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Der Mann auf dem Blitzableiter

 

Nic Pratt

Amerikas Meisterdetektiv

 

Band 12:

 

Der Mann auf dem Blitzableiter.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922

by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.

Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Die dritte Nacht.

In einer dunklen stürmischen Nacht saß Mary Colling, ein junges, ganz in Schwarz gekleidetes Mädchen, am Fenster ihres im Seitenflügel der Villa des Neuyorker Großkaufmanns Thomas Arbuton gelegenen kleinen Zimmers und starrte mit vom Weinen geröteten Augen zum nächtlichen, sternbesäten Firmament empor, als ob sie dort oben Kraft suchte für ihre noch so frische Trauer um den Verlust ihrer Mutter, der einzigen Verwandten, die sie noch gehabt hatte.

Sie hatte das elektrische Licht in ihrem bescheiden möblierten Stübchen ausgeschaltet und dachte mit Wehmut zurück an jene besseren Zeiten, als sie noch mit ihrem Mütterchen zusammen von deren kleiner Pension gelebt und durch Anfertigung künstlerischer Handarbeiten manchen Dollar dazu verdient hatte. Nun war die Mutter seit sechs Wochen tot, und Mary Colling hatte als vermögenslose Waise froh sein müssen, daß sie durch einen Zufall als Kinderfräulein im Hause des millionenschweren Handelsherrn Unterkunft gefunden hatte.

Heute am 4. Dezember verbrachte sie nun die dritte Nacht in der vornehmen, von einem parkähnlichen Garten umgebenen Villa. Aber das Gefühl des Geborgenseins, das sie am ersten Tage hier empfunden hatte, war leider durch zwei rätselhafte Vorkommnisse bereits wieder in das trostloseste Bewußtsein völliger Vereinsamung umgeschlagen. Mehr noch: Mary begann zu ahnen, daß ihr in diesem Hause nicht der erhoffte friedliche Zufluchtsort beschert worden war.

Ja — zwei Ereignisse waren es, die ihre Gedanken den ganzen heutigen Tag über unaufhörlich in Anspruch genommen hatten.

Sie stand wirklich vor einem seltsamen Rätsel, was diese beiden Ereignisse anbetraf.

Da war zunächst das eine vom Vormittag. Um zehn Uhr war sie bei hellem Sonnenschein mit den Kindern. Mr. Arbutons, einem fünfjährigen Mädchen und einem sechsjährigen Knaben, nach dem Zentral-Park gegangen. Mr. Arbuton selbst hatte dies gewünscht und hatte ihr gesagt, sie solle mit den Kindern mindestens zwei Stunden im Freien bleiben.

Arbuton, seit drei Jahren Witwer, hatte eine Schwester seines Vaters, eine etwa fünfzigjährige; dürre, streng blickende alte Jungfer namens Lydia Arbuton als Haushälterin und Repräsentantin zu sich genommen. Auch Miß Lydia hatte erklärt, Mary solle bei dem schönen, klaren Frostwetter nur recht lange sich und den Kindern gesunde Bewegung verschaffen.

So war Mary denn um zehn Uhr mit ihren Schützlingen aufgebrochen. Kaum hatte sie den nahen Riesenpark jedoch erreicht, als der scharfe Wind von Osten her dunkles Gewölk heraufführte. Mary hielt es daher für richtig, dem drohenden Unwetter zu weichen und mit den Kindern nach Hause zu fahren.

Sie begab sich sofort auf ihr Zimmer, um Mantel und Hut abzulegen. Doch — sie fand die Zimmertür von innen verriegelt, und erst auf ihr energisches Rütteln hin wurde drinnen der Riegel zurückgeschoben und sie sah sich Mr. Arbuton gegenüber, der merklich verlegen erklärte, er habe nur an der elektrischen Hängelampe etwas in Ordnung gebracht und sei deshalb auf einen Stuhl gestiegen. Damit nun nicht jemand durch hastiges Öffnen der Tür den Stuhl umstoße, habe er die Tür eben verriegelt.

Mary merkte daß er log. Als sie dann in ihrem einfenstrigen Stübchen allein war, stellte sie fest, daß offenbar sowohl ihr Koffer als auch die Fächer des alten Schreibpultes, daß sie als einziges Stück der Wohnungseinrichtung ihrer Mutter nicht verkauft und hierher mitgebracht hatte, durchsucht worden waren. Dies konnte nur Thomas Arbuton getan haben. Aber — weshalb wohl?! Aus bloßer Neugier?! — Nein, sagte Mary sich, lediglich Neugier kann es nicht gewesen sein. Was sollte ihn wohl an den wertlosen Kleinigkeiten eines Kindersfräuleins interessieren?! Und dann: er war es ja gewesen, der Mary mit den Kindern so dringend weggeschickt hatte. Mithin, so schien es, hatte er sie aus dem Hause entfernen wollen, damit er Gelegenheit fände, ihre Sachen zu durchstöbern.

Das war das eine Ereignis gewesen.

Und das zweite bestand in einer seltsamen Entdeckung, die Mary am Nachmittag gegen drei Uhr machte, als sie mit den Kindern im hinteren Teile des Parkes spielte und als der kleine Tom dann aus Übermut in ein an die rückwärtige Parkmauer lehnendes Stallgebäude kletterte, das längst nicht mehr benutzt wurde und schon ganz verfallen aussah.

Tom, ein kleiner Wildfang, war durch ein zerbrochenes Fenster in den Stall eingestiegen und rief dann Mary zu:

„Oh, Mary, hier sind jetzt Möbel aufgestellt! Und bisher war der Stall ganz leer und die Tür nie verschlossen.“

Mary schaute nun durch die herausgefallene Scheibe ebenfalls in den halb dunklen Stall hinein und — erkannte zu ihrem grenzenlosen Erstaunen, daß hier die ganze Wohnungseinrichtung ihrer Mutter sich befand, die doch, wie sie glaubte, durch den Auktionator an wildfremde Leute verkauft worden war.

Wie kamen die Möbel also hierher? Hatte Mr. Arbuton sie heimlich erworben? Und — wozu?!

Mary ahnte, daß dieses neue Geheimnis zu dem Vorfall vom Vormittag in enger Beziehung stehen müsse. Sie sagte daher dem kleinen Tom, er dürfe niemandem erzählen, daß er in den Stall geklettert sei, sonst würde er sicherlich von seinem Vater dafür gestraft werden.

Beide Kinder verschwiegen denn auch die Tatsache, daß sie und das Fräulein die Möbel in dem Stalle entdeckt hätten.

Kein Wunder also, wenn Mary jetzt in der Stille der Nacht fortgesetzt an diese beiden Ereignisse denken mußte und daß sie infolge Arbutons Unaufrichtigkeit, mit der er seine Anwesenheit in ihrem Zimmer zu bemänteln gesucht hatte, sich in dem großen Hause wie verraten und verkauft vorkam.

Dann schlug unten in der ersten Etage irgendwo eine Uhr die zwölfte Stunde.

Mitternacht also, Geisterstunde!

Unwillkürlich suchte ihr Blick wieder das friedlich strahlende Heer der Sterne am nächtlichen Firmament, als ob es ihr, der Verlassenen, Trost spenden sollte.

Da — Mary fuhr von ihrem Stuhle hoch —, da gewahrte sie, während gleichzeitig eine Wolke über den Himmel in düsterer Schwärze hinzog, auf dem einen der Blitzableiter des Hauptgebäudes einen Mann, der hastig daran emporkletterte.

Dann wurde es infolge des dichten Gewölks so dunkel, daß Mary nichts mehr sehen konnte.

Sie sank wieder auf den Stuhl zurück und schlug die Hände vor das Gesicht.

Ein wehes Schluchzen schüttelte ihren Körper hin und her. Der Anblick des Mannes auf dem Blitzableiter hatte sie derart erschreckt, daß ihre Nerven versagten.

Dann ließ ein gellender Schrei sie hochfahren — ein Schrei, der vom Parke her das Brausen des Sturmes und das Knarren der windgepeitschten Bäume übertönte.

Mit einem Stöhnen fiel sie wie gelähmt wieder auf den Stuhl zurück.

Der Schrei hatte etwas so Furchtbares an sich gehabt, daß Marys rasendes Herz sich nur langsam beruhigte. Aber — noch immer glaubte sie ihn zu hören. Noch immer zitterte und bebte sie am ganzen Leibe.

Was war das für ein schreckliches Haus, in das sie hier geraten war?! Sollten sich ihr denn hier immer mehr Geheimnisse aufdrängen?! Sollte sie von Stunde zu Stunde deutlicher empfinden, daß sie sich in Mr. Arbutons Villa nie zufrieden und glücklich fühlen könnte?!

So saß sie denn leise weinend da und fragte sich nun stets aufs neue, ob es nicht ihre Pflicht sei, sofort Lärm zu schlagen. Denn der Mann auf dem Blitzableiter konnte ja ein Dieb, ein Einbrecher gewesen sein! Sie wußte, daß die Spitzen der Blitzableiter zumeist vergoldet oder mit Platin belegt waren. Konnte der Mann es nicht auf diese Edelmetalle abgesehen gehabt haben?!

Aber — sie hatte zu Arbuton kein Vertrauen mehr. Er hatte sie belogen, hatte ihre Sachen durchwühlt, hatte insgeheim die Möbel ihrer Mutter in den Stall schaffen lassen. Er verdiente es gar nicht, daß sie sein Eigentum zu schützen suchte. Außerdem was machte es ihm, dem vielfachen Millionär, aus, wenn ein Dieb, der vielleicht aus Not stehlen wollte, den Blitzableiter der Spitze beraubte?!

Nein — sie wollte sich nicht mehr darum kümmern, wollte schweigen und nichts von dem Beobachteten verraten.

Aber — aber der Schrei — der furchtbare Schrei?!

Was — was hatte der zu bedeuten gehabt?! —

Mary stand plötzlich auf, öffnete den einen Fensterflügel und lehnte sich weit hinaus.

Das dichte Gewölk war wieder verschwunden. Das freundliche Sternenlicht ließ die Kieswege des Parkes wie helle Striche schimmern.

Und — da unten auf einem dieser Wege regte sich etwas — ein dunkler Schatten — ein Mann, der jetzt taumelnd ein paar Schritte tat und dann umsank. —

Mary zitterte vor Aufregung.

Aber sie war nicht feige! Nein, in ihren Adern floß etwas kühne Blut ihres Vaters, des Majors Edward Colling, eines Mannes, der in den Kämpfen auf Kuba und den Philippinen sich Lorbeeren errungen hatte.

Wenn der gellende Schrei vorhin ihre Nerven zum Beben gebracht hatte, so war daran nur ihre ganze Gemütsstimmung schuld gewesen.

Ohne Zweifel war der Mann da unten im Park verwundet worden. Vielleicht war es John, der Diener Arbutons, ein freundlicher, gefälliger junger Mensch. —

Mary schloß das Fenster und schlich zur Tür, nachdem sie vom Nachttischchen ihre Taschenlampe mitgenommen hatte.

Ihr Stübchen lag dicht an der Treppe, die hier im Seitenflügel in den Park hinabführte. Die Treppe war mit dicken Läufern belegt, die jeden Schritt dämpfen.

Mary huschte auf ihren weichen Morgenschuhen die Treppe hinab.

Aber — nicht weit.

Plötzlich hörte sie unten im Erdgeschoß das leise Kreischen eines Türschlosses, dann auch hastige Atemzüge und schwaches Knarren von Stiefeln.

Jemand kam die Treppe empor.

Mary eilte sofort in ihr Zimmer zurück, lehnte ihre Tür jedoch nur an.

Sie merkte, daß jemand den Flur im zweiten Stock nach dem Hauptgebäude zu hastig entlangschritt.

Dann wurde alles still.

Mary wartete noch etwa fünf Minuten. Nun glitt sie abermals die Hintertreppe hinab. Unten in der Tür steckte der Schlüssel von innen. Sie schloß auf, zog die Tür ganz leise wieder zu und lief dann nach jener Stelle hin, wo sie den Mann hatte umsinken sehen.

Ja — dort lag wirklich ein Mensch.

Sie schlich noch näher heran, leuchtete ihm ins Gesicht und — prallte zurück.

Der Mann war kein anderer als Jack Dempsey, ein Angestellter jenes Geschäfts, für das sie die Stickereien angefertigt hatte.

 

 

2. Kapitel.

Nic Pratt und Mr. Granting.

In der Pearlstraße, in einem der ruhigsten Viertel Neuyorks, sieht ein älteres, einstöckiges Häuschen. Es gehört dem berühmtesten Privatdetektiv Amerikas Nic Pratt.

In derselben Nacht, in der Mary Colling den Mann auf dem Blitzableiter beobachtete und nachher Jack Dempsey auf dem Parkwege auffand, hatte Nic Pratt gegen halb zwölf einen Besucher eingelassen, der auf ihn einen merkwürdig verängstigten Eindruck machte.

Es war ein hageres, kleines Männchen in abgetragenen Kleidern und dünnem Vollbart, dieser Mr. Tobias Granting. Trotz des ärmlichen Anzugs funkelten aber an seiner linken Hand überaus kostbare Brillantringe, auch trug er in der Krawatte eine wundervolle Perle als Nadel.

Als er nun Pratt im hellen Lichte der elektrischen Krone gegenübersaß, irrten seine hinter den Gläsern einer großen Hornbrille funkelnden Augen immer wieder nach den durch Läden geschützten Fenstern hin.

„Wovor fürchten Sie sich, Mr. Granting?“ fragte Nic Pratt nun, indem er sich seine kurze Pfeife stopfte.

„Vor dem Unbekannten, der mir den seltsamen Auftrag erteilte und — und so viel Geld dafür bezahlte.“

„Dann hat dieser Unbekannte Ihnen also irgendwie gedroht, falls Sie über diesen Auftrag nicht unverbrüchliches Stillschweigen bewahren würden?“

„Ja. Das heißt, er sagte nur: „Mr. Granting, wenn Sie auch nur ein Wort von unserer Vereinbarung verraten, werden Sie die Folgen zu tragen haben!“ — Doch, ich will Ihnen alles im Zusammenhang schildern, Mr. Pratt. Die Sache war so. Ich bin Agent, vereidigter Auktionator und Grundstücksmakler. Ich habe mein Büro in der 14. Straße. Eines Tages — es mag fünf Wochen her sein — kam abends ein Herr mit blondem Vollbart und blauer Brille zu mir und erklärte etwa folgendes: „Sie haben doch von der Tochter der vor acht Tagen verstorbenen Frau Major Colling den Auftrag erhalten, die Wohnungseinrichtung zu verkaufen, sobald Miß Mary Colling eine Anstellung als Kinderfräulein gefunden hat. Ich biete ihnen nun 25000 Dollar, wenn Sie die Collingschen Möbel durch einen Mittelsmann in der Versteigerung aufkaufen lassen, zu einem recht anständigen Preise natürlich. Die Möbel werden dann später aus Ihrem Auktionslokal abgeholt werden. Sie sehen, daß Miß Colling dabei in keiner Weise benachteiligt werden soll und daß Sie selbst 25000 Dollar spielend leicht verdienen.“ — Ja, so sprach der Herr zu mir mit einer Stimme, der man deutlich anmerkte, daß sie verstellt war. Ich zögerte erst, auf das sonderbare Geschäft einzugehen. Als der Herr dann aber noch hinzufügte, er habe lediglich die Absicht, eine Verschleuderung der Collingschen Möbel zu verhindern und Miß Mary als ungenannter Wohltäter recht viel Geld für die Einrichtung zu verschaffen, erklärte ich mich einverstanden und erhielt von dem Herrn sofort 35000 Dollar ausgezahlt, 25000 für mich und 10000 für die Möbel, die in Wahrheit keine sechstausend wert waren. — Dann sagte der Herr: „Mr. Granting, ein Agent wie Sie muß verschwiegen sein. Versprechen Sie mir, daß niemand hiervon etwas erfährt. Dem Mittelsmann, der auf der Auktion als Käufer auftreten soll, reden Sie irgend etwas vor. Jedenfalls muß die Wahrheit unter uns bleiben. Ich wünsche nicht, daß mein gutgemeintes Interesse für das junge Mädchen irgendwie noch andere erfahren.“ — Ich gab dieses Versprechen durch Handschlag ab. Dann sagte der Herr noch das, was ich bereits erwähnte: „Wenn Sie auch nur ein Wort von unserer Vereinbarung verraten, werden Sie die Folgen zu tragen haben!“ Und dies sprach er in ganz anderem Tone. Seiner jetzt unverstellten Stimme merkte ich an, daß er das Befehlen gewohnt war. Darauf verabschiedete er sich. Die Auktion fand zehn Tage später statt. Alles ging nach Wunsch. Am Abend nach der Auktion erhielt ich einen Brief, mit Schreibmaschine getippt. Hier ist er Mr. Pratt.“

Er reichte Nic Pratt einen Zettel.

Folgendes stand auf dem dünnen Schreibmaschinenpapier:

Morgen abend wird ein Lastauto um sieben Uhr vor dem Auktionslokal vorfahren. Besorgen Sie zwei Arbeiter, die die bewußten Möbel auf das Auto verladen.

Es fehlten also Datum. Ort und Unterschrift bei dieser kurzen Mitteilung.

„Und was geschah weiter?“ fragte Pratt, indem er sich in dichte Rauchwolken hüllte.

„Ich tat, wie befohlen,“ berichtete der kleine Mr. Granting überhastet. „Die Möbel wurden also abgeholt. Der Chauffeur des Lastautos war ein sehr wortkarger Mensch mit schwarzem Bart und einer mächtigen Autobrille. Aber — aber — ich erkannte ihn doch an der Stimme wieder, Mr. Pratt: es war derselbe Herr, der mir den Auftrag gegeben hatte.“

„Das dachte ich mir,“ nickte Pratt. „Ja, das war vorauszusehen. Der Mann ist eben vorsichtig und erledigt alles selbst“

Mr. Granting blickte jetzt verlegen auf den bunten Teppich und glättete sich den Bart.

„Ich weiß auch, was dann geschah, Mr. Granting,“ fügte Pratt nun hinzu und lächelte etwas. „Sie sind dem Lastauto aus Neugier heimlich gefolgt!“

Der Agent schnellte hoch. „Ah — wie — wie können Sie dies nur erfahren haben, Mr. Pratt!“ stammelte er. Dann setzte er sich wieder, machte eine Art Verbeugung und sagte: „Ich vergesse, daß ich dem berühmten Nic Pratt gegenübersitze! — Ja, es ist so, ich folgte dem Auto. „Ich bin Radfahrer, Mr. Pratt, und es wurde mir daher leicht, hinter dem Lastauto zu bleiben. Der Chauffeur fuhr nach der Kingstraße und machte dicht am Hafenbollwerk halt, stieg ab und arbeitete an dem Motor, bis er dann plötzlich mit ein paar Sprüngen hinter dem Stapel Kisten erschien, wo ich mich aufgestellt und ihn beobachtet hatte. — Die Stelle dort am Bollwerk war ganz einsam, und so ist es zu verstehen, daß ich keinen geringen Schreck bekam, als der Chauffeur, der doch gleichzeitig der geheime Auftraggeber war, mich derart überraschte. Freilich, ich konnte kaum lange dieses Furchtgefühl durchkosten, da der Mann —“

„— mich niederschlug,“ ergänzte Pratt.

„Ja — durch einen Vorhieb gegen die Herzgrube. Ich sank bewußtlos um. Als ich nach einer Stunde zu mir kam, war das Auto natürlich verschwunden und ich hatte das Nachsehen. In meiner Hand aber — fand ich weitere fünftausend Dollar, Mr. Pratt, die wohl eine Art Schmerzensgeld vorstellen sollten. Ich bestieg mein Rad, fuhr heim und suchte die ganze Geschichte zu vergessen, hörte und sah auch von dem geheimnisvollen Fremden nichts mehr — bis heute abend, wo ich ich gegen acht durch die Botwery-Straße kam. Da stand am Rande des Bürgersteiges ein hochelegantes Auto, und ein Herr im Zylinder rief gerade dem Chauffeur zu: „Wilkins, nach Hause!“ — Ja — und — und dieser Herr hatte dieselbe Stimme wie der Unbekannte. Das Auto rollte davon. Ich sah von dem Herrn nur den Rücken, konnte leider auch die Nummer des Autos nicht feststellen, da ein anderer Kraftwagen mir die Aussicht versperrte. Ich bin dann mit mir stundenlang zu Rate gegangen, bevor ich mich entschloß, Ihnen den Fall vorzutragen. Sie werden es, begreifen, Mr. Pratt, daß ich gern wissen möchte, wer der Verkleidete — denn der Vollbart wird wohl bei dem Chauffeur und dem Auftraggeber nur angeklebt gewesen sein — sein mag.“

„Oh, gewiß verstehe ich das,“ meinte der Detektiv. „Es wird nur sehr schwer sein, diesen Mann herauszufinden. — Wissen Sie, wo Miß Colling eine Anstellung erhalten hat?“

„Ja. Bei dem Großkaufmann Thomas Arbuton, einem Witwer von etwa 35 Jahren.“

„Den kenne ich dem Namen nach. Er wohnt in der Goldbystraße. — Lassen Sie mir diesen Zettel hier, Mr. Granting. Ich werde morgen irgendwie Miß Collings Bekanntschaft zu machen suchen. Vielleicht kann man sie vorsichtig aushorchen.“

Der kleine Agent verabschiedete sich dann und sagte noch im Flur:

„Ich denke meine Angst, daß mir jemand nachgeschlichen sein könnte, war überflüssig, Mr. Pratt.“

„Ich glaube das ebenfalls,“ erklärte der berühmte Detektiv und drückte Grantings Hand. Der Unbekannte hat jetzt an Ihnen kein Interesse mehr. Er hofft, daß Sie ihn unter den fünf Millionen Einwohnern unserer Stadt nicht mehr aufstöbern können. Auf Wiedersehen. Ich gebe Ihnen Nachricht, sobald ich etwas erfahren habe.“ —

Als Pratt dann wieder in seinem Sessel saß und sich die Erzählung Grantings nochmals in allen Einzelheiten vergegenwärtigte, gelangte er als scharfsinniger Kopf sehr bald zu der Überzeugung, daß der Unbekannte gelogen hatte und daß der Grund dieses seltsamen Auftrags und der daraus entstandenen Geschehnisse nicht etwa bloße Anteilnahme an dem Geschick Miß Collings gewesen sei, sondern daß hier ein weit ernsteres Motiv vorliegen müsse.

Doch welches Motiv konnte dies sein? Weshalb hatte der Unbekannte die Möbel an sich gebracht?

Pratt lachte plötzlich leise auf, denn — jetzt glaubte er, dieses Motiv herausgefunden zu haben!

In demselben Augenblick hörte er draußen auf der Straße ein Auto.

Ah — es fuhr nicht vorüber! Es hielt. Er bekam abermals Besuch.

 

 

3. Kapitel.

Jack Dempsey.

„Welches Glück, daß wir Sie daheim antreffen, Mr. Pratt,“ flüsterte das zitternde junge Mädchen, der Nic Pratt dann die Haustür geöffnet hatte, wobei seinen Arm wie schutzsuchend umklammerte.

Sie trug einen langen, warmen Mantel, ein schlichtes Hütchen und einen dichten dunkelblauen Schleier und bebte tatsächlich wie Espenlaub.

„Helfen Sie mir, den Verwundeten hereinzuführen,“ setzte sie in einem Atem hinzu. „Es handelt sich Gott sei Dank nur um eine Fleischwunde. Der Messerstich glitt an der Uhr ab und streifte nur die Rippen Aber der Stoß war mit solcher Gewalt —“

Nic Pratt unterbrach das Mädchen hier. „Verzeihen Sie, Miß, — mit wem habe ich die Ehre?“ fragte er höflich.

„Ich heiße Mary Colling und bin —“

Pratt, dieser an Überraschungen aller Art gewöhnte Mann, trat jetzt doch unwillkürlich einen Schritt zurück und fiel der Erregten abermals ins Wort.

„Wie — Miß Colling, das Kinderfräulein Thomas Arbutons?“ rief er leise.

Auch Mary stutzte. „Woher kennen Sie mich, Mr. Pratt?“ meinte sie erstaunt.

Er machte nur eine kurze Handbewegung.

„Holen wir also den, Verwundeten, Miß Colling,“ erklärte er bereits wieder in seiner kurzen bestimmten Art. „Alles weitere später —“

Er schaltete die Flurbeleuchtung aus. „Es ist besser, daß der Lichtschein nicht in den Vorgarten fällt,“ fügte er hinzu.

Dann ging er neben Mary her, die ihn nun bat, dem Chauffeur des Taxameterautos doch strengste Verschwiegenheit zur Pflicht zu machen.

„Wird geschehen, Miß,“ beruhigte Pratt sie. „Jeder Chauffeur rechnet es sich zur Ehre an, mir gefällig zu sein.“

In der einen Ecke des geschlossenen Autos lehnte Jack Dempsey. Er hatte sich schon wieder leidlich erholt und stützte sich nur leicht auf Pratts Arm, als dieser ihn nun ins Haus geleitete.

Nachdem Pratt den Verwundeten dann in seinem Schlafzimmer kunstgerecht verbunden hatte, wurde der hübsche, schlanke Jack in des Detektivs Arbeitszimmer auf den Diwan gebettet. Dann berichtete zuerst Mary Colling die Ereignisse der heutigen Nacht.

„Als ich Mr. Dempsey erkannt hatte,“ erzählte sie jetzt, „wollte ich Hilfe aus der Villa herbeiholen. Aber Mr. Dempsey wünschte das nicht. Ich lief rasch wieder in mein Zimmer nach oben, nahm Mantel und Hut und kehrte zu Mr. Dempsey zurück. Wir gelangten dann auch unbemerkt auf die Straße, fanden ein Auto und ließen uns hier nach der Pearlstraße fahren.“

Mary Colling hatte nichts, verschwiegen. Nur von Thomas Arbutons Eindringen in ihr Zimmer, von dem Durchsuchen ihrer Koffer und Behältnisse und von den Möbeln hinten im alten Stallgebäude hatte sie nichts erwähnt.

Jetzt wandte Pratt sich an Jack Dempsey.

„Fühlen Sie sich kräftig genug, auch Ihrerseits alles Wichtige zu berichten?“ fragte er.

„Gewiß, Mr. Pratt, gewiß. Nur — nur.“ er zögerte etwas und wurde verlegen, „nur möchte ich Miß Colling bitten, so lange ins Nebenzimmer zu gehen.“ Er schaute Mary flehend an: „Verstehen Sie dieses Ansinnen nicht falsch, Miß Mary,“ sagte er zu ihr und streckte ihr die Hand hin. „Ich — ich könnte jedoch in Ihrer Gegenwart nicht alles so sagen, wie es — der Wahrheit entspricht.“

„Oh — auf mich brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen, Mr. Dempsey,“ erklärte Mary jedoch sehr bestimmt.

Jack seufzte und — lächelte seltsam. „Wie Sie wollen, Miß Mary. Zunächst also folgendes. Wenn Miß Mary bei uns im Geschäft erschien und die Stickereien ablieferte, habe ich mich stets mit ihr unterhalten. Wir waren gute Freunde geworden. Als sie plötzlich nicht mehr zu uns kam, erkundigte ich mich, ob Sie etwa verreist seien, Miß Mary. So erfuhr ich, daß Sie seit drei Tagen in Arbutons Villa wohnten. Ich hätte Sie nun gern gesprochen. Da ich schon stets etwas zu abenteuerlichen Unternehmungen neigte, kletterte ich gegen zehn Uhr abends über den Gartenzaun der Villa Arbutons, schlich nach hinten in den Park und sah Sie, Miß Mary, oben im Seitenflügel am Fenster sitzen.“ Er wurde wieder verlegen und auch etwas rot. „Ich blieb hinter einem Baume stehen, bis — bis dann ein Mann den Seitenflügel durch die Tür verließ. Ich konnte von diesem Menschen nicht allzuviel sehen. Jedenfalls eilte er tiefer in den Park hinein. Nach einer Weile bemerkte ich einen zweiten Mann, der ebenfalls aus dem Seitenflügel kam und dieselbe Richtung einschlug. Es mußte eine Viertelstunde vergangen sein, da huschte einer der Männer ins Haus zurück. Und nun, Mr. Pratt, nun beobachtete ich genau dasselbe, was schon Miß Mary erzählt hat: ein Mann stieg oben auf dem Dache des Hauptgebäudes am Blitzableiter empor und —“

„Halt — eine Frage,“ warf Nic Pratt ein. „Was tat der Mann auf dem Blitzableiter? Konnten Sie nicht seine Armbewegungen verfolgen und daraus entnehmen, was er beabsichtigte? Blieb er längere Zeit oben?“

„Nein. — Vielleicht eine halbe Minute hielt er sich an der Stange ganz oben fest und — und — ja, es schien mir, als ob er mit dem rechten Arm winkte.“

„So ist’s!“ rief auch Mary nun eifrig. „Ich hatte denselben Eindruck: er winkte!“

„Und — dann weiter?“ fragte Pratt den hübschen Jack Dempsey.

„Ja — dann entschwand der Mann meinen Blicken. Es wurde plötzlich zu dunkel, um noch oben auf dem Dache etwas zu erkennen. Ich blieb noch eine ganze Weile hinter dem Baum stehen und wollte dann den Garten verlassen. Da hörte ich, als ich, kaum einige Schritte getan hatte, ein Geräusch hinter mir. Ich drehte mich um. Plötzlich sprang ein Mann auf mich ein, stieß so kräftig zu, daß ich hintenüberfiel. Vor Schreck entschlüpfte mir ein gellender Schrei. Dann wurde ich ohnmächtig, kam wieder zu mir, taumelte ein paar Schritte und sank abermals um. Dann erschien sehr bald Miß Mary.“

Jack Dempsey machte eine kurze Pause und fügte hinzu:

„Der Mann, dessen tödlichem Stiche ich wie durch ein Wunder entging, hatte sich ein weißes Tuch über die Nase und die Gesichtshälfte gebunden und trug eine weiche Mütze mit großem Schirm, die er sich tief über die Augen gezogen hatte. Im übrigen kann ich den Mann nicht näher beschreiben. Nur eins ist mir noch in Erinnerung: der Dolch muß oben am Griffknopf mit Edelsteinen verziert gewesen sein. Ich sah die Steine funkeln, als der Mann zustieß. Sie funkelten im Sternenlicht so stark, daß es aussah, als ob ein feuriger Strich durch die Luft gezogen wurde. Jedenfalls starrte ich in halber Schrecklähmung wie hypnotisiert auf diese funkelnde Bahn in der Luft und dachte gar nicht an Gegenwehr.“ —

Es trat jetzt Stille ein. Pratt hatte die linke Hand über die Augen gedeckt und schien angestrengt nachzudenken.

Dann schaute er Mary Colling an und fragte:

Weshalb sind Sie mit Mr. Dempsey sofort hierher gekommen?“

„Weil — weil Sie dafür bekannt sind Mr. Pratt, daß die Hilfesuchenden auch dann Ihre Unterstützung angedeihen lassen, wenn sie nicht in der Lage sind, Ihnen ein großes Honorar zu zahlen. Ich komme mir wie eine solche Hilfesuchende vor, Mr. Pratt. Ich glaubte bei, Thomas Arbuton eine neue Heimat gefunden zu haben. Aber — hören Sie, was mir außerdem dort noch begegnet ist.“

Und jetzt berichtete sie von der Durchsuchung ihres Eigentumes und von den Möbeln hinten im Stallgebäude.

Pratt hatte sich im Sessel ganz weit vorgebeugt, als die Möbel erwähnt wurden.

‚Ah — welch ein Zufall!‘ schoß es ihm durch den Kopf. ‚Hier brachte nun Mary Colling selbst die Aufklärung über den Verbleib der versteigerten Einrichtung, die der geheimnisvolle Fremde durch den Agenten hatte aufkaufen lassen!‘

„In diesem Hause, Mr. Pratt, in dem derartige Dinge sich ereignen, bleibe ich keine Sekunde länger!“ schloß Mary nun ihre Schilderung. „Nein — ich kehre dorthin nicht zurück! Keine Macht der Welt brächte mich wieder in das unheimliche Haus!“

„Vielleicht doch, Miß Colling,“ sagte Nic Pratt da mit besonderer Betonung. „Vielleicht werden Sie zurückkehren. Ich rate Ihnen dringend dazu. Sie sind ohne Zweifel der Gegenstand eines großangelegten verbrecherischen Planes, Miß Mary. Oder genauer gesagt: nicht Sie selbst, sondern das was mit Ihnen zusammenhängt. Sie selbst laufen persönlich nicht die geringste Gefahr. Ihnen wird man nichts antun. Also liegt für Sie keinerlei Grund vor, Arbutons Villa zu meiden. Im Gegenteil: wenn Sie jetzt, wie Sie es soeben erklärten, anderswo Unterschlupf suchen, wenn Sie zum Beispiel vorläufig drüben bei meiner Haushälterin Frau Allison wohnen wollen, was Sie jeder Zeit können, dann, Miß Mary, dann würden wir die Leute, die hier die Hand im Spiele haben, warnen und vielleicht nie aufdecken, was der Mann auf dem Blitzableiter tat und wer Jack Dempsey ermorden wollte. Die Ereignisse dieser Nacht müssen auch zunächst das Geheimnis von uns dreien bleiben — unbedingt! — Also — entscheiden Sie sich, Miß Mary.“

„Das fällt mir nicht schwer. Ich werde bleiben, Mr. Pratt!“ sagte sie tapfer.

„Und ich — begleite Sie!“ erklärte Pratt. „Warten Sie hier bitte zehn Minuten. Ich will nur etwas Toilette machen.“

Pratt ging in sein Ankleidezimmer und erschien bereits nach neun Minuten als ältere, würdige Frau mit einer Reisetasche, Schirm und einen Pappkarton wieder bei Mary und Jack, die sich inzwischen flüsternd unterhalten hatten.

„So,“ meinte der Detektiv, „jetzt bin ich Ihre einzige noch lebende Verwandte, eine Tante zweiten Grades namens Ellen Balomer aus dem Dorfe Sheffgoll bei Chikago, die Sie besuchen will, Miß Mary. — Mr. Dempsey mag einstweilen hier bei mir bleiben. Ich werde Frau Allison Bescheid sagen. Dann fahren wir bis in die Nähe der Villa Arbutons, Miß Mary, und ich begleite Sie bis ans Haus, logiere mich dann in der Nähe ein und erscheine um neun Uhr vormittags als Tante Balomer.“

 

 

4. Kapitel.

Der Neger.

Es war gegen halb drei Uhr morgens, als Mary wieder durch die Gitterpforte, für die sie einen Schlüssel besaß, in den Garten und dann durch den Seiteneingang ins Haus schlüpfte

Lautlos stieg sie die Treppen zu ihrem Stübchen hinan. Sie atmete erleichtert auf, als sie sich nun dort einschloß und das Licht eingeschaltet hatte, allerdings nur die kleine Nachttischlampe, die von draußen bei geschlossenen Vorhängen als Lichtquelle kaum zu bemerken war.

Sie fühlte sich jetzt weit freier und zuversichtlicher als vorhin. Das Bewußsein, daß Nic Pratt als Helfer und Beschützer ihr zur Seite stände, wirkte überaus beruhigend auf sie.

Langsam legte sie Hut und Schleier ab, langsam zog sie den Mantel aus.

Sie sah nicht, daß die Tür des breiten Kleiderschrankes sich geräuschlos immer weiter aufschob und daß aus dem Innern des Schrankes das schwarze Gesicht eines Negers hervorlugte, dessen weißumrandete Augen jede ihrer Bewegungen verfolgten.

Dann — dann verließ der in einen dunklen Anzug gekleidete Neger den Schrank, trat hinter Mary, packte zu.

Seine Riesenfäuste umkrallten ihren Hals.

Dieser unheimliche schwarze Goliath schleppte die vor Todesangst und Atemnot halb Ohnmächtige auf das Bett, zwängte ihr einen Knebel in den Mund und band ihr die Hand und Fußgelenke mit starkem Bindfaden zusammen.

Jetzt nahm er das vor wahnsinnigem Entsetzen am ganzen Körper flatternde Mädchen in die Arme und schaltete die Nachttischlampe aus, trug Mary die Treppe hinab und lief mit ihr durch den Park nach dem verfallenen Stallgebäude.

Mary war mehr tot als lebendig.

Sie konnte nicht um Hilfe rufen. Sie erstickte fast, so fest lag ihr der Knebel im Munde.

Sie ahnte dunkel, daß auch dieser Überfall durch den ihr völlig unbekannten, gut gekleideten Neger mit den anderen Ereignissen zusammenhinge.

Ach — wenn jetzt doch Pratt hier gewesen wäre!

Über Nic Pratt hatte sich ja in der Nähe ein Hotel oder ein Pensionat suchen wollen, um den Rest der Nacht als Tante Ellen Balomer dort zuzubringen. —

Da — der Neger mochte plötzlich halt.

Seine scharfen Augen hatten hinter den verstaubten Fenstern des alten Stalles einen schwachen Lichtschimmer erspäht.

Er stand und starrte geradeaus — auf die dunkle Masse des langgestreckten Bauwerks dort an der Parkmauer.

Mary erwachte jetzt gleichsam aus ihrer Betäubung.

Das Aufhören der Vorwärtsbewegung und das Nachlassen des Druckes der sie umschlingenden Arme rüttelte sie wach.

Auch sie sah den Lichtschein hinter den trüben, kleinen Fenstern.

Dieser Lichtschein verschwand, zuckte wieder auf, wurde stärker, wurde schwächer.

Und hin und wieder glitt auch ein wunderlicher Schatten über die Scheiben hin — ein Schatten eines Menschen mit scheinbar ungeheurem Hut auf dem Kopfe. —

Der schwarze Riese legte Mary jetzt vorsichtig in das welke Gras neben den Kiesweg.

Dann beugte er sich zu ihr herab und flüsterte:

„Wenn Sie sich nicht ganz still verhalten, mache ich Sie stumm!“

Dann verband er ihr mit einem leicht parfümierten Taschentuch die Augen.

Mary, die jetzt sich selbst wiedergefunden und alle Angst abgeschüttelt hatte, horchte auf die huschenden, sich entfernenden Schritte des Schwarzen und richtete sich dann zu sitzender Stellung auf.

Da ihr die Hände nicht auf dem Rücken gefesselt waren, kam sie mit den Fingern leicht bis an die Knoten der starken Bindfäden heran; die ihre Fußgelenke umschlangen.

Rasch löste sie die Knoten. Dann beugte sie die Unterarme mach oben, zog den Knebel aus dem Munde, und riß das Tuch von den Augen — sah gerade noch, wie die Gestalt des Negers blitzschnell durch die Tür im Stalle verschwand. —

Nic Pratt war, nachdem er sich von Mary vor etwa zehn Minuten getrennt hatte, über das Gitter geklettert, an der Seitenmauer des Gartens entlanggeschlichen und so bis zu dem alten Stallgebäude gelangt, dessen Türschloß seinem Patentdietrich nicht weiter Mühe machte.

Er betrat den Stall, drückte die Tür hinter sich zu und befand sich nun in einem großen Raume mit zum Teil verfaulten Dielen. Dieser Raum hatte als Wagenremise gedient. Jetzt standen hier die Möbel der verstorbene Frau Colling.

Pratt stellte seine Reisetasche und den Schirm in eine Ecke, nachdem seine Taschenlampe für ein paar Sekunden aufgeblitzt war und die Gegenstände ringsum beleuchtet hatte.

Dann begann er jedes Stück dieser Möbel eingehend zu besichtigen, wobei er seine Taschenlampe halb mit der linken Hand bedeckte.

Aber — so sorgfältig er auch die meist altertümlichen Sachen sich ansah und jede Tür und Schublade öffnete, seine Ohren horchten auf das kleinste verdächtige Geräusch, das von draußen kam.

Und jetzt — jetzt knarrte die Tür des Stalles ein wenig.

Im selben Moment erlosch Pratts kleine Lampe.

Im selben Moment huschte er auf seinen Schuhen mit Gummisohlen — nicht etwa weiter nach hinten, — nein — nach vorn, nach der Tür zu hinter den ersten Schrank, der von der Stalltür nach seitwärts hin vielleicht anderthalb Meter entfernt stand.

Der Neger hatte jetzt gleichfalls eine große Taschenlampe eingeschaltet, hatte die Tür offenbar mit einem gut passenden Nachschlüssel von innen versperrt und zog nun einen dicken Gummiknüttel hervor.

Dann rief er halblaut:

„Verdammtes Weib, wo steckst Du?! Komm’ hervor, wenn Dir Dein Leben lieb ist!“

Er hatte vorher durch das Fenster gespäht und den verkleideten Pratt für eine Frau gehalten. —

Nic Pratt rührte sich nicht, hatte nur vorsichtig um die Ecke des Schrankes geschaut und den Kopf sofort wieder zurückgezogen.

Aber diese drohende Aufforderung des Schwarzen war ihm in einer Hinsicht doch recht interessant gewesen. Er verzog das Gesicht jetzt zu einem Lächeln, denn die Aussprache des Englischen dieses „Niggers“ hatte ihm bewiesen, daß der Mann gar kein Neger war.

Der gefärbte Nigger wiederholte seine Drohung, fügte noch hinzu:

„Sollte sich der Detektiv Nic Pratt in diese Weiberröcke verkrochen haben, so mag er getrost sein Testament machen. Schnüffler können wir hier nicht brauchen!“

Pratt schob den Sicherungsflügel seines Revolvers herum. Dieser Kerl da schien nicht gerade zu den Ängstlichen zu gehören.

Dann trat er rasch hinter dem Schranke hervor, schaltete mit der Linken seine Lampe ein und hob mit der Rechten die erprobte Waffe.

„Hier Nic Pratt!“ sagte er mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme. „Falls Sie auch nur einen Finger ohne meine Erlaubnis regen, knallt es!“

Der andere lachte. Es war ein ironisches, geringschätziges Lachen. Dann erwiderte er:

„Mary war bei Ihnen. Wir sind ihr gefolgt. Wer ist eigentlich der Mensch, den man fälschlich niederstach und den sie zu Ihnen brachte?“ — Er hob dabei seinerseits den Arm mit dem Gummiknüttel, so daß Pratt nun noch lauter rief:

„Ich warne Sie! Ich drücke ab! Runter mit dem Arm!“

„Drücken Sie doch ab!“ Wieder das Lachen.

Und der gefärbte Nigger schritt auf Pratt mit geschwungenem Arme zu.

Pratt durfte nicht länger zaudern.

Ein Feuerstrahl sprang aus der Mündung des Revolvers heraus.

Pratt hatte auf die rechte Schulter gezielt.

Wieder das schrille Hohnlachen als Antwort auf den Knall des Schusses.

Und abermals drückte der jetzt zurückspringende Detektiv ab — jetzt auf die Brust des Riesen.

Der Erfolg?! — Der Mann lachte — lachte, tat einen Satz und — schlug zu.

Aber er hatte mit Pratts Gewandtheit nicht gerechnet.

Der berühmte Detektiv hatte sich nach hinten zu Boden fallen lassen, hatte die Beine angezogen und — schnellte sie jetzt nach vorwärts, trat dem Angreifer gegen den Unterleib — mit solcher Kraft, daß der Mensch gegen den Schrank flog und dann mit Stöhnen und Flüchen sich in furchtbaren Schmerzen am Boden wand.

Pratt hatte den Gummiknüttel bereits in der Hand.

Ein Schlag — und der Andere rollte bewußtlos zur Seite.

Im selben Augenblick rüttelte Mary an der Tür. Sie hatte mit den Zähnen die Fesseln ihrer Handgelenke gelöst, hatte sich dem Stalle genähert, Pratts Stimme erkannt.

Der Detektiv ließ sie jetzt ein.

„Miß Mary, holen Sie die Bindfäden,“ bat er, als sie ihm rasch das nötigste mitgeteilt hatte.

Mary eilte wieder zu der Stelle zurück, wo sie im Grase gesessen und sich befreit hatte.

Als sie um ein paar Büsche bog, prallte sie zurück.

Da vor ihr lief ein Mann den Gartenweg in wilder Flucht entlang — verschwand.

Mary raffte die Schnüre auf. Keuchend langte sie im Stalle wieder an.

„Mr. Pratt, — ein Mann entfloh vor mir,“ stammelte sie — „ein Mann, der hier nach dem Stalle wollte. Vielleicht war er auch schon hier an der Tür und hat gelauscht —“

Der Detektiv fesselte den Bewußtlosen.

„Miß Mary,“ meinte er, „sehen Sie sich den Neger mal genauer an. „Wer ist’s? Kennen Sie ihn?“

Mary starrte lange in das schwarze Gesicht. Dann rief sie:

„Oh — das ist ja Mr. Arbutons Diener John Looper! Ja, das ist John, der zu mir so überaus freundlich war, der —“

„Schon gut. Bleiben Sie hier bei John. Miß Mary. Sollte er zu entweichen suchen — hier ist der Gummiknüttel! Ich bin bald wieder hier!“

Pratt eilte hinaus in den dunklen Park, eilte bis dicht in die Villa heran.

Der Himmel war jetzt nur schwach bewölkt.

Als der Detektiv nun zum Dache emporschaute, fand er seine Vermutung bestätigt:

Dort auf dem Dache links erschien soeben ein Mann, der am Blitzableiter emporzuklettern begann!

Pratt rief sofort, und seine Stimme durchdrang die nächtliche Stille wie ein Trompetenton:

„Hinab mit Ihnen, wenn Sie nicht eine Kugel schmecken wollen!“

Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, zielte er kurz und feuerte über den Kletterer hinweg.

Der Mann rutschte sogleich an der Stange wieder herab und wurde unsichtbar.

Nochmals schoß Nic Pratt. Er wollte eine Polizeipatrouille herbeilocken.

Und — kaum zwei Minuten später standen zwei [Polizeibeamte vor dem][1] verkleideten Detektiv, der ihnen jetzt seinen Namen nannte und hinzufügte:

„Sie wissen, daß Detektivinspektor Grablay mein bester Freund ist. Einer von Ihnen mag Grablay holen. Der andere paßt auf, daß niemand von den Hausbewohnern den Blitzableiter dort erklettert.“ —

In dem Erdgeschoß des Seitenflügels, wo das Hauspersonal seine Zimmer hatte, wurden jetzt mehrere Fenster hell.

Pratt eilte nach der hinteren Parkmauer und in den Stall zurück.

Der Diener John war inzwischen zum Bewußtsein gekommen.

Wortlos knöpfte Pratt ihm die Weste auf: der Mann trug einen Nickelstahlpanzer, wie er für die amerikanische Armee einst probeweise eingeführt war! Deshalb hatten die Revolverkugeln nichts ausgerichtet.

„John Looper,“ — sagte der berühmte Detektiv dann, „Sie haben Jack Dempsey, der Miß Mary heimlich liebt und in stillem Sehnen in den Park geschlichen war, ermorden wollen, weil Sie ihn im Dunkeln für — Ihren Konkurrenten hielten! Wollen Sie ein Geständnis ablegen?“

Looper schnitt eine wütende Grimasse.

„Ich habe nichts zu gestehen. Ich habe niemand ermorden wollen!“ zischte er in ohnmächtigem Grimm.

Pratt zuckte die Achseln.

„Sie sind ein Narr, Looper! Glauben Sie, ich wüßte nicht schon völlig Bescheid?! — Ich werde es Ihnen beweisen.“

Er band ihm die Füße los.

„Gehen Sie vor mir her der Villa zu!“ befahl er. „Die Polizei ist bereits da!“.

John Looper gehorchte widerwillig.

 

 

5. Kapitel.

Das brennende Dach.

Vor dem Seitenflügel der Villa hatte sich bereits um den Polizeibeamten, der den Blitzableiter beobachten sollte, das ganze Hauspersonal versammelt.

Gerade als jetzt der zweite Diener Pencrax ein paar der den Park erleuchtenden Laternen eingeschaltet hatte und der Platz vor dem Seitenflügel so in blendende Helle getaucht wurde — gerade als nun Nic Pratt mit dem gefesselten und Mary Colling dort eintraf, erschien auch Mr. Thomas Arbuton, der sich in aller Eile nur notdürftig angekleidet hatte, wie es den Anschein erweckte, da er noch ohne Kragen und Krawatte war, und fragte den Beamten, was hier vorgefallen sei.

Der Polizist deutete auf Pratt. „Vielleicht sagt Mr. Pratt es Ihnen. Ich weiß es nicht,“ meinte er.

Arbuton spielte den Erstaunten.

„Mr. Pratt, der Detektiv?“ rief er. „Ja, was hat denn das alles zu bedeuten?“

Er trat auf den verkleideten Nic Pratt zu und sagte, indem er nun auch Mary Colling prüfend musterte:

„Mein Name ist Arbuton, Mr. Pratt. Ich bin der —“

Nic unterbrach ihn: „Dort kommt bereits mein Freund, der Detektivinspektor Grablay Ich möchte mit Grablay etwas besprechen. Entschuldigen Sie Mr. Arbuton. Miß Mary, bitte — begleiten Sie mich!“

Arbuton schaute den beiden finster nach.

Seine Hände hatten sich in den Taschen seiner Hauskacke zu Fäusten geballt. Seine Augen waren von den Lidern halb bedeckt und funkelten in leidenschaftlicher Erregung.

Dann, aber umspielte seine dünnen Lippen scheußliches Grinsen. Sein Blick wanderte verstohlen nach den Bodenfenstern der Villa empor, die auf derselben Hausseite wie der Blitzableiter lagen.

Hinter diesen Fenstern glomm jetzt ein rötlicher Schein auf.

Es sah so aus, als ob die Scheiben im Widerschein des Abendrots leuchteten. Außerdem zeigte sich über dem Dache auch etwas wie leichte weißliche Dämpfe. —

Pratt hatte inzwischen Grablay kurz begrüßt.

„Gehen Sie Arbuton nicht von der Seite.“ flüsterte er jetzt. „Hier ist eine ungeheure Schurkerei gegen Miß Colling begangen worden. Ich weiß zwar bereits genug, aber noch nicht alles. — Eine Frage daher, Miß Mary: Hat es in Ihrer Familie einmal irgend so etwas wie ein Geheimnis gegeben? Hat Ihre Mutter niemals irgend welche Andeutungen hierüber gemacht?“

Mary blickte Pratt offen an. „Nur Ihnen und Mr. Grablay gegenüber will und darf ich offen sein. Ja, es hat ja etwas wie ein Familiengeheimnis existiert. Aber mein Vater starb leider so plötzlich, daß er nur noch auf einen Zettel folgende Worte hinkritzeln konnte:

Wer im alten Spiegel sein Gesicht verkehrt sieht, wird für die Stunde der Not —

Mehr konnte die zitternde Hand dem Papier nicht mehr anvertrauen. Aber meine Mutter sagte mir als Ergänzung hierzu, daß mein Vater stets betont hätte, wir würden niemals in pekuniäre Bedrängnis geraten: er besäße etwas, das er rechtmäßig in Indien vor vielen Jahren erworben habe. — Weiter äußerte er sich nicht. Nach seinem Tode haben meine Mutter und ich in der Hoffnung, in den Möbeln irgendwo ein Geheimfach zu finden, das einen Schmuck oder dergleichen enthalten könnte, jedes Möbelstück wiederholt durchsucht, haben jedenfalls dann festgestellt, daß kein Geheimfach vorhanden sein konnte!“

„Das genügt mir,“ sagte Pratt hastig. „Kommen Sie. Arbuton spricht mit John Looper. Das muß verhindert werden.“

Grablay war’s, der jetzt lediglich aus Interesse an der Bauart der Villa das ganze Haus mit schnellem Blick überflog, während er neben Mary und Pratt der Gruppe von Menschen dort unter den ersten Bäumen zuschritt.

Plötzlich stutzte er, rief Pratt leise zu:

„Da — das kann doch nur von einem Brande herrühren — die roten Fenster, die scheinbaren Dampfwolken!“

Im selben Moment hatte das in den Bodenräumen wütende Feuer das Schieferdach durchbrochen.

Eine hohe Flammensäule schoß zum Himmel empor. Polternd und prasselnd kamen die Schieferplatten herabgesaust. Die Bodenfenster sprangen klirrend. Das Feuer, durch die Zugluft noch stärker angefacht, leckte in langen Flammenzungen zu den Fenstern hinaus.

„Grablay, verhaften Sie Arbuton!“ rief Pratt jetzt, um das Geschrei des verstörten Hauspersonals zu übertönen „Auf meine Verantwortung, Grablay. Nur er hat den Brand angelegt, um den Blitzableiter zu zerstören!“

Dann riß er sich die Frauenkleider vom Leibe, warf Hut und Perücke ab, stand nun in seinem gewöhnlichen Sportanzuge da, war mit ein paar Sätzen an der in die Rückfront der Villa eingefügten eisernen Feuerleiter, begann emporzuklettern.

„Um Gott — was tun Sie, Mr. Pratt!“ gellte Marys entsetzter Ruf ihm nach.

Auch Grablay, der bereits dicht vor Arbuton getreten war, vergaß alles andere über diesem tollkühnen Wagnis seines Freundes.

„Pratt — zurück!“ brüllte er. „Sie werden in dem Rauch ersticken!“

Arbuton lachte schneidend auf.

„Was will Mr. Pratt denn dort auf dem brennenden Dache?!“ meinte er mit teuflischer Ironie.

Mary konnte jetzt nicht länger an sich halten, rief Arbuton drohend zu, denn jetzt hatte auch sie einen Teil der Zusammenhänge begriffen:

„Sie — nur Sie waren der Mann auf dem Blitzableiter. Sie haben unsere Möbel an sich gebracht, um —“

Da — Arbuton war mit einigen Sprüngen dicht am Hause, riß einen Revolver heraus, zielte auf Pratt, der bereits zwischen zwei Bodenfenstern sich über den Dachrand schwang.

Mary jedoch, die noch immer den Gummiknüttel halb unbewußt in der Hand behalten hatte, war schneller noch als Grablay hinter Arbuton drein geeilt, hatte zum Schlage ausgeholt.

Der Revolver flog zur Seite. Arbutons Arm sank wie gelähmt herab. Dann griff auch schon Grablay zu, — Handschellen schnappten um des reichen Kaufherrn Handgelenke. —

Oben auf dem Dache erschien jetzt Nic Pratt von Rauch und Flammen umweht, auf dem Blitzableiter.

Man sah, wie er höher kletterte.

Man sah, wie er an der Spitze des Blitzableiters sich zu schaffen machte.

Dann — ein anderer Teil des Daches barst, spie Funkengarben aus.

Schwarzer Qualm hüllte das ganze Dach ein. —

Mary war in die Knie gesunken, wimmerte vor Entsetzen — betete in ihrer Angst.

Auf der Straße raste die Feuerwehr herbei.

„Er muß erstickt sein,“ sagte Grablay dumpf und schmerzlich. „Armer Nic! Und alles nur —“

Mary schrie auf:

„Er lebt — er lebt! Dort — dort!“

In der offenen Tür des Seitenflügels war Pratt aufgetaucht — mit geschwärztem Gesicht — mit angesengten Kleidern.

Mit elastischen Schritten kam er auf die Menschengruppe zu, hielt dem finster zu Boden starrenden Arbuton einen Lederbeutel hin, der an einem langen Draht befestigt war.

„Dies fand ich in dem Metallrohr des Blitzableiters, nachdem ich die Spitze abgeschraubt hatte!“ sagte er kurz. „In dem Beutel befinden sich lose Diamanten! Dieser Edelsteine wegen haben Sie die Möbel aufkaufen lassen. Sie wußten also, daß eins der Möbelstücke ein Geheimfach enthielt! Und zwar wird dieses Geheimfach sich auf der Rückseite des Rahmens des großen ovalen Spiegels befunden haben, den ich im Stalle stehen sah!“

Jetzt trat John Looper vor.

„Mr. Pratt, ich sehe, daß ein Geständnis jetzt das vernünftigste ist. Ich habe einmal Mr. Arbuton und seine Tante belauscht. Er erzählte ihr, daß es mit seinem Geschäft sehr zurückginge, daß aber sein Vater ein Jugendfreund des Majors Collings gewesen sei. Die Collings besäßen Diamanten im Werte von Millionen, die irgendwo in einem Möbel versteckt sein müßten. Nun sei Frau Colling gestorben, und er würde alle Möbel aufkaufen lassen. Ich wollte dann selbst die Diamanten in den Möbeln im Stalle suchen. Ich traf mit Mr. Dempsey dabei im Park zusammen hielt ihn für Mr. Arbuton und wollte —“

„Schon gut,“ winkte Pratt ab. „Das können Sie vor Mr. Grablay zu Protokoll geben.“

Dann wandte er sich an Arbuton.

„Sie haben Pech gehabt! Sie fanden in dieser Nacht die Steine und verbargen sie im Blitzableiter. Miß Mary saß am Fenster und beobachtete Sie. Dann war der Auktionator bei mir. Nun — der verkleidete Unbekannte ist entdeckt: Sie gaben dem Auktionator den Auftrag, Sie waren der Chauffeur des Lastautos! — Kommen Sie, Miß Mary, Sie haben es nicht mehr nötig, Kinderfräulein zu spielen.“

Thomas Arbuton und John Looper wanderten ins Zuchthaus. Aus Mary und Jack Dempsey wurde ein glückliches Paar, bei dem Nic Pratt sich häufig als stets mit Freuden begrüßter Gast einfindet.

 

 

Nächster Band:

Der linke kleine Finger.

 

 

Anmerkung:

[1] Zeile in der Vorlage unleserlich. Text sinngemäß ergänzt.