Nic Pratt
Amerikas Meisterdetektiv
Heft 5:
Preis 5 Mk.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922
by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.
Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin
1. Kapitel.
Der Hafen von Neuyork wird nachts regelmäßig durch eine große Anzahl von Motorkuttern der Hafenpolizei bewacht, die unaufhörlich zwischen den ankernden und an den Kais vertäuten Seeschiffen hin und her fahren, um der gefährlichen Gilde der Hafenpiraten das Handwerk zu legen.
Dies gelingt jedoch nur insofern, als man durch die gestrenge Überwachung den Dieben die Sache etwas erschwert. Völlig auszurotten sind diese Hafenpiraten ebenso wenig wie es möglich ist, alle Diebstähle zu vereiteln. Dazu ist der Hafen von Neuyork und die Gaunerzunft der Wasserbanditen zu schlau. —
An einem trüben, drückend warmen Juniabend gegen elf Uhr schaukelte auf den schmutzig gelbbraunen Wassern des Hudson Flusses, des Innenhafen der Riesenstadt, ein leeres, kleines Boot. Es schwamm mit der Strömung stromabwärts. Und doch — wer genauer hinsah, merkte sehr gut, daß das Boot, obwohl leer, irgend einer unsichtbaren Gewalt gehorchte und schräg gegen die Strömung zuweilen nach dem rechten Ufer hin sich bewegte.
Immerhin war diese seitliche Bewegung so gering, daß sie nicht auffallen konnte.
Nur der Hafenpolizist Blendam, der vorn auf dem Polizeikutter Nr. 14 gestanden und das Boot zuerst bemerkt hatte, besaß so scharfe Augen, daß er schon nach kurzem Hinschaun dem Mann am Steuer von Nr. 14 zurief:
„He — Klarson, dort treibt ein anscheinend leeres Boot. Halte mal darauf zu!“
Klarson schob die Steuerpinne mehr nach Backbord, und Nr. 14 schoß dem Nachen entgegen.
Henry Blendam ließ kein Auge von dem kleinen Boot. Es kam ihm verdächtig vor, sogar sehr verdächtig. — Ein Boot, das scheinbar von selbst halb gegen die Strömung dem Ufer zudrängt, ist ein Kuriosum, dachte Blendam, den seine Kollegen seines Diensteifers wegen stets verspotteten.
Ein zweiter Beamter, der bisher auf der Treppe zu der kleinen Achterkajüte gesessen und sein Pfeifchen geraucht hatte, erhob sich jetzt neugierig.
„Hast wohl wieder ‘ne große Entdeckung gemacht, Blendam, wie?!“ meinte er zu dem Jüngeren.
Blendam beugte sich bereits weit vor und ließ den Bootshaken dumpf auf den Rand des leeren Bootes fallen.
Nr. 14 stoppte, und Henry Blendam zog das Boot näher heran, während sein Kollege lachend sagte:
„Wirst auch mit dem Kahn da kein Glück haben, Blendam! Suchst nun schon ein Jahr nach einen besonderen Abenteuer, das Dir Gelegenheit gibt, Dich auszuzeichnen. Mann, Du hast ja den Beförderungskoller!“
Blendams Taschenlampe flammte auf. Der breite Lichtkegel glitt über den schwarz gestrichenen Nachen hin.
Auch der andere Beamte blickte unwillkürlich in das Boot hinein.
„Verdammt!“ entfuhr es ihm.
Er war leicht zusammengezuckt.
„Ja,“ sagte Blendam ernst, sich gewaltsam zur Ruhe zwingend, „das ist der Kopf eines Weibes, Restock. Der Kopf einer Leiche.“
Restock war jetzt lebendig geworden.
„Herr Gott, Blendam, — wahrhaftig, — der Kopf eines Weibes! Und — wie tadellos das Haar frisiert ist. — Ich werde ins Boot klettern —“
„Nein!“ rief Blendam da. „Mit diesem Boote hat es noch eine besondere —“
Er schwieg. Er hatte den Bootshaken nur lose in den Händen gehalten, und plötzlich war ihm dieser entglitten, da das Boot mit einem jähen Schwung sich von dem Polizeikutter ein Stück entfernt hatte.
Fast gleichzeitig begann es zu sinken. Im Nu hatte es sich mit Wasser gefüllt.
Blendam und Restock waren so überrascht, daß sie sekundenlang untätig dastanden.
Als Blendam sich dann aufraffte und kurz entschlossen über Bord sprang, um den Bootshaken aufzufischen und den Nachen festzuhalten, damit er nicht wegsacke, kam er um ein geringes zu spät: das Boot war bereits unter der Oberfläche verschwunden, und alle Versuche Blendams, es noch mit dem langen Haken zu erwischen, waren umsonst.
So kletterte er denn wieder auf den Kutter und sagte zu dem älteren Kollegen ärgerlich und enttäuscht:
„Da hatte ich nun ein Abenteuer! Und es ist mir unter den Händen weggesackt!“
Restock war ein alter erfahrener Mann, im Hafenpolizeidienst ergraut.
Er kaute nachdenklich am Mundstück seiner Pfeife und meinte:
„Ob’s nicht vielleicht ein Wachskopf war, Blendam?“
„Nein, das glaube ich nicht. Das Gesicht war uns zugekehrt, und die Farbe war die einer Leiche.“
„Man müßte mal mit dem Anker nach dem Boot angeln,“ schlug Restock vor. „Vielleicht haben wir Glück —“
Blendam war sofort einverstanden.
Eine Viertelstunde suchten sie so nach dem Boote. Dann gaben sie es auf.
Blendam sah nach der Uhr. „Schon nach elf, Restock,“ meinte er. „Wir müssen zum Polizeibollwerk. Die Ablösung wartet.“
Nr. 14 setzte die Fahrt fort und legte gleich darauf unweit des Zollamtes an. Hier wechselte die Besatzung des Kutters. Drei andere Beamte gingen an Bord.
Blendam und Restock sowie der Kutterführer begaben sich zur Hafenwache, wo Blendam dem Polizeiinspektor vom Nachtdienst den Vorfall meldete.
Mr. Brubb war jedoch ein Mann, der seine Bequemlichkeit mehr liebte als derartige Ereignisse, die lediglich Schreibereien machten.
„Reichen sie zu morgen mittag einen Bericht ein,“ entschied er. „Natürlich ist es ein Wachskopf gewesen. Man hat sie zum Narren gehalten, Blendam. Ein paar Kollegen haben sich einen Witz mit Ihnen gemacht. Man kennt ja Ihren Eifer!“
Henry Blendam ärgerte sich über diese Abfertigung und sagte kurz:
„Gut, dann werde ich nach Hause fahren —“
Er bestieg die nächste Straßenbahn, steckte sich eine Zigarre an und starrte grübelnd vor sich hin.
Dann hob er den Kopf seine Augen leuchte auf.
„Ja — Nic Pratt!“ flüsterte er. „Nur Nic Pratt wird die Sache richtig zu würdigen wissen!“
Er verließ die Bahn an der Haltestelle unweit der Pearlstraße. Genau um halb zwölf saß er dann dem berühmtesten Privatdetektiv Neuyorks, dem noch recht jugendlichen Nic Pratt in dessen behaglichem Arbeitszimmer gegenüber.
Pratt ließ sich dem Vorfall auf dem Hudson erst ganz genau von Blendam schildern, ohne zunächst Fragen einzustreuen.
Er lehnte regungslos in dem tiefen Klubsessel, hatte den kurzgeschorenen Kopf gesenkt und warf nur zuweilen einen schnellen Blick zu Blendam hinüber, der sich beim Erzählen immer mehr ereiferte.
„Es war ein Frauenkopf, kein Wachskopf!“ sagte er jetzt mit Nachdruck. „Der Kopf war dicht unterm Kinn abgetrennt und stand mit dem Halse aufrecht auf den Bootsplanken. Das Haar war hoch frisiert. Es war von hellem Blond. Das Gesicht machte einen jungen Eindruck. Die Frau kann etwa dreißig Jahre alt gewesen sein.“
Dann schwieg er.
Pratt nahm die kurze Holzpfeife aus dem Munde, schloß die Augen vollständig und verharrte so wohl Zehn Minuten lang ohne jede Bewegung.
Blendam kannte die Eigentümlichkeiten des berühmten Detektivs und regte sich gleichfalls nicht.
Plötzlich fragte Nic, ohne die Augen zu öffnen:
„Das Boot änderte also zuweilen die Richtung und trieb schräg gegen den Strom weiter?“
„Ja — sozusagen in kurzen Rucken.“
„Kann ein Mann es vielleicht schwimmend dirigiert haben?“
„Das ist ausgeschlossen, Mr. Pratt. Wir hatten den Scheinwerfer von Nr. 14 eingeschaltet. Den Mann hätten wir sehen müssen, nachdem das Boot weggesackt war. Auch ich hatte an diese Möglichkeit gedacht und beobachtete das Wasser rings um. Der Mann hätte auch nicht tauchend entkommen können.“
„Das Boot lief ganz von selbst voll Wassers?“
„Ja, Mr. Pratt. So, als ob eine Bodenklappe darin geöffnet worden war.“
„Dann waren es also zwei,“ murmelte Pratt und zog wieder an seiner Pfeife.
„Zwei, Mr. Pratt? Was heißt das?“ meinte Blendam erstaunt.
„Zwei Taue oder zwei starke Drähte, Mr. Blendam. Ein Draht, der das Boot dirigierte: der zweite, der mit der Bodenklappe in Verbindung stand.“
Blendam nickte. „Ja, so wird es gewesen sein. Aber — was hatte das Ganze auf sich? Was bezweckte man mit dem Boot und dem Kopf?“
Nic Pratts stahlgraue Augen schauten den Beamten fest an.
„Da niemand weiß, daß sie zu mir gegangen sind,“ sagte er leise, „braucht es auch vorläufig niemand zu erfahren. Wir werden die Sache gemeinsam aufklären, Mr. Blendam. Wollen sie diese Nacht opfern und das ausführen, was ich anordne?“
„Sehr gern, Mr. Pratt,“ rief Blendam eifrig.
„Bitte — leiser!“ meinte der Detektiv mit gedämpfter Stimme. „Sie kennen die Eigentümlichkeiten meines Häuschens nicht. Dieses Zimmer liegt im Erdgeschoß nach der Straße hinaus anderthalb Meter über dem Boden — Draußen an der Mauer ist ein Vorsprung, so daß jemand, der mich belauschen will, sich auf diesen Vorsprung stellen kann. Schauen Sie nicht nach dem Fenster hin, Mr. Blendam. Sie sehen doch nichts. Die Vorhänge schließen ganz dicht. Aber — auf dem Mauervorsprung steht jetzt wirklich jemand.“
Blendam schüttelte den Kopf. „Sie scherzen wohl, Mr. Pratt? Wie wollen sie das wissen?“
„Ich weiß es. Bitte — dort neben meinem Schreibtisch an der Wand glüht eine winzige elektrische Birne.“
„Allerdings —“
„Der Mauervorsprung hat oben ein Brett als Abschluß, das in der Farbe der Mauer gestrichen ist. Tritt jemand auf das Brett draußen, leuchtet dort die Birne auf. So kann ich kontrollieren, ob etwa ein Mensch horchen will.“
Blendam stierte auf die winzige elektrische Birne.
Da — erlosch sie.
„Nun ist der Horcher weg,“ sagte Nic Pratt gleichgültig. „Nun hat er seine Visitenkarte zurückgelassen.“
„Wie das —?!“
„Die Abdrücke seiner Schuhe auf dem Mauervorsprung, der stets mit einer feinen Schicht farbigen Staubs bedeckt ist, und die Abdrücke seiner Finger am Fensterkreuz, an dem er sich festhielt und das zu diesem Zweck zur Aufnahme von Fingerabdrücken gleichfalls präpariert ist. Ich kann also sehr bald einige Kennzeichen des Menschen mir verschaffen, der sehr wahrscheinlich Ihnen, Mr. Blendam, heimlich gefolgt war.“
Henry Blendam schüttelte wieder den Kopf.
„Mir soll jemand gefolgt sein?!“ meinte er verblüfft.
„Ja. Das nehme ich an. Einer von denen, die bei der Sache auf dem Hudson-Fluß mitbeteiligt waren und —“
Er schwieg. Draußen hatte die Flurglocke an geschlagen.
„Entschuldigen sie,“ sagte Pratt, ging in den Flur und flüsterte hier seiner Haushälterin und Vertrauten Frau Allison zu „Fragen sie erst, wer draußen ists.“
„Hier Stuart Grablay!“ rief da bereits die wohlbekannte Stimme des Detektivinspektors, der mit Pratt eng befreundet war.
„Öffnen sie nach zwei Minuten, Frau Allison,“ befahl Pratt und betrat wieder sein Arbeitszimmer.
„Mr. Blendam,“ sagte er „hier, meine Haushälterin wird sie hinauslassen. Kommen sie. Es ist nicht nötig, daß Inspektor Grablay sie hier sieht. Morgen um zehn Uhr vormittag erwarte ich sie. In dieser Nacht gibt es für sie nichts mehr zu tun. Ich habe mir’s anders überlegt.“
2. Kapitel.
„‘n Abend. Pratt,“ begrüßte Grablay, der kleine hagere Herr, den Freund. „Haben sie etwas vor?“ Er schien es sehr eilig zu haben, nahm nicht einmal Platz und erklärte weiter:
„Vor einer Stunde haben wir in der Unperwaller Straße einen Hehler verhaftet, auf den wir schon längst scharf waren. Bei diesem Tom Bingry fanden wir die berühmte Perlenkette Miß Daisy Gronbars. Sie wissen doch, Pratt. Die Schauspielerin Gronbar, ein verteufelt hübsches Weib, hatte die Kette testamentarisch ihrer Freundin Marry Packnor vermacht. Doch die Kette war im Nachlaß der vor acht Tagen verstorbenen Schönheit nicht zu finden, ebensowenig noch andere Schmucksachen.“
Pratt hatte plötzlich Grablays Hand ergriffen fragte hastig:
„War die schöne Daisy Gronbar nicht blond, hellblond?“
„Ja. Das war sie — Was haben Sie aber, Nic? Sie sind mit einem Male so erregt —“
Pratt begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Dann machte er vor Grablay halt.
„Weshalb kommen sie zu mir, Grablay?“
„Weil der Hehler Bingry mir da eine höchst seltsame Geschichte erzählt hat, wie er in Besitz der Perlenkette gelangt sein will. Die Kette hat bekanntlich ein Schloß aus Platin in Gestalt eines doppelten Schlangenkopfes und ist daher leicht wiederzuerkennen.“
„Das weiß ich. Und Bingrys Erzählung?“
„Kommen sie doch mit, Pratt. Mein Auto wartet an der Ecke. Im Auto will ich —“
„Nein. Ich habe etwas anderes sehr dringendes vor. Also ganz kurz: was hat Bingry da zusammengelogen?“
„Gut, also ganz kurz. — Vorgestern fuhr abends neun Uhr ein Auto vor Bingrys kleinem Juwelierladen in der Upperwaller-Straße vor. Ein Mann mit einer Maske trat bei Bingry ein und sagte ihm, er könne ein glänzendes Geschäft machen, wenn er sofort mitkäme. Er gab Bingry dann als Sicherheit in Brillantendiadem. Dieser schloß es weg, steckte 200.000 Dollar zu sich, wie der Maskierte es verlangte, und bestieg mit ihm das geschlossene Auto. Es war ein ganz schwarzer Wagen. Auch nicht ein blankes Teilchen war daran. Der Chauffeur hatte Brille auf und einen struppigen Bart. Die Fahrt dauerte zehn Minuten und endete — vor dem Seitentor des Trinity-Friedhofs.“
„Ah!“ machte Pratt vor Überraschung.
„Der Maskierte führte Bingry durch die Pforte in das Torwärterhäuschen. Der Torwärter hält sich dort nur am Tage auf. In dem Stübchen saß im Dunkeln ein anderer Mann, ebenfalls mit Maske. Dieser zweite Mann schaltete eine Taschenlampe ein und zeigte Bingry wortlos die berühmte Perlenkette der schönen, toten Daisy. Der andere aber flüsterte leise: „Zweihunderttausend Dollar ist der Preis!“ Binary ging auf den seltsamen Handel ein, zahlte das Geld und wurde von dem Maskierten nach seinem Hause mit dem schwarzen Auto zurück gebracht, wo er dem Fremden dann das Brillantendiadem zurückgab. Darauf fuhr der Maskierte mit dem Kraftwagen davon. — Ist das nicht wirklich eine seltsame Geschichte?“
„Ja — wenn sie wahr ist!“
„Bingry schwört, daß er nicht lüge. Weshalb sollte er auch?“
Pratt überlegte.
„Was wollten sie jetzt unternehmen, Grablay?“ fragte er nach einer Weile.
„Zu Miß Marry Packnor fahren, also zu Daisys Freundin, Erbin und Kollegin. Die Packnor ist ja Filmdiva, also auch Schauspielerin. Ich wollte ihr die Kette bringen, denn ich vermute, Marry Packnor war’s, die die Perlen an Bingry verkaufen ließ.“
„Gut, fahren sie, Grablay. Auf Wiedersehen. Wenn Sie Zeit haben, kommen Sie morgen vormittag um zehn zu mir. Ich habe noch jemand herbestellt, und Ihnen beiden hoffe ich dann einiges Neue berichten zu können. Fragen sie jetzt nichts, Grablay. Ich habe zu denken. Gute Nacht.“
Als der kleine Inspektor gegangen war, begab Pratt sich in den Vorgarten, um die Fensterladen zu schließen. Er hatte eine Karbidlaterne mitgenommen. Das Schließen der Laden war nur der Nebenzweck. Der Hauptzweck, die Spuren auf dem Mauervorsprung und am Fensterkreuz zu besichtigen. Diese Spuren rührten ohne Zweifel von einer Frau her.
Pratt kehrte sehr befriedigt in sein Arbeitszimmer zurück. Nach zehn Minuten hatte er sich in seinem Ankleideraum in einen älteren schlicht gekleideten, bärtigen Herrn mit großer Hornbrille verwandelt. Unter diesem Anzug trug er jedoch noch sein gewöhnliches Sportkostüm mit Kniehosen.
Pratts Haus hatte einen zweiten geheimen Ausgang nach der Bloornstraße. Durch diesen entfernte er sich jetzt. Er hatte sich von Blendam genau die Stelle beschreiben lassen, wo das Boot mit dem Frauenkopf auf dem Hudson in der Nähe des Westufers gesunken war.
Am Hafen mietete er ein Boot, hinterlegte Pfand und ruderte auf den Strom hinaus. Daß niemand hinter ihm her war, wußte er. Denn niemand ahnte etwas von dem zweiten Ausgang seines Hauses.
Pratt orientierte sich bald, fand die Stelle und sah, daß etwa fünfzig Meter entfernt am Westufer ein Frachtdampfer am Kai vertäut war, ein zweier aber etwas stromauf im Flusse ankerte.
Er vergegenwärtigte sich hier nun nochmals ganz genau das, was Blendam ihm über den merkwürdigen Vorfall berichtet hatte. Dann ruderte er auf den ankernden Frachtdampfer zu. Die Deckwache rief ihn an. Er bat, an Deck kommen zu dürfen. Der Matrose schlug es ab. Aber Pratt versprach ihm zehn Dollar, und das half.
Es war ein Engländer, dem Pratt nun gegenüberstand. Der Matrose steckte die zehn Dollar ein und meinte schmunzelnd, er habe heute ein feines Geschäft gemacht.
Pratt schmunzelte auch. „Weil sie den Mann an Deck ließen, der den Polizeikutter narrte, nicht wahr? Der Mann gab Ihnen gleichfalls Geld,“ sagte er.
Der Matrose schaute Pratt mißtrauisch an. „Sie sind ein Beamter, Master, — ein Detektiv?“
„Ja. Aber nur Privatdetektiv — Der Mann hat das Boot mit den beiden Drähten dirigiert?“
„Freilich! Es war ein Mordsspaß. Er hatte mit dem einen Polizisten auf dem Kutter mal Streit gehabt und wollte mit ihm daher ‘n Jux machen, erklärte der Mann mir.“
„Mehr wissen sie nicht?“
„Nein .Wirklich nicht.“
„Wie sah der Spaßmacher aus?“
„Na — ‘n großen schwarzen Bart hatte er, so ‘ne Brille wie sie, Master und — ja — und sehr feine Hände, was mir auffiel.“
„Die Stimme, wie war die?“
„Wie ‘n Reibeisen. Der Mann hatte den Schnupfen.“
Pratt fragte noch allerlei, aber Neues erfuhr er nicht.
So ruderte er denn wieder weiter, erst ein Stück stromauf, dann stromab.
Blendam hatte ihm gesagt, daß Nr. 14 das rechte Ufer, also die Hoboken-Seite, von der Delaware-Station bis Castle Point zu bewachen hatte. Als er nun in der Nähe der Delaware-Station, bei einem Frachtdampfer Laternenlicht und einige Männer bemerkte, die erregt hin und her liefen legte er neben diesem Dampfer am Kai an und begab sich an Deck, wo er von dem Steuermann erfuhr, daß Spitzbuben in dieser Nacht neben dem Dampfer am Bollwerk ein Auto gestohlen hätten, das morgen nach Portland hatte abgehen sollen und das der Kapitän billig auf einer Auktion gekauft hatte.1
„Wann?“ fragte Pratt.
„Oh — gestern erst.“
„Was für ein Auto war es?“
„Ein geschlossenes Auto, ganz schwarz. Alle Metallteile schwarz lackiert. Schön sah das Ding nicht aus.“
„Wer stahl es denn?“
„Weiß niemand! So gegen elf sah die Deckwache, daß Stromaufwärts ein Polizeikutter mit dem Scheinwerfer etwas auf dem Flusse suchte, und hatte daher nur Augen für den Kutter. Plötzlich hörte der Mann dann den Motor des Autos knattern. Da war’s zu spät. Das Auto raste davon.“
„Wissen sie, wem es gehört haben mag?“
„Ja. Einem Arzt Doktor Ralling, Edward Ralling, dem es pekuniär wohl schlecht ging. Er mußte es verkaufen.“
„Danke. Master. – Wo wohnt Ralling?“
„Das weiß ich nicht.“
Pratt verabschiedete sich, kettete sein Boot los und ruderte dorthin zurück, wo er es geliehen hatte. Er ging dann zur Wache der Hafenpolizei, begrüßte den ihm bekannten Inspektor Brubb und sagte zu ihm:
„Mr. Brubb, die Sache mit dem Boot ist insofern schon aufgeklärt, als ich festgestellt habe, daß man ein Auto vom Hoboken-Bollwerk stehlen und deshalb Nr. 14 beschäftigen wollte, was ja auch gelungen ist. Das treibende Boot war an zwei sehr langen Drähten befestigt und hatte eine große Bodenklappe, die mit Hilfe des einen Drahtes geöffnet wurde.“
Brubb gähnte. „Na gut, mag sein. Und der Wachskopf?“
„War — ganz im Vertrauen! — der Kopf der Leiche der Schauspielerin Daisy Gronbar, die vor acht Tagen gestorben ist. Ich bitte sie aber, hierüber vorläufig zu schweigen. Jetzt geben sie mir das Adreßbuch. Ich will die Wohnung des Doktor Ralling suchen.“
Pratt fand sie, sagte Brubb gute Nacht und ging davon.
Doktor Ralling wohnte in der Pennwarstraße in einer Mietskaserne. In der Pförtnerwohnung sah Nic Pratt noch Licht und klopfte daher an das Fenster.
Fünf Dollar bewogen den Hauswart, der nebenbei Schuhmacher war, den Herrn einzulassen.
„Ich bin Nic Pratt.“ sagte dieser, als er in dem Stübchen stand. „Ich möchte gern einiges über Doktor Ralling erfahren.“
„Oh, Mr. Pratt! Große Ehre! — Gern, Mr. Pratt. Also, Ralling ist etwa dreißig Jahre, ist ein Bummler und Schuldenmacher und —“
„— hatte ein Auto —“
„Ja. Das hat er vorgestern versteigern lassen. Ihm fehlte Geld — wie immer!“
„Ist er verheiratet?“
„Wie — der verheiratet! Nein, der schert sich den Teufel was um die Weiber. Nur mit seiner Schwester Anna ist er gut Freund. Die kenne ich aber nicht genauer. Sie war Gesellschaftsdame bei der berühmten schönen Daisy Gronbar vom Shakespeare-Theater und ist jetzt dasselbe bei Miß Marry Packnor, der Filmdiva.“
„Ob Doktor Ralling zu Hause ist?“
„Nein. Bestimmt nicht. Er ging um neun Uhr aus und kehrte noch nicht heim.“
„Ich danke Ihnen. Ihre Auskunft war mir sehr wertvoll. Gute Nacht.“
Nic Pratt rief auf der Straße ein Auto an und ließ sich nach dem Trinity-Friedhof fahren. Er war so in feine Gedanken vertieft, daß er gar nicht wahrnahm, daß das Auto in der Nähe von Ralling Haus auf irgend jemand gewartet zu haben schien und daß es, weil alle Teile schwarz lackiert waren, recht düster wirkte.
Pratt stieg aus und bezahlte dem Chauffeur die verlangten vier Dollar. Das Auto war keins von denen mit einer Taxameteruhr gewesen.
Nic Pratts Gedanken wandelten seltsame Wege, spürten einem Verbrechen nach, dessen Fäden er zum Teil bereits in der Hand hielt. Und seine Gedanken nahmen ihn auch jetzt, als er an der Friedhofsmauer entlangschritt, derart in Anspruch, daß er nicht darauf achtete, daß das Auto nicht umkehrte und zurückfuhr, sondern noch auf derselben Stelle hielt.
Pratt wußte aus den Zeitungsberichten über Daisy Gronbars Begräbnis, daß die reiche, exzentrische Künstlerin schon vor Jahren auf dem Trinity-Friedhof das frühere Erbbegräbnis der Familie Dixon gekauft hatte, welches wegen seiner prachtvollen Ausstattung berühmt war. Sie hatte sich damals verpflichtet (die Dixons waren ausgestorben), die Särge der Familie in den sogenannten Dixon Katakomben unter dem einer Kapelle gleichenden Erbbegräbnis unberührt zu lassen und bestimmt, daß ihr eigener Sarg einst allein in einem Seitengang der unter irdischen Räume aufgestellt werden sollte.
3. Kapitel.
Es ist nicht jedermanns Sache, nachts über eine Friedhofsmauer zu klettern und durch die Wege mit den weißen Leichensteinen zu beiden Seite bis zur Mitte des Friedhofs zu schleichen, wo auf einem Hügel die berühmte Dixon-Kapelle sich erhob.
Nic Pratt war es sehr gleichgültig, ob er sich auf dem Parkett eines Salons oder auf den Kieswegen eines Gottesackers bewegte. So kam er denn auch ohne Herzklopfen vor der Flügeltür der Kapelle an, hatte sich unterwegs sogar sein Pfeifchen angezündet und öffnete nun mit derselben Gemütsruhe im Gefühl seiner redlichen Absichten mit seinem Patentdietrich das komplizierte Schloß, trat ein, sperrte hinter sich wieder ab und nahm die Taschenlampe zu Hilfe, um die Steinplatte vor dem kleinen Altar zu beleuchten, die man anheben mußte, um in die unterirdischen Räume zu gelangen.
Die Steinplatte war fast zweieinhalb Meter lang und anderthalb Meter breit. Sie hatte keinen eingelassenen Ring, sondern nur einen Riegel, der beim Zurückschieben einen Mechanismus in Bewegung setzte, welcher die Platte selbsttätig hochklappte wie eine Falltür.
Pratt sah jetzt, als der Stein sich gehoben hatte, daß eine Marmortreppe nach unten lief. Er schritt hinab und befand sich nun in einer runden Halle, in der acht Eichensärge standen. Hier ruhten die ältesten Vorfahren der Dixons, die bereits 1718 nach Amerika gekommen waren.
Eine zweite Marmortreppe lief in einem Seitengelaß abermals ein Stockwerk tiefer. Hier nun zweigten von einem ebenfalls runden Gewölbe strahlenförmig gemauerte Gänge ab, die untereinander wieder durch kreisförmige Gänge verbunden waren.
Dieses System von Gängen, alle mit Marmor ausgekleidet, waren die viel genannten Dixon Katakomben. Hier war die Luft so trocken, daß die Leichen nicht verwesten, sondern zu Mumien wurden. Deshalb waren auch seit 1812 alle Dixons hier auf eine recht eigenartige Weise bestattet worden.
Sie lagen in Särgen, deren Deckel aus Glas bestanden. Man konnte also jeden dieser stillen Schläfer genau betrachten. Alle Altersstufen waren hier vertreten: Greise, Greisinnen — bis hinab zum kleinen Kinde.
Der Lichtkegel von Pratts Lampe glitt über die Särge hin. Pratt sah vertrocknete, bräunliche Mumiengesichter, sah den berühmten General Dixon in voller Uniform, sah und — dachte: „Wenn Doktor Ralling hier unten gewesen ist und Miß Daisys Leiche gesucht hat, wird ihm als Arzt nicht anders zu Mute gewesen sein wie mir jetzt!“
Nun begann er die einzelnen Seitengänge zu durchwandern. In einem mußte Miß Daisys Sarg stehen. Und dieser Gang war, wie die Zeitungen gemeldet hatten, zur kleinen Kapelle umgebaut worden.
Pratt ging lautlos auf seinen Schuhen mit den Gummisohlen und Gummiabsätzen durch die Katakomben. Lautlos und ohne jeden Gedanken an irgend eine unangenehme Überraschung, die er hier im Reiche der Toten erleben könnte. Er fürchtete die Lebenden nicht, die Toten erst recht nicht.
Dann — der erhobene Fuß blieb in derselben Stellung.
Pratt schien plötzlich erstarrt zu sein. Nur die Taschenlampe erlosch. Er hatte sie rasch ausgeschaltet.
Und Nic Pratt setzte nun den Fuß nieder, fragte sich: „War das eine Gehörtäuschung?!“
Er hatte soeben einen tiefen, qualvollen Seufzer vernommen. Und dieser seltsame Ton, der aus menschlicher Kehle zu kommen schien, hatte bei ihm trotz seiner eisernen Nerven für einen Moment etwas wie eine Lähmung erzeugt Es war ja immerhin eine Totengruft, in der er sich befand, und in diesen Räumen mit ihrer drückenden Stille war dieser lange, schwere Seufzer doppelt deutlich an des Detektivs scharfes Ohr gedrungen.
Pratt stand regungslos und lauschte seine Gedanken prüften nochmals die Frage: War es eine Gehörtäuschung?“ — Und er verneinte die Frage, sagte sich mit Recht, daß er noch nie über derartige Sinnestäuschungen bei seinen robusten Nerven zu klagen gehabt hätte.
Woher also der Seufzer — woher?! — Daß die mumienhaften Schläfer hier in den halben Glassärgen sich nicht den Scherz leisten würden, Lebende durch derartiges zu schrecken, wußte Pratt. Über Gespensteraberglauben war er hinaus; das überließ er Schwächlingen und alten Weibern.
Und doch: der schwere, qualvolle Seufzer war durch kühle Überlegung nicht ungeschehen zu machen; er war erklungen! Also mußte es auch hier in den Dixon Katakomben ein Wesen geben, das ihn hervorgebracht hatte.
Pratt dachte jetzt an einen Menschen, der hier vielleicht eingesperrt war. Er dachte auch an eine Katze. Schon oft ist das Miauen einer Katze für menschliches Gewimmer gehalten worden. Er dachte an vieles, aber all diese Erklärungen gefielen ihm nicht.
Wenn der Seufzer nur noch ein zweites Mal vernehmbar geworden wäre! Aber — alles blieb still.
Und ringsum lastete die pechschwarze Finsternis; ringsum wahre Totenstille; ringsum die dumpfe, wenn auch trockene Luft!
Pratt ertappte sich plötzlich bei etwas ganz Sonderbarem: er beobachtete sich selbst, seine Empfindungen. Und — erstellte fest, daß er wirklich leicht nervös geworden durch diesen Seufzer!
Da lachte er leise, ironisch auf.
„Nic Pratt, Du wirst doch nicht etwa Altweiberangst über Dich herfallen lassen!“ murmelte er.
Und er schaltete die Lampe wieder ein.
Der weiße Lichtkegel schoß in die Finsternis, tat seinen Augen fast weh.
Er hob den rechten Fuß. wollte weitergehen.
Da abermals dieser Seufzer — endlos lang gereckt wie das Stöhnen eines, der im Todeskampfe um Luft ringt.
Pratt spürte ein kühles Rieseln auf der Haut, so etwas wie einen Eiseshauch.
Und er schämte sich deswegen! Angst — wirklich Angst?!
Er biß die Zähne zusammen.
„Tote sind tot!“ sprach er halblaut vor sich hin. „Und Lebende fürchte ich schon gar nicht!“
Er nahm die Taschenlampe in die Linke, in die Rechte aber den sechsschüssigen Revolver.
Dann schritt er lautlos dahin — bald hierhin, bald dorthin, auf gut Glück. Denn woher der Seufzer gekommen, hatte er in dieser Menge sich kreuzender Gänge nicht feststellen können.
Und wieder kein Ton, kein Geräusch. Wieder ringsum die dumpfe Luft, in der ein Hauch von Verwesungsdünsten schwebte. Nur der Lichtkegel verwandelte das Dunkel vor dem rasch dahingleitenden Detektiv in eine grelle Helle, die weiterhin in ein ungewisses Dämmerlicht überging.
Pratt merkte, daß er dauernd nur wartete — auf jenen furchtbaren Seufzer wartete, der ihm vorhin das Kältegefühl über den Leib getrieben hatte. Er war unzufrieden mit sich. Er war nervös. „Ich habe mir doch mehr zugetraut!“ dachte er.
So gelangte er wieder in die runde Haupthalle der Katakomben. Bisher hatte er Miß Daisy Gronbars Grabkapelle nicht gefunden.
Da vor ihm die Marmortreppe. — Und dort links der Sarg des Generals Dixon, vor dem er vorhin einen Moment halt gemacht.
Pratt fuhr plötzlich zurück.
Er drückte die Oberzähne so fest in die Lippe, daß das Blut herausquoll.
Der Sargdeckel aus Glas war abgehoben.
Und in dem Sarge saß die Mumie des Generals aufrecht.
Der weiße Bart, die goldenen Tressen des Dreimasters und der Uniform leuchteten im Lichte der Taschenlampe.
Pratt schoß es durch den Kopf: „Du bist von Sinnen! Deine Augen gaukeln Dir ein Trugbild vor!“
Er fühlte den Tropfen warmen Blutes von der Lippe das Kinn hinabrinnen; er fühlte um seinen Kopf einen Druck, als würde ihm der Schädel mit aller Macht zusammengepreßt.
Dann aber hatte er diesen Anfall von Schwäche überwunden.
Er trat rasch auf den Sarg zu, wollte dem toten General ganz dicht ins Gesicht leuchten.
Die Mumie drehte plötzlich den Kopf.
Die Augen, von den Lidern bedeckt, schienen durch die Lider den frechen Eindringling anzustarren.
Pratt hatte jäh halt gemacht.
Ein namenloses Grauen packte ihn.
Nicht vor dem Toten, nein, vor dem Gedanken, daß er wirklich den Verstand verloren haben müsse.
Er sah das vertrocknete, braune Mumiengesicht, er sah, wie es sich bewegte, sich zum Lächeln verzerrte, wie der General die rechte Hand hob, die den Degen hielt, den man ihm mit ins Grab gegeben.
Ein Schlag traf Pratts Schläfe. Bewußtlos brach er zusammen. —
Kaum war er mit dumpfem Krach auf die Marmorfliesen gestürzt, als der Mann mit der schwarzen Maske vor dem Gesicht, der ihn mit einem Sandsack von der Seite niedergeschlagen hatte, vortrat und zu dem General sagte:
„Rasch — wisch’ Dir die Schminke ab, zieh’ die Sachen wieder aus und bringe den Sarg in Ordnung. Es ist geglückt. Wir haben ihn. Anders war dieser gefährliche Bursche nicht zu beseitigen —“
Er lachte höhnisch, „Nic Pratt, auch Du hast Dich verblüffen lassen!“
Der falsche tote General flüsterte leise: „Ich — ich bin auch am Ende meiner Kräfte! Das war zu viel für mich! Das war —“
„Trink!“ meinte der andere barsch und reichte ihm eine Flasche. „Ich werde Pratt jetzt sicher unterbringen!“
„Keinen Mord!“ flehte der Verkleidete. „Du hast es mir versprochen!“
„Es bleibt bei dem, was wir abgemacht haben,“ sagte der Maskierte kurz. „Pratt steht ein Weg zum Entkommen offen. Findet er den Weg, dann gut! Aber ich fürchte, er wird ihn nicht finden —“
„Und — dann verhungern!“ flüsterte der Verkleidete schlau und trank zum zweiten Male einen langen Schluck.
„Er wird nicht verhungern. Nach fünf Tagen ist alles erledigt, und wir sind in Sicherheit. Dann Benachrichtigen wir Pratts Freund Grablay durch einen anonymen Brief, wo Pratt zu finden ist.“
Er lud sich den Bewußtlosen auf die Schultern und trug ihn bis zur Mitte der Halle, ließ ihn zu Boden gleiten und stellte die Blendlaterne auf den nächsten Sargdeckel steckte Pratt die kleine Taschenlampe in die Jackentasche und den Revolver oben in die Brusttasche.
Dann bückte er sich. Auch hier gab es einen Riegel, auch hier eine Falltür.
Der Maskierte leuchtete in das quadratische, tiefe Loch hinab. Es war gleichfalls mit Steinplatten ausgelegt und bis zur Hälfte mit vertrockneten Kränzen ausgefüllt.
Er zog Pratt bis an den Rand der Öffnung und ließ ihn los.
Pratt schlug auf die dürren Kränze auf, verschwand halb darin.
Der Maskierte schloß jetzt die Falltür, nachdem er den auch hier vorhandenen Mechanismus mit einem Hammer zerstört hatte. Nun hätte man nur mit Hilfe eines Hebewerks die zentnerschwere Platte lüften können.
4. Kapitel.
Nic Pratt erwachte, regte sich, setzte sich aufrecht.
Um ihn her und unter ihm knisterte es wie von trockenen, brüchigen Blättern. Um ihn her Finsternis und der Geruch toter Blumen.
Pratts Schädel schmerzte. Der Schmerz nahm zu, je mehr er wieder Herr seiner Sinne wurde. Übelkeit würgte ihm in der Kehle.
Und doch — er überwand all das. Seine Lebensenergie flammte auf bei dem einen Gedanken, daß er, Nic Pratt, beschämenderweise das Opfer eines raffinierten Anschlags geworden.
Wenn er jetzt an die Szene zurückdachte, wie der tote General ihn mit geschlossenen Lidern angegrinst hatte, überkam ihn nichts als maßlose Wut gegen sich selbst, gegen seine Schwäche.
Ja — schlau hatten die Schurken die Sache angefangen, sehr schlau! Hatten zuerst seine Phantasie durch die Seufzer erregt, hatten ihn nervös gemacht, damit der tote General dann richtig auf den bereits Erregten wirke und der Spießgeselle den Hieb anbringen könnte!
Pratt durchschaute die ganze Komödie und schämte sich.
Aus dieser Scham wuchsen Wut und der Wunsch nach Vergeltung heraus.
Er tastete mit den Händen die Umgebung ab.
„Trockene Kränze — ich sitze mitten darin!“ dachte er. „Ah — meine Taschenlampe! Wahrhaftig — auch mein Revolver! Wie großmütig die Schufte gewesen sind! Diese Großmut beweist, daß sie bestimmt damit rechnen, daß ich hier nicht heraus kann!“
Er schaltete die Lampe ein. Er sah über sich das Viereck mit der Steinplatte, sah, daß die Eisenteile des Mechanismus verbogen herabhingen. Die Platte lag gut drei Meter über ihm. Die Wände waren glatt, mit Platten belegt. Ein Emporklettern war unmöglich.
Nic stand auf, sank nun mit den Füßen noch tiefer ein, fühlte festen Boden unter sich, bückte sich und türmte all die knisternden Kränze mit den brüchigen. Blättern in einer Ecke auf.
„Vielleicht befindet sich im Boden eine ähnliche Falltür,“ hoffte er.
Die Hoffnung trog. Quadratische Steinplatten von etwa dreißig Zentimeter Seitenlänge auch hier: auch hier die Fugen mit steinhartem Mörtel gefüllt.
Pratt lehnte sich, durch die wahnwitzigen Kopfschmerzen erschöpft, an die Wand und stierte vor sich hin.
Die Lampe hielt er in der schlaff herabhängenden Linken. Der Lichtkegel fiel auf den Berg trockener Kränze.
Dann — ein Rascheln in den Kränzen. Eine Ratte tauchte auf, fett, glänzend — als ob sie aus dem Wasser käme.
Pratts Blicke verfolgten das Tier. Ja, die Ratte war naß.
Pratt haßte Ratten und Mäuse, sie waren ihm ekelhaft.
Er machte eine Bewegung mit dem Fuß, und das Tier huschte davon. „Sie muß ihr Schlupfloch dort in der Ecke haben,“ dachte Pratt. „Ich will sehen, ob es stimmt.“
Und er schichtete die Kränze in einem anderen Winkel auf, säuberte die Fliesen mit den Händen.
Da war wirklich in der Ecke ein Loch. Pratt legte sich lang. Vielleicht ließ sich die Eckplatte heben, wenn er den Revolverlauf als Hebel benutzte.
Er brachte den Kopf ganz nahe an das Loch heran. Er spürte, daß aus dem Loche dumpfer Modergeruch hervordrang, ein feuchter, eigenartiger Geruch.
Nic preßte plötzlich den Kopf noch näher in den Winkel, sog die Luft prüfend ein.
„Ah, das ist der Geruch der Abwässer aus dem Neuyorker Kanalnetz!“ murmelte er. Hier unter diesem tiefsten Gelaß der Dixonschen Katakomben muß ein Tunnel des Kanalnetzes entlangführen.“
Er nahm den Revolver, entfernte die Patronen, begann seine mühsame Arbeit. Das Taschenmesser mußte gleichfalls helfen, den Mörtel der Fugen zu entfernen.
Pratt schwitzte. Seine Taschenlampe glühte nur noch ganz schwach. Er hatte keine Ersatzbatterie mit. Er mußte bald im Dunkeln arbeiten.
Nun war die Eckplatte lose, ließ sich herausnehmen. Pratt fühlte: darunter war festgestampfte Erde.
Er schaltete die Lampe aus, nachdem er nach der Uhr gesehen hatte.
Zwölf Uhr. Fraglos zwölf Uhr mittags! — Er machte eine Pause, um sich auszuruhen. Er mußte dann im Dunkeln weiterarbeiten. Den Rest der Leuchtkraft seiner Lampe mußte er sparen für Momente, wo er unbedingt sehen mußte.
Hunger, Durst, Kopfschmerzen quälten ihn. Das war ja schließlich alles gleichgültig gegenüber dem Wunsch, recht bald frei zu sein.
Ob’s ihm wirklich gelingen würde! Ob er die Mauerdecke des Kanals würde durchbrechen können? So ohne jedes größere Werkzeug?!
Nic Pratt dachte jetzt an die Eisenteile des Mechanismus dort oben. Wenn er eine Leine gehabt hätte! Die konnte er dann mit einer Schlinge um eins der Eisenstücke werfen.
Leine —! Waren nicht die Blumen der Kränze mit Draht an den Kranzreifen befestigt? Sollten nicht die Drähte und die Reifen genügen?
Pratt versuchte es; Pratt fühlte nichts mehr von Hunger und Durst.
Nach einer Stunde mühsamer Arbeit hatte er etwas hergestellt, das eine Leine ersetzen konnte. Und wieder nach einer halben Stunde war er im Besitz eines Eisenstabes von ein Meter Länge.
„Sieg!“ jubelte er. „Sieg —!“ —
Die Steinplatten des Bodens zu heben, war jetzt eine Kleinigkeit. Schwerer war es dann, all die Erde herauszuschaffen, bis er auf das Mauerwerk des Kanals stieß.
Wieder ruhte er aus, fast einer Ohnmacht nahe. Seine Uhr zeigte die sechste Stunde, sechs Uhr nach nachmittags.
Um acht polterte der erste Stein der Deckenwölbung des Kanals in das stinkende, schlammige Wasser hinab. Um neun watete ein vor Schwäche taumelnder Mann, bis zur Brust in ekelhafter Flüssigkeit, durch das Kanalnetz Neuyorks, fand eine eiserne Leiter, klomm empor, drückte den Schachtdeckel empor und sank in der frischen Nachtluft in das Gras einer weiten Rasenfläche.
Pratt befand sich im Westteile des berühmten Neuyorker Zentral-Parks.
Ein Auto brachte ihn nach der Bloornstraße an den zweiten Zugang seines Häuschens.
Mutter Allison zitterten vor Schreck die Knie, als sie Nic in dieser Verfassung vor sich sah.
„Schnell — Essen, Tee. Ich bade inzwischen!“ sagte er nur und verschwand im Badezimmer.
Mutter Allison hielt sich die Nase zu. „Er stinkt — wirklich, erstickt, als käme er aus einer Kloake!“ dachte sie.
Pratt verließ um zehn Uhr sein Häuschen und fuhr zu Stuart Grablay, bei dem er sich telephonisch angemeldet hatte.
Der Detektivinspektor schien sehr verstimmt, begrüßte Pratt sehr wortkarg und meinte: „Wo steckten Sie eigentlich, Pratt? Sie hatten mich doch zu heute vormittag zehn Uhr zu sich bestellt. Ich fand bei Ihnen nur den Hafenpolizisten Blendam vor, der mir dann die Geschichte von dem Boot und dem Frauenkopf anvertraute. Nachher war ich mit dem Kollegen Brubb zusammen, dem faulen Brubb. Sie haben ihm da ja ein nettes Märchen aufgebunden. Pratt! Brubb hat natürlich sofort gemerkt, daß sie ihn zum besten gehalten hatten.“
„Mit dem Kopf?“ fragte Nic ernst.
„Ja, mit dem Kopf der Daisy Gronbar. Es war selbstredend ein Wachskopf! — Wo steckten sie also?“
„Das ist nicht so kurz zu beantworten, lieber Grablay. Was haben sie denn bei der Filmdiva und Erbin Miß Marry Packnor ausgerichtet? Sie glaubten doch, die Packnor hätte geschwindelt, als sie behauptete, die Perlenkette habe sich nicht im Nachlaß Daisy Gronbars vorgefunden, und sie argwöhnten, die Packnor habe die Kette an den Hehler Binary verkauft.“
Grablay runzelte die Stirn. „Ich war allerdings gestern abend bei der Packnor,“ meinte er verlegen. „Sie hat mich aber mächtig abfallen lassen. Sie war empört, daß ich ihr derartige Dinge zutraue, und na, ich mußte mit langer Nase abziehen“
„So, so,“ meinte Pratt. „Nun kann ich ja meine Erlebnisse erzählen. Die sind etwas vielseitiger.“
Grablay unterbrach Pratt bald. „Stimmt, das Auto ist gestohlen werden, und zwar von denselben Leuten, die mit dem leeren Boot und dem Wachskopf den Polizeikutter ferngehalten haben. Das haben sie tadellos richtig ermittelt, Pratt. Brubb, der Faule, war sogar begeistert.“
Nic berichtete weiter. Als er erwähnte, daß Doktor Ralling, der das schwarze Auto habe versteigern lassen, eine Schwester namens Anna hätte, die bei der so plötzlich an Grippe verstorbenen Schauspielerin Daisy Gronbar Gesellschaftsdame gewesen sei und jetzt bei Miß Marry Packnor dieselbe Stellung innehabe, da wurde Stuart Grablay doch stutzig und rief:
„Verdammt, Nic, mir geht ein Licht auf! Der Hehler Bingry erwähnte ja, daß der Maskierte ihn damals nachts in einem ganz schwarzen Auto nach dem Trinity-Friedhof gebracht hätte, damit dort das Geschäft abgeschlossen würde. Und dieses Auto scheint doch dasselbe zu sein, das Ralling versteigern ließ!“
„Ja — dasselbe, das er dann vom Bollwerk neben dem Dampfer gestern nacht wieder stahl, weil er es, so vermute ich, noch zu einem besonders einträglichen Fischzug brauchte. Zunächst aber lauerte er mir damit auf und folgte mir dann in die Dixon-Katakomben —“
Als Grablay jetzt hörte, was Nic Pratt dort unten erlebt und wie er sich befreit hatte, sagte er gar nichts mehr, sondern starrte Pratt nur fortgesetzt an.
Nachdem Nic mit seinem Bericht zu Ende gekommen, atmete der Inspektor tief auf und meinte: „Mir ist’s, als ob ich all das mit Ihnen durchgemacht hätte, lieber Pratt! Nun tun sie mir einen Gefallen und erklären sie mir, weshalb sie überhaupt das Dixon-Erbbegräbnis aufgesucht haben. Was wollten sie dort?“
„Das will ich Ihnen zeigen, Grablay. Erst noch eine Frage: wo ist Miß Marry Packnor, Anna Rallings jetzige Herrin, heute zusprechen?“
„Sie befindet sich als Gast bei Lord Weatroof, dem englischen Botschaftsrat, der heute ein großes Gartenfest gibt.“
„Dann werden wir dort ungeladen erscheinen. Machen sie sich fertig, Grablay!“
5. Kapitel.
Es war gegen elf Uhr abends. Marry Packnor, die soeben von einem leichten Unwohlsein befallen worden war, hatte sich von Anna Ralling, ohne die sie sich ihres guten Rufes wegen nie mehr zeigte, in die Garderobe der Villa des Lords bringen lassen und saß jetzt auf einem Sessel, während die Ralling, eine ältere, hagere Person von dem strengen Aussehen einer Gouvernante, ihr eindringlich zuredete, lieber das Fest zu verlassen.
Marry Packnor trug eine kostbare Seidenrobe und eine Unmenge Schmuck. Ihr ungeheures Einkommen erlaubte ihr, ihrer Leidenschaft für echte Steine zwanglos frönen zu können.
Sie zögerte noch. Sie wollte das Fest gern bis zu Ende mitmachen. Es war ihr unbegreiflich, wie sie mit ihrer guten Gesundheit mit einem Male sich so elend fühlen konnte. Sie merkte jedoch, daß ihr jetzt immer aufs neue ein Schüttelfrost die Zähne klappernd zusammenschlagen ließ.
„Gut, Miß Ralling,“ meinte sie mit schwerer Zunge. „Gehen wir also —“
Ein Lächeln der Befriedigung glitt über das magere Gesicht Anna Rallings. So hatten die Tropfen, die sie Marry vorhin heimlich in den Wein geschüttet, doch ihre Schuldigkeit getan.
Die Fenster des Garderobenraumes standen weit offen. Wilder Wein umgab diese Fenster mit dem dichten Grün seiner großen Blätter. Und zwischen diesen Blättern hindurch hatte ein Mann in die Garderobe gespäht: Nic Pratt! Kein Wort der heuchlerischen Anna Ralling war ihm entgangen, kein Verziehen des Mundes, kein Blick der kalten, ironischen Augen.
Nun kletterte Pratt wieder am Weinspalier nach unten, huschte in die Büsche, wo Grablay ihn erwartete.
„Ich weiß, was jetzt geschehen wird,“ flüsterte er dem Inspektor zu. „Miß Marry und die Ralling werden in aller Stille die Villa verlassen. Dann wird die Ralling auf der Straße angeblich ein Auto holen, und Marry Packnor bleibt einige Zeit allein. Dann erscheint das schwarze Auto, und der Chauffeur wird Marry zurufen, er sei von Miß Ralling geschickt; Miß Packnor solle nur einsteigen —“
„Ah — es geht um Marrys Brillanten!“ meinte Grablay.
„Ja — deshalb stahl Doktor Ralling das Auto wieder. Deshalb wurde Marry Packnor plötzlich übel — durch irgend ein Teufelszeug, das die Ralling ihr beigebracht hatte. Ich sah, das triumphierende Grinsen der Rolling. Das genügte mir. — Hören Sie nun genau hin, Grablay. Sie eilen jetzt voraus auf die Straße, nehmen ein gutes Taxameterauto, setzen sich vorn zum Chauffeur und folgen dann dem schwarzen Auto. Ich behaupte, Anna Ralling wird dieses Auto lenken, und ihr Bruder wird im Innern verborgen sein. — Fragen sie nichts, Grablay! Vorwärts!“.
Der Inspektor durcheilte die dunklen Seitenwege des Parkes und kletterte dann über den Zaun.
Die Partry-Straße, in der Lord Weatroofs Villa lag, ist eine der vornehmsten, stillsten Straßen des Ameisenhaufens Neuyork. Kein Mensch war weit und breit zusehen. Grablay lief im Trab davon, der nächsten Autohaltestelle in der Querstraße zu. Dann gewahrte er am Straßenrande ein einzelnes Auto. Er stutzte nur einen Moment: es war das schwarze Auto! Vorn saß ein Chauffeur mit Autobrille und lichtem blonden Vollbart.
Auch Nic Pratt kam nun die Straße entlang: auch er sah das Auto. Da öffnete er keck mit dem Patentdietrich die Gartenpforte der nächsten Villa und schlich innen am Zaun entlang dem Auto näher.
Nun wartete er. Er brauchte nicht lange zu warten. Anna Ralling nahte schon, rief dem Chauffeur zu:
„Geglückt, Tom, geglückt! Rasch — wechseln wir die Rollen!“ Im Nu hatte sie den Chauffeurmantel angezogen, hatte einen falschen Bart befestigt, die Autobrille umgebunden, saß auf dem Lenkersitz, während Tom Ralling im Wagen verschwand.
Nic schwang sich hinter dem Auto über den Zaun, hing jetzt zwischen den Hinterrädern.
Das schwarze Auto fuhr davon, hielt neben Miß Marry, die halb ohnmächtig an einem der Bäume der Promenade lehnte — Alles kam, wie Pratt es vermutet hatte.
Der Chauffeur rief Miß Marry mit tiefem Baß an, und die bereits dem Umsinken nahe Filmdiva war froh, daß sie im Wagen Platz nehmen konnte, öffnete die Tür und — wurde schon gewaltsam hineingezerrt, wurde durch einen Mann, der eine Maske vor dem Gesicht trug, am Schreien verhindert, sank betäubt in die Polster, mußte sich ausplündern lassen.
Stück um Stück ihrer Schmucksachen steckte Tom Ralling in die Tasche. Das schwarze Auto sauste bereits über die Williamsburgbrücke nach Brooklyn hinüber, sauste nach Nordost zu ins Land hinein.
Tom Ralling packte jetzt Marry Packnor und wollte sie hier auf der einsamen Landstraße aus dem Auto schleudern. Marry erwachte noch im letzten Moment, klammerte sich in Todesangst an den Oberrand der offenen Tür, suchte auch mit der anderen Hand einen Halt und — fühlte plötzlich, wie diese Hand von einer anderen ergriffen wurde.
Nic lag jetzt oben auf dem Verdeck des Autos.
Und Nic ließ jetzt die bereitgehaltene Schlinge über Rallings Kopf gleiten, zog die Schlinge mit einem Ruck zu.
Dann war er schon nach vorn geglitten, hielt Anna Ralling den Revolver vor das Gesicht, stellte den Motor ab.
Ein zweites Auto ohne Laternen raste herbei. Grablay und zwei Polizisten warfen sich auf Doktor Ralling, der gerade erst die würgende Schlinge gelockert hatte. —
Um ein Uhr morgens öffnete dann Nic Pratt mit seinem Patentdietrich das Schloß des Dixonschen Erbbegräbnisses. Hinter ihm standen noch fünf Personen: das mit Handschellen gefesselte Geschwisterpaar Ralling, Grablay und die beiden Beamten.
Man begab sich in die Dixon-Katakomben hinab. Man gelangte bald in den Seitengang, den Miß Daisy Gronbar schon bei Lebzeiten für sich als Kapelle hatte ausbauen lassen.
Hier stand ihr prachtvoller Eichensarg inmitten künstlicher Palmen; hier schimmerten nun drei große Laternen und beleuchteten die beiden Polizisten, die auf Pratts Geheiß den Sargdeckel abschraubten.
Die Geschwister Ralling hielten die Köpfe gesenkt, waren blaß wie der Tod.
Und — der Sargdeckel wurde gehoben.
Da — lag die Leiche der schönen Daisy ohne Kopf — frech verstümmelt, — nur noch der Rumpf war vorhanden.
„Doktor Ralling,“ sagte Pratt jetzt. „Sie werden es gewesen sein, der Ihre Schwester dazu verführte, einen Teil der Schmucksachen Miß Daisys nach deren Tode verschwinden zu lassen und im Sarge der Toten zu verstecken. Dort würde sie niemand suchen. Dann holten sie nach dem Begräbnis an jenem Abend, als der Hehler Bingry nachher die Kette kaufte, die Schmuckstücke von hier, schnitten aber auch gleichzeitig der Toten den Kopf ab, weil nachträglich in Ihnen Befürchtungen aufgestiegen waren, daß doch jemand auf den Gedanken kommen könnte, Daisy Gronbar sei vielleicht keines natürlichen Todes gestorben —“
Marry Ralling fuhr auf, rief; „Das ist nicht wahr! Daisy starb an Grippe! Tom hat den Kopf nur zu medizinischen Versuchen zuerst benutzen wollen!“
„Das mag er Ihnen erzählt haben. Ich behaupte, Ihr Bruder hat Miß Gronbar ermordet. War er einmal allein bei ihr im Krankenzimmer?“
„Ja — ja,“ stammelte Anna Ralling. Ihre Augen ruhten jetzt auf dem verbrecherischen Arzt.
„Dann wird Ihr Bruder Miß Daisy wohl irgend eine Einspritzung unter das Kopfhaar gemacht haben, wo sie nicht zu bemerken war, — wird ihr ein Gift beigebracht haben, das nur auf das Hirn wirkte und auch dort nur nachzuweisen war. Daisy sollte sterben, damit Sie, Anna Ralling, die Schmucksachen verschwinden lassen könnten. Nachher tat es ihm leid, daß er das Auto veräußert hatte, und er benutzte daher den Kopf der Leiche zur Irreführung des Polizeikutters. Es war das ziemlich ungefährlich, denn der Kopf wird auf der Bodenklappe des Bootes gestanden haben und konnte jederzeit versenkt werden indem man die Klappe durch den Draht öffnete. Das Auto wollte Tom eben nochmals für den heutigen Streich verwenden, der vielleicht geglückt wäre, wenn er nicht schon früher alle blanken Teile des Autos geschwärzt hätte, weil er glaubte, es sei dann schwerer wiederzuerkennen. Das gerade Gegenteil war der Fall: das schwarze Auto rollte all diese Dinge auf! — Wollen sie nun ein Geständnis ablegen, Tom Rallings“
Der verkommene Arzt lachte schneidend auf. „Weshalb nicht?! Ich kann nie zum Tode verurteilt werden! Ich bin schon einmal in einer Irrenanstalt untergebracht gewesen! Sperrt mich dort nur wieder ein! Meine Gier nach Brillanten und Perlen ist krankhaft. Gut also: ich habe Daisy Gronbar getötet! Und was Mr. Pratt sonst noch hier soeben behauptet hat, stimmt ebenfalls!“
Das schwarze Auto hat nie wieder verbrecherischen Zwecken gedient. Der neue Eigentümer benutzt es umgebaut als Lastauto. — Der Kopf der Armen schönen Daisy wurde aus dem Hudson geborgen und wieder in den Sarg gelegt. — Henry Blendam, der ehrgeizige Hafenpolizist, wurde auf Pratts Betreiben wirklich befördert. Er hatte es auch verdient, denn durch sein scharfes Beobachten des Bootes hatte er Pratt erst die Möglichkeit gegeben, den mit Fall des schwarzen Autos erfolgreich zu Ende zu führen.
Nächster Band:
Anmerkung:
1 Fehldruck: Einzelne Wörter an den Zeilenenden dieses Abschnitts sind in der Vorlage nicht leserlich. Sinngemäß ergänzt.