßigkeit etwas seltsam Anziehendes hatten, den blonden, vollen Scheitel, die dunklen träumerischen Augen, die starke, gerade Nase, und den von einem kleinen blonden Bärtchen beschatteten, selten hübschen Mund, um den sich zwei entstellende, spöttische Falten tief eingegraben hatten. –

Vor ihm auf dem Tisch stand eine große Holzkassette, deren mit eingelegter Arbeit reichverzierter Deckel zurückgeschlagen war und einen Einblick in die seltene Sammlung im Innern gestattete.

Da lagen dicht neben und übereinander geschichtet seltene Steine, Raubtierzähne, Federn, indische Schmucksachen, dazwischen ein malayischer Kris und ein geladener Revolver, mehrere in Papier gehüllte versiegelte Päckchen – kurz Andenken und solche Sachen, die der Besitzer stets zur Hand haben wollte. Obenauf aber hatte Egon eines der versiegelten Päckchen gelegt. Zwei Buchstaben standen darauf … K.H. … weiter nichts. Und jetzt saß er vor diesen Zeichen einer wechselvollen Vergangenheit, fürchtete die eng beschriebenen Blätter, die da jahrelang in dem versiegelten Umschlag geruht hatten, die schlechte, verblaßte Amateurphotographie, die zu oberst liegen mußte, dieses Bildchen, das er einst nie von sich gelassen und so oft geküßt hatte …

In Egons Minenspiel spiegelten sich seine Gedanken so deutlich wider. Als er jetzt den Zigarettenstummel in den Aschbecher warf, geschah es unmutig, als sei er selbst mit sich unzufrieden. Dann brachen die Siegel, die Hülle löste sich und der Inhalt des Päckchens lag vor ihm. Und hastig griff er nach dem Bilde, hielt [inne …]2

Er lächelte unwillkürlich leise vor sich hin. Ob er heute noch weinen könnte aus Weh um ein verlorenes Glück?! –

Daß er’s damals gekonnt, jetzt wunderte es ihn. –

Aber das Lächeln verschwand bald wieder und langsam, langsam preßten sich seine Lippen fester zusammen. Unverwandt starrte er auf die verblaßte Photographie … Das war ihr feines, schmales Gesichtchen mit den großen, ernsten Kinderaugen, den schöngezeichneten Lippen, die halb geöffnet schienen, wie zum Küssen geformt; ihre goldige, üppige Haarfülle, dieses weiche, seidige Haar, in das er sein Gesicht tauchen durfte und den Duft einsaugen in einem Wonnerausch von Glück … Sie war’s, sie …

Vorsichtig legte er das Bildchen fort und lehnte sich mit geschlossenen Augen in die Sofaecke zurück.

Minutenlang war’s totenstill in dem Zimmer. Draußen tobte der Wind um die Fenster und das Rauschen der Brandung mischte sich in das Ächzen und Stöhnen der Windsbraut, die um das Kurhaus fuhr … –

Immer lebendiger wurde das Einst … Egon Medem sah wieder die Lichter auf der Hochzeitstafel flackern, glaubte wieder das an- und abschwellende Geräusch der lebhaften, schwatzenden Tischgesellschaft zu hören, und neben sich ihr klingendes Lachen, in das er so bald eingestimmt hatte. Auf der Hochzeit seiner ältesten Kousine war’s, als das Glück ihn leise gestreift hatte, und das Glück hieß Käthe Hargarten. Schon als Schüler hatte er für das zarte, elfenhafte Geschöpfchen eine tiefe Zuneigung empfunden. Und seine Entwicklungsjahre überstrahlte dieselbe Neigung mit einem Schimmer idealer Sehnsucht. Aber nie war zwischen ihnen ein vertrauteres Wort gewechselt worden, trotzdem er in seiner stillen Art sie stets umworben hatte.

Dann kam die Hochzeit seiner ältesten Kousine Alice Sander, die in den Sälen der Loge ‚Eugenia’ gefeiert wurde. Die Familie Sander waren seine einzigen Verwandten in Danzig. Er besuchte sie häufig, schon weil ihm seine beiden Kousinen und der Vetter die fehlenden Geschwister in liebevollster Weise zu ersetzen verstanden. –

Er stand damals dicht vor dem Referendarexamen und brachte daher dem Familienfest geringes Interesse entgegen. Als sein Vetter ihm aber mitteilte, daß er Käthe Hargarten zu Tisch führen sollte, da war’s ihm wie ein Wink des Schicksals vorgekommen. Und diese Liebe, die über den Sorgen der Alltagswelt beinahe eingeschlummert war, wurde in seinem Herzen wieder so wach wie zu jener Zeit, als er mit der ‚kleinen Käthe’ die Knospenblüte in Zoppot mitgemacht hatte.

Sie saßen dann an der Hochzeitstafel nebeneinander und er sprach ihr von seinen Plänen, seiner Arbeit … Sie hörte zu und schaute ihn nur bisweilen so prüfend von der Seite an. Und mit einem Male sagte sie, während gerade eine der langen Tischreden gehalten wurde:

Ich dachte schon, Sie hätten mich ganz vergessen …“ Das klang so natürlich, daß Egon nichts dabei fand. Und ebenso selbstverständlich war’s ihm, daß er antwortete:

„… Vergessen?! – Nein, Fräulein Käthe, Sie vergißt man nicht so leicht!“ Und dann lächelten sie sich an, und sie streckte ihm heimlich unter dem Tische die Hand hin, die er zärtlich drückte. Auch dabei fanden sie nichts. Denn daß sie sich lieb hatten, wußten sie lange.

Egon trug jetzt beinahe allein die Kosten der Unterhaltung. Denn Käthe Hargarten war merkwürdig still geworden. Verträumt schaute sie vor sich hin auf die roten Rosen, die vor ihr in einem Glase standen und die ein Geschenk von ihm waren. Zuweilen seufzte sie auch tief auf … Und wieder sprach sie dann ganz plötzlich in ihrer impulsiven Art:

Herr Medem, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen“, – sie sprach so leise, daß er sich ganz zu ihr hin neigen mußte – „Heute ist heut’ – und morgen ist alles … wie früher!“ Sie sah nicht auf, als sie hinzu setzte: „Ihr Wort darauf, wenn Sie mich verstanden haben …“

Ich verstehe … Käthi, und … mein Wort darauf!“ –

Nun saßen sie neben einander, beide stumm, und hingen ihre Gedanken nach, bis sie all das Neue überwunden hatten. Dann begann er mit seiner weichen Stimme ihr von seiner Liebe zu sprechen, von den langen Jahren der heimlichen Zuneigung. Und langsam wurde sie wie berauscht von dem Glück, das sie so lange ersehnte und nun besitzen sollte … für eine einzige, kurze Nacht.

Bald lachten und scherzten sie, waren übermütig wie die Kinder. Sie bauten von Tafelaufsätzen und Blumenarrangements eine Wand gegen ihr Gegenüber auf, lasen dicht aneinander geschmiegt die Verschen aus den Knallbonbons, drückten sich heimlich die Hände … – die Tischgesellschaft kümmerte sich nicht um die Beiden. So vergingen ihnen die Stunden im Fluge.

Als die Tafel aufgehoben, das allgemeine Stuhlrücken und Mahlzeitsagen vorüber war, flüchteten sie heimlich in den großen Park, trotzdem ein kühler Herbstwind die Blätter raschelnd über die Wege trieb und tiefe Dunkelheit unter den alten Bäumen herrschte. Dort küßte er sie, erst scheu und zagend, bis sie die Arme um ihn schlang und nur noch zwei Worte immer wieder sich über ihre Lippen drängten: „Du … Du …“

Lange gingen sie auf und ab in dem herbstlichen Garten. Endlich dachten sie auch an die Anderen dort in den hell erleuchteten Sälen, die sich vielleicht wundern würden über ihre lange Abwesenheit … Langsam, dicht umschlungen, gingen sie zurück, mit heißen Gesichtern, brennenden Lippen und flackernden Augen … Sie atmeten die kräftige, dumpfe Luft der Herbstnacht ein, eine Luft, die gesättigt war mit den Gerüchen absterbender Pflanzen und toter Blätter. Sie sprachen kein Wort. Wie im Traum schritten sie einher, mit jedem Schritt dem morgenden Tage entgegen, wo alles … wie früher sein sollte …

Konnte denn das noch sein?! Würde die Erinnerung an diese Stunden, an diese Küsse ihnen nicht immer bleiben und nicht die Sehnsucht einst mächtiger sein, als alle Vernunft, und würden sie sich nicht wieder in die Arme fliegen, noch ein Mal, ein allerletztes Mal … und würde es nicht immer wieder so kommen …?! …

Als der Tag schon graute, gingen sie Arm in Arm durch die menschenleeren Straßen, an dem schläfrigen Posten am Generalkommando vorbei, der ihnen so sehnsüchtig nachschaute, an Schutzleuten vorüber, die sie musterten. –

Er schloß ihr die Haustür auf, reichte ihr die Tasche mit den Ballschuhen und die Papierrolle, Hochzeitszeitung und Gedichte … Und dann küßten sie sich im Hausflur, wollten nicht von einander gehen. –

Draußen auf der Straße herrschte das fahle Dämmerlicht des heraufziehenden Tages, so eine trostlose Stille überall, und über den Häusern im Osten zog der Morgen herauf mit rosigem Schein.

Er bat und flehte: „Käthe, es darf nicht sein, daß wir jetzt auseinandergehen für immer … Habe doch Vertrauen zu mir, ich will arbeiten … Wir sind ja beide noch so jung, können warten …“ So sprach er eine ganze Weile. Sie lächelte nur trübe und preßte seine Hand … „Glaub’ mir, es ist besser für uns beide. Wir haben uns lieb, das mag uns aufrichten! Aber …“ Und da begann sie leise zu weinen. Vergeblich drang er in sie; sie wiederholte nur immer wieder: „Es ist besser so …“

Und so gingen sie auseinander, er, der arme Student, sie, die einzige Tochter der Witwe, beide ohne Aussicht auf die Zukunft … Daheim aber schrieb er in einem Rausch von Glück glühende Liebesworte nieder, füllte viele Blätter mit Sätzen, an deren toller Sehnsucht er sich berauschte. Und diese Blätter waren in dem Päckchen eingeschlossen gewesen zusammen mit einer verblaßten Amateurphotographie …

 

 

III.

Egon Medem blieb noch einige Zeit in Danzig. Aber der Glückstraum, der für ihn Käthe Hargarten hieß, schien ausgeträumt. Vergebens suchte er noch ein einziges Mal eine längere Zusammenkunft. Sie wich ihm aus und nur eines Tages, als er sie zufällig abends auf der Straße traf und ihren festen Entschluß ins Wanken zu bringen suchte, da hatte sie mit so traurigen Augen gebeten:

Quälen Sie mich doch nicht, Egon … es kann nicht sein!“

Und dann streckte sie ihm zum Abschied die Hand hin, drückte ihm das Bildchen, die schlechte Amateurphotographie, in die Finger und … ging …

Zum Andenken“, hatte sie leise gesagt.

So waren sie für lange Zeit voneinander gegangen. Egon aber fand in den nächsten Tagen keine Ruhe. Vergeblich suchte er sich Käthes seltsames, widersprechendes Verhalten zu erklären. –

Mein Gott, sie waren doch beide noch jung, warum wollte sie da nicht auf ihn warten, wenn sie ihn wirklich liebte? Er wollte ja arbeiten, streben für sie … All das war damals in der schweigenden Herbstnacht in dem Garten der Loge ‚Eugenia’ immer wieder zwischen seine heißen Zärtlichkeitsworte miteingeflossen. Damals hatte sie geschwiegen, sich nur dem Rausch des Augenblicks überlassen. –

Und jetzt – jetzt sollte das Erwachen mit so abwägender Nüchternheit gekommen sein?! –

Auf einsamen Spaziergängen überlegte sich Egon Medem das immer wieder. Aber zu einer Klarheit kam er nicht eher, als bis ihm eines Tages seine jüngere Kousine Trude aufklärte: Käthes Mutter, selbst mittellos, wollte sich durch ihre Tochter einen sorglosen Lebensabend schaffen … sie reich verheiraten. Und diese Idee verfolgte die energische Frau mit allen Mitteln. –

Da war er traurig heimgeschlichen, hatte seine Koffer gepackt, seinen Eltern gesagt, daß seine Anwesenheit in Breslau des nahen Examens wegen dringend nötig sei und Danzig verlassen, wo ihn in einer Nacht das Glück gestreift, nur gestreift hatte … –

Nach einem Vierteljahre kehrte er als Referendar und Dr. jur. heim. Von Käthe Hargarten hatte er in der Zeit nur zwei Ansichtskarten erhalten, auf denen nichts weiter stand als ‚Herzl. Gruß, K.’. Aber die beiden Karten hatte er sich aufbewahrt wie kleine Heiligtümer. Wenn er in der Einsamkeit seiner Breslauer Studentenbude zwischen seinen Büchern verzagen wollte, wenn er mit dem Geschicke zu hadern begann, das das Glück zweier Menschen von dem kläglichen Golde abhängig machte, dann suchte er sich die kleine Photographie hervor, die beiden Karten … und dann kam die Hoffnung wieder, die törichte Hoffnung …

Zu Hause fand er seinen Vater schwer krank. Man hatte ihm die Krankheit so lange verheimlicht, um ihm neben den Examensorgen nicht noch mit dieser traurigen Botschaft zu belasten; und als eine Woche vergangen, standen seine Mutter und er auf tannengeschmückten Brettern neben einem offenen Grabe, und in der klaren Winterluft klangen die Worte des Geistlichen doppelt laut, so hart und eindringlich, und für ihn doch nur Worte … Worte … Er konnte es nicht fassen, daß sie beide nun allein da wären in der kleinen Villa am Strande, daß sie ihn nie wiedersehen sollten, der für sie ein langes Leben in treuer Pflichterfüllung gesorgt hatte. Doch Tränen fand er nicht. Nur die Kehle war ihm wie zugeschnürt und sein Blick sah nichts als die weiße Schneelandschaft mit den dunklen Flecken darin, die sich bisweilen bewegten, er hörte nur das wimmernde Schluchzen seiner Mutter und das Sausen des Windes in den froststarrenden, bereiften Ästen der Bäume.

Dann sank die Dämmerung herab. Seine Mutter saß in dem hochlehnigen, altertümlichen Korbsessel, weinte leise und sagte verzweifelt vor sich hin: … „Was soll nun werden … was soll nun werden?“

Ja … was?! – Er ging in dem Zimmer auf und ab, überdachte die letzten Wochen und ein bitterer Groll gegen das Geschick fraß sich in ihm fest. Draußen aber tobte die See, der Sturm pfiff um die Fenster … Und seine Mutter weinte und seine Schritte klangen langsam, regelmäßig, wie das Ticken der Uhr … Da hatte er’s nicht länger ausgehalten in den engen Mauern. Als er um die Hausecke bog, faßte ihn der Wind, so daß er sich nur mühsam vorwärts kämpften konnte. Auf dem festen Sandstreifen dicht an der See, den die auslaufenden Wellen feucht erhielten, schritt er entlang, den Hut ins Gesicht gedrückt, die Hände in den Paletottaschen versenkt … Der Sturm durchwehte ihn und machte ihn frösteln. Da wurde er ruhiger, dachte an die Zukunft … Jetzt mußte er ja sorgen und … all die hochfliegenden Pläne aufgeben. Sie besaßen ja nichts als die kleine Villa und die karge Witwenpension. Erwerben hieß es jetzt, Geld verdienen, um der vergrämten Mutter die Tage freudiger zu gestalten … Aber jenes erträumte Glück, jene Hoffnung, die ihn immer wieder aufrecht erhalten hatte, sie war in Trümmer gegangen.

Als er daran dachte, an dieses schwere Verzichten, senkte er müde den Kopf … Und die Wellen strebten dem Ufer zu, das sie doch nur sterbend, in der Auflösung begriffen, erreichten. Sie rollten und murrten … wie Stöhnen klang’s aus dem Wasser. Das Meer, Egon Medems Freund, sprach zu ihm. Und er lauschte … Es erzählte ihm von so vielen Anderen, die im Lebenskampfe den Kopf nicht hatten mutlos sinken lassen, sondern mit starkem Blick ohne Lächeln ihren Weg gegangen waren, von denen, die wenigstens zufrieden wurden … –

Zwei Wochen vergingen. Da begann auch seine Mutter zu kränkeln. Er pflegte sie mit zärtlicher Sorgfalt, saß nächtelang auf, hörte ihr wirres Reden, starrte in die trüb brennende Nachtlampe und hatte so viel Zeit zum Grübeln. Diese einsamen Stunden ließen den kaum Fünfundzwanzigjährigen um ein Jahrzehnt altern. Was er dem Schicksal nicht vergessen konnte, war dieses Entsagenmüssen auf den letzten Hoffnungsschimmer, der ihm die Zukunft verklärt hatte. –

Der alte Hausarzt wurde aus der Krankheit nicht recht klug. Es war eine allgemeine Schwäche, ein interesseloses Hindämmern ohne jeglichen Anteil an der Umgebung. Die Tage vergingen. Langsam besserte sich das körperliche Befinden der Kranken. Aber trotzdem schüttelte der Arzt bedenklich den Kopf. Und dann … dann war es nicht mehr anzuzweifeln … Egon Medems Mutter war körperlich wiederhergestellt, aber ihr Geist blieb umnachtet. Sie erkannte niemanden mehr, weinte bald still vor sich hin, um dann plötzlich gellend aufzulachen und mit kreischender Stimme wirre Geschichten zu erzählen. Schließlich nach einem heftigen Tobsuchtsanfall blieb dem völlig niedergebrochenen Sohne nichts anderes übrig, als die Kranke in die nahe Irrenanstalt zu überführen …

Eine Woche war seitdem vergangen. An einem Dienstag wars in den ersten Tagen des April, da kam ein Telegramm aus Tilsit von einem Justizrat, das Egon Medem den Tod seines Onkels, des einzigen Bruders seiner Mutter, anzeigte und auch die Aufforderung enthielt, sofort dorthin zu kommen. Der Verstorbene, der durch Holzhandel zu Reichtum gelangt war, hatte sich um seine Schwester und deren Familie nie bekümmert, ebenso wenig den Neffen während seines Studiums auch nur im geringsten unterstützt. Hierdurch waren die Beziehungen zwischen den Geschwistern völlig gelöst worden, da Egons Mutter es dem reichen Bruder nie verzeihen konnte, daß er nur aus Geiz ihren einzigen Sohn sich so kümmerlich durch seine Universitätsjahre schlagen ließ. Nur Egon hatte bisweilen an den alten Sonderling geschrieben, so ihm auch mitgeteilt, daß er die erste Staatsprüfung bestanden und auch zum Doktor juris promoviert hatte. Die Antwort war eine Postkarte mit wenigen dürren Worten …

Trotzdem hielt Egon es für seine Pflicht, dem einzigen Verwandten mütterlicherseits das letzte Geleit zu geben. Am nächsten Abend traf er in Tilsit ein, wurde am Bahnhof von dem Justizrat, den er von seiner Ankunft telegraphisch benachrichtigt hatte, empfangen und in ein Hotel geleitet.

Hinter einer Flasche Rotwein saßen dann die beiden Herren noch lange beisammen und sprachen von dem Toten, den der Justizrat, der langjährige Rechtsbeistand des Holzhändlers, ihm in ganz anderem Lichte zeigte.

Als Egon Medem später in sein Zimmer hinaufging, konnte er lange nicht einschlafen. Was der alte Herr ihm da in zwei Stunden erzählt hatte, gab ihm ein so ganz anderes Bild von dem Verblichenen. Gewiß, er war ein Sonderling gewesen, verbittert durch Enttäuschungen, ein Mann, der anderen die Wege zum Erfolg nicht ebnen wollte, weil er selbst das Sich aus eigener Kraft Emporarbeiten zu hoch eingeschätzt hatte. Daher seine scheinbare Herzlosigkeit, sein scheinbarer Geiz.

Am Tage nach dem Begräbnis fand die Testamentseröffnung statt. Was der Justizrat Egon gleich beim ersten Zusammensein anvertraut hatte, bestätigte der letzte Wille des Toten: Egon war von seinem Onkel nach Abzug einiger Legate zum Universalerben eingesetzt … Er war Millionär …

Als er dann in dem Zuge saß und der Heimat wieder entgegenfuhr, als er endlich in Ruhe seine jetzige Lage überdenken konnte, da wollte ihm ein jubelndes Glücksgefühl schier die Brust zersprengen. Er ging in dem engen Abteil auf und ab, blieb dann am Fenster stehen und sah die Sonne über der frühlingsfrischen Landschaft untergehen, hoch am Horizont die flammende Röte wie den Lichtglanz eines zusammenfallenden Scheiterhaufens, auf dem seine ganze Bitternis, seine Weltfremde in Asche verbrannte … Das Glück winkte ihm wieder, und das Glück hieß noch immer Käthe Hargarten …

Aber auch an seine Mutter dachte er, wie er ihr jetzt jede Bequemlichkeit verschaffen, ihr ihr hartes Geschick erleichtern könnte mit Hilfe … des kläglichen Goldes. –

Dann schlief er ein. Und in seine Träume wob der erwachte Lebensmut rosige Fäden …

Die erste Sorge nach seiner Rückkehr galt seiner Mutter. Er ließ dieselbe in der ersten Station der Anstalt unterbringen, wo sie ihr eigenes Zimmer und die denkbar beste Verpflegung hatte, mietete für sie eine besondere Wärterin und überzeugte sich auch selbst von dem Ergehen der Kranken. Aber deren Zustand hatte sich um nichts gebessert. Mit leeren Augen starrte sie den Sohn an, schwatzte dann leise vor sich hin, bis sie durch die Gegenwart des ihr jetzt fremden Gesichts unruhig wurde, und der begleitende Arzt ihn bat, sich zu entfernen, da sonst einer der schweren Anfälle zu befürchten stehe.

 

 

IV.

Egon Medem sollte aber auch die Last des Reichtums bald kennen lernen. Die Zeitungen hatten natürlich dieser Millionenerbschaft in kurzen Notizen Erwähnung getan, und nun verging kein Tag, an dem ihm der Postbote nicht eine Unmenge von Bettelbriefen in die kleine Villa am Strande brachte. Die ersten las er noch, dann aber mußte er einsehen, daß es selbst bei bestem Wollen unmöglich war, den Inhalt aller dieser mit Leidensgeschichten, Klagen und rührenden Bitten angefüllten Schriftstücke zu prüfen. Und doch konnte er es bei einigen nicht übers Herz bringen, sie unbeachtet zu lassen. So schickte er denn an einem Vormittage fast zwei Dutzend Postanweisungen ab … Aber was nach diesem Tage an Bettelbriefen kam, wanderte ungelesen ins Feuer …

Außerdem stand er auch mit dem Justizrat in Tilsit in fortwährendem Briefwechsel, da er diesem die Ordnung des Nachlasses und auch die Verwaltung des zum Teil in großen Holzlagern bestehenden Vermögens übertragen hatte. Seiner Anweisung gemäß sollte der Nachlaß flüssig gemacht und in sicheren Papieren angelegt werden. Das sehr umfangreiche Geschäft weiterzuführen, dazu fühlte er sich außer Stande. –

So vergingen Tage ehe er dazu kam, seine Verwandten in Danzig zu besuchen. Er hatte sich seines Ausbleibens wegen schriftlich entschuldigt, machte sich endlich aber doch an einem Nachmittage auf und fuhr zur Stadt. Er traf nur seine Kousine Trude daheim, die ihn mit großer Herzlichkeit empfing. Dann sprachen sie von diesem und jenem. Aber wenn ihm auch stetig eine Frage auf den Lippen schwebte, er unterdrückte sie. Und auch Trude schien absichtlich den Namen Käthe Hargarten zu vermeiden. Schließlich lenkte das Gespräch doch in Bahnen, die tausend Erinnerungen in ihm wachriefen. Seine Kousine erzählte von der jungverheirateten Schwester; und da fragte er plötzlich unvermittelt, als sie die Hochzeitsfeier in der Loge so beiläufig erwähnte:

Hat Käthe dir damals etwas erzählt – damals nach dem Fest in der Loge ‚Eugenia’?“

Ja – alles sogar.“ – Und nach einer Weile setzte sie zögernd hinzu:

Weißt du, Egon, das mit der Käthe … laß es lieber. Ich kenne sie ja schon so lange, und sie ist wohl auch meine beste Freundin, aber … sie ist so unberechenbar … Daß sie dich wirklich einmal geliebt hat, glaube ich nicht … Sie hat sich anscheinend sehr gern den ganzen Winter über von dem Assessor John – du weißt … dem langen mit den vielen Schmissen – den Hof machen lassen …“

Egon Medem war aufgestanden und schritt im Zimmer auf und ab; die Worte klangen ihm in den Ohren wie spöttisches Gelächter … Er ging vom Kamin zum Flügel, wieder zurück, und … da fiel sein Blick auf die Etagere, auf der ein Kabinettbild stand; Käthe Hargarten im weißen Konfirmationskleid mit ihren traurigen Augen und dem süßen, hilflosen Ausdruck in dem feinen Gesicht … –

Schroff wandte er sich ab. Aber ein schneidendes Weh durchzuckte sein Herz und eine Mutlosigkeit überfiel ihn, so bleiern, so erschlaffend, daß er sich müde in einen Sessel fallen ließ … Indes hatte Trude mit ihrer monotonen Stimme weitergesprochen. Was wußte sie von seiner Liebe, von seiner einzigen Hoffnung …? „… und wenn sie ja wohl auch etwas von ihrer Mutter beeinflußt wird – nicht wahr, Egon, die rechte Liebe handelt doch anders, vergißt nicht so schnell.“ Und dann kam ein leises Lachen …

Ja, jetzt würdest du Frau Hargarten wohl recht sein, jetzt, nachdem du reich geworden …“

Und Egon Medem saß zusammengesunken in seinem Sessel und horchte, horchte … ‚Echte Liebe vergißt nicht so schnell’ – und das Andere … ‚jetzt, nachdem du reich geworden …!’ –

Die Worte vergaß er nicht. Als er abends heimfuhr, da schienen sie ihm aus dem eintönigen Rattern der Räder entgegenzuklingen, diese Worte, die eine bitterböse Wahrheit enthielten. Und Egon Medem grübelte und grübelte … Eine neue Last legte ihm sein Reichtum auf, das Mißtrauen gegen die, die er liebte.

Vergebens war er in dieser Nacht noch am Strande nach Glettkau entlang gelaufen, vergebens lauschte er auf das Meer, seinen alten Freund. Der abländische Wind glättete die See wie einen Spiegel. Nur eine leichte Dünung plätscherte am Ufer, kraftlos, entmutigend, und der laue Frühjahrswind machte so traurig sehnsuchtsvoll … –

Eines Tages sah der sie dann bei Sanders wieder. Als er ins Zimmer trat, saß sie neben seiner Kousine auf dem Sofa. Sie reichte ihm die Hand und wandte wie verlegen den Kopf zur Seite, als er sie lange prüfend anschaute. Eine gequälte Unterhaltung schleppte sich zwischen den Dreien hin. Auch auf die Hochzeit kam man zu sprechen; aber er tat gleichgültig und brachte das Gespräch auf etwas anderes.

Egon Medem mißtraute jetzt den Menschen und ihr besonders. Wie ein Gespenst drängte sich der Gedanke an seinen Reichtum in seine Empfindungen ein. Er glaubte an keine Aufrichtigkeit mehr, argwöhnte, daß die Aufmerksamkeiten nicht ihm, sondern seinem Gelde galten. Die absichtslos hingesprochenen Worte eines halbreifen jungen Mädchens waren für seine Seele eine giftige Saat gewesen, die auf einen Boden fiel, den des Schicksals wechselvolle Schläge nur zu sehr zermürbt hatten.

Kein freundliches Wort wurde zwischen ihnen an jenem Tage gewechselt. Er hatte sie unfreundlich behandelt, bei seiner allgemeinen Zerrissenheit die Worte nicht abgewogen und war bisweilen verletzend schroff gewesen. Und sie hatte ihn dann oft so empört angesehen mit Augen, aus denen etwas Besonderes hervorleuchtete, hatte ihre weißen Finger ineinander geschlungen, daß die Gelenke knackten und … geschwiegen … –

Das kam ihm alles zum Bewußtsein, als er nachher allein in einem Café saß und in eine Zeitschrift starrte, aus der er doch kein Wort las … Um ihn herum die schwatzenden Menschen lachten, scherzten. Wie ein Ausgestoßener kam er sich vor zwischen ihnen. Und … da schloß er plötzlich die Augen und vor ihm tauchte ein schweigender Garten mit alten Bäumen auf, unter denen ein geheimnisvolles Dunkel lockte … Er glaubte den kräftigen Herbstgeruch wieder zu spüren, den Duft ihres Haares und ihr diskretes Parfüm … War’s denn damals nur der Wein und die Feststimmung gewesen, die Käthe Hargarten in seine Arme getrieben hatte …? –

Konnte denn ein Weib so küssen, so von Sinnen sich an ihn schmiegen, ein Weib, dem die Erziehung doch die äußerste Zurückhaltung und Beherrschung gelehrt hatte …?

Tagelang schleppte er diese Gedanken mit sich herum. Noch mehr dachte er, was werden sollte, wenn er jetzt um sie würbe und sie ihm dann zuflüstern würde: ‚Ich liebe dich …!’ Sollte er sich sein Leben lang vor der großen Lüge fürchten, immer denken … ‚Sie nahm dich ja nur deines Geldes wegen!?’ … –

Schließlich fühlte er, daß seine kranken, überreizten Nerven dieses ewige Anspannen und Losschnellen, diesen Wechsel von froher Hoffnung zu dumpfem Brüten nicht länger aushielten. Er war krank; seine Gesichtsfarbe von ungesunder Blässe, sein Gang so unsicher. Bisweilen überkam ihn mitten auf der Straße ein Schwindel, den er nur mit aller Energie überwinden konnte. Diesem nicht zu ertragenden Zustande mußte er ein Ende machen, bevor ihm seine zunehmende Nervosität die unbefangene Urteilskraft ganz raubte.

Als er eines Abends zu seinen Verwandten kam, sah er im Entree ein schwarzes Jackett mit gestreiftem Seidenfutter hängen. Wie ein Schlag fuhr es ihm durch den Körper … ihr Jackett … also heute … heute … Da saß sie mit seiner Kousine an dem Tisch im Wohnzimmer unter der Hängelampe. Er begrüßte sie freundlich … Sein Herz pochte in lauten Schlägen gegen die Brust, daß er das Jagen des Blutes als feines Singen in den Ohren hörte … –

Bald ließ Trude sie allein, um im Eßzimmer noch ein Gedeck für ihn aufzulegen.

Allein mit ihr … Er schritt auf dem Teppich hinter ihrem Stuhl auf und ab, biß auf das Mundstück seiner Zigarette und wußte nicht, was er sprechen sollte … Er sah ihr schimmerndes volles Haar, auch heute wieder in losem Knoten frisiert, ihr Profil, diesen zarten Teint, die schlanken Finger, die mit den Anhängern an der langen Uhrkette spielten und die gegen den dunklen Stoff des Kleides so krankhaft weiß leuchteten … Die Minuten vergingen, und er sprach kein Wort. Käthes Wangen färbten sich langsam dunkler. Er stand jetzt seitwärts im Schatten auf den Kaminsims gelehnt, war mit seinen Gedanken so weit fort und doch nur bei ihr, wollte Liebes und Gutes sagen und konnte es nicht. –

Sie spielte immer verlegener mit den silbernen Sächelchen an der Uhrkette; er beobachtete die Bewegungen ihrer Finger, sah die weiße Hand, wie sie ein Fischchen mit schuppenglänzendem Leib hin– und herzog …

Von wem haben Sie denn das … das Ding da,“ fragte er plötzlich, nur um diese törichte Stille zu unterbrechen.

Welches Ding …?“ Sie schaute sich halb nach ihm um, und da begegneten sich ihre Blicke. Egon Medem wollte vorstürzen, vor ihr niederknien … was wollte er nicht alles in dem Moment, als er die lieben, lieben Auge sah …

Das Fischchen da!“ antwortete er gepreßt und machte schnell einen Schritt zu ihr hin.

„… Von Assessor John …“ Die Worte klangen kurz und ablehnend, wie im Gefühl aufwallenden Trotzes …

Egon Medem aber blieb an jenem Abend nicht bei Sanders zu Tisch. –

 

 

V.

Drei Tage später war er in Berlin. Vier Wochen hielt er sich hier auf, kostete das Großstadtleben bis zur Neige aus. Dann trieb es ihn weiter, hinein in die Alpenwelt. In Salzburg machte er Halt. In der Einsamkeit der weiten Steinfelder, im Angesichte der Bergriesen suchte er Vergessen. Aber Käthe Hargartens Bild verfolgte ihn überall. –

Nachdem er Italien durchwandert, nahte der Winter. Er verbrachte ihn in Palermo und hier erreichte ihn die Nachricht von dem Tode seiner Mutter. Trotzdem kehrte er nicht in die Heimat zurück. Seine Verwandten besorgten die Beisetzung der Verstorbenen auf dem Zoppoter Friedhof. Im Frühjahr bereiste er Nordafrika und schiffte sich im Herbst in Suez nach Indien ein.

Damals, als er auf dem Promenadendeck des Schnelldampfers ‚Kaiser’ im Liegestuhl ausgestreckt gelegen hatte, da waren seine Blicke, die sonst so interesselos die Umgebung musterten, plötzlich lebendig geworden. Da sah er nicht die schimmernde Luft über dem sonndurchhitzten Vorderdeck, nicht den weißgrauen farblosen Himmel und die langen klargrünen Wogen des Indischen Ozeans, da hatte er nur Augen für eine Frau, die kaum drei Schritt von ihm langausgestreckt wie er im Stuhle lag, ein Buch vor die Augen hielt und doch nicht las … denn beider Blicke suchten sich immer wieder.

Was ihn zu der Frau hinzog, war eine entfernte Ähnlichkeit mit … Käthe Hargarten: dieselben großen Kinderaugen und dieser hilflose Ausdruck in dem zarten Gesicht … Als er sie dann kennen lernte, sie und ihren Gemahl, einen höheren indischen Beamten, da schien Käthe Hargartens Bild langsam zu verblassen … die Frau war eine von denen, die das Leben im Glück getäuscht hatte, die resigniert den Gatten sprechen hörte, seine Liebkosungen duldete und … so müde zu lächeln verstand. Damals hatte er sich nach diesem Weibe gesehnt, der er den armen, grübelnden Kopf in den Schoß legen konnte und dann träumen … Ihre Finger sollten nur beruhigend über sein Haar streicheln und ihre Stimme etwas Liebes flüstern …

Aber damals hatte er sich selbst betrogen. Käthe Hargarten sehnte er in dieser Frau herbei, nichts weiter. Denn als er kaum acht Tage später allein in Singapore auf der Terrasse des Hotels ‚Des Indes’ saß, Eiskaffee schlürfte und in das bunte Treiben zu seinen Füßen blickte, da war jene Frau längst vergessen …

Mit dem nächsten Zuge reiste er in das Innere ab, in die Einsamkeit der Dschungel mit ihren Stechmücken und der Fieberluft. Auf dem Tragkorbe des Elefanten schlief er bei der gleichmäßig schaukelnden Bewegung. Der braune Hinduführer störte ihn mit seinem Schreien in seinen Träumen nicht … Und diese Träume gehörten nur ihr …

Dann wurde er bei einer Tigerjagd schwer verwundet. Das angeschossene Tier hatte ihm die Schulter und die linke Kopfseite völlig zerfleischt. Ein schweres Wundfieber, in diesen Gegenden mit der erschlaffenden, feuchtwarmen Luft um so gefährlicher, warf ihn auf ein monatelanges Krankenlager. Wilde Fieberphantasien ließen ihn toben und schreien. In den Momenten der Ruhe aber glaubte er kühle, weiße Finger auf seiner Stirn zu fühlen und wie ein Zauberstrom schien’s aus ihnen hinüberzufliegen in sein erhitztes Blut, so beruhigend und erquickend …

Das war in Indien gewesen im tiefen Dschungel, fünf Meilen von der Residenz des Rajah von Mwapur in dem Bungalow des Residenten von Allahabad und nun sechs Monate her. Und jetzt saß er in einem Zimmer des Kurhauses zu Zoppot, war in die Heimat zurückgekehrt nach fast dreijähriger Abwesenheit. Draußen tobte die See, und der Sturm umheulte das Kurhaus. Egon Medem hatte wachend geträumt … wohl eine Stunde lang.

Verstört erhob er sich, packte die Blätter zusammen und legte das Bildchen dazu, schloß die Kassette ab und stellte sie zurück in den großen Reisekoffer. Dann ging er an das Fenster, schob den Vorhang zurück und schaute hinaus. Er sah die Brandung wie einen weißlichen Streifen schimmern, und die elektrische Bogenlampe gegen den schwarzen Nachthimmel sich abheben wie die Sonnen in einem Transparentbilde. Die Stirn drückte er gegen die kühlen Scheiben und fühlte die Kälte des Glases … Wie wohl das tat … Wozu hatte er nur wieder diese Vergangenheit heraufbeschworen, unter deren Ansturm seine Nerven vibrierten wie einst, wie damals, als ihn seine Weltflucht zunächst in die Einsamkeit der Alpen geführt hatte. Jahre waren seitdem dahingegangen, aber die Liebe war geblieben … Was mochte aus Käthe Hargarten geworden sein, von der er in diesen Jahren nie etwas gehört hatte? Ob sie eines Anderen Weib, ob sie glücklich geworden …?

Wie stille Wehmut kam es über Egon Medem. Er zürnte ihr nicht mehr, er hatte ihr vergeben, daß sie ihm für Monate ein Glück vorgetäuscht. Das hatte die Zeit doch bewirkt – – sie hatte ihn ruhiger gemacht. Er dachte jetzt an sie wie an eine liebe Tote; die die Erinnerung in verklärtem Lichte als Idealgebilde erscheinen läßt … –

Dann trat er aufseufzend vom Fenster zurück. Und das Meer sang ihm wieder ein beruhigendes Schlummerlied …

Am nächste Vormittag fuhr er zu seiner Verwandten nach der Stadt. Er traf seine Tante und Cousine Trude zu Hause an. Großes Erstaunen, große Freude und lange, lange Geschichten, so viel Neuigkeiten, daß ihm schier der Kopf schwirrte. Seine jüngere Cousine hatte sich verlobt und wollte November bereits Hochzeit feiern, die Tante war inzwischen Großmutter geworden und erzählte mit Stolz von dem ersten Enkel … Er blieb bei seinen Verwandten zu Tisch und saß dann nach dem Essen mit Trude allein im Wohnzimmer, während der Onkel und die Tante Mittagsruhe hielten. Sie erzählte von ihrem Verlobten, von der Aussteuer … Er sah ihre strahlenden Augen, den goldenen glatten Reif an ihrem Finger … Und ein Gefühl wie Neid beschlich ihn.

Mit einem Mal fing sie von Käthe Hargarten an … „Du, Egon“, sagte sie mit leichter Verlegenheit, „der Käthe habe ich damals bitter unrecht getan … damals im Winter vor drei Jahren, als ich dir sagte, daß sie so … unberechenbar sei und ich dich warnte … Sie hat dich doch sehr lieb gehabt … sehr lieb …“ – Die letzten Worte sprach sie so zögernd, so schuldbewußt.

Die Zigarette zitterte leicht zwischen Egon Medems Fingern, und das feine, blaue Rauchwölkchen bildete phantastische Bogen und Schlingen.

Was nützt mir das jetzt?“ sagte er scheinbar ablehnend.

Also liebst du sie nicht mehr?“

Erlaß mir die Antwort, Trude. Und sprich nicht mehr von Käthe, bitte tu mir den Gefallen!“ –

Er war aufgestanden und an das Fenster getreten. Prüfend schaute das Mädchen ihm nach. Und dann glitt es wie ein verstehendes Lächeln über ihr Gesicht.

Egon, Käthe hat dich lieb gehabt“, begann sie wieder. „Als du damals so plötzlich abreistest, da habe ich Käthe beobachtet. Sie wurde stiller und stiller. Dann zeigte ich ihr deine erste Karte aus Salzburg. Sie hat sie sich lange angesehen und mir dann schweigend zurückgereicht. Dabei sah ich ihr ins Gesicht – ich sage dir, Egon, es war leichenblaß, und Tränen hatte sie in den Augen. Und im Winter sah sie so elend aus. Ich habe sie ja nie gefragt, was ihr fehlt, aber Mama sprach oft mit Käthe darüber und da ist sie Mama einmal weinend um den Hals gefallen und hat so herzzerreißend geschluchzt. Aber gesagt hat sie damals nichts … nichts …“

Und während das Mädchen von diesen Tränen sprach, stieg es dem Manne am Fenster heiß in die Augen. Aber auch er sagte nichts … nichts …

Und aus der Geschichte mit dem Assessor John ist auch nichts geworden, Egon; Käthe hat ihm einen Korb gegeben und sich deswegen mit ihrer Mutter beinahe entzweit …“

Egon Medem hatte es plötzlich herumgerissen und schnellen Schritts war er zu seiner Cousine geeilt. Er stand vor ihr und suchte nach Worten …

Trude … und jetzt … wo ist Käthe … ist sie noch frei?“ Er brachte die Worte kaum heraus.

Sie nickte nur. Und wieder gings wie ein spitzbübisches Lächeln über ihr Gesicht. –

Da faßte Egon ihre Hand und sagte leise: „Erzähle mir mehr von ihr …“

Da ist nicht viel zu sagen, Egon. Aber jetzt in diesem Frühjahr, das will ich dir doch nicht vorenthalten – als du in Indien warst, und wir so lange keine Nachricht bekamen, da mußte Käthe mit ihrer Mutter auf Anordnung des Arztes in die Berge nach Karthaus.“

Wie? … Ist sie etwa … lungenkrank?“ Egon Medems Stimme klang so seltsam belegt. Und wieder lächelte Trude Sander leise vor sich hin.

Nein, sei ohne Sorge! Körperlich krank ist sie wohl nie gewesen. Nur ihre Seele hat die Jahre über gelitten, wohl mehr, als wir alle ahnen. –

Jetzt vor viezehn Tagen sind Hargartens erst aus Karthaus zurückgekehrt. Als Käthe zu uns kam, da sagte sie mir, daß nun auch ihre Mutter, der sie bis dahin ihren Kummer ängstlich verborgen hatte, alles wisse, was damals zwischen Euch beiden auf Alicens Hochzeit vorgefallen ist.“

Und hat Käthe sich ihrer Mutter freiwillig anvertraut?“ fragte Egon nach einer Weile peinlichen Schweigens.

Das hätte sie nie getan, nie … Aber sie schliefen beide in einem Zimmer, und da Käthe nachts im Schlafe öfters gesprochen, auch geweint hat, wurde Frau Hargarten aufmerksam, bis sie dann einmal deinen Namen nannte … Da hat Frau Hargarten sie am Morgen direkt gefragt.“

Egon Medem hatte sich in die andere Sofaecke gesetzt und zerblätterte nun achtlos zwischen seinen Fingern die längst erloschene Zigarette. Er hielt den Kopf gesenkt, um seiner Cousine das Gesicht zu verbergen, in dem es zuckte und arbeitete … Und seine Gedanken spielten um Vergangenheit und Zukunft. Langsam klärten sie sich. Da richtete er sich auf und mit einem wahrhaft sonnigen Leuchten in den dunklen Augen streckte er Trude die Hand hin.

Ich danke dir, Trude, so aus vollem, jetzt so glücklichem Herzen.“ Noch lange sprach er dann zu ihr von dem, was ihn einst bewegt hatte und ihm noch heute das Glück bedeutete, von Käthe Hargarten. –

Als er dann spät nachts wieder in Zoppot angekommen war und es sich in seinem Zimmer im Kurhause bequem gemacht hatte, da holte er aus dem großen Reisekoffer eine Kassette hervor und entnahm ihr ein kleines verblaßtes Bildchen. Und das Bild küßte er wie einst, hielt Zwiesprache mit ihm; und was er sich in dieser Stunde vornahm, das wollte er wahrmachen. Er wollte das Glück wiederfinden, das ihn einst nur gestreift hatte – und dann würde er’s festhalten, er, der Mann, den die drei Jahre in der Fremde ausgereift hatten.

Dann trat er hinaus auf den Balkon, setzte sich auf die Holzbrüstung und schaute über die dunklen Umrisse der Bäume hinweg auf das ausgestirnte Himmelsgewölbe. Kein Laut war vernehmbar – nur das leise klingende, gurgelnde Rauschen der See. Und über ihm die Sterne und der weißleuchtende Mond, dessen Glanz sich im Meere wiederspiegelte in flimmernden Streifen und der sein ruhiges Licht ausgoß über diese törichten Menschen mit ihrem gewähnten Glück und Unglück …

 

 

VI.

Egon Medem schlief am nächsten Morgen noch fest, als schon die Musiker der Kurkapelle sich zum Frühstück im Kurgarten zu versammeln begannen. Seit langer Zeit war ihm ein so tiefer, traumloser Schlaf nicht beschieden gewesen. Und als er jetzt erwachte und noch blinzelnd nach der Uhr sah, die neben seinem Bett auf dem Nachttischchen lag, da fuhr er auf und mit einer Schnelligkeit aus dem Bett, die ihn selbst lächeln ließ. Kaum zehn Minuten später saß er auf der Terrasse beim Frühstück. Aber die Morgenzeitungen, die der Kellner diensteifrig neben ihm aufstapelte, würdigte er keines Blickes. Seine Augen musterten mit seltsamer Spannung die Menschen, die den Kurgarten passierten oder einen Platz unter dessen weitästigen Linden suchten, musterten besonders die Damen, denen er noch am Tage vorher kaum eine flüchtige Sekunde der Beachtung geschenkt hatte.

Der Kellner, dem der Fremde mit seinen Koffern, die die Frachtsignaturen fast aller Herren Länder trugen, sofort als etwas Besonderes aufgefallen war und den er demgemäß mit größter Sorgfalt bediente, konnte heute über dessen Benehmen nur den Kopf schütteln. Der Herr Doktor, der sonst mit so natürlicher, vornehmer Gleichgültigkeit dem Getriebe im Kurgarten zugeschaut hatte und nie mit dem zum Frühstück reservierten weichen Eiern zufrieden war, der so leicht etwas bemängelte, ohne jemals unhöflich zu werden, er aß heute mechanisch und mit seltener Hast die Brötchen, vertilgte die beiden Eier, ließ den Kaffee erst unberührt, um nachher zwei Tassen hintereinander hinunterzustürzen … und jetzt – der Schwarzbefrackte traute seinen Augen nicht – jetzt sprang er sogar auf, warf die Serviette mitten auf den Teller mit Aufschnitt und eilte die Steintreppe zum Kurgarten hinunter … „Merkwürdig!“ brummte der Kellner und verfolgte seinen heute so auffallend veränderten Gast mit den Blicken, um dann leise durch die Zähne zu pfeifen. „Ah hm …!“ machte er nur und räumte den Tisch ab.

Egon Medem erreichte Käthe und ihre Mutter am Anfange des Seesteges. Er hatte Frau Hargarten vor Jahren einmal flüchtig kennen gelernt, zögerte aber doch keinen Augenblick die Damen anzusprechen, die jetzt an der Stegbrüstung standen und dem Treiben der Kinder am Strande zuschauten. –

Käthe erblickte ihn zuerst. Es schien, als traute sie ihren Augen nicht, so forschend ruhten ihre Blicke auf seinem Gesicht. Aber dann schoß ihr sichtbar eine Blutwelle in die Wangen, schwer stützte sie sich auf die Brüstung … und doch ließ sie kein Auge von ihm. Wie ein Glücksschimmer huschte es über ihr Gesicht, in dem jetzt die sich wieder verlierende Röte der ersten Überraschung einer krankhaften Blässe Platz machte.

Egon Medem zog den schmalrandigen Strandhut3 und wandte sich an Frau Hargarten:

Gnädigste Frau werden sich wohl kaum auf mich besinnen, trotzdem ich Ihr Fräulein Tochter näher kenne … mein Name ist Doktor Medem …“

In dem Gesicht der Dame spiegelte sich die Überraschung deutlich wider. Aber der erstaunte Ausdruck wich sehr schnell einem anderen, dem höflicher, kühler Ablehnung.

Ich besinne mich doch, Herr Doktor … aber …“

Doch auch dieses gedehnte ‚aber’ störte den Angreifer nicht.

Ich wollte nur Ihr Fräulein Tochter nach so langer Abwesenheit wieder begrüßen, gnädige Frau“, war er ihr schnell gefaßt ins Wort gefallen, wobei etwas wie glücklicher Übermut in seiner Stimme lag. „Und das werden Sie mir doch liebenswürdigst gestatten müssen“, setzte er hinzu.

Frau Hargarten nickte nur und wandte dann den Kopf wieder dem Strande zu. –

Egon Medem streckte Käthe die Hand hin. „Heißen doch auch Sie mich in der Heimat willkommen, Fräulein Käthe, damit ich merke, daß ich ihr nicht ganz entfremdet bin“, sagte er mit leise vibrierender Stimme, in deren Unterton es klang wie werbende Zärtlichkeit. Ihre Finger ruhten ineinander, nur einen Augenblick.

Seien Sie willkommen in der Heimat“, klangs zurück. Aber Egon’s Blick suchte vergebens in dem geliebten Gesicht nach irgend einem Zeichen, das er zu seinen Gunsten deuten konnte. Er fand nicht mehr jenen rührenden hilflosen Ausdruck darin wie einst – er sah nur in den Augen eine stumme Abwehr. Aber Egon Medem dachte an jenen Moment zurück, da er sich gesagt: ‚Festhalten das Glück – festhalten!‘ Und so blieb er bei den Damen stehen und suchte eine Unterhaltung fortzuführen, die sich nur mit höflichen Fragen und Antworten hinschleppte.

Nachher schloß er sich auch den Damen ohne Aufforderung an und setzte sich mit ihnen in den Kurgarten an einen der Tische unter den schattigen Bäumen, trotzdem die mehr als kühle Behandlung von Seiten der Mutter und das eisige Schweigen der Tochter ihn hätte abschrecken können.

Aber Egon Medem hatte in seiner Art sich zu geben etwas, das selbst die hartnäckigsten und zur Milde stimmen mußte. Er erzählte von seinen Reisen, ohne dabei die Naturschönheiten viel zu betonen, suchte vielmehr nur heitere Episoden heraus, die er mit treffendem und trockenem Humor zu schildern wußte. Bald hatte er die Genugtuung, daß sich zunächst auf Frau Hargartens vornehm ruhigem Gesicht ein Lächeln zeigte. –

Aber in Käthes Zügen wollte keine Heiterkeit aufkommen. Wenn sie sprach, prägten sich zwei feine Falten um ihren Mund scharf aus, und der Leidenszug in dem blassen Gesicht mit den müden, interesselosen Augen wirkte auf ihn wie ein Vorwurf …

Schließlich fühlte sie wohl, daß seine Augen nicht von ihr abließen. Da trafen sich ihre Blicke, und vor so viel Wärme und Innigkeit in denen des Mannes schlug Käthe Hargarten die Augen nieder; eine feine Röte stieg ihr ins Gesicht und dann … dann sah Egon wieder diesen Ausdruck der Hilflosigkeit darin, der zu bitten schien: „Oh du – du quäle mich doch nicht!“

Aufjubeln hätte er mögen, nach ihrer Hand greifen und diese pressen –, aufrichtes4 Zeug stammeln wie einst in jener Herbstnacht. Jetzt wußte er – Er würde siegen! –

Und das Bewußtsein gab ihm seine ganze Ungezwungenheit, seine berückende und doch natürliche Liebenswürdigkeit wieder. –

Dann gingen die drei nach Schluß des Vormittagskonzertes langsam die Seestraße empor. Als Frau Hargarten in einem der Läden verschwand, um etwas einzukaufen, benutzte er diese Gelegenheit des Alleinseins um Käthe schnell zuzuflüstern:

Fräulein Käthe, kann ich Sie nicht nachmittags sehen? Ich muß Sie sprechen, allein sprechen … Ich muß! Ich habe Ihnen so viel zu sagen und … so viel gut zu machen!“ –

Bittend schaute er sie dabei an. Aber sie sah an ihm vorbei auf die in dem Schaufenster liegenden Postkarten.

Wunderhübsche Muster, Herr Doktor … nicht wahr?“ sagte sie nur. Und dann kam auch schon die Mutter zurück. –

Nach Tisch schlenderte Egon Medem an den Strand und streckte sich im Schatten eines Strandkorbes lang in den Sand. Auf den rechten Arm aufgestützt beobachtete er mehr den Steg, als er in Megedes ‚Felicie’ las. Er hoffte auf Käthe Hargarten …

Und dann kam sie wirklich. Sie reichten sich wortlos die Hände. Ihm war das Herz zum Sprechen zu voll. Und in ihren Augen lag ein weicher Schimmer wie von lang zurückgedrängten Tränen des Glücks. –

Sie setzte sich in einen Strandkorb, und er lagerte sich zu ihren Füßen. Und die See gurgelte leise, klagend, und die Sonnenstrahlen ließen die Luft über dem hellen Sande schimmern. Da fühlte Egon Medem, wie das Glück bei ihm seinen Einzug hielt. Er sah nur sie, empfand nur ihre Nähe … Und sie beide schienen allein zu sein, ganz allein, irgendwo …

Wie weltentrückt fand er Worte, die sich in ihr Herz einschlichen mit betörendem Wohlklang … Und sie schaute zu ihm herab in sein sonngebräuntes Gesicht, in seine Augen, die in die Unendlichkeit des fernen Horizonts gerichtet waren, auf seinen Mund, der zu ihr sprach, daß es klang wie das Wispern der Blätter in einem Zauberwalde … Er erzählte von der weiten ungarischen Steppe, wo er im Zelt bei den Hirten gelebt und nichts getan hatte, nichts, nur die ziehenden Wolken betrachtet und abends den Sternenhimmel und die Lichtreflexe des Lagerfeuers auf den braunen, scharfgeschnittenen Gesichtern der Pußtahirten.

Es war so feierlich, wenn die Flammen der Holzscheite knisterten und wir ausgestreckt um das Lagerfeuer dalagen, aus den kurzen Pfeifen rauchten, und dann der Janos seine Fiedel hervorholte und alte, wehmütige Melodien spielte … Der Himmel über uns und um uns die grasbedeckte, flache Einöde … Die Gräser und Halme wehten im Abendwinde und bisweilen schallten aus der Ferne Tierlaute von der Herde herüber. So allein als Kulturmensch in Gesellschaft dieser Naturkinder, die zwiebelduftend meine Nase beleidigten und die ich doch liebte …! Wie oft haben sie gefragt: ‚Herr, warum bleibst du so lange hier bei uns in der Einsamkeit? Du hast doch Geld, kannst in die Städte gehen und schöne Weiber anschaun, anders als die Frana, die uns hier den Zwiebelreis kocht Tag für Tag, Jahr für Jahr!’ –

Ja, warum blieb ich vier Wochen dort in der Steppe, warum wanderte ich diese Jahre ziellos in der Welt umher …? – Weil ich floh vor den eigenen Gedanken, weil mich das Mißtrauen in die Einsamkeit trieb, die mir helfen sollte! – Aber das sagte ich den braunen Burschen und der neugierigen Frana nicht! Sie hätten mich ausgelacht …“

Immer williger gab sich Käthe Hargarten dem Zauber dieser Stunde hin. Sie hatte sich eng in die Strandkorbecke geschmiegt und an ihr Ohr rauschten die Klänge seines weichen Organs. Sie schloß die Augen … Die Erinnerung kam und zeigte ihr nicht mehr den, der sie verließ. Nein, nur den, den sie so geliebt hatte …

Und weiter sprach diese Stimme:

Damals, als ich von hier fortging, erst nach Berlin, dann in die Alpen, dann weiter, immer weiter, ruhelos und nur auf der Jagd nach Eindrücken, die meine Nerven aufreizten und … doch beruhigten, damals glaubte ich, daß das Schicksal mich ausgestoßen habe aus dieser Welt, daß das Unglück mich verfolge mit qualvollstem Wechsel von Hoffnung zu bitterster Enttäuschung. In einem Monat hatte ich das Auf und Ab der unbegreiflich schaltenden Nornen gespürt. Da bin ich trostlos dort am Strande entlang gewandert und habe mit dem Schöpfer und den Menschen gehadert. Und dann kam noch etwas hinzu, das Trostloseste! Wenn ich wenigstens den Glauben an Ehrlichkeit und Treue mir erhalten hätte! Aber meine Seele war ja so zerrissen damals, so leicht empfänglich für mißtrauische Regungen … Doch das mag begraben bleiben … für immer …!“

Er schwieg. Und vor Käthe Hargarten tauchte ein Zimmer auf, in dem sie unter der brennenden Hängelampe einst gesessen, in dem sie ihm in aufwallendem Trotz zugerufen hatte … ja, was? Etwas Törichtes, einen Namen … ‚Assessor John’ … –

Und jetzt sprach er von Mißtrauen, das ihn in die Welt hinausgetrieben hatte, davon, daß er nicht mehr an Treue geglaubt …

Käthe Hargarten saß da wie betäubt. Denn das, was sie nie begriffen, wofür sie nie einen Grund gefunden hatte, es lag jetzt entschleiert vor ihr … Mißtrauen gab er als Grund an für seine damalige Flucht, doch sie, sie jubelte. „Es war Liebe zu dir, Liebe ganz allein …“

 

 

VII.

[…]5

Drei Tage waren seit ihrer ersten Begegnung verstrichen, in denen Egon der Geliebten kaum von der Seite gewichen war. Inzwischen hatte auch Trude Sander Frau Hargarten aufgesucht und … der Erfolg dieser Aussprache zeigte sich sofort: Käthes Mutter behandelte Egon nunmehr freundlich, gestattete auch, daß die beiden bisweilen allein auf dem Stege und im Kurgarten promenierten, mit einem Wort, sie glaubte an Dr. Medems ehrliche Absichten. Öfters, wenn sie ihr einziges Kind in so eifriger Unterhaltung mit dem auffallend eleganten Egon neben sich sitzen sah, wenn sie beobachten konnte, wie so urplötzlich all die müde Traurigkeit aus Käthes Wesen verschwunden war, dann flog über ihre etwas harten, trotzdem aber vornehmen Züge ein zufriedenes Lächeln. –

Frau Hargarten hatte damals nicht aus bloßem Egoismus gehandelt, als sie für die einzige Tochter nach einem wohlhabenden Bewerber suchte. Sie selbst, feingebildet und ideal veranlagt, hatte an sich erfahren müssen, daß in den Sorgen um das tägliche Brot das Glück sich nur schwer erhalten läßt, das Glück, das sie ihrem Kinde in reichster Fülle zukommen lassen wollte. Und wenn sie dabei in der Wahl ihrer Mittel vielleicht fehlgegriffen, jedenfalls hatte sie es gut gemeint, hatte nur das Beste ihrer Tochter gewollt.

Und langsam drängte sich in das Herz dieser Frau nun ein neues Gefühl ein, das sie bisher keinem der Bewerber ihres Kindes gegenüber empfunden hatte, ein Gefühl liebevoller Dankbarkeit. Egon Medem war’s ja, der die Sorge um die Gesundheit Käthes mit einem Male von ihr genommen, der allein es erreicht hatte, daß in der engen Sommerwohnung, in der die beiden Damen in Zoppot hausten, schon morgens Frohsinn und Heiterkeit herrschte, daß ihres Kindes Augen wieder so lebensfroh leuchteten und die einstige zarte Röte in ihre Wangen wiederkehrte.

Dann war Käthe ihrer Mutter gestern abend so ganz ohne Grund plötzlich um den Hals gefallen, hatte nichts gesagt, nichts – nur geküßt hatte sie sie und leise vor sich hingeweint … Tränen des Glücks. Und Frau Hargarten war ihr beruhigend mit der Hand über das schöne Haar gefahren, so mütterlich zärtlich … Kein Wort wurde gesprochen, und doch verstanden sich Mutter und Kind. Da war die Vergangenheit wie ausgelöscht, jene Stunden, in denen eine sorgende Frau mit ihrer Tochter gehadert hatte, weil sie den ungeliebten Freier ausschlug … In diesen Minuten sicherte sich auch Egon Medem einen Platz in Frau Hargartens Herz. –

Egon und Käthe gingen weiter die Strandpromenade entlang dem Seestege zu. In der Nacht war wieder ein Sturm aufgekommen, ärger als der in den ersten Augusttagen. Die Bäder mußten geschlosssen werden, so sehr wütete die See. In den Bäumen des Nordgartens knackte und rauschte es, als ob die alten Kiefernstämme sich ärgerten, daß sie so unzart gerüttelt wurden.

Die Beiden kamen an den Kolonnaden entlang, in denen jetzt am zeitigen Vormittag nur wenige Frühaufsteher saßen, bogen auf den Steg ein und schritten vorwärts, dem Sturme gerade entgegen.

[„Aber es ist doch Unsinn, bei dem Sturm auf den Steg zu gehen – wir fliegen ja auf!“ –

Käthe Hargarten hielt den großen Strandhut mit einer Hand fest, hatte den Kopf vorgebeugt gegen den Wind und kämpfte sich neben [Egon Schritt für Schritt voran.]]6

Dann standen sie an der Brüstung am äußersten Ende …

Hier veranstaltete Meister Wind ein Konzert, grausig schön trotz der nervenerschütternden Dissonanzen. –

Käthe schaute wie gebannt in diese schäumenden Wassermassen, hielt mit beiden Händen den Hut fest, den ihr der Sturm zu entführen drohte und duldete es gern, daß Egon sie in den geringen Schutz hinter den Pfeiler der Bogenlampe schob.

Zwischen den vordersten Pfählen der Dampferanlegestelle, die noch weiter als der Steg in die See hinausgebaut war, sah es aus wie in einem Hexenkessel. Dort brachen sich die in ihrem Lauf aufgehaltenen Wellen mit zornigem Brüllen, schlossen sich wieder zusammen und rollten weiter, fanden ein neues Hindernis und rannten dagegen in starrem Trotz. Unter ihren Füßen schäumten und gurgelten die Wasser, sanken in sich zusammen und schwollen empor, schleuderten ihren Gischt in sprühenden Tropfen den Beiden in die heißen Gesichter … aber umsonst das Wüten und Toben; des Menschen Werk hielt ihnen stand und sie erreichten die Beiden mit ihrer zerstörenden Kraft doch nicht …

Wortlos schaute Käthe Hargarten hinab in diese nie zur Ruhe kommenden Wasser. Ihr Blick wurde verträumt, wie Halt suchend lehnte sie sich an den, dem jetzt wieder ihre ganze Liebe gehörte. –

Und dann begann er zu sprechen, ganz dicht an ihrem Ohr …

Wissen Sie nun, Käthe, warum ich einst hinausfloh in die Welt, nicht in das Getriebe der großen Städte, nein, in die Einsamkeit, wo die Natur und die entfesselten Elemente allein zu mir sprachen …? Können Sie nun verstehen, daß den, der den Glauben an alles verloren hatte, für den es auch kein Hoffen mehr zu geben schien, eine wilde krankhafte Sehnsucht nach übermächtigen Eindrücken immer weiter trieb? Daß ich Ruhe vor den eigenen Gedanken nur fand, wenn ich, ein armseliges Menschlein, dem Gewaltigsten gegenüberstand, was nur ein Gott zu schaffen vermag, den unverfälschten Reizen der Natur, sei es im Hochgebirge, sei es in der endlosen Steppe oder im wirren Geäst der indischen Dschungel! Vergessen wollte ich, Gottes Schöpferwerke sollten mich gesund machen! Und in der Einsamkeit habe ich dann wirklich den Mut zum Leben, den Glauben an eine gerecht waltende Vorsehung wiedergefunden. Da kehrte ich heim … heim, weil eine gesunde Sehnsucht nach Glück mich heimwärts trieb, weil das Mißtrauen von mir gewichen war …“

Ihre Hände hatten sich gefunden … nur ihre Blicke mieden sich noch … Egon Medem’s Stimme klang seltsam weich, als er weiter sprach …

Dich wollte ich da draußen in der Welt vergessen, dich, von der ich wähnte, daß sie ihr Spiel mit mir getrieben hatte. Und doch war’s deine kühle, weiße Hand, die ich in meinen wildesten Fieberphantasien auf meiner Stirn fühlte, so beruhigend, so erquickend … Du standest an meinem Krankenlager damals in Mwapur, du schautest mich vorwurfsvoll an und dann … rief ich dich herbei, schrie deinen Namen … Sieh’ Käthi, so hab ich an dich gedacht, so … so liebe ich dich noch jetzt …“

Da fühlte er den leisen Druck ihrer Hand, sah auf und schaute in zwei Augen, die ihn mit unaussprechlicher Hingebung anblickten …

Sie waren allein auf dem Stege, ganz allein … Leise legte er den Arm um sie und zog sie an sich, sanft und vorsichtig – dicht, ganz dicht, daß ihre Gesichter sich beinahe berührten … Und als das Toben des Sturmes einen Augenblick nachließ, flüsterte er ihr ins Ohr: „Käthi, kannst du mir verzeihen … liebe Käthi …?“ Da bog sie den schönen Kopf zurück, sah ihm in das erregte Gesicht, aus dem die dunklen Augen sie so flehend anschauten und reckte sich zu ihm empor, scheu und zagend, und doch so lieb …

Der Orkan setzte mit ganzer Macht wieder ein; über ihnen klirrte die Bogenlampe gegen den Pfeiler, der Wind pfiff um die Fahnenstangen, die See brüllte … Hoch am Himmel aber stand das leuchtende, befruchtende und erhaltende Tagesgestirn … Da küßte Egon Medem seine Erlöserin …

 

 

Anmerkungen:

1 Der Textanfang fehlt in der Vorlage.

2 Hier fehlt ein Teil des Textes in der Vorlage.

3 Vorlage unleserlich: S…hut

4 Vorlage: die pressen richtes

5 Von Kapitelanfang ist nur ein Textfragment vorhanden:

„Aber es ist doch Unsinn, bei dem Sturm auf den Steg zu gehen – wir fliegen ja auf!“ –

Käthe Hargarten hielt den großen Strandhut mit einer Hand fest, hatte den Kopf vorgebeugt gegen den Wind und kämpfte sich neben

6 Das Textfragment vom Kapitelanfang hier eingesetzt und leicht ergänzt.