Nic Pratt
Amerikas Meisterdetektiv
Heft 14:
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922
by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.
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Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin
1. Kapitel.
Der Chauffeur Bulby.
Nic Pratt, der berühmteste Detektiv Amerikas, hatte an einem kalten, stürmischen Novemberabend gegen neun Uhr sein Häuschen in der Pearlstraße in einer Verkleidung verlassen, um sich, wie er dies häufiger tat, unerkannt unter die Menschenmenge zu mischen, die wie in jeder Weltstadt bis gegen Mitternacht die Hauptverkehrsstraßen durchflutete.
Pratt, einem älteren, bescheiden gekleideten Manne gleichend, hatte heute einen bestimmten Zweck im Auge. Am Vormittag war Mr. Allan Longbrell, einer der reichsten Juweliere Neuyorks, bei ihm gewesen und hatte seinen Rat in einer recht geheimnisvollen Angelegenheit in Anspruch genommen.
Mr. Longbrell besaß ein elegantes, geschlossenes Auto, das seit dem vergangenen Abend verschwunden war. Des Kraftwagens wegen hätte der reiche Longbrell wohl kaum so viel Auflebens gemacht. Aber mit dem Auto zugleich war auch des Juweliers langjähriger Chauffeur Tom Bulby abhanden gekommen. Bulby hatte seinen Herrn, der Junggeselle war, um elf Uhr von der Oper abholen sollen, blieb jedoch aus und war nirgends zu finden. Um 10 Uhr vormittag hatte Longbrell dann einen Brief erhalten, in dem ein Zettel von Bulbys Hand lag:
Mr. Longbrell, verzeihen Sie mir. Ich bin aus Not zum Diebe geworden. Ich habe Ihr Auto verkauft und bin mit dem Erlös entflohen.
Ihr Tom Bulby.
Diesen Zettel und die Briefadresse hatte Bulby geschrieben. Das stand außer Zweifel. Longbrell, der diese kurze Selbstbezichtigung Pratt vorgelegt hatte, betonte dabei, daß Bulby bereits vier Jahre in seinem Dienst gewesen sei und sich stets vorzüglich geführt habe. Ihm sei es daher völlig unbegreiflich, wie der Chauffeur so plötzlich sich zu diesem groben Vertrauensbruch habe hinreißen lassen können.
„Ich behaupte,“ hatte er noch hinzugefügt, „daß hinter diesem Autoverkauf etwas ganz anderes steckt, Mr. Pratt, nämlich irgend ein besonderes Geheimnis. Deshalb bin ich auch zu Ihnen gekommen und habe von einer Anzeige bei der Polizei Abstand genommen.“
Nic Pratt hatte hierauf bis vier Uhr nachmittags folgendes festgestellt: Tom Bulby, achtundvierzig Jahre alt und unverheiratet wie sein Herr, war mit dem Auto um halb zehn Uhr abends aus der im Garten der Longbrellschen Villa gelegenen Garage davongefahren. Bulby hatte auch tatsächlich Schulden, und zwar bei den Kneipwirt Morris in der Baberlay-Straße, in die man durch eine Pforte der rückwärtigen Gartenmauer des Longbrellschen Besitzes gelangen konnte. Morris hatte dem Chauffeur vor vier Wochen tausend Dollar geliehen.: Diese sollte Bulby am 1. Dezember zurückzahlen, war aber bereits gestern abend gegen ¾ 11 Uhr bei dem Kneipwirt gewesen und hatte die Schuld beglichen. Morris erklärte Pratt, daß der Chauffeur sehr erregt gewesen und sofort wieder davongegangen sei. Weiter ermittelte Pratt, daß Bulby außer seiner Wohnung über der Garage noch ein zweites möbliertes Zimmer in einem Hause der Baberlay-Straße gemietet hatte. Pratt war bei der Vermieterin dieses Zimmers gewesen und hatte sie gebeten, die Stube durchsuchen zu dürfen. Er fand darin jedoch nichts Wichtiges. Nur ein eleganter Damenwildlederhandschuh mit fünf goldenen Knöpfen lag im Papierkorb in einer zerknüllten Zeitung. Als Pratt die Vermieterin Frau Ocelly fragte, ob Bulby in letzter Zeit Damenbesuch empfangen habe, erwiderte sie, eine tief verschleierte Dame sei allerdings in den letzten drei Wochen etwa vier- bis fünfmal bei Bulby gewesen. Mehr wisse sie nicht. — Schließlich stellte Pratt dann noch fest, daß in Neuyork und Umgegend gestern abend oder heute früh kein Auto zum Kauf angeboten worden war.
Um fünf Uhr nachmittags begab sich Pratt, sehr zufrieden mit diesen vorläufigen Erfolgen, zu Mr. Allan Longbrell und bat ihn, ihm eine genaue Liste seiner näheren Bekannten mit vollen Namen, Wohnung und ungefährem Alter anzufertigen. Daß er den Handschuh gefunden, verschwieg er. Der Juwelier war natürlich recht erstaunt über des Detektivs merkwürdiges Verlangen. Die Liste hatte er dann sofort aufgestellt Sie enthielt etwa vierzig Personen.
Pratt bedankte sich und verließ die Villa wieder. Auf der Straße nahm er ein Auto und fuhr nach dem bekanntesten Handschuhgeschäft Neuyorks, dessen Inhaberin er ins Vertrauen zog. Er zeigte ihr den Handschuh und fragte, ob dieser hier bei ihr gekauft sei. Sie bejahte. Dann holte er die Liste hervor und ließ die Frau die Namen der darauf verzeichneten Damen prüfen. So wurde ermittelt, daß Frau Lydia Gwinnamoor, Gattin des Stadtbekannten Multimillionärs, den Handschuh vor etwa drei Wochen erstanden hatte.
Nic Pratt kehrte nun nach der Pearlstraße in sein behagliches Heim zurück und überlegte sich den Fall in aller Ruhe nochmals. Um neun Uhr rief er den Palast des Millionärs Gwinnamoor telephonisch an und erfuhr von dem Hausmeister, daß Mr. Gwinnamoor nebst Gattin sich heute zu einem Souper im Carlton-Hotel in der Bonery-Street befänden.
Pratt maskierte sich dann und schlenderte, wie bereits eingangs erwähnt, durch die Straßen. Er rechnete damit, daß das Souper gegen Mitternacht beendet sein würde. Dann wollte er vor dem Carlston-Hotel warten, bis Mistreß Gwinnamoor herauskam und ihr Auto bestieg.
Gegen halb schritt er zum ersten Mal an dem strahlend erleuchteten Hoteleingang vorüber. Nur ein Mann von Pratts vielfachen Erfahrungen konnte im Augenblick prüfend sowohl den Eingang als auch die Reihe der auf dem Fahrdamm haltenden Privatautos überfliegen.
Soeben war ein, neuer Kraftwagen aufgetaucht und hatte vor dem Hotel halt gemacht.
Pratt zuckte leicht zusammen. Longbrell hatte ihm ja das verschwundene Auto ganz genau beschrieben. kein Zweifel: dieses Auto da war das Longbrellsche.
Der Detektiv blieb stehen und zündete sich umständlich eine Zigarre an.
Jetzt flog die Autotür auf. Zu Pratts Erstaunen stieg der Juwelier heraus und rief dem Chauffeur zu?
„Bulby, Sie bringen dann also sofort den Brief zu Mr. Pratt!“
Dann betrat Longbrell das Hotel.
Pratt näherte sich dem Auto.
„Entschuldigen Sie,“ sagte er zu dem Chauffeur, „ich hörte da soeben zufällig, daß Sie einen Brief zu einem gewissen Pratt befördern sollen. Ist dies der bekannte Detektiv? Ich will nämlich selbst zu Nic Pratt da ich heute etwas sehr Seltsames erlebt habe. Sie könnten mich also mitnehmen. Mir kommt es auf ein Trinkgeld nicht an.“
Inzwischen hatte Pratt sich den Chauffeur genauer angesehen. Da Lonobrell ihm ein paar Photographien Bulbys gezeigt und da er den Chauffeur ja auch soeben mit Bulby angesprochen hatte, unterlag es für Pratt keinen Zweifel mehr, daß er hier wirklich auch den verschwundenen Bulby vor sich hatte.
Der Chauffeur nickte zustimmend. „Ja. ich will zu dem Detektiv Nic Pratt. Bitte, setzen Sie sich nur neben mich.“
Pratt tat es und das Auto rollte davon. Als es das stille Hafenviertel erreicht hatte, sagte Pratt ganz unvermittelt zu Bulby:
„Ich bin Nic Pratt. Geben Sie mir den Brief.“
Bulby schrak zusammen und brachte den Kraftwagen im Moment zum Stehen.
Pratt hatte schon den falschen Bart und die Perücke abgenommen und zeigte Bulby sein schmales, junges Schauspielergesicht.
„Sie sind, scheint’s, von der Reue gepackt worden, Bulby,“ meinte er nun. „Sie haben das Auto also gar nicht verkauft. Mr. Longbrell hat auch nie so recht an Ihre Unehrlichkeit glauben wollen.“
Bulby lächelte verzerrt. „Ja, ich bin mit dem Auto freiwillig zurückgekehrt,“ stammelte er. „Mr. Longbrell hat mir verziehen. Hier in diesem an Sie gerichteten Brief teilt er Ihnen das Nötige mit.“
„Wo waren Sie mit dem Auto, Bulby?“ fragte Pratt freundlich und schob den Brief in die Tasche. „Nur bis zum Dorfe Waterpole nordwestlich von Neuyork gefahren. Dort blieb ich bis heute sechs Uhr nachmittags. Um zehn Uhr abends war ich wieder in der Garage.“
Pratt lachte. „Das war vernünftig von Ihnen, lieber Bulby. Hier haben Sie zehn Dollar.“
Er stieg aus und rief Bulby noch ein vergnügtes „Gute Nacht!“ zu. Dann schritt er die einsame Straße weiter hinab, während der Kraftwagen kehrt machte.
2. Kapitel.
Um ein Grab.
Frau Lydia Gwinnamoor war eine der schönsten jüngeren Damen der Neuyorker Geldaristokratie.
Heute jedoch bei dem Souper, das Mr. Abarlan seinen Bekannten im Carlton-Hotel gab, lag es über dem zarten Antlitz der verführerischen Frau wie ein düsterer Schatten.
Schon dreimal hatte ihr Gatte sie besorgt gefragt, ob sie sich nicht wohl fühle. Sie schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. „Nur etwas Kopfweh,“ erklärte sie. „Ich werde deshalb früher heimfahren. Laß Dich aber bitte nicht stören, lieber Percy, und bleibe, so lange es Dir gefällt.“
Kurz nach zwölf Uhr brach sie denn auch wirklich in aller Stille auf, hüllte sich in ihren Abendmantel und befahl einem der Hotelboys, ihr Auto vorfahren zu lassen.
Als sie nun das Hotelportal verließ, sah sie Tom Bulby unter dem Straßenkandelaber stehen.
Bulby riß die Tür ihres Autos auf und drückte der schönen Frau sehr geschickt einen Zettel in die Hand. Er ahnte nicht, daß Nic Pratt, bereits wieder in anderer Verkleidung, dies genau beobachtete.
Pratt hatte ein Mietauto in der Nähe stehen, sprang hinein und jagte den Broadway entlang bis zum Palais Gwinnamoor. Als nun vor dem Parktor das Auto Mistreß Lydias einen Augenblick hielt, wurde Pratt Zeuge, wie Frau Gwinnamoor ein paar Papierschnitzel zum Fenster hinauswarf.
Nachdem das Auto in die Parkallee eingebogen war, sammelte Pratt die Schnitzel auf und stellte sie in seinem Kraftwagen zusammen.
So las er denn folgende flüchtige Bleistiftzeilen:
Alles in Ordnung. Pr. völlig ahnungslos. Mithin zur Beunruhigung nicht der geringste Grund. Wir haben großes Glück gehabt. Das Grab wird geheim bleiben.
Innigst Dein Tom.
Kein Wunder, daß Nic Pratt jetzt noch fester als vordem entschlossen war, diese dunkle Geschichte restlos aufzuklären.
An dieser kurzen Mitteilung Toms interessierte ihn am meisten der Satz: „Das Grab wird geheim bleiben.“
Ein Grab?! — Das deutete vielleicht gar auf ein Verbrechen hin!
Und — in welchem Verhältnis stand Tom Bulby zu der Millionärsgattin, die er mit „Du“ anredete?!
Pratt steckte die Papierfetzen in sein Taschenbuch, lohnte den Chauffeur seines Autos ab und kletterte kurz entschlossen über das Gitter des Parkes, schlich auf den Gwinnamoor-Palast zu und sah, daß im ersten Stocks vier Fenster erleuchtet waren.
Er sah weiter, daß dort oben eine Frau unstet auf und ab schritt. Ihr Schatten glitt immer wieder über die Fenstervorhänge hin.
Pratt begann am Weinspalier mit aller Vorsicht hochzuklimmen. Sehr bald schwang er sich auf den Balkon, der sich vor den beiden linken Fenstern hinzog.
Die Balkontüren waren eine Handbreit offen. Pratt drückte sie noch mehr auf und schlüpfte dann lautlos in das luxuriöse Ankleidezimmer hinein, duckte sich hinter einem Wandschirm zusammen und war gerade in Sicherheit, als Lydia Gwinnamoor bei ihrem unruhigen Hin und Her wieder über die Schwelle trat.
Plötzlich blieb sie stehen und starrte auf den Fußboden.
Dort hatte Pratt soeben den langen Wildlederhandschub fallen lassen.
Sie bückte sich rasch, hob den Handschuh auf.
„Mein Gott!“ murmelte sie, „was bedeutet das nun wieder?! Es ist der Handschuh, den ich seit Wochen vermißt habe!“
Sie seufzte qualvoll.
„Ja — es ist der Handschuh! Wie — wie nur kommt er hierher?!“ fügte sie in wachsender Erregung hinzu. „Vorhin lag er noch nicht an, dieser Stelle! Was bedeutet das?!“
Abermals ein schwerer Seufzer.
Dann glitt ihr Blick zu den Balkontüren hin. Ihre Lippen preßten sich fester zusammen — nur einen Moment.
Langsam kehrte sie in den Salon nebenan zurück und wanderte hier wieder auf und ab, blieb vor einem zierlichen Damenschreibtisch stehen und nahm rasch aus dem Mittelfach einen kleinen Revolver heraus.
Dann begann sie abermals ihre rastlose Promenade, überschritt die Schwelle des Ankleidezimmers und — zog mit einem Ruck den Wandschirm beiseite.
Pratt sah den Revolver auf seine Stirn gerichtet, hörte das keuchende Flüstern der zu allem entschlossenen Frau:
„Wer sind Sie? — Antwort — oder ich drücke ab!“
Da richtete Nic Pratt sich langsam auf.
„Mistreß Gwinnamoor, ich bin der, den Tom Bulby getäuscht zu haben hoffte,“ sagte er ernst.
„Ah — Nic Pratt! das dachte ich mir!“
Ihr Antlitz wurde noch bleicher.
„Nic Pratt, der Spion!“ fügte sie verächtlich hinzu. „Was wollen Sie hier? Weshalb haben Sie den Handschuh dorthin gelegt?“
Sie zielte noch immer auf seine Stirn. Ihre dunklen Augen flammten im drohenden Feuer verzweifelter Energie.
Pratt erkannte, daß er diese Gegnerin unterschätzt hatte. Er merkte sein Leben hing hier an einem Spinnwebfädchen!
„Sie irren, Mistreß,“ erwiderte er kühl. „Nicht Nic Pratt der Spion, sondern Nic Pratt, der Freund aller Bedrängten und der Feind aller derer, die eine Schuld auf ihr Gewissen geladen haben! Das ist ein großer Unterschied, Mistreß.“
„Redensarten!“ meinte sie eisig. „Wenn Sie nicht sofort Ihr Wort geben, daß Sie sich weder mit Tom Bulby noch mit mir weiter beschäftigen wollen, werde ich Sie als — Einbrecher in der Notwehr niederschießen!“
Pratt war überzeugt, daß sie nicht umsonst drohte. Sie hatte also ohne Zweifel etwas zu verheimlichen, das ihr mehr schaden konnte als das Aufsehen, welches sein Tod hervorrufen mußte.
Und doch lächelte Nic Pratt das schöne Weib mit leichter Ironie überlegen an.
„Wenn Sie schießen, Mistreß,“ sagte er, „wird mein Freund Grablay, der unter dem Balkon im Parke steht, Sie verhaften, und Sie werden sechs Wochen später auf dem elektrischen Hinrichtungstuhl enden. Ich hätte mich nicht hier hinein gewagt, wenn ich nicht auf Detektivinspektor Grablays Hilfe hätte rechnen können.“
Ihr Gesicht verzerrte sich förmlich.
„Ah — dann ist alles verloren!“ stöhnte sie und ließ die Waffe sinken. „Dann — dann ist es besser, daß ich ein Ende mache!“
Zwei dicke Tränen perlten über ihre Wangen.
Pratt griff rasch zu, hatte ihre Handgelenke umspannt und entwand ihr die Waffe.
„So, Mistreß, nun bin ich Sieger! Nun werden Sie mir wohl sagen müssen, was es mit dem Grabe auf sich hat! Sie wissen — mit jenem Grabe, das von Tom Bulby —“
Er schwieg. Er hatte sie auffangen müssen. Sie war ohnmächtig geworden. Als schwere, regungslose Last ruhte sie mit völlig verdrehten Pupillen in seinen Armen. Nicht der leiseste Atemzug hob ihre Brust. Der Mund war halb geöffnet, und hinter den roten, schöngezeichneten Lippen leuchteten die weißen, regelmäßigen Zähne.
Jetzt erst erkannte Pratt, wie liebreizend diese Frau war. Ihr Antlitz wirkte nun, wo die Anzeichen heftiger Erregung daraus verschwunden waren, fast weich und kindlich.
Nic Pratt schoß unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf: Was — was nur mag diese wunderschöne Frau zu verheimlichen haben?! Kann denn ein Gesicht, so voller zauberhafter Milde, so sehr trügen?! Kann Lydia Gwinnamoor wirklich an einem Verbrechen beteiligt sein!? —
Dann trug er sie auf den fellbedeckten Wanddiwan, stützte ihren Kopf durch Kissen und schaute sich im Zimmer um, ob er nicht irgendwo eine belebende Essenz entdecken könnte.
Ah — dort auf dem vierteiligen Frisiertisch standen ja zahlreichen Fläschchen und Kristallflacons!
Er eilte hin, beugte sich über den Tisch.
Und im selben Moment, für ihn unsichtbar, hob Frau Gwinnamoor, ohne sich sonst zu bewegen, die rechte Hand und tastete an der großblumigen Seidentapete entlang, bis ihr Zeigefinger einen kaum bemerkbaren Knopf gefunden hatte.
Sie drückte den Knopf herab, drückte in ganz bestimmten Zwischenräumen. Dann ließ sie die Hand wieder sinken.
Pratt kehrte mit einem Kristallfläschchen voll Toilettenessig zu dem Diwan zurück und träufelte der anscheinend noch immer Bewußtlosen ein paar Tropfen auf die Stirn.
Hinter ihm schob sich die Tür eines der mächtigen Ankleideschränke lautlos auf. Der wollige Graufkopf einer alten Negerin, die nach Art der amerikanischen Hausangestellten ein weißes Häubchen trug, wurde in der Türspalte sichtbar.
Wie eine Katze schob sich die Alte, deren Gesicht von unzähligen Falten durchfurcht war, auf den Detektiv zu. Als sie den Schrank verlassen hatte, sah man erst, daß dieses Weib einen wahrhaft riesigen Körper hatte. Trotzdem waren ihre Bewegungen außerordentlich gewandt und flink. Die Schuhe hatte sie offenbar abgestreift, und auf ihren derben wollenen Strümpfen näherte sie sich nun ohne jedes Geräusch dem ahnungslosen Pratt, der immer noch um Frau Gwinnamoor sich bemühte.
Jetzt stand die Schwarze dicht hinter dem Detektiv. In ihren Augen, in dem Ausdruck ihres verwitterten Gesichts lag ein Ausdruck ungebändigter Wildheit. Mit einem Grinsen, das so recht überlegenes Kraftbewußtsein verriet, hob sie die Arme und legte die kolossale, ungeheure Kraft verratenden Hände Nic Pratt um den Hals.
Pratt wollte hochschnellen, wollte sich mit einem Ruck befreien.
Zu spät.
Frau Gwinnamoor stand bereits auf den Füßen, eilte zu dem kostbaren Frisiertisch und goß aus einem Fläschchen eine wasserklare Flüssigkeit auf ihr Taschentuch, das sie dann dem Detektiv, der bereits halb bewußtlos war, auf den Mund preßte.
Nic Pratt schwanden die Sinne.
Als letztes hörte er noch die tiefe Stimme der Negerin ihre Herrin fragen:
„Mistreß, wohin mit ihm?“
3. Kapitel.
Frau Gwinnamoors Hund.
Endlose Stunden waren für den geknebelten, gefesselten und in eine Kiste eingeschlossenen Pratt in bleierner Eintönigkeit vergangen.
Er hatte sehr bald das Bewußtsein wiedererlangt, hatte immer wieder versucht, seine Fesseln abzustreifen. Allmählich wurde ihm klar, daß man ihn in eine gepolsterte Kiste, die offenbar zum Versand von wertvollen Glassachen benutzt worden war, hineingezwängt hatte. Er konnte sich kaum rühren. Hin und wieder hörte er verschwommene Geräusche in nächster Nähe. Auch Stimmen glaubte er zu vernehmen. Er wollte sich bemerkbar machen, wollte mit den Füßen gegen die Seitenwand der Kiste schlagen. Es gelang ihm nicht. Seine Beine waren mit Stricken, die um die Knie und die Brust liefen, dicht an den Oberleib gepreßt.
Jetzt hörte er abermals Stimmen.
Jetzt rief jemand, und dies konnte nur sein Freund, der Detektivinspektor Stuart Grablay sein:
„Zum Teufel, Frau Allison, so machen wir doch die Kiste auf. Diese an Nic gerichtete Sendung ist doch gegenüber der Tatsache seines spurlosen Verschwindens überaus verdächtig!“
Gleich darauf Hammerschläge gegen den Kistendeckel — das Quietschen sich lockernder Nägel und dann ein Krach.
Der Deckel flog zur Seite.
„Ah — meine Ahnung!“ rief Grablay. „Armer Nic, man scheint Ihnen ja übel mitgespielt zu haben!“
Er hob Pratt heraus, nahm ihm den Knebel und die Fesseln ab und stützte den vor Schwäche Taumelnden.
„Pratt warf einen prüfenden Blick ringsum. Er befand sich im Hinterflur seines Häuschens in der Pearlstraße. Die Hoftür stand offen. Blendende Helle eines sonnenklaren Herbsttages drang durch die Tür in den Flur.
„Mein Gott, wenn ich das geahnt hätte!“ jammerte Frau Allison, Pratts Haushälterin. „Heute in aller Frühe brachte ein Dienstmann die Kiste und sagte, Sie hätten eine große kostbare Vase gekauft!“
Pratt nickte der braven Frau fast heiter zu.
„Gehen wir in mein Arbeitszimmer, Grablay,“ sagte er zu dem Detektivinspektor. „Es ist ein Uhr mittags. Ich habe Hunger. Sie essen doch mit mir zusammen rasch einen Happen und begleiten mich dann zu Mr. Percy Gwinnamoor. Ich bin gespannt, was wir dort — nicht finden werden!“
Dann saßen sie in Pratts bequemen Klubsesseln und der Detektiv erzählte seinem Freunde, was er in der verflossenen Nacht erlebt hatte.
„Natürlich wird Frau Lydia mit der Negerin inzwischen ausgerückt sein,“ meinte er zum Schluß. „Auch Tom Bulby dürfte das Weite gesucht haben. Das wird den Herrschaften aber wenig nützen. Ihr Geheimnis werde ich aufdecken, so wahr ich Nic Pratt heiße!“
Grablay lächelte eigenartig.
„Mein lieber Nic,“ sagte er, „so leid es mir tut: diesmal sind Sie auf dem Holzwege! Sowohl Bulby als auch Frau Lydia Gwinnamoor und die Negerin Semiramis weilen ganz behaglich hier in Neuyork. Ich habe die drei jedenfalls vor etwa einer Stunde noch in meinem Dienstzimmer gesprochen.“
Pratt sprang auf. „Ah — das wäre allerdings das Tollste, was mir je begegnet ist!“ rief er. Dann zwang er sich sofort wieder zur Ruhe, setzte sich und fragte Grablay gleichmütig: „Weshalb vernahmen Sie die drei denn?“
„Weil sie zu mir gekommen waren, und zwar getrennt. Erst erschien Bulby und gab seine geplante Untreue, also die Autogeschichte zu Protokoll. Als er noch bei mir war, ließ sich Frau Gwinnamoor melden und brachte Semiramis, die Negerin, mit. Sie wollte den Verlust ihres Lieblingshundes Bobby, eines Zwergtekels, melden und setzte 10000 Dollar Belohnung für dessen Wiederherbeischaffung aus.“
Pratt stopfte nachdenklich seine kurze Pfeife. Seine Augen waren halb zugekniffen. Die Muskeln um den energischen Mund zuckten in lebhaftem Spiel.
„Wie begründete Tom Bulby seine Selbstbezichtigung Ihnen gegenüber?“ fragte er dann. „Was also gab er als Grund für diese seltsame und überflüssige Selbstanzeige eines straffreien Betrugsversuches an?“
„Er sagte, sein Gewissen ließe ihm keine Ruhe. Er sei ohne Wissen seines Herrn, des Juweliers Longabrell, zu mir geeilt. Ich solle ihm bestätigen, daß man ihm gesetzlich nichts anhaben könne.“
Nic Pratt lachte ironisch auf.
„Schlaue, vorsichtige Bande!“ murmelte er. „Wetten, Grablay, daß die drei sich lediglich im Vorzimmer der Polizeidirektion ein unverfängliches Stelldichein zwecks geheimer Aussprache. gegeben haben!“
„Hm — das erscheint ziemlich einleuchtend, da mir einer meiner Beamten berichtet hat, die drei hätten schon längere Zeit im Flur vor meiner Tür sich aufgehalten, und Mistreß Gwinnamoor habe dem Tom Bulby einen Gegenstand zugesteckt. Der Beamte befand sich nämlich in einem Aktenzimmer, dessen Tür nur angelehnt und das ganz dunkel war. Er hatte soeben das Licht ausgedreht, als Frau Gwinnamoor und die Negerin erschienen. Dann nahte auch schon Bulby, schaute sich vorsichtig um und begann mit der schönen Frau Lydia zu flüstern. Dies fiel dem Beamten auf, und er verhielt sich daher ganz still.“
Pratt nickte Grablay eifrig zu. „Sehen Sie, es war also ein Rendezvous! Ich weiß nun auch, wie alles weiter sich abspielen wird. Erst wollen wir aber behaglich essen, lieber Grablay. Frau Allison ruft uns schon zum dritten Mal zu Tisch!“
Die Freunde waren nach einer halben Stunde mit der Mahlzeit fertig. Dann brachte ein Auto die beiden nach dem Palast Gwinnamoor, wo sie sich durch den Hausmeister bei dem Ehepaar melden ließen. Sie wurden auch angenommen und in einen kostbaren Salon geführt. Einige Minuten später traten Mr. Gwinnamoor und Gattin ein.
Der Multimillionär, ein Überschlanker, echter Amerikaner von etwa fünfunddreißig Jahren, fragte Pratt und Grablay in höflichster Art nach dem Grunde ihres Besuches.
Frau Lydia hatte, nachdem sie sich Pratt wie einem Fremden hatte vorstellen lassen, in einem Seidensessel Platz genommen und spielte in vollkommener Ruhe gelangweilt mit ihrem Lorgnon.
„Gestatten Sie, daß ich an Ihre Frau Gemahlin einige Worte richte,“ bat Nic Pratt liebenswürdig. Dann wandte er sich dem liebreizenden, eleganten Weibe zu.
„Mistreß, Sie besinnen sich doch auf die Vorgänge der verflossenen Nacht,“ begann er und schilderte kurz, wie er im Ankleidezimmer Frau Gwinnamoors gewürgt und betäubt worden war.
Percy Gwinnamoor konnte zunächst vor schreckvoller Überraschung kein Wort hervorbringen. Dann aber rief er scharf und ernstlich empört:
„Mr Pratt, wie können Sie meine Frau in so unerhörter Weise beschuldigen?!“
Da fiel Frau Lydia ihm schon ins Wort. „Ich bitte Dich, Percy,“ meinte sie kühl, „all das kann von Mr. Pratts Seite nur ein Scherz sein! Rege Dich doch nicht auf! Ein Detektiv spricht zuweilen aus kluger Berechnung die ungereimtesten Dinge.“
Pratt lächelte nur zu dieser Unverfrorenheit, drehte sich zu Grablay hin und sagte: „Daß dies hier sich in dieser Weise abspielen würde, wußte ich ja! Ich prophezeite es Ihnen schon bei mir daheim.“ Dann erhob er sich von dem kostbaren Brokatstuhl, zog sein Taschenbuch und wollte als Beweis für die Richtigkeit seiner Behauptungen die Papierstückchen des Zettels herausnehmen, den Bulby Frau Gwinnamoor vor dem Carlton-Hotel zugesteckt hatte.
Aber — die Papierfetzen waren nicht mehr zu finden.
Pratt schob das Notizbuch wieder in die Tasche.
„Sie glauben natürlich Ihrer Gattin, Mr. Gwinnamoor,“ sagte er ganz ruhig.
„Allerdings, Mr Pratt!“ meinte der Multimillionär schneidend. „Mein Palast ist doch keine Räuberhöhle!“
Lydia lachte harmlos und schaute Pratt heiter an.
„Wirklich, Mr. Pratt, Sie müssen all das geträumt haben! Ich — ich soll Sie durch Chloroform betäubt haben — ich?! Oh — und ich soll Sie in einer Kiste aus dem Hause geschafft haben! Mr. Pratt, Sie scherzen!“
Stuart Grablay konnte jetzt nicht länger an sich halten.
„Verdammt!“ fuhr er auf. „Ein Mann von Pratts Berühmtheit träumt nicht derartiges, Mistreß! Wollen Sie etwa leugnen, daß Sie —“
Da hatte Pratt ihm schon ein warnendes Zeichen gemacht, damit von der Szene im Flur der Polizeidirektion hier nichts erwähnt würde.
Percy Gwinnamoor, jetzt hochrot im Gesicht vor Empörung, sagte nunmehr mit verbissener Wut:
„Mr. Pratt, Sie haben meine Frau aufs schwerste durch diese Anschuldigungen beleidigt! Ich werde Sie deshalb verklagen. Es wäre mir lieb, wenn Sie mein Haus sofort verlassen wollten!“
Pratt verbeugte sich. „Gewiß, Mr. Gwinnamoor, wir gehen schon. Ich würde Ihnen aber raten, mit der Erhebung der Beleidigungsklage 24 Stunden zu warten. Morgen um dieselbe Stunde wie jetzt werde ich mich hier wieder einfinden und Ihnen erklären, was es mit dem Grabe auf sich hat, das in dem Zettel erwähnt war. Auf Wiedersehen, Mr. Gwinnamoor.“
Die Freunde verließen den Salon und den Palast, bestiegen ihr Auto und fuhren nach der Pearlstraße zu Pratts kleinem Häuschen zurück.
„Was nun?“ fragte der ergrimmte Grablay. „Diese Frechheit des schönen Weibes muß doch irgendwie bestraft werden.“
Pratt schwieg, meinte erst nach einigen Minuten:
„Wenn Sie Lydia Gwinnamoor genau beobachtet hätten, lieber Grablay, würden Sie bemerkt haben, daß ihre Ruhe nichts als Maske war. In ihren Augen flatterte sogar eine wahnwitzige Angst. Weiß Gott, die Frau tut mir leid. Ich ahne bereits den Zusammenhang!“
„Wie — was —?! Sie ahnen etwas?! Sind Sie denn allwissend, Nic?!“
„Nein, durchaus nicht. Der Hund hat mich darauf gebracht. Bitte. besuchen Sie mich heute abend gegen neun Uhr. Bis dahin hoffe ich mehr Beweise zusammengetragen zu haben.“
So fuhr Grablay denn nach der Polizeidirektion weiter.
Pratt aber stand in seinem Arbeitszimmer hinter den Fenstergardinen und beobachtete die Straße. Ein ärmlicher Hausierer hatte sich vor den Hause gegenüber aufgestellt und bot seine Waren den Vorübergehenden an.
Nic Pratt schmunzelte. „Ein Spion!“ sagte er zu Frau Allison „Ein Spion, den sich eine Multimillionärin wohl leisten kann! Ich werde durch den zweiten Ausgang mein Häuschen verlassen.“
4. Kapitel.
Nach dem Kirchhof von Bixmarcet.
Pratt hatte sich noch kaum fünfzehn Minuten in einen schlicht gekleideten Herrn mit dunklem Bart verwandelt. Keiner seiner Bekannten hätte ihn in dieser Maske wiedererkannt. Es gab keinen zweiten Verwandlungskünstler wie ihn.
Sein Haus hatte, wie schon erwähnt, noch einen Ausgang nach der Bloornstraße. Als er diese jetzt betrat, schaute er sich auch hier vorsichtig um. Nicht einmal Stuart Grablay wußte etwas von diesem Zugang zur Bloornstraße, und Pratt war daher mit Recht überzeugt, daß niemand ihm jetzt nachschleichen würde. In der Bloornstraße zeigte sich auch nichts Verdächtiges.
Pratt fuhr nach dem 14. Polizeirevier, zu dem auch der Palast Gwinnamoor gehörte. Er gab sich dem Polizeiinspektor, dem Reviervorstand, zu erkennen und bat um die Meldekarte Lydia Gwinnamoors.
ES stellte sich heraus, daß das Ehepaar erst seit zehn Monaten verheiratet war. Lydia Bestomp, geboren in Chikago am 14. August 1900, Tochter des verstorbenen Kaufmanns Thomas Bestomp, hatte sich mit Percy Gwinnamoor am 21. Februar dieses Jahres in dem Landstädchen Parymol unweit Neuyork vor dem zuständigen Beamten ehelich verbinden lassen.
Pratt genügten diese Angaben.
Ganz systematisch setzte er seine Nachforschungen fort. Telephonische Anfragen und Depeschen sollten Vorleben Lydias Bestomps weiter enthüllen. Aber das, was Pratt erfuhr, gab ihm keinerlei Handhabe, auch dem geheimnisvollen Grabe auf die Spur zu kommen.
Als er gegen acht Uhr abends wieder die Pearlstraße betrat, war er höchst unzufrieden mit sich. Er fühlte geradezu, daß er auf dem toten Punkt angelangt war. Er sah keine Möglichkeit mehr, diesen drei Verbündeten, der schönen Frau Lydia, der Negerin und Tom Bulby, ihre Erlebnisse zu entreißen.
Er wollte jetzt sicherstellen, ob der Spion, der Hausierer, noch immer auf dem Posten sei. — Nein — von dem Manne war nichts mehr zu entdecken. Dafür hielt aber vor Pratts Häuschen ein Taxameterauto, und in seinem Arbeitszimmer brannte hinter den gelben Vorhängen Licht.
Pratts Vermutung, daß ein Klient ihn erwarte, traf zu. Dieser Klient war Mr. Allan Longbrell, der Juwelier, Bulbys Dienstherr.
„Ah — endlich, Mr. Pratt!“ rief er. „Denken Sie: jetzt hat Bulby das Auto wirklich gestohlen. Als ich vor einer halben Stunde heimkam, sagte mir mein Diener, daß Bulby ihm erklärt hätte, er solle mich um fünf mit dem Auto von der Börse abholen. Das ist gelogen. Ich habe Bulby gar nicht hinbestellt. Jedenfalls ist er mit dem Auto um halb fünf auf und davon gefahren. Seine Stube in der Garage enthält nur noch die Möbel. Er hat all seine Sachen heimlich mitgenommen.“
Pratt warf sich in einen Sessel und bedeckte die Augen mit der linken Hand. „Lassen Sie mich einen Moment nachdenken, Mr. Longbrell,“ sagte er leise.
Nachdem er wohl fünf Minuten regungslos dagesessen hatte, ließ er die Hand sinken. „Bitte, Mr. Longbrell, telephonieren Sie doch an Mr. Gwinnamoor, daß er Ihnen sofort die Negerin Semiramis nach Hause schickt. Sie hätten ihm etwas zuzusenden. — Fragen Sie nichts weiter. Bitte — dort ist der Fernsprecher.“
Longbrell rief den Palast Gwinnamoor an. Der Hausmeister erklärte, Semiramis sei zu ihrer steinalten Mutter nach dem Dorfe Bixmarcet bei Parymol gereist, da die Greisin im Sterben liege, wie ein Telegramm dies Semiramis heute nachmittag mitgeteilt hätte.
Als der Juwelier diese Auskunft Nic Pratt wiederholte, erhob sich dieser elastisch und sagte tief aufatmend:
„Jetzt haben wir sie!“
Longbrell bat um Aufschluß über diese ihm unverständlichen Worte. Pratt jedoch vertröstete ihn auf später und machte ihm auch klar, daß er jetzt allein sein müsse.
Kaum war der Juwelier gegangen, als Pratt auch schon Stuart Grablay anrief.
„Holla, Grablay, Punkt neun Uhr bin ich mit einem Tourenauto bei Ihnen. Es geht über Land. Stecken Sie einen Revolver zu sich. Schluß — Wiedersehen.“
Dann bestellte er einen schnellen, zuverlässigen Kraftwagen nach der Bloornstraße, den er hier um ¾9 bestieg.
Grablay wartete schon vor seiner Haustür.
Das Auto nahm die Richtung nach Norden. Pratt weihte Grablay kurz in die letzten Vorgänge ein und fügte hinzu: „Wir werden vor dem Dorfe Bixmarcet halten und den Kirchhof aufsuchen. In zwei Stunden sind wir dort. Stellen Sie weiter keine Fragen. Es genügt, daß Sie nun wissen, daß Lydia Gwinnamoor, geborene Bestomp, vorgestern nacht angeblich krank daheim im Bett lag, während ihr Gatte einer Aussichtsratssitzung bis zwei Uhr morgens beiwohnte. Ich behaupte, daß Thomas Bestomp Kaufmann aus Chikago, Lydias Vater, kein anderer als Thomas oder Tom Bulby ist und daß Lydia in der vorvergangenen Nacht mit ihm in Bixmarcet war. Die Fahrt sollte um jeden Preis geheim bleiben. Daher Bulbys Selbstbezichtigung.“
Das Auto hatte die Riesenstadt Neuyork bereits hinter sich und raste die tadellos gehaltene breite Chaussee entlang.
„Zum Teufel!“ brummte der „Detektivinspektor, „was hat denn der Zwergteckel mit alledem zu schaffen?!“
„Nur soviel, daß er für alle Fälle den Vorwand zu der heimlichen Autofahrt und zu Mistreß Lydias nächtlichem Fernsein aus dem Palast Gwinnamoor abgeben sollte. Sie verstehen mich, Grablay: hätte Percy Gwinnamoor Lydias stundenlange Abwesenheit bemerkt, würde sie ihm gesagt haben, sie sei auf der Suche nach ihrem Lieblingshunde gewesen. Den Hund hat sie also selbst verschwinden lassen. Im übrigen handelt es sich hier um kein eigentliches Verbrechen, mehr um eine Täuschung.“
„Das begreife ein anderer, Nic!“
Nic Pratt jedoch hüllte sich in Schweigen, bis das Auto vor dem Dorfe halt machte.
„So, nun zu Fuß weiter!“ sage Pratt lebhaft und verließ den Kraftwagen.
Der Wächter eine Obstplantage zeigte den Freunden dann den Weg nach dem oberhalb des Dorfes in den bewaldeten Hügeln liegenden Friedhof.
Als die beiden zehn Minuten später von der Ostseite den Bretterzaun des kleinen Gottesackers erklettert hatten, bemerkten sie sofort etwas nach rechts ein einzelnes Licht zwischen den Kreuzen und Gedenksteinen. Zwei menschliche Gestalten waren dort undeutlich zu erkennen. Beim Schein der Laterne handhabten sie eifrig ihre Spaten.
Es waren — ein Mann und ein hünenhaftes Weib.
5. Kapitel.
Frau Lydias Geheimnis.
Pratt und Grablay krochen auf allen Vieren zwischen den Gräberreihen entlang. Sehr bald hatten sie sich der hell brennenden Laterne und den beiden Gestalten bis auf acht Meter genähert. Dann drückten sie sich hinter eine Tanne und beobachteten die beiden Leute, die jetzt bereits mit ihrer Grabarbeit so weit vorangekommen waren, daß der Mann — und es war kein anderer als Tom Bulby! — auf dem Deckel des Sarges stehen konnte, den sie freilegen wollten.
Die Novembernacht war dunkel, aber sternenklar. Ein leichter Wind säuselte in den Bäumen des Friedhofs.
Tom Bulby warf jetzt den Spaten beiseite und raunte dem Weibe zu: „Semiramis, nun die Stricke? Der Sarg wird sich herausheben lassen!“
Es gelang ihnen denn auch. Der Laternenschein fiel auf einen kleinen Sarg, der nur eine Kindesleiche verbergen konnte.
Der Negerin schlugen die Zähne wie im Fieberfrost zusammen. „Mr. Bestomp,“ jammerte die abergläubische Schwarze, „ich habe so schreckliche Angst. Wenn wir nur erst wieder in Neuyork wären! Nur weil ich Missis Lydia als ihre frühere Amme so über alles liebe, habe ich —“
Sie schwieg und horchte in die Ferne.
„Der Hund, der Bobby, muß entschlüpft sein,“ rief sie etwas lauter. „Ich höre ihn an der Kirchhofspforte bellen.“
„Mag er bellen! Wir nehmen ihn nachher mit! Nun angefaßt, Semiramis, damit wir den Sarg rasch ins Auto schaffen.“ —
Pratt zupfte Grablay am Ärmel. „Wir müssen den Hund haben!“ hauchte er dem Detektivinspektor ins Ohr.
Sie krochen ebenso lautlos zurück. Es war nicht weiter schwer, den Zwergteckel zu greifen. Pratt nahm ihn unter den Mantel. Dann liefen die Freunde den Feldweg entlang dem Dorfe zu. Als sie die ersten Häuser erreicht hatten, band Pratt den Hund an eine Schnur und versetze ihm ein paar leichte Gertenhiebe. Winselnd jagte der Teckel die Dorfstraße entlang, bog dann rechts ab und strebte einem einzelnen Gehöft zu, dessen sauberes Wohnhaus vorn erleuchtet war.
Nic Pratt steckte das zierliche Tierchen wieder unter den Mantel und klopfte dann derb an die Tür. Eine Stimme fragte von drinnen, wer Einlaß begehre. Da meldete Grablay sich. „Hier Detektivinspektor Grablay! Im Namen des Gesetzes — öffnet!“
Ein weißhaariger Neger ließ die Freunde ein. Sie weilten jedoch nur kurze Zeit in dem Hause, eilten ohne den Hund wieder der Chaussee zu und fanden auch bald auf einem Seitenwege das Auto Allan Longbrells, in dem bereits der kleine Sarg stand. Tom Bulby und Semiramis waren nach dem Kirchhof zurückgekehrt, um das jetzt leere Grab wieder zuzuschütten und den Grabhügel wieder in alter Form herzustellen.
Pratt und Grablay nahmen den Sarg und trugen ihn nach ihn nach ihrem Kraftwagen hinüber. Vorher hatte Pratt noch den Motor des Longbrellschen Autos so weit in Unordnung gebracht, daß Bulby ihn nicht ohne fremde sachkundige Hilfe reparieren konnte. —
Frau Lydia Gwinnamoor hatte am Morgen nach dieser Nacht zusammen mit ihrem Gatten gefrühstückt und ihm dann herzlich Lebewohl gesagt, als er nach seinem Geschäftshause in der 112. Straße fuhr. Beim Abschied hatte Percy Gwinnamoor sein krankhaft blasses, jugendschönes und heute doch so leidend aussehendes Weib abermals gefragt, ob sie sich auch wirklich nicht krank fühle. In seinem Blick und in seiner Stimme lag dabei ein leichtes Mißtrauen. Der Argwohn, Nic Pratt könnte doch vielleicht all diese Beschuldigungen nicht völlig aus der Luft gegriffen haben, wollte seit gestern nicht mehr schwinden. Tief in Gedanken versunken, begab sich Percy Gwinnamoor jetzt nach seinem Kontor.
Frau Lydia blickte dem Auto ihres Gatten von einem Fenster aus nach. Als es verschwunden, kleidete sie sich hastig zum Ausgehen um. — Es war jetzt zehn Uhr vormittags.
„Bryce,“ sagte sie zu dem Hausmeister „ich bin in zwei Stunden zurück. Ich will etwas spazieren gehen.“
Gerade als sie die Freitreppe in den Park hinabschritt, kam jedoch ein anderes Auto die Allee entlang. Es war ein offener Tourenwagen, in dem zwei durch Autobrillen unkenntlich gemachte Herren saßen. Der eine riß jetzt die Autobrille vom Gesicht, und — Lydia Gwinnamoor taumelte förmlich zurück. Der Herr war kein anderer als Nic Pratt.
Er und Inspektor Grablay stiegen rasch aus.
„Mistreß,“ sagte Pratt sehr höflich und mit einem gütigen Blick auf das leidvolle Gesicht des jungen Weibes, „wir haben mit unserem Besuch gewartet, bis Ihr Gatte das Haus verlassen hatte. Ich bitte uns zu begleiten. Dann wird sich alles von selbst regeln.“
Frau Lydia hatte sich gefaßt. Sie gab den Kampf um ihr Geheimnis noch nicht auf. Sie wollte erst prüfen, was dieser gefährliche Mensch jetzt wieder gegen sie im Schilde führte.
Ihr liebreizendes, kindliches Antlitz versuchte eine stolze, abweisende Miene anzunehmen.
„Ich wüßte nicht, aus welchem Grunde ich Sie begleiten solle, Mr. Pratt,“ sagte sie kühl. „Wohin soll denn die Fahrt gehen?“
Nic Pratts Augen wurden noch wärmer und teilnahmsvoller.
„Nur bis zum Nordkirchof, Mistreß,“ erklärte er leise. „Dort erwarten uns Bulby oder besser Thomas Bestomp, Ihr Vater, und die treue Semiramis.“
Lydia Gwinnamoors Wangen waren aschfahl vor Entsetzen geworden. Halb taumelnd trat sie näher an den Kraftwagen heran. Pratt half ihr hinein. Sie zog den dichten weißen Schleier über ihr farbloses Gesicht und lehnte dann mit im Schoße verschlungenen Händen in den Polstern. Sie wußte jetzt, daß Pratt alles entdeckt hatte. Sie war in seiner Gewalt. Wenn er wollte, konnte er ihr Eheglück völlig zertrümmern.
So dachte sie, als das Auto durch die belebten Straßen glitt. Aber je einsamer es dann ringsum in den Vorstädten wurde, je mehr man sich dem riesigen Nordfriedhof näherte, desto mehr wuchs auch in der Seele des gequälten Weibes der heiße Wunsch, nochmals zu versuchen, diesen Mann, der nun schweigend an ihrer Seite saß, zu täuschen. Die Hoffnung, daß er doch nur Bruchstücke ihres Geheimnisses kannte, steigerte sich.
Der Kraftwagen hielt an einer Seitenpforte der Friedhofsmauer. Pratt bot Frau Lydia den Arm. Grablay schritt an ihrer anderen Seite dahin.
In einer entlegenen Ecke des Gottesackers war unter einer großen Trauerweide ein frischer Grabhügel aufgeschichtet. Kränze und Blumensträuße bedeckten ihn. Und neben dem kleinen Grabe standen Tom Bulby und Semiramis. Die Negerin weinte. Tom Bulby blickte den Nahenden finster und gramerfüllt entgegen.
Nun machte Pratt halt, drückte Frau Lydias Arm sanft an sich.
„Mistreß,“ sagte er weich, „hier ruht Ihr Kind aus Ihrer ersten Ehe, die Sie Ihrem zweiten Gatten verheimlicht haben, weil es sich herausstellte, daß Ihr erster Mann kein anderer als der berüchtigte Einbrecher Jack Watter war, der dann vor anderthalb Jahren durch die Kugel eines Polizeibeamten den Tod fand. Ihr Vater, als Kaufmann vom Unglück verfolgt, hatte schon vorher bei Allan Longbrell eine Stellung als Chauffeur unter dem Namen Bulby angenommen und galt für tot. Ihr Kind, die zweijährige Evelyn, hatten Sie bei Semiramis Eltern in Bixmarcet untergebracht. Das greise Negerpaar mußte Grablay und mir in der verflossenen Nacht alles eingestehen. Evelyn starb vor sechs Tagen an einer schweren Lungenentzündung. Sie wurde in jener Nacht begraben, als Longbrells Auto zum ersten Male verschwand. Sie, Mistreß, wohnten der Beerdigung bei. Als ich mich dann mit dem verschwundenen Auto beschäftigte, fürchteten Sie, ich könnte doch irgendwie auf das Grab des Kindes aufmerksam werden. Ihr Vater mußte daher den hiesigen Kirchhofsinspektor bestechen, damit der Sarg hier eine neue Ruhestätte fände. So hofften Sie alle Spuren zu verwischen. Von unserer Seite, Mistreß Gwinnamoor, droht Ihnen keine Gefahr. Wir, Grablay und ich, werden schweigen. Wir geben Ihnen aber den wohlgemeinten Rat, Ihrem Gatten Ihr Geheimnis ehrlich zu beichten. Dann erst werden Sie Ihr Liebesglück an Percy Gwinnamoors Seite voll genießen können.“
Frau Lydia sank jetzt an dem kleinen Grabe in die Knie und weinte still in sich hinein.
„Ah — wie falsch habe ich Sie doch beurteilt, Mr. Pratt!“ schluchzte sie. „Ja — ja, Sie haben recht: Percy soll alles erfahren — alles! Er wird mir verzeihen! Er liebt mich ja!“
Pratt und Grablay entfernten sich leise und erschüttert. Sie wollten den Schmerz und die Reue dieses gefolterten Frauenherzens durch ihre Anwesenheit nicht stören. —
Lydia Gwinnamoor ist heute die glücklichste Frau Neuyorks. Wenn irgendwo Pratts Name in ihrer Gegenwart erwähnt wird, dann leuchten ihre Augen auf, dann sagt sie fest: „Er ist nicht nur der beste Detektiv, sondern auch der gütigste Mensch unter der Sonne!“
Nächster Band: