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Der linke kleine Finger

 

Nic Pratt

Amerikas Meisterdetektiv

 

Heft 13:

 

Der linke kleine Finger.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922

by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.

Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Ein unheimlicher Patient.

Doktor Edward Gloster hatte sich erst vor kurzem als Arzt in der Drisby-Straße in Neuyork niedergelassen.

Es war dies eine jener alten Gassen, in denen zumeist die ärmere Bevölkerung der Millionenstadt eng zusammengeperrt wohnt. Sie mündete auf den Hafen unweit des Lincoln-Docks, und wenn in nebligen Nächten die großen See-Dampfer einliefen, dröhnte das Heulen oder Tuten ihrer Sirenen bis in den äußersten Winkel der Drisby-Straße hinein.

An einem solchen nebligen Abend saß Doktor Gloster, ein kaum dreißigjähriger Mann von gefälligem Äußern, in seinem Sprechzimmer und blickte trübe auf die Rechnung der Möbelfirma, die mit der letzten Post eingegangen war und die den Zusatz enthielt:

„Sollten Sie bis zum 1. November des Jahres Ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen sein, so müssen wir die Ihnen gelieferte Wohnungseinrichtung wieder abholen lassen.“

Doktor Gloster seufzte.

Heute war der 15. Oktober. Wie sollte er wohl bis zum 1. November 1800 Dollar aufbringen?! Das war ausgeschlossen. Er hatte keine Freunde, keinen einzigen Bekannten hier in Neuyork. Er war aus den Südstaaten hierher gekommen, weil er bestimmt gehofft hatte, mit seinen Kenntnissen und seinem liebenswürdigen Wesen in diesem ärmeren Viertel der Riesenstadt bald Patienten und einen bescheidenen Lebensunterhalt zu finden. Seine Hoffnungen blieben unerfüllt. In drei Monaten hatte er kaum so viel verdient, um die Miete und seine Mahlzeiten bezahlen zu können.

Es war jetzt kurz nach zehn Uhr abends. Soeben hatte im Hafen wieder eine Dampfersirene ihre in dieser Nebelflut so schauerlich klingenden Heultöne bis in das Zimmer des jungen Arztes hineingeschickt.

Die beiden Fenster des Zimmers lagen nach der Drisby-Straße im Hochparterre. In der Kellerwohnung unter Doktor Gloster hauste der Tischler Mac Orbiton, ein rothaariger Irländer. Wenn Mac Orbiton den Hammer auf die Nagelköpfe fallen ließ oder die Säge handhabte, hörte Gloster es ganz genau. Und wenn der Trunkenbold Orbiton seine junge Frau aufs gemeinste beschimpfte, verstand der Arzt ebenfalls jedes Wort.

Heute hatte es bei Orbitons wieder Zank und Streit gegeben. Gegen neun Uhr abends war der Tischler aus einer der vielen geheimen Branntweinschenken (in Neuyork herrscht Alkoholverbot) halb sinnlos bezecht heimgekehrt. Seine Frau, ein arbeitsames, ordentliches Weib von kaum vierundzwanzig Jahren, war diesmal jedoch zu den ungerechten Vorwürfen ihres Mannes nicht ruhig geblieben, sondern hatte ihm offenbar seine Faulheit, seine Liederlichkeit und manches andere vorgehalten. Dann war es plötzlich in der Kellerwohnung ganz still geworden, unheimlich still.

Wenn nicht seine eigenen Gedanken den jungen Arzt so sehr in Anspruch genommen hätten, wäre er wohl auf dieses Verstummen jeglichen Geräusches in der Kellerwohnung aufmerksam geworden. So aber kam ihm dies über seinen Sorgen gar nicht zum Bewußtsein.

Dann fuhr er mit einem Male erschrocken zusammen.

Ein Klirren an dem einen Fenster gab seinem Denken eine andere Richtung. Dieses Klirren hatte sich gerade so angehört, als hätte jemand ein paar kleine Steinchen gegen die Scheiben geworfen.

Was mochte das wohl zu bedeuten haben?! An der Haustür befand sich doch eine Nachtglocke mit einem großen Schild darunter:

„Nachtglocke zum Arzt“!

Wenn also jemand Einlaß begehrte, hätte dieser Jemand nur zu läuten brauchen. Und so dicht war der Nebel doch auch nicht, daß man die Glocke übersehen konnte! Oder — war’s etwa nur ein schlechter Scherz bezechter Matrosen gewesen?! Auch das erschien wenig wahrscheinlich.

Edward Gloster hatte sich auf dem Sofa halb umgewandt und schaute nach dem Fenster hin, dessen Vorhänge zugezogen waren.

Da — abermals dasselbe leise Klirren.

Er sprang auf. Kein Zweifel: das sollte ein Zeichen für ihn sein!

So öffnete er denn die Vorhänge, nachdem er die elektrische Hängelampe ausgedreht hatte.

Er blickte hinaus in die Nebelmassen, in denen das Licht der vor dem Hause stehenden Straßenlaterne nur wie ein verschwommener heller Fleck sichtbar war.

Undeutlich erkannte er auch auch unten auf dem Bürgersteig eine dunkle Gestalt.

Mit einem Male blitzte von dieser Gestalt aus eine grelle Lichtbahn auf. Der Mann da unten hatte eine Taschenlampe eingeschaltet. Gloster sah, daß der Fremde eifrig winkte.

Er riegelte das Fenster auf, lehnte sich hinaus und fragte:

„Sie wünschen, Master?“ — Er konnte von dem Manne nichts als einen tief ins Gesicht gedrückten Schlapphut sowie einen dunklen Radmantel erkennen.

„Doktor Gloster?“ erwiderte der Mann mit heiserer Stimme.

„Ja — Doktor Edward Gloster.“

„Sind Sie allein? Ich möchte Sie als Arzt in einer besonderen Angelegenheit konsultieren.“ —

„Gewiß. Ich bin allein,“ erklärte Glosier zögernd.

„Dann öffnen Sie mir bitte die Haustür. Sie können dreitausend Dollar verdienen.“

„Gut. Ich komme.“

Gleich darauf saß der Fremde in der Sofaecke und hielt Glosters prüfenden Blicken mit größter Gelassenheit stand.

„Sie wundern sich, daß ich nicht geläutet habe,“ meinte er. „Offen gestanden: ich hasse elektrische Glocken!“

Der junge Arzt lächelte und dachte: „Ein Mann voller Schrullen offenbar!“

„Elektrische Glocken sind eine scheußliche Einrichtung,“ fügte der Mann hinzu. „Auch das Telephon ist scheußlich. Trotzdem gestatten Sie wohl, daß ich Ihren Apparat benutze.“

Er erhob sich wieder und sagte mit einer knappen Verbeugung:

„Ach so! Mr. Gloster, ich bin etwas zerstreut. Mein Name ist Marmaduc Chobbin, — Rechtsanwalt Chobbin aus der Zentralstraße.“

Er trat an Glosters Schreibtisch heran und nahm den Telephonhörer ab, rief hinein:

„Bitte Amt siebzehn, Nummer 191938. Hier Chobbin. Ah — da sind Sie ja, Belgrave. Ich kann erst gegen Mitternacht im Klub sein, Wiedersehen!“

Er legte den Hörer wieder weg, nahm auf dem Sofa Platz und sagte:

„Sie sollen ein sehr geschickter Wundarzt sein, Mr. Gloster. Ich habe nun seit gestern wieder so furchtbare Schmerzen im linken kleinen Finger, daß ich Sie bitten möchte, mir dieses Scheusal von Finger zu amputieren.“

„Wie?!“ rief der junge Arzt. „Amputieren?! Ist das denn nötig?! Zeigen Sie mir den Finger doch erst einmal.“

„Die Sache ist die,“ erklärte Chobbin mit unerschütterlicher Ruhe. „Ich habe mir den Finger mal schwer gequescht. Der Fingernagel ist nicht mehr nachgewachsen. Seitdem habe ich bei feuchtem Wetter stets diese gräßlichen Schmerzen.“

Er zog den linken Handschuh ab und hielt Gloster die Hand hin.

Gloster untersuchte den Finger. Das oberste Glied war nur noch eine formlose, knallrote Masse. Die Quetschung mußte jedoch schon lange Zeit zurückliegen.

„Die Schmerzen werden wohl nervöser Art sein.“ meinte Gloster nun. „Vielleicht hilft Elektrisieren.“

„Unsinn!“ rief Chobbin grob. „Das hat schon ein Dutzend Ärzte versucht!“

Er griff in die Manteltasche und warf mehrere Banknoten auf den Tisch.

„Da sind 3000 Dollar. Wollen Sie oder wollen Sie nicht?“

Der junge Arzt überlegte. Er sagte sich, daß dieser Advokat doch fraglos Schmerzen haben müsse. Anderseits kam ihm dessen Ansinnen so seltsam vor, daß er sich eines leisen Argwohns nicht erwehren konnte, Chobbin sei tatsächlich nicht ganz bei klarem Verstande.

Nach einigem Hin und Her von Fragen und Antworten erklärte Gloster schließlich:

„Ich müßte die Operation in Narkose vornehmen. Dazu brauche ich einen zweiten Arzt.“

„Blech — Narkose! Ich bin kein Waschweib! Runter mit dem Finger! Ich habe schon mehr ausgehalten als das! Fünftausend — nein, zehntausend Dollar, wenn die Sache in einer halben Stunde erledigt ist.“

Gloster unterlag der Verführung des Geldes.

Die Operation war in zwanzig Minuten getan. Chobbin hatte nicht mit der Wimper gezuckt.

„Packen Sie mir den Finger ein!“ sagte er nun. „Hier haben Sie Ihr Geld. Rasch doch, zum Teufel. Ich muß in den Klub.“

Drei Minuten später war Gloster wieder allein. Als er jetzt an seinen Schreibtisch ging, um die zehntausend Dollar wegzuschließen, sah er, daß die Schnur des Kolonnenapparats zerschnitten war.

In maßlosem Erstaunen stierte er auf den Apparat.

Nur Chobbin konnte mit einer bereitgehaltenen Schere während des Telephongesprächs mit Belgrave die Schnur durchgeschnitten haben.

Aber — wozu das?! Wozu?!

Gloster ließ sich in den Schreibsessel fallen und grübelte.

„Dann versuchte er die Schnur zu flicken. Es gelang ihm auch. Nachdem er die Drahtenden richtig verbunden hatte, verlangte er eine bestimmte Nummer.

„Hier Doktor Gloster, Drisby-Straße 112,“ meldete er sich.

„Hier Nic Pratt —“

„Mr. Pratt, entschuldigen Sie, wenn ich Sie so spät noch störe. Mir ist da —“

Er schwieg.

Von unten aus der Kellerwohnung des Tischlers Orbiton war ein heiserer Hilferuf erklungen.

„Der dumpfe Schrei wiederholte sich —

Der Detektiv Pratt fragte durch den Fernsprecher:

„Mr. Gloster, was gibt’s denn?“

„Kommen Sie bitte sofort. Es — es schreit da eine Frau um Hilfe. Ich muß sehen, was in der Kellerwohnung der Orbitons vorgefallen ist —

„Gut. In fünf Minuten bin ich bei Ihnen —“

 

 

2. Kapitel.

Pratt zeichnet den Ledersessel.

Nic Pratt hatte gerade einen Klienten, einen älteren Seemann, bei sich gehabt, als Doktor Gloster ihn angeläutet hatte.

Dieser Seemann war gegen zehn Uhr abends bei Pratt erschienen und hatte sich als Kapitän Thomas Porax vorgestellt.

Porax, der einen ganz verängstigten Eindruck machte, hatte sofort dem berühmten Detektiv sein Leid geklagt.

„Verdammt, Mr. Pratt,“ hatte er begonnen, „ich habe mir doch die Winde aller Erdteile um mein blaurotes Riechorgan wehen lassen. Ich. habe mich in Australien mit Buschniggern, auf den Sunda-Inseln mit malaiischen Piraten und auf den Hebriben-Inseln mit richtigen Menschenfressern herumgeschlagen. Furcht ist mir was Unbekanntes. Aber das, was ich da heute erlebt habe, Mr. Pratt, das ist schlimmer als ein Orkan und ein leckes Schiff! — Ich will mich kurz fassen. Ich war beute um acht Uhr, also vor zwei Stunden, in der Hafenkneipe von Mutter O’Greal gelandet. Dort machte sich so ein Kerl an mich heran, son Schlepper für üble Lokale, und fragte, ob ich mir einen menschlichen Hahnenkampf ansehen wolle.“

Pratt schüttelte den Kopf. „Menschlichen Hahnenkampf?! Davon habe ich noch nie was gehört,“ meinte er erstaunt.

„Ja, ja, ich auch nicht. Also der Kerl nahm mich für drei Dollar mit in einen halb verfallenen Speicher, wo bereits einige vierzig Personen um eine Art Arena versammelt waren. Petroleumlampen erleuchteten die kleine Bühne. Dann hüpften zwei Kerle auf das Podium, die eine Art Haube aus Hahnenfedern und sonst nur Badehosen und an jeder Ferse angeschnallt ein krummes Messer trugen. Den beiden „Hähnen“ waren die Arme am Körper festgebunden, so daß sie sich nur mit den Hacken und den Fußmessern bearbeiten konnten. Jedenfalls: es war wirklich eine Art Hahnenkampf, und die Kerle verstanden es großartig, sich mit den Messern gehörige Stiche beizubringen. Plötzlich machte dann der eine einen Satz, warf den anderen zu Boden, und — da war es um diesen geschehen.“

„Wie — eine tödliche Wunde?“

„Ja — mehrere sogar. Die Geschichte war mir doch zu arg. Ich forderte die Zuschauer auf, den Mörder festzunehmen. Da kam ich aber übel an. Wenn ich nicht geflüchtet wäre, hätte man mich als Störenfried böse zugerichtet. Ich kletterte über ein paar Zäune, kletterte über zwei Dächer und war froh, als ich in einer engen Gasse endlich landete, wo ich mich sicher wähnte. Falsch spekuliert, Mr. Pratt! Zwei Leute blieben hinter mir, und in dem ekelhaften Nebel kam es zwischen den beiden und mir zu einem erbitterten Kampf. Da —“ er zeigte Pratt seine von Messerstichen zerfetzte Jacke — „da sehen Sie, wie heiß es hergegangen ist! Hier mit diesem Dolchmesser habe ich mich verteidigt. Endlich konnte ich im Nebel wieder verschwinden. Ganz atemlos stürzte ich in eine Bar. Und hier mußte ich zu meinem Schreck feststellen, daß mir bei der Rauferei eine Brieftasche mit 180000 Dollar gestohlen war, die ich heute nachmittag für meine Reederei als Frachtlohn, einkassiert hatte. Ein in der Bar anwesender Kollege riet mir, mich an Sie zu wenden. So bin ich denn hierher geeilt. Ja — denken Sie: die beiden Schufte hatten mir abermals aufgelauert! Mit Mühe und Not entwischte ich ihnen. Beinahe hätten sie mich in dem verdammten Nebel niedergestochen. Sie verloren jedoch meine Spur, und ich danke Gott, daß ich lebend hier in Ihr Häuschen gelangte. — Mr. Pratt, fünftausend Dollar sollen Sie haben, wenn Sie mir wieder zu dem Gelde verhelfen. Ich bin ruiniert; man wird mich entlassen! Ich muß die 180000 Dollar —“

Und in diesem Moment hatte dann das Telephon angeschlagen und Gloster sich gemeldet.

Nachdem Pratt dessen Meldung entgegengenommen hatte, sagte er zu Kapitän Porax:

„Am besten ist, Sie begleiten mich. Wir können dann sofort auch Ihren Fall in Arbeit nehmen. In der Drisby-Straße braucht man meine Hilfe. Vorwärts — gehen wir!“

Als die beiden Männer Pratts behagliches Heim verlassen und die Straße betreten hatten, nahm der Detektiv seinen Revolver in die Rechte.

„Bleiben Sie dicht hinter mir, Mr. Porax,“ sagte er leise. „Sollten Sie etwas Verdächtiges bemerken, dann geben Sie mir einen leichten Schlag auf die Schulter.“

Der gelbbraune Nebel hüllte sie bald wie ein zähes Gewebe ein. Pratt hatte die Augen überall. Aber in dieser Dunkelheit durfte er sich lediglich auf sein Gehör verlassen. Die Augen nutzten hier nicht viel.

A1s sie etwa fünf Minuten so dahingeschritten waren, vernahm Pratt dicht hinter sich einen dumpfen Aufschrei und ein Geräusch, als würde ein Körper über das Pflaster geschleift.

Er fuhr herum.

Porax war verschwunden.

Und — ringsum jetzt tiefe, unheimliche Stille.

Dies ereignete sich in der Drisby-Straße unweit des Hauses Doktor Glosters.

Pratt kannte ganz Neuyork wie seine Tasche. Er wußte ganz genau, daß er sich hier in der Nähe von Nr. 112 befand. Er lauschte mit angehaltenem Atem, Doch — nichts — gar nichts war zu hören.

Er begriff sehr wohl, was geschehen war. Man hatte dem Kapitän offenbar einen Lasso über den Kopf geworfen und den mit einem Ruck halb Erwürgten in die feuchten Nebelmassen hineingezerrt.

Pratt faßte seinen Revolver fester. Auch er konnte jeden Augenblick mit einem solchen Überfall rechnen.

Nun glaubte er irgendwie in seiner Nähe schleichende Schritte zu vernehmen.

Er duckte sich zusammen.

Zu sehen war nichts.

Nic Pratt schloß die Augen, um noch schärfer auf jedes Geräusch achtgeben zu können.

Dann jedoch ward er von hinten urplötzlich niedergeworfen. Zwei oder drei Leute lagen auf ihm, hatten seine Arme gepackt und preßten ihm die Kehle zu.

Er wehrte sich verzweifelt. Er bekam die rechte Hand frei und feuerte drei — vier Schuß schräg nach oben.

Ein gellender Schrei.

Flüche — Stöhnen.

Dann ein furchtbarer Hieb, und Pratt sank betäubt mit dem Gesicht auf das feuchte Pflaster.

Zum Glück hatte seine dicke Sportmütze, die außerdem eine Korkeinlage als Schutzvorrichtung besaß, den Hieb so stark abgeschwächt, daß die Bewußtlosigkeit nur wenige Minuten anhielt.

Pratt kam wieder zu sich. Er lag bereits, zu einem wehrlosen Bündel zusammengeschnürt, in einem Boot, das durch taktmäßigen Ruderschlag schnell vorwärtsgetrieben wurde.

Ein Mann von den vielfachen Erfahrungen Nic Pratts konnte mit Leichtigkeit aus dem Geräusch der Ruder entnehmen, daß mindestens vier Leute ruderten, und zwar so, wie es mir geübte Seeleute tun.

Da ein Knebel Pratts Mund verschlossen hielt und ein dickes Tuch ihm über die Augen gebunden war, mußte er sich abermals nur auf sein Gehör verlassen. Er lag ganz still. Aber je klarer seine durch den Hieb vorhin in Unordnung geratenen Gedanken wurden, desto fester war er überzeugt, daß dieses Abenteuer auf einem Seeschiffe vorläufig enden würde.

Er irrte sich nicht. Das Boot legte knarrend an einem Fallreep an. Man hob ihn auf und trug ihn an Deck, dann eine Schiffstreppe hinab in einen von zarten Wohlgerüchen erfüllten Raum.

Pratts Kombinationstalent ließ ihn vermuten, daß dieser Raum die elegante Kajüte einer großen Privatjacht sei. Ein Handelsfahrzeug duftet in allen Teilen nach anderen Dingen, nicht nach Parfüm.

Nun wurde er in einen Sessel gesetzt.

Er fühlte: es war ein Ledersessel.

Er spielte weiter den Bewußtlosen, sank hintenüber und blieb in dieser Stellung regungslos.

Ja — ein Klubsessel war’s! Da man Pratt die Hände auf den Rücken gefesselt hatte, konnte er mit den Fingernägeln der rechten Hand ganz leicht an einer Stelle die Oberschicht des Leders wegkratzen, ohne daß dies durch ein Geräusch den in der Kajüte Anwesenden verraten wurde.

Er hörte andauernd leises Flüstern und jetzt auch den halblauten Ausruf einer Männerstimme:

„Ich hoffe, daß er nicht ernstlichen Schaden genommen hat!“

Dann rüttelte ihn jemand. Eine weiche Hand fühlte nach seinem Puls.

Da — neue Geräusche: mehrere Leute betraten offenbar die Kajüte.

Wieder Flüstern.

Und nun hob man ihn rasch empor, trug ihn wieder an Deck und das Fallreep hinab in ein Boot.

Pratt, Neuyorks mit Recht bekanntester Detektiv, hatte Gelegenheit, durch Ohr und Nase abermals manches Wichtige festzustellen.

Das Boot, in dem er jetzt lag, mußte ein frisch geteerter Nachen sein, der ohne Frage durch ein Ruderboot geschleppt wurde.

Pratt merkte weiter, daß die beiden Böte in großen Schleifen ständig auf derselben Stelle fast umherruderten. Dies dauerte wohl eine Viertelstunde.

Nic lächelte über das plumpe Manöver. Man wollte ihn glauben machen, daß die Böte eine weite Strecke zurücklegten. Daher die Schleifenfahrt!

Dann entfernte sich das Boot, welches den nach Teer duftenden Nachen geschleppt hatte.

Dieser Nachen lag jetzt still, schaukelte nur ganz wenig und ruckte zuweilen leicht — ganz so, als ab er an einem Tau irgendwo befestigt wäre.

Stille — tiefe Stille.

Pratt war überzeugt, daß der Nachen tatsächlich am Kai an einer Anlegebrücke festgebunden worden war.

Er setzte sich aufrecht.

Da — dicht vor ihm ein heiserer Laut aus menschlicher Kehle.

Pratt verhielt sich ruhig.

Wieder dieses heisere, seltsame Grunzen.

Da wußte Pratt Bescheid: er war hier im Nachen mit einem zweiten geknebelten Gefangenen zusammen.

 

 

3. Kapitel.

Der Tischler Mac Orbiton.

In wenigen Minuten hatte er die Hände frei. Er besaß ja Übung darin, seine Hände aus den Schlinge eines Strickes herauszuwinden.

Er riß das Tuch von den Augen und den Knebel aus den Munde.

Vor ihm, um ihn her nichts als der dicke Nebel.

Aber sehr bald hatte er, als er sich über die Ruderbank beugte, seinen Leidensgefährten entdeckt.

Er nahm nun den Leuchtstab aus der Tasche, schaltete den Strom ein und ließ den kleinen Lichtkegel auf den anderen Mann fallen.

Er sah, daß dieser Mann gut gekleidet war. Er befreite ihn rasch von dem Knebel und der breiten Augenbinde und fragte leise:

„Wer sind Sie?“

„Doktor Edward Gloster!“

Pratt pfiff durch die Zähne. „Aha — Doktor Gloster! Kennen Sie mich?“

„Herr im Himmel — sollten Sie Nic Pratt sein ?“ stieß Gloster hervor.

„Allerdings. Der bin ich!“ lachte Pratt. „Nette Art uns kennen zu lernen!“

Er löste Glosters Fesseln.

„Klettern wir auf den Bootssteg, Mr. Gloster,“ sagte Pratt mit größter Ruhe. „So — hopla! Da sind Sie schon oben! Gehen wir zu Ihnen nach Hause. Erzählen Sie.“

Gloster wunderte sich über Pratts seltsame, so kurz angebundene Art. Er berichtete nun von Mr. Marmaduc Chobbin, dem Rechtsanwalt, von dem linken kleinen Finger und der durchgeschnittenen Telephonschnur.

„Einen Chobbin, einen Rechtsanwalt Chobbin, gibt es in Neuyork nicht,“ meinte Pratt dann, als Gloster den ersten Teil seines Abenteuers beendet hatte. „Der Mann war also ein Schwindler, Mr. Gloster. So — was geschah dann?“

„Nachdem ich Ihnen telephoniert hatte, eilte ich auf die Straße und klopfte bei Mac Orbiton an. Die Tür zum Keller liegt neben der Haustür. Da niemand öffnete, drückte ich auf die Klinke des Schlosses. So stellte ich fest, daß die Tür gar nicht verschlossen war. Ich schaltete meine Taschenlampe ein und fand in Orbitons Wohnstube die Frau des Tischlers gefesselt und geknebelt auf dem Sofa liegen.“

„Aha — Nummer drei! Erst ist also Frau Orbiton gefesselt worden, dann wir beide!“

„Ganz recht, Mr. Pratt. Denn wie ich noch so neben dem Sofa stand und mir dachte, welch feines Gesicht das junge Weib doch hatte, wie ich sie dann von dem Knebel und den Stricken erlösen wollte, wurde mir von hinten der Hals —“

„Schon gut, Mr. Gloster. Sie wurden gewürgt und dann weggeschleppt. Sie kamen in eine Kajüte, wo es stark nach Parfüm roch.“

„Ja, Mr. Pratt. Als ich an Deck dieses Schiffes geschafft wurde, hörte ich, wie ein Mann dem andern zuflüsterte: „Er hat Gwinborg erschossen!“

„Stimmt — einen habe ich erschossen, freilich in der Notwehr — Hörten Sie noch etwas?“

„Nein, nichts.“

„Nun es genügt auch.“

Sie waren in der Drisby-Straße angelangt.

„Besichtigen wir Mac Orbitons Kellerwohnung,“ meinte Pratt.

Die Tür war jetzt verschlossen. Pratt zog den Patentdietrich hervor. Gleich darauf sprang der Riegel zurück.

Und — sie fanden auf dem Sofa in Mac Orbitons Wohnstube nichts mehr vor — nichts!

Frau Orbiton war verschwunden

Pratt durchsuchte die vier Räume des Kellers aufs allergenaueste. Als er in die Schlafstube des Ehepaares kam, die nach dem Hofe hinaus lag, war er erstaunt über den geradezu kostbaren Frisiertisch und die ebenso kostbare silberne Toilettengarnitur, die auf dem Tische lag. Die anderen recht spärlichen Möbel standen in grellem Widerspruch zu diesem einen wertvollen Möbelstück, waren ärmlich und offenbar für alt gekauft.

Doktor Gloster war ebenfalls überrascht.

„Kennen Sie das Ehepaar Mac Orbiton genauer?“ fragte Pratt ihn, indem er den Ofen der Schlafstube nun ebenfalls durchsuchte.

„Nur von Ansehen. Sie zogen etwa vor acht Monaten ein. Es fiel mir auf, daß die Frau einen so überaus vornehmen Eindruck machte. Auch ihr Mann ist ein bildhübscher Kerl. Der eheliche Frieden wurde dann jedoch sehr bald dadurch gestört, daß Mac Orbiton zu trinken begann und wenig arbeitete, obwohl er als Kunsttischler reichlich zu tun gehabt hätte. Weiter vermag ich nichts anzugeben.“

Pratt hatte die Asche aus dem Ofen herausgeworfen.

„Alles verbrannte Papiere, Briefe anscheinend,“ meinte er.

Er zog ein paar braun verfärbte Briefreste hervor, besichtigte sie und legte sie in sein Taschenbuch.

Das Geräusch einer knarrenden Tür ließ die beiden Männer dann herumfahren.

Vor ihnen standen drei Polizeibeamte in Uniform und ein Herr in Zivil. Dieser rief jetzt:

„Teufel, Sie sind’s, Nic! Was treiben Sie hier?“

Es war der Neuyorker Detektivinspektor Stuart Grablay, Pratts Freund. Er schüttelte Pratt die Hand, stellte sich Gloster vor und fügte hinzu:

„Einer der Beamten dort hörte vor etwa anderthalb Stunden Schüsse hier in der Drisby-Straße, konnte aber nichts darüber feststellen. Ich war gerade hier in der Nähe, da ich einer Bande von Gaunern auf der Spur bin, und so legten wir uns in der Straße auf die Lauer. So kam es, daß Sie, Pratt, und der Doktor beobachtet wurden, wie Sie das Haus betraten, besser die Kellerwohnung.“

„Ich habe Ihnen viel zu erzählen, Grablay,“ meinte Pratt gedankenvoll. „Schicken Sie Ihre Leute nur weg.“

Als die drei Herren allein waren, berichtete erst Gloster sein seltsames Erlebnis mit dem angeblichen Rechtsanwalt. Dann schilderte Pratt den Besuch des Kapitäns Porax und äußerte sich zum Schluß dahin, daß er jetzt überzeugt sei, Porax habe ihn nur auf die Straße locken wollen, indem er ihm die gut erfundene Geschichte von dem menschlichen Hahnenkampf auftischte.

„Nein,“ sagte der Inspektor da. „Das stimmt nicht ganz, lieber Nic. Diese Geschichte beruht auf Wahrheit. Ich erwähnte schon daß ich hinter einer Verbrecherbande her bin. Diese Burschen lockten Fremde als Zuschauer zu sogenannten menschlichen Hahnenkämpfen in einen unbenutzten Speicher und plünderten sie dort aus. Wir haben vor zwei Stunden drei dieser Banditen in dem Speicher noch festnehmen können „

„Ah — und der Tote?“

„Den haben wir nicht gefunden, haben allerdings auch nicht gesucht. Wir wußten ja nicht, daß einer der „Hähne“ dabei ums Leben gekommen war.“

Pratts zerstreuter Gesichtsausdruck fiel Grablay auf.

„Woran denken Sie, Nic?“ fragte er lauter „Sie hören ja gar nicht zu!“

„Ich! Ich denke rückwärts, lieber Grablay. Neun Monate rückwärts — Richtung England! Sie kennen ja mein fabelhaftes Gedächtnis, Grablay. Was ich einmal gelesen habe, vergesse ich nie mehr. — Ich möchte jetzt diese Räume weiter durchsuchen. Da führt eine Tür in die Küche. Kommen Sie!“

Grablay und Gloster folgten Pratt. Neben der Küche lag noch eine langgestreckte Kammer. Hier hatte Orbiton Bretter, leere Kisten und anderes aufgestapelt. Als Nic jetzt die Kisten von der Rückwand weggeräumt hatte, zeigte sich eine mit Kalk geweißte kleine Tür. Sie war nur mit einem Riegel versehen. Dahinter gab es ein viereckiges Loch in der Mauer, vor dem ein Berg Fässer aufgestapelt war. Einige Fässer hatten keinen Boden und waren wie Röhren aneinandergefügt, führten im Zickzack als Weg durch den Stapel hindurch und gestatteten so, bis auf den Hof eines anderen Grundstücks zu gelangen.

Pratt kroch durch die leeren, halb verfaulten Fässer ins Freie. Auch Grablay und Gloster scheuten sich nicht, ihre Anzüge hier zu beschmutzen. Die drei Herren standen nun in einem kleinen, ebenfalls nebelerfüllten Hofe.

„Wenn man nur etwas sehen könnte!“ brummte Grablay. „Dieser Stapel Fässer erinnert mich —“

Er schwieg plötzlich.

Von irgendwoher war ein qualvolles Stöhnen an sein Ohr gedrungen.

„Was war das?“ fragte Gloster bestürzt. Auch er hatte das Stöhnen vernommen.

„Still!“ flüsterte Pratt. „Horchen wir!“

Da — wieder das Stöhnen.

Pratt tat ein paar Sätze nach rechts hin, verschwand in den gelbbraunen Schaden.

„Hierher!“ rief er dann. „Hierher!“

Grablay und Gloster eilten zu ihm, fanden ihn.

Er kniete neben einem auf dem Bauche liegenden Menschen, leuchtete ihm ins Gesicht.

„Orbiton!“ sagte Gloster leise. „Es ist der Tischler Mac Orbiton!“

Auch Grablay bückte sich.

„Bewußtlos!“ meinte er und legte den Tischler auf den Rücken.

Pratt deutete auf die blutbefleckten Kleider Orbitons.

„Es ist der tote ‚Hahn‘,“ erklärte er.

„Ja,“ bestätigte Grablay. „Dies hier ist auch der Hof des leeren Speichers.“

Pratt begann schon den Stapel Kisten wegzuräumen. Gloster half ihm. Dann trugen sie den Schwerverwundeten in Glosters Wohnung. Der junge Arzt verband ihn.

„Die Verletzungen sind nicht gerade lebensgefährlich,“ meinte er. „Nur der starke Blutverlust hat die Ohnmacht verschuldet.“

Grablay blickte Pratt fragend an.

„Werden Sie aus der Geschichte klug?“ fragte er kopfschüttelnd. „Hängt nun Glosters Erlebnis mit dem angeblichen Chobbin mit dieser Sache irgendwie zusammen?“

„Ja!“ erklärte Pratt sehr bestimmt.

Dann ging er an Glosters Schreibtisch und nahm den Telephonhörer ab, verlangte die Nummer 1911, Bezirk 11.

„Ha — das ist ja die Nummer der Zuchthausverwaltung Sing-Sing!“ rief Grablay ganz sprachlos. (Sing-Sing ist das größte Zuchthaus in der Nähe Neuyorks.)

 

 

4. Kapitel.

Lord Mac Temesfoore.

„Hier Nic Pratt,“ meldete der berühmte Detektiv sich. „Ah, M. Dobsal. Sie sind mitten in der Nacht im Verwaltungsgebäude? Was ist denn passiert? Ist einer Ihrer Zöglinge geflüchtet?“

Der Zuchthausdirektor Dobsal fluchte. „Ja, Mr. Pratt! Der verdammte Rebel! Da hat irgend ein Freund des Banknotenfälschers Goorp den Rebel benutzt und sich vom Dache bis zum Fenster von Goorps Zelle —“

„Also Goorp ist entflohen,“ unterbrach Pratt ihn. „Wann denn?“

„Es muß so gegen sieben Uhr abends gewesen sein.“

„Hatte Goorp nicht einen verstümmelten Finger?“

„Ganz recht. Das Oberglied des linken kleinen Fingers war mal zerquetscht worden.“

„Danke. Genügt mir. Schluß, Mr. Dobsal.“

Pratt drehte sich nach Gloster um.

„Ihr Patient war also Thomas Goorp, der Fälscher,“ sagte er. „Goorp ist aus Sing-Sing mit Hilfe eines Freundes entsprungen und wollte sein gefährlichstes Kennzeichen, den linken kleinen Finger, loswerden. Dieser Finger hat ihn stets verraten. Er hat bereits viermal im Zuchtbaus gesessen.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es Grablay. „Also Thomas Goorp. Man behauptet, daß der Kerl ungeheure Schätze an Juwelen drüben in England versteckt haben soll. Einbrecher ist er ja ebenfalls.“

Pratt nickte. „Und bekanntlich heißt er gar nicht Goorp, lieber Grablay, sondern —“

Sein Blick war auf Orbiton gefallen, der auf dem Diwan lag.

„Ah — Sie sind bei Bewusstsein, Orbiton,“ fügte er rasch hinzu „Sollten Sie nicht in Wahrheit Pellham sein, jener Fred Pellham, der als Spießgeselle Goorps von der Polizei gesucht wird?“

Orbitons Gesicht verzerrte sich.

„Der — der Schuft hat mich hintergangen!“ hauchte er haßerfüllt. „Ich will alles gestehen. Ich bin nur als Orbiton nach Neuyork gekommen, um Goorp zu befreien. Er hatte mir Nachricht geschickt, daß er mir eine Million Dollar geben würde, wenn ich ihm zur Flucht verhelfen wollte. Gestern abend gelang es mir, ihn —“

„Weiter!“ drängte Pratt. „Das wissen wir schon. Goorp hat Sie dann im Stiche gelassen?“

„Er entwischte mir. Da merkte ich, daß er mich betrogen hatte. Ich hatte ihm erzählt, daß hier in diesem Hause ein Arzt wohnt, der ihm den Finger —“

„Gut — weiter! — Und wesshalb haben Sie Ihre Frau gefesselt und geknebelt?“

„Darüber verweigere ich die Aussage! Wo ist Mary? Ich möchte sie sehen, bevor ich sterbe.“

„Mit dem Sterben hat’s noch Zeit, Pellham. Ihre Frau ist — verschwunden!“

Pellham stierte Pratt wild an.

„Verschwunden?!“ keuchte er. „Das — das glaube ich nicht! Mary hat mich —“

Er preßte plötzlich die Lippen fest zusammen. Ein paar Tränen rollten ihm über das bleiche Gesicht.

Grablay und der junge Arzt standen in fassungslosem Staunen dabei. Sie begriffen nichts von den Ursachen dieser tiefen Gemütsbewegung.

Pratt schaute dem bleichen, jetzt so verstörten, Mann mit einem gewissen Mitgefühl in das beinahe edle Antlitz.

„Weshalb wurden Sie Trinker?“ fragte er dann. „Aus Verzweiflung etwa? Hatten Sie so wenig Arbeit, daß Sie Ihr Weib nicht ernähren konnten?“

„Ja — ja!“ murmelte Pellham. „Nur deshalb? Und dann auch — das Gewissen!“

„Und die Hahnenkämpfe? Wurden Sie dafür gut bezahlt?“

Pellham nickte. „Es war der letzte Versuch, Geld zu beschaffen. Ich — ich gab mich gestern zum ersten Male dazu her. Ich bin sportgeübt. Ich ahnte nicht, daß mein Gegner es auf mein Leben abgesehen hatte.“

„Man wollte Sie also töten? Weshalb?“

„Das — das weiß ich nicht. Man warf mich wohl für tot in die Müllgrube des Speichers und häufte faules Stroh über mich. Als ich wieder etwas bei Kräften war, kroch ich hervor. Dann fanden Sie mich.“

Pratt winkte Grablay. „Gehen wir. Ich werde Ihnen die Leute zeigen, die Pellham beseitigen wollten.“

Er drückte Gloster die Hand. „Auf Wiedersehen. Sorgen Sie gut für den Patienten. Es ist — der jüngste Sohn Lord Temesfoores, des großen englischen Kohlenmagnaten.“

Pellham wurde flammend rot.

„Auf Wiedersehen, Lord Mac Temesfoore,“ sagte Pratt. „Mary wird Ihnen verzeihen.“

Dann verließ Pratt das Zimmer. Grablay folgte ihm, hatte tausend Fragen auf den Lippen.

Hastig schritten sie dem Hafen zu. „Unterdrücken Sie Ihre Neugier, lieber Grablay,“ meinte Pratt. „Sie werden nachher nichts mehr zu fragen haben.“

 

 

5. Kapitel.

Goorps Werkzeug.

Der Detektivinspektor schwieg denn auch eine geraume Weile, konnte aber doch auf die Dauer dem Verlangen nicht widerstehen, Pratt zu fragen, wohin er ihn führe.

Sie hatten inzwischen den Hafen erreicht, und der Detektiv erwiderte nun, indem er ein Boot loskettete: „Übermorgen findet vor Long Island das große Motorbootrennen statt. Es ankern daher jetzt hier im Innenhafen gegen zwei Dutzend große Privatjachten, deren Besitzer zumeist ausländische Industrielle sind. Auf einer dieser Jachten werden wir Mary Orbiton antreffen, ebenso den angeblichen Kapitän Thomas Porax und Marys Bruder Richard. Es ist dieselbe Jacht, auf die man mich und Doktor Gloster gebracht hatte; es ist die Jacht Thetis, die dem Bootsmotorfabrikanten Richard Barne gehört.“

Sie stiegen in das Boot. Pratt begann zu rudern.

Grablay schien nachzudenken. Dann rief er leise: „Ah — Mary Barne entfloh vor acht Monaten mit ihrem Chauffeur. Die Geschichte erregte größtes Aufsehen. Ganz England sprach nur von diesem Liebesroman der reichen Mary.“

„Ja, lieber Grablay, dieser Chauffeur war Lord Mac Temesfoore. Marys Bruder Richards wandte sich damals an mich, damit ich die beiden suchte. Ich hatte jedoch gerade mit —“

Er ließ die Ruder schleppen und horchte in den gelbbraunen Nebel hinein.

„Was gibt’s?“ fragte Grablay. „Mir war’s, als hörte ich einen kurzen Aufschrei. Sie auch, Pratt?“

Nic erwiderte nichts. Er lauschte offenbar angestrengt.

Dann griff er wieder nach den Rudern. „Dort drüben ankert die Thetis,“ sagte er hastig zu Grablay — „Der Schrei kann von dort gekommen sein. Jetzt aber höre ich etwas anderes, nämlich das Quietschen von Ruderdollen. Da entfernt sich ein Boot sehr eilig von der Jacht. Ich möchte ihm den Weg verlegen. Mary Barne dürfte —“

Und wieder führte er den Satz nicht zu Ende: wieder horchte er, legte sich dann mächtig in die Riemen und trieb den leichten Rachen blitzschnell vorwärts, ließ die Ruder dann abermals sinken und lauschte.

Da — ganz dicht das kennzeichnende Geräusch schlecht geölter Ruderdollen.

Und nun wuchs aus der Nebelflut ein anderes Boot wie ein formloser dunklerer Fleck heraus.

Pratt hatte bereits den Bootshafen ergriffen, hatte die eiserne Spitze in das vordere Sitzbrett geschlagen, rief gleichzeitig:

„Hallo, Master, wollt Ihr uns rammen?! Bei solch dicker Luft ist man doch vorsichtiger!“

Der einzelne Mann in dem anderen Boot hatte sich umgedreht.

„Hallo — entschuldigt, Master!“ erwiderte er höflich. „Ich hab’s eilig. Auf unserem Dampfer ist jemand erkrankt. Soll einen Arzt holen.“

Grablay versuchte umsonst, von dem Manne etwas zu erkennen. Er wunderte sich, daß Pratt das fremde Boot überhaupt angehalten hatte.

„Da habt Ihr Glück, Master!“ erklärte Nic nun nach kurzer Pause. „Großes Glück! Ich bin Arzt also los — steigen Sie zu uns herüber und ketten sie Ihr Boot an dem unseren fest.“

Der Mann zögerte und brummte sehr unwirsch: „Geht nicht, Master. Soll Doktor — Doktor Smitson holen!“

Pratt hatte jetzt beide Böte dicht nebeneinander gedrückt und umklammerte mit der Linken den Rand des anderen Nachens.

„Hm — Doktor Smitson?!“ meinte er und faßte mit der Rechten in die Jackentasche. „Wirklich Smitson?! Nicht etwa Doktor Gloster, der heute jemand den linken kleinen Finger abschneiden mußte?! Ihr habt da einen Verband an der linken Hand, Master, einen weißen Verband! Ob Ihr etwa Thomas Goorp seid?“

Bei den letzten Worten flog sein rechter Arm empor. Seine Stimme wurde hell und durchdringend.

„Hände hoch, Thomas Goorp!“ befahl er. „Ich bin Nic Pratt, und dort sitzt Inspektor Grablay! Der Verband hat Euch verraten!“

Goorp fluchte, reckte aber doch die Arme empor und ließ sich von Grablay fesseln.

Pratt durchsuchte dann das Boot, was den Verbrecher merkwürdig unruhig machte. Als der Detektiv nun gar die Bodenbretter aufhob, wollte er sich losreißen und konnte von Grablay nur mit Mühe auf die Ruderbank zurückgedrückt werden.

Pratt, der seinen Leuchtstab eingeschaltet hatte, hob jetzt ein flaches Kästchen empor. — „Hier sind die Juwelen Mary Barnes!“ sagte er zu dem vor Wut förmlich schäumenden Goorp. — Sie Schurke haben Mary die Schmucksachen soeben irgendwie abgeschwindelt! — Vorwärts, Grablay! Zur Thetis! — Dort soll auch Richard Barne den Beweis erhalten, daß Lord Mac Temesfoore nur ein Verführter und ein Werkzeug dieses Lumpen war.“

Kaum fünf Minuten später legten die beiden Boote am Fallreep der Jacht an. Der wachthabende Matrose erklärte, Mr. Barne sei nicht zu sprechen. Grablay schob ihn beiseite. „Ich bin Detektivinspektor Grablay,“ sagte er kurz. „Geben Sie auf den Gefangenen dort acht!“

Pratt war schon an Deck. Hastig eilten sie Freunde die Treppe zur großen Kajüte hinab. Pratt klopfte an die Tür. Dann wurde diese von innen aufgerissen. Ein schlanker, blondbärtiger Mann stand ihnen gegenüber. Ein zweiter in Seemannstracht saß links in einem Ledersessel.

Grablay stellte sich vor, nannte auch Pratts Namen und fügte hinzu:

„Was wir von Ihnen wünschen, wird Ihnen Pratt mitteilen, Mr. Barne.“

Pratt drückte die Tür ins Schloß und schritt auf den Seemann zu. „Sie sind Mr. Parock, Kapitän der Thetis,“ sagte er kurz. „Bei mir nannten Sie sich Porax. Sie sollten im Auftrage Mr. Barnes, der seine Schwester gewaltsam ihrem Gatten Mac Temesfoore entführen wollte, mich in einen Hinterhalt locken, damit ich nicht etwa von Mac zu Hilfe gerufen werden könnte.“

Richard Barne war näher herangetreten. „Sie befinden sich in einem großen Irrtum, Mr. Pratt,“ fiel er dem berühmten Detektiv ins Wort. „Meine Schwester ist mir völlig gleichgültig, seitdem sie sich an einen Verbrecher weggeworfen hat. Ich habe gegen Sie nichts unternommen, und —“

Pratt hatte eine befehlende Handbewegung gemacht. „Bitte, Mr. Barne,“ sagte er durchaus höflich. „hier ist der Beweis, daß ich an Bord der Thetis war!“ Und er deutete auf die Rückenlehne eines zweiten Ledersessels. „Dort habe ich die Oberschicht des Leders weggekratzt.“ Dann zog er den schwarzen Juwelenkasten unter der Jacke hervor. „Temesfoor ist mehr zu bedauern, als zu verurteilen. Goorp hat ihn zu all den Schandtaten verführt, hat ihn halb und halb dazu gezwungen. Im Ofen der Kellerwohnung fand ich ein paar verkohlte Briefreste. Die noch lesbaren Zeilen verrieten mir, daß Goorp den jungen Lord völlig in seiner Gewalt hatte, weil Temesfoore in seiner Jugend sich zu einer Wechselfälschung verleiten ließ. Goorp drohte, ihn anzuzeigen, und schuf sich so ein willenloses Werkzeug. Mac Temesfoore suchte dann sich und seine Frau hier durch seiner Hände Arbeit zu ernähren. Er war zu stolz, die Juwelen seiner Gattin zu veräußern und das Geld für sich zu verwenden. Reue und Not machten ihn zum Trinker. Und Sie, Mr. Barne, Sie haben dann heute, als Temesfoore sich sogar zu dem Hahnenkampf hingab, ihn durch seinen Gegner ermorden lassen wollen. Leugnen Sie nicht! Ihr Haß gegen den Mann, der Ihre Schwester zu seinem Weibe machte, war grenzenlos. Sie haben Mac Temesfoore jedoch falsch eingeschätzt. Er hat auch Goorp nur deshalb aus dem Zuchthaus befreit, damit dieser ihn nicht verriete. Goorp aber war gemein genug, sich hier an Bord zu schleichen und Ihrer Schwester diesen Juwelenkasten zu rauben. Wenn Temesfoore Ihren Haß und Ihre Verachtung wirklich in dem Maße verdiente, wie Sie glauben, dann hätte er sich wohl an dem Schmuck seiner Gattin vergriffen. Das tat er nicht. Er wird milde Richter und später dann ein ganzes Glück an Marys Seite finden. Nicht Temesfoore hat Mary gefesselt und auf das Sofa gelegt, sondern Sie und Ihre Leute hatten sie derart wehrlos gemacht. Als Doktor Gloster in der Kellerwohnung erschien, waren Sie dort bereits verborgen. Sie hätten die ganzen Verhältnisse vorher genauer prüfen sollen, Mr. Barne! Dann hätte ich Ihren Matrosen nicht in der Drisby-Straße erschossen. Setzen Sie sich dieserhalb mit Inspektor Grablay auseinander. Für mich ist dieser Fall erledigt. Mir genügt es, den Schurken Goorp wieder eingefangen und Sie von dem Irrtum geheilt zu haben, daß Mac Temesfoore es auf die reiche Mary Barne abgesehen hatte. Goorps Fingeroperation war überflüssig. — Er wird jetzt wohl bis an sein Lebensende Insasse des Zuchthauses Sing-Sing bleiben.“ —

Pratt behielt in allen Punkten recht. Mac Temesfoore lebt heute mit seiner Mary als fleißiger Farmer in Kalifornien.

 

 

Nächster Band:

Das verschwundene Auto.