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Die gelbe Wachskerze

 

 

Nic Pratt

Amerikas Meisterdetektiv

 

Band 15

 

Die gelbe Wachskerze.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.

Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Die Fünfzigdollarnote.

Nic Pratt, Neuyorks berühmtester Privatdetektiv, arbeitete gerade im Vorgarten seines Häuschens in der Pearlstraße und bedeckte seine Rosenstöcke für den Winter mit Brettern und Laub, als Frau Allison, seine Haushälterin, ihm von der Haustür aus zurief, daß soeben Mr. Grablay angeläutet und gebeten habe, Pratt solle doch sofort nach der 18. Straße in das Zigarrengeschäft von Laycborn kommen, wo man den Inhaber soeben ermordet aufgefunden habe.

Pratt war 10 Minuten später in der 18. Straße und betrat nun das kleine Geschäft, vor dessen Tür ein Geheimpolizist Wache hielte.

Detektivinspektor Grablay, Pratts Freund, befand sich mit zwei anderen Beamten im Innern des Ladens.

„Morgen, lieber Nic!“ begrüßte er den langjährigen Vertrauten. „Ich würde Ihnen dankbar sein, wenn Sie sich die Geschichte hier einmal ansehen wollten. Ich habe nichts angerührt. Laycborn liegt tot dort hinter dem Ladentisch. Er ist erdolcht worden – Stich ins Herz. Die Waffe fehlt. Ein Kunde Laycborns wollte vor einer halben Stunde etwa hier Zigarren kaufen, fand die Ladentür nur angelehnt und den Laden leer. Nachdem er ein paarmal kräftig auf den Verkaufstisch gehämmert hatte, um sich bemerkbar zu machen, sah er, daß die Kasse unter dem Ladentisch, eine Schieblade, halb herausgezogen war. Als er sich dann vorbeugte, erblickte er den Ermordeten, eilte auf die Straße und schickte einen Jungen zur nächsten Revierwache. Jedenfalls scheint Raubmord vorzuliegen. Die Kasse ist fraglos geplündert worden, wenn sich darin auch noch 1300 Dollar in Scheinen befinden. Der Mord hätte also an sich nichts Besonderes aufzuweisen, wenn – wenn – Aber das werden Sie ja selbst sehen, lieber Nic.“ –

Pratt kniete schon neben der Leiche, die auf dem Rücken lag.

Laycborn war ein Mann von etwa dreißig Jahren mit kränklichem, mageren Gesicht. Die Augen des Toten waren weit aufgerissen. Entsetzen und Grauen, wahnwitzigste Todesangst und wildeste Verzweiflung sprachen aus dem erstarrten Antlitz.

Da – Pratt bückte sich noch tiefer.

„Laycborn hat eine Banknote im Munde,“ sagte er zu Grablay. „Eine Ecke ragt zwischen den Zähnen hervor.“

„Ja, Nic, das ist eben das Seltsame,“ meinte der Detektivinspektor.

Pratt öffnete den Mund etwas weiter und zog die Banknote vorsichtig heraus.

„Ein Fünfzigdollarschein, Grablay,“ erklärte er und legte das zum Knäuel zusammengedrückte Papier auf den Ladentisch. „Bitte, nicht berühren!“ fügte er hinzu.

Er untersuchte dann die Wunde, während Grablay sinnend vor sich hin sprach:

„Der Mörder hat die Banknote als Knebel benutzt, um sein Opfer am Schreien zu behindern.“

Pratt richtete sich wieder auf.

„Der Stich sitzt mitten im Herzen,“ meinte er. „Die Waffe ist ein Dolchmesser mit sehr breiter Klinge gewesen. Aber –“

Da schwieg er plötzlich und schob die Leiche mehr zur Seite.

So kam denn unter dem flach liegenden Jackenzipfel ein mit einem Streifen Papier umgebenes Banknotenpäckchen zum Vorschein.

Es waren dreißig Hundertdollarscheine. Als Pratt nun den Papierstreifen besichtigte, fand er darauf folgende Zahlen:

28. 11. – 3000 – 30 zu 100

1150 – 4 zu 100, 8 zu 50, 350 zu 5 und 1

„Laycborn hat heute, bevor er ermordet wurde, 150 Dollar vereinnahmt,“ sagte er zu Grablay. „Diese Zahlen hier beweisen es. Wir haben heute den 28. November. Laycborn hatte sich auf dem Streifen den Kasseninhalt notiert: 3000 Dollar in Hundertdollarscheinen, 400 Dollar in den gleichen Banknoten, 400 in Fünfzigdollarnoten und 350 Dollar in Scheinen zu fünf und einem Dollar. Da die Kasse 1300 Dollar enthält und dies Banknotenpäckchen 3000 Dollar, ist nichts geraubt worden.“

„Hm – und die Fünfzigdollarnote, die als Knebel von dem Mörder benutzt worden ist?!“ meinte Grablay nachdenklich.

Pratt blieb stumm und schaute sich den Ladentisch an.

Da stand eine halbe Kiste Zigarren, sauber in Papier eingewickelt und verschnürt.

Er nahm sie und betrachtete das Päckchen.

„Vielleicht der Einkauf des Mörders,“ murmelte er. „Ein merkwürdiger Fall, fürwahr! Die Kasse nicht geplündert, und doch ein Mord!“

Sinnend blickte er auf die zerknüllte, speichelfeuchte Fünfzigdollarnote.

„Sie meinen – ein Knebel!“ wandte er sich wieder an den Inspektor. „Glauben Sie, daß der Mörder sich die Zeit gelassen hätte, seinem Opfer den Schein in den Mund zu stopfen, wo er nicht einmal wagte, noch rasch den Kasseninhalt mitzunehmen?!“

„Oh – er kann gestört worden sein, lieber Nic.“

„Durch wen?! Dann wäre doch durch den, der ihn störte, früher Lärm geschlagen worden. Wenn dieser Jemand ein Käufer war, hätte er doch sofort bemerkt, was hier vorgefallen. Der Mörder hätte zu flüchten versucht, und es wäre –“

Wieder schwieg Pratt, rief dann lebhaft:

„Bitten – was liegt dort unter dem Stuhl vor dem Ladentisch! Das ist die Ecke einer Banknote!“

Grablay hob das Stückchen Papier auf.

„Stimmt – eine Banknotenecke!“

Pratt glättete jetzt eifrig die zusammengeknüllte Banknote.

„Hier fehlt die Ecke!“ meinte er. „Sie stammt also von dieser Banknote.“

Er trat näher an das Schaufenster heran und hielt den Geldschein gegen das Licht.

„Ah – eine Fälschung!“ sagte er triumphierend. „Ich dachte es mir. Die Vorgänge hier sind jetzt ganz klar.“

Grablay griff nach der Banknote.

„Teufel – Sie haben recht, Nic! Es ist ein Falschstück, genau dasselbe Falsifikat, das seit sechs Wochen hier in Neuyork in Unmenge kursiert. Die Dinger sind bis auf das mangelhafte Wasserzeichen tadellos nachgemacht. Mein Kollege Parker vom Falschgelddezernat sucht die Fälscherbande mit allen Mitteln zu entdecken, hat bisher jedoch keinen Erfolg gehabt.“

Pratt hatte die abgerissene Ecke der Banknote genau besichtigt und meinte jetzt:

„Hier ist ein fettiger Fleck auf dem Papier – ein etwas erhabener Fleck. Es scheint Wachs zu sein – ein platt gedrückter Tropfen von einer gelben Wachskerze. Ich werde die Ecke mit nach Hause nehmen, Grablay.“

„Wie Sie wollen, Nic. – Was hat sich hier denn abgespielt?“

„Laycborn starb infolge seines Mißtrauens. Der Mörder wollte seinen Einkauf mit der falschen Dollarnote bezahlen. Laycborn prüfte den Schein, da er als Geschäftsmann natürlich wußte, daß gerade Fälschungen von Fünfzigdollarnoten im Umlauf sind. Als der Mörder merkte, daß er hier mit dem Unterbringen eines Falschstückes kein Glück hatte, suchte er Laycborn den Schein zu entreißen, erwischte aber nur die eine Ecke, die dann unter den Stuhl flatterte. Laycborn wurde dann von dem Manne niedergestochen, konnte sich aber doch noch mit letzter Kraft die Banknote in den Mund drücken. Er tat es in der unklaren Absicht, daß sie gefunden werden sollte, damit man erführe, weshalb er den tödlichen Stich erhielt. Der Mörder wollte nach der Tat die Kasse plündern, zog die Schublade auf und hatte auch schon das Banknotenpäckchen in der Hand, als irgend etwas ihn erschreckt haben muß. Er ließ es fallen und eilte hinaus. – So muß sich der Mord abgespielt haben.“

Grablay nickte. „Das leuchtet ein, lieber Pratt. Hm, eigentlich müßten Sie sich mal mit dem Kollegen Parker in Verbindung setzen. Ich fürchte ohne Ihre Hilfe wird er der Bande nie auf die Spur kommen. Vorgestern ist im Hafenviertel ein Hausierer verhaftet worden, der ohne Zweifel mit zu der Bande gehört. Er hatte 200 Stück falsche Banknoten bei sich. Bisher haben wir über den Kerl so gut wie nichts feststellen können. Niemand kennt ihn. Den Hausiererschein hat er gestohlen. Wir haben die Verhaftung bisher absichtlich geheim gehalten. Parker hofft, den Menschen zu einem Geständnis bewegen zu können. Freilich – bis jetzt hat der Halunke noch nicht ein einziges Mal den Mund aufgemacht.“

Drei Stunden später saß Detektivinspektor Parker, als Postbote verkleidet, in Pratts Arbeitszimmer.

Was die beiden nach kurzer Beratung beschlossen, sollte für Nic Pratt die sonderbarsten, man kann sogar ohne Übertreibung sagen – die unheimlichsten Folgen haben.

 

2. Kapitel.

Zwei in einer Zelle.

Am selben Tage um halb sieben Uhr abends ließ Inspektor Parker sich den unter dem Namen Lewis Pestra verhafteten zerlumpten Hausierer abermals vorführen.

Der Mann war etwas über mittelgroß, hatte einen struppigen schwarzen Bart und wirres, dichtes Kopfhaar von derselben Farbe. Bei seiner Einlieferung hatten sein Gesicht, Hände, Füße und die Körperhaut geradezu von Schmutz gestarrt. Jetzt nach zwei Reinigungsbädern war seine blasse Gesichtsfarbe zum Vorschein gekommen, und Bart und Kopfhaar nahmen immer mehr eine rotbraune Färbung an, so daß es keinem Zweifel mehr unterlag, daß beide künstlich geschwärzt worden waren.

In zusammengesunkener Haltung saß dieser Lewis Pestra auf dem Stuhl vor dem Arbeitstisch des Inspektors und stierte blöde zu Boden.

Parker versuchte alles mögliche. Der Mann blieb auch heute stumm.

Dann trat ein Beamter ein und meldete dem Inspektor, daß wegen Überfüllung des Polizeigefängnisses ein zweiter Gefangener in Pestras Zelle untergebracht werden müßte.

„Es ist da soeben ein betrunkener Strolch eingeliefert worden, Mr. Parker, der am Hafen einen unserer Beamten niedergeschlagen hat. Ich wollte fragen, ob er mit Pestra zusammengelegt werden kann.“

„Einverstanden. Führen Sie Pestra wieder ab.“

Dieses Vorspiel war ebenfalls zwischen Parker und Pratt genau vereinbart worden.

Als Pestra sich dann kaum zehn Minuten in seiner Zelle befand, wurde sein Leidensgefährte hereingebracht.

Es war ein buckliger Kerl mit rötlichem Bart, ein richtiger Vagabund, torkelnd, nach Schnaps stinkend, schimpfend und fluchend auf die Behörden und die ganze Menschheit.

Taumelnd sank er auf Pestras Bett und rollte sich dort sofort wie ein Igel zusammen, schlief ein und begann rasselnd und pustend zu schnarchen.

Zwei Gefangenaufseher trugen ein zweites Bett, einen zweiten Schemel und andere Zellenutensilien für den neuen „Hotelgast“ herbei.

Dann war Lewis Pestra mit dem schlafenden Stromer allein, der das Gesicht nach der Wand gekehrt hatte und sich nicht regte.

Pestra wieder saß auf dem Schemel an dem kleinen Tischchen mit dem Rücken nach der Tür hin und beobachtete wohl eine Stunde lang den neuen Zellengenossen mit bewundernswerter Ausdauer – etwa so wie ein Fuchs im Grase vor einem Erdloch liegt und das Wiederauftauchen des in das Loch geflüchteten angeschossenen Rebhuhns erwartet.

Pestras vorhin so stupides Gesicht war jetzt von überraschend lebhaftem Ausdruck. Schlauheit, Intelligenz, Energie und eine gewisse hochmütige Überlegenheit konnte man in den Augen und dem oft wechselnden Mienenspiel lesen.

Dann kam die letzte Runde, zwei Aufseher, und brachten das Abendessen für die Häftlinge.

Als sich die Zellentür hinter ihnen wieder geschlossen hatte, wußte Pestra, daß er jetzt bis sechs Uhr morgens nicht mehr gestört werden würde.

Er nahm seinen Eßnapf und löffelte ihn langsam leer.

Sein Zellengenosse war nicht einmal durch den Eintritt der Aufseher vorhin munter geworden. Lewis Pestra machte sich darüber seine besonderen Gedanken und lächelte spöttisch. Er traute diesem Menschen nicht. Es konnte ein Spion sein, den man ihm absichtlich in die Zelle gesteckt hatte. Jedenfalls wollte er auf seiner Hut sein.

Er stellte jetzt seinen Eßnapf beiseite und begann sich zu entkleiden, legte sich auf das neu hereingebrachte Bett und nahm sich vor, munter zu bleiben.

Punkt acht Uhr erlosch die in die Zellendecke vertiefte eingelassene elektrische Glühbirne und die andere, schwächere Birne flammte als Nachtbeleuchtung auf, erlosch für zwei Minuten, um dann wieder für eine halbe Minute automatisch eingeschaltet zu werden.

Dieser ständige Wechsel von Dämmerlicht und tiefer Dunkelheit ist für die meisten Gefangenen, die ohnedies an Schlaflosigkeit leiden, eine Qual. Lewis Pestra (wir wollen ihn weiter so nennen, obwohl er ja nur einen auf diesen Namen lautenden Hausiererschein besessen hatte, der ihm gar nicht gehörte) war viel zu sehr an ein abenteuerliches Leben gewöhnt, als daß ihn dieser jähe Wechsel von Helle und Dunkelheit gestört hätte.

Er lag da und lauschte auf die Schnarchtöne seines Gefährten, dem er so sehr mißtraute.

Zwei Stunden vergingen so. Draußen im Zellengang kam die erste Nachtrunde vorüber. Die beiden Beamten blieben vor der Tür stehen und blickten durch das Guckloch in die Zelle hinein. Dann schritten sie weiter.

Auch Pestra stieß jetzt in längeren Pausen rasselnde Schnarchtöne aus.

Ah – jetzt war das Schnarchkonzert seines Zellengenossen verstummt; jetzt knarrte dessen Bettstatt; jetzt hatte er sich offenbar erhoben.

Pestra wurde doch etwas unruhig.

Was mochte der Andere vorhaben?

Nun beugte der Strolch sich über ihn.

Pestra spürte den Fuselduft, der dem Munde des Vagabunden entströmte.

„He – schläfst Du wirklich?“ fragte der Strolch dann ganz leise. „Wie wär’s, wenn wir beide türmten?“

Pestra blieb stumm. – Also ausbrechen der Kerl! Na – so leicht war das nicht! Sonst hätte Pestra das schon längst versucht Gerade ihm war diese Haft ja überaus unangenehm. Allerdings wußte er, daß er sehr bald wohl auf andere Weise freikommen würde, durch Bestechung eben!

„Na, wenn Du nicht willst, läßt Du’s bleiben!“ knurrte der Vagabund. „Das sage ich Dir aber: verrätst Du mich, dann bist Du geliefert! Ich bin Mitglied der Bande Jack Orcprists, damit Du Bescheid weißt, Kamerad!“

Da hielt Pestra es doch für ratsam, sich zu melden.

Er richtete sich auf und flüsterte: „Du kommst nicht heraus! Das ist unmöglich. Leg’ Dich schlafen!“

Der Strolch setzte sich auf den Rand von Pestras Bett und faßte sich in den Mund, holte ein falsches Gebiß hervor und zog aus dem Innern der Zahnreihe mehrere Metallstäbchen heraus, die er im Nu zu einem seltsam geformten Instrument zusammensetzte.

Dann huschte er lautlos zur Tür.

Pestra hörte, wie der Vagabund an dem Patentschloß herumarbeitete. Dieser Kerl begann ihn zu interessieren. Wenn er wirklich Mitglied der Bande des berüchtigten Einbrechers Orcprist war, dann erschien es nicht ganz ausgeschlossen, daß er Mittel und Wege fand, ins Freie zu gelangen.

Der Strolch kehrte zu dem Bett zurück.

„Die Schloßriegel sind zurückgeschoben,“ hauchte er. „Die Runde muß erst auf dem Rückwege vorüber. Dann türme ich.“

Er warf sich wieder auf sein Bett. Gleich darauf gingen die Beamten draußen langsam vorbei.

Der Vagabund eilte abermals zur Tür und horchte.

Dann schraubte er die Stahlstäbchen auf andere Art zusammen und schuf sich so einen Bohrer. An der Außenseite gab es noch einen Eisenriegel, der zu beseitigen war.

Pestra horchte auf das leise Kreischen des im Holze arbeitenden Bohrers. Unablässig bohrte der Strolch Loch an Loch. Wohl eine halbe Stunde verging so.

Nun ein Kratzen von Metall auf Metall; noch ein paar knackende Töne.

Das Licht erlosch gerade wieder. Als es von neuem aufflammte, war der Strolch verschwunden.

Pestra sprang blitzschnell von seinem Bett herab.

Oh, wenn die Sache so stand, dann machte er natürlich mit! Dann mußte der Kerl ihn mit ins Freie nehmen.

Er schlich zu der nur angelehnten Zellentür, zog sie auf, schob den Kopf hinaus.

Im selben Moment kam der Vagabund zurückgerannt, stieß Pestra beiseite, zog die Tür zu, keuchte atemlos:

„Ich muß noch warten. Da treibt sich ein Aufseher auf der Treppe umher!“

„Ich mache mit!“ flüsterte Pestra.

„Schafskopf! Hättest das früher sagen sollen! Dann hätten wir dem Aufseher zu zweien die Schlüssel abgenommen. Jetzt bis Mitternacht passen sie am wenigsten auf. Los denn! Vielleicht erwischen wir ihn noch!“

Der Aufseher wurde wirklich überrumpelt. Der Strolch sprang ihm von rückwärts an die Kehle. Die beiden banden den Bewußtlosen, steckten ihm einen Knebel in den Mund und setzten ihre abenteuerliche Flucht fort.

Pestras Argwohn gegen den Stromer war völlig verschwunden. Daß dies ein waschechter schwerer Junge war, unterlag keinem Zweifel.

Wie die beiden dann schließlich über die Dächer auf die Straße hinabgelangten, soll hier nicht im einzelnen geschildert werden.

Jetzt standen sie im Dunkel einer Toreinfahrt.

„Was nun?“ fragte Pestra. „Wie heißt Du übrigens, Kamerad.“

„Roter Tom heiße ich. Und Du?“

„Lewis Pestra.“

„Mensch, das lügst Du! Das ist nicht ehrlich. Den Pestra kenne ich. Das ist ein Hausierer, der nebenbei falsche Ausweispapiere herstellt.“

„Hm – ich nenne mich nur Pestra. Roter Tom ist ja auch kein richtiger Name.“

„Bleibt sich ja auch gleich,“ brummte der Strolch. „Kannst Du Geld besorgen? Von Orcprists Bande ist keiner mehr in Neuyork. Vier sitzen in Sing Sing (Zuchthaus von Neuyork), und sechs sind nach auswärts. Ich habe zur Zeit hier niemand, dem ich trauen kann. Ohne Geld kommen wir nicht weiter.“

Lewis Pestra verzog blitzschnell sein Gesicht zu einem hohnvollen Grinsen. Ein besonderer Gedanke war da soeben in seinem Hirn aufgezuckt.

„Roter Tom, ich kenne da eine kleine Villa in der Hulbergstraße, die einem alten kranken Gelehrten gehört. Dort ist was zu holen, Tom. Ich wollte dort selbst mal ein Ding drehen, aber mein Spezialfach ist anderer Art. Vom Einbrechen verstehe ich nichts.“

„Los denn! Das besorge ich alles! Wir werden schon hineinkommen. Sind Hunde dort?“

„Nein. Nur eine alte Wirtschafterin und ein alter Diener. Man kann vom Garten aus am Blitzableiter auf einen Balkon klettern. Innen weiß ich Bescheid. Der Doktor Jonathan Smilopp ist gelähmt.“ –

Auf Umwegen gelangten sie wohlbehalten in die stille Hulbergstraße. Es hatte zur regnen begonnen, und der nach Südost herumgegangene Wind führte vom Ozean her dichte Nebelschwaden in die Straße der Millionenstadt.

Bald hatten sie auch den Zaun des Grundstücks überklettert und waren ebenso rasch am Blitzableiter bis auf den Balkon vorgedrungen.

Der rote Tom holte sein Universalinstrument hervor und hatte die Balkontür in zehn Minuten geöffnet.

Nun krochen die beiden auf allen Vieren in das Zimmer hinein. Lewis Pestra flüsterte Tom zu: „Warte hier! Nebenan ist das Schlafzimmer Smilopps. Ich werde nach Zündhölzern suchen.“

Tom war allein.

 

3. Kapitel.

Doktor Smilopps Riesenflasche.

Der Leser wird längst geahnt haben, daß der rote Tom kein anderer als Nic Pratt war, der mit Detektivinspektor Parker genau vereinbart hatte, wie man den angeblichen Lewis Pestra überlisten könnte.

Es kam Pratt darauf an, festzustellen, mit wem dieser Pestra verkehrte, das heißt, wo er nach dem Ausbruch aus dem Polizeigefängnis Unterschlupf suchen würde. Aber Pestra war vorsichtig gewesen, hatte nichts verraten.

Pratt wußte jetzt, daß er es mit einem überaus schlauen Burschen zu tun hatte, der nicht so leicht aufs Glatteis zu führen war. Weshalb Pestra hier in dieses Haus eindringen wollte, vermochte sich selbst Pratt nicht zu erklären. Jedenfalls durfte er dem Menschen auf keinen Fall entwischen lassen. Deshalb schob er sich auch sehr bald in dieser pechschwarzen Finsternis geräuschlos hinter Pestra drein, von dem er nur gelegentlich ein leises Scharren und Kleiderrascheln hörte.

Pratt merkte, daß Pestra sich vor einer Tür aufgerichtet hatte.

Jetzt drücke Pestra die Tür auf. Sie knarrte ein wenig.

Dann kein Laut mehr – nichts – nichts.

Pratt streckte die Hand aus. Ja, die Tür war offen. Er glitt in das Nebenzimmer hinein, lauschte.

Nichts – nichts.

Sollte Pestra ihn wirklich getäuscht haben?! Sollte er entweichen wollen, um den roten Tom loszuwerden?!

Pratt faßte in die Tasche. Er hatte ja seinen Leuchtstab bei sich, den er bisher nur nicht hatte benutzen wollen. Jetzt glaubte er jede Rücksicht auf die Rolle, die er als Tom spielte, fallen lassen zu müssen. Er schaltete die kleine Glühbirne ein.

Der dünne Lichtstrahl glitt über die Wände eines dreifenstrigen Zimmers hin, das als Laboratorium eingerichtet war. Holzschränke mit Glastüren, gefüllt mit Flaschen und Gläsern, Tische, bestellt mit Instrumenten, eine Dynamomaschine, mächtig Glasbottiche und anderes füllten den Raum.

Von Pestra keine Spur.

Da drehte Pratt sich rasch nach der Tür um.

Ah – sie war jetzt geschlossen, war eingeklinkt!

Pratt sprang zu, packte den Türdrücker.

Verriegelt –! Er war eingesperrt!

Eine Verwünschung entschlüpfte ihm. Er hätte vorsichtiger sein sollen!

Seine rechte Hand griff nach der Schlüsseltasche, nach dem Revolver.

Dann schaltete er die vier Deckenlampen des Laboratoriums ein.

So – nun hatte er doch wenigstens genügend Licht, um sich genauer hier umschauen zu können.

Die Tür war innen mit dickem Eisenblech belegt.

Es hätte Pratt eine halbe Stunde gekostet, sie aufzubrechen. Aber dort drüben an der Wand war ja noch eine zweite Tür. Vielleicht war sie unverschlossen.

Pratt schlich auf Fußspitzen zwischen den Tischen hindurch und an einem mitten im Laboratorium stehenden Schranke vorüber.

Als er ihn umschritten hatte, prallte er jedoch zurück. Seine schreckvoll geweiteten Augen ruhten auf einer wohl zwei Meter hohen Glasflasche, deren Hals einen Durchmesser von gut sechzig Zentimeter hatte. Ein Glasstöpsel verschloß sie.

Und – in dieser mit einer wasserklaren Flüssigkeit gefüllten Flasche schwamm aufrecht mit schlaff herabhängenden Armen und Beinen eine männliche Leiche – splitternackt, – eine Leiche, deren bärtiges Gesicht Pratt zugekehrt war.

Ein leichter Schauer lief Pratt über den Leib. Dann lächelte er.

Nur eine Leiche – ein Toter in Spiritus! Was machte ihm das aus?!

Er trat näher an die Riesenflasche heran.

Da war ein Papierschildchen mitten auf die Flasche geklebt, welches gerade die Lendengegend der Leiche verdeckte. Auf dem Papier stand sauber mit Rundschrift geschrieben:

Nathanael Smitport, geb. 18. 8. 1880, hingerichtet auf dem elektr. Stuhl wegen Mordes am 11. September 1921. Die Leiche den Verwandten für 1000 Dollar abgekauft zu wissenschaftlichen Versuchen am 12. September 1921.

Doktor Jonathan Smilopp.

Pratt besann sich, daß ein gewisser Smitport wirklich vor einem Jahre hingerichtet worden war.

Er schritt rasch weiter – an einer zweiten, ebenso großen, aber leeren Flasche vorüber, der Tür zu.

Auch diese Tür war mit Eisenblech benagelt, war verschlossen.

Pratt sah, daß die Fenster von innen eisern Läden hatten, die durch Eisenstangen mit komplizierten Schlössern festgehalten wurden.

Nein – so ohne weiteres kam er nicht ins Freie. Er mußte Gewalt anwenden.

Als er sich nun umdrehte, den rechten Arm mit dem Revolver gesenkt haltend, fuhr er leicht zurück.

Vor ihm stand Lewis Pestra.

Und Pratt starrte gerade in die Mündung einer mattierten Repetierpistole hinein, sah Pestra den Mund spöttisch verziehen.

„Wenn Sie auch nur mit der Wimper zucken, drücke ich ab,“ sagte Pestra eisig. „Sie haben mich betrogen. Sie sind ein Spion, den man mir in die Zelle schickte. Lassen Sie Ihren Revolver fallen – sofort.“

Pratt zögerte.

Da bemerkte er auch schon, das Pestras am Abzug der Pistole liegender Zeigefinger sich zu krümmen begann.

Rasch öffnete er die Hand. Mit dumpfem Aufschlag fiel der Revolver auf den Bastteppich.

„So,“ meinte Pestra und trat einen Schritt zurück, „nun nehmen Sie jene Trittleiter dort und steigen Sie in die leere Flasche hinein! Vorwärts! Doktor Smilopp und die Dienstboten schlafen nämlich im Seitenflügel. Diese Pistole fand ich in des Doktors Arbeitszimmer. Erst als ich durch das Schlüsselloch sah, daß Sie einen Leuchtstab und eine Waffe bei sich hatten, wußte ich, wie raffiniert Sie mich hintergehen wollten. Mein Argwohn gegen Sie war tatsächlich geschwunden. Ich hatte nur beabsichtigt, Sie hier einzusperren, damit ich Sie los würde, weil Sie mir als Kumpan unbequem waren. Jetzt aber sollen Sie erkennen, daß ich mich rächen kann. Wenn Sie nicht gehorchen, knalle ich Sie nieder und entfliehe. Dann mag die Polizei mich suchen. Wer sind Sie eigentlich? Ein Polizeibeamter?“

„Nein. Ich bin – Nic Pratt!“

Da zuckte Pestra doch zusammen.

„Verdammt – gerade Pratt!“

Er trat noch weiter zurück.

„Dann müssen Sie erst recht in die Flasche hinein. Ohne Hilfe kommen Sie dort nicht hinaus. Mag der Doktor Sie morgen vormittag finden und durch seinen Diener befreien lassen! – Vorwärts, Mr. Pratt! Dort steht die Leiter! Machen Sie keine Dummheiten! Sie können mir glauben: ich schone Sie nicht! Hier geht es um meine Freiheit!“

Pratt gehorchte. Während er die Trittleiter zu der Riesenflasche trug, zergrübelte er sich umsonst den Kopf, auf welche Weise er Pestra überlisten könnte. Ihm fiel jedoch nichts ein.

So mußte er denn notgedrungen von der Leiter in den Flaschenhals hineinklettern, mußte sich in den gläsernen Behälter hinabgleiten lassen.

Pestra steckte jetzt die Pistole in die Tasche, kletterte selbst auf die Leiter und lehnte sich auf den Rand des kurzen Flaschenhalses.

„Noch ein paar Fragen, Mr. Pratt,“ begann er. „Sie wollten also Inspektor Parker helfen, der Fälscherbande auf die Spur zu kommen, nicht wahr? Nun, Sie hätten sich lieber nicht mit dieser Sache befassen sollen. Wie kam den Parker dazu, Sie um Ihre Unterstützung zu bitten?“

Pratt war plötzlich ein besonderer Verdacht aufgestiegen.

„Weil heute vormittag in der 18. Straße der Zigarrenhändler Laycborn von einem Manne ermordet worden ist, der Laycborn wahrscheinlich eine falsche Fünfzigdollarnote bei der Bezahlung andrehen wollte,“ erwiderte er mit zurückgebogenem Kopf.

Lewis Pestra lächelte nur und meinte:

„So – so! Der Mörder soll also einer der Falschmünzer sein, die – Sie nie finden werden, Mr. Pratt, nie! Schade, daß ich mit Ihnen nicht wetten kann! Sonst würde ich jede Summe wetten, daß auch Sie diese Fünfzigdollarnotenleute nicht aufstöbern können, zu denen auch ich gehöre, wie ich ruhig zugebe.“

Pratt hatte den Kopf wieder gesenkt und schwieg. Sein Blick ruhte abermals wie soeben, als jener Verdacht in seinem schnell arbeitenden Hirn aufgezuckt war, auf dem nächsten Tische, wo zwischen ein paar Retortengestellen ein kleiner billiger Emailleleuchter stand, in dem eine kaum noch fingerlange gelbe Wachskerze steckte.

Eine gelbe Wachskerze! Und auf der abgerissenen Ecke der falschen Banknote hatte sich ein plattgedrückter gelber Wachstropfen befunden! –

Lewis Pestras Gesicht war nachdenklich geworden.

Dann sagte er unvermittelt:

„Hm – ob es nicht doch besser wäre, wenn ich Sie ein wenig konservierte, Mr. Pratt?! Sie sind als Spürhund mit einer verdammt feinen Witterung begabt, die unsereinem leicht gefährlich werden kann. Ich glaube wirklich, es ist besser, ich fülle die Flasche aus jenem Bottich mit Alkohol, damit – Sie genau so das Schwimmen lernen wie der Kollege Smitport dort in der anderen Riesenbuddel!“

Pratt setzte der Herzschlag für einen Moment aus.

Da lachte Pestra satanisch auf.

„Aha – auch Nic Pratt kennt die Todesangst! Aha – auch er verfärbt sich! – Nun gerade!“

In Nu hatte er einen Glasbottich herbeigeschleppt.

Pratt kam kaum zur Besinnung.

Schon rieselte ihm der eiskalte Spiritus über den Kopf

Ganze Fluten folgten. Er bog den Kopf zurück, drückte die Augen fest zu.

Eisige Kälte und Feuchtigkeit kroch ihm an den Beinen hoch.

Dann – dann ein Splittern – ein Krach.

Dann erlosch das Licht im Laboratorium.

 

4. Kapitel.

Die Wachskerze.

Detektivinspektor Parker war erst gegen ein Uhr morgens von einer Razzia im Hafenviertel nach seiner Wohnung in der Toornstraße zurückgekehrt. Da er Junggeselle war, brauchte er auf niemand Rücksicht zu nehmen, braute sich noch einen scharfen Punsch und las dann den Bericht des Vorstehers des Polizeigefängnisses über Pratts und Pestras Flucht, die vor etwa zwei Stunden erfolgt war. Der Bericht hatte in Parkers Briefkasten gesteckt und war noch tintenfeucht.

„Bin gespannt, was Pratt erreichen wird,“ dachte der Inspektor und rührte in seinem Glase.

Das Telephon auf dem Schreibtisch schlug an. Parker eilte hin, meldete sich.

„Ah – Sie sind’s, Mr. Pratt. – Gut – ja, verstehe. Kommen Sie nur. Ich schließe Ihnen die Hintertür auf. Dann bemerkt Sie niemand.“ –

Eine Viertelstunde drauf ließ sich Pratt in Parkers Sofaecke fallen. – Der Inspektor rief sofort:

„Donner – Sie duften ja nach Spiritus, als ob Sie –“ Er schwieg, denn Pratt hatte ihn mit einem seltsamen Blick angeschaut.

„Man wollte mich in Spiritus ersäufen,“ sagte Pratt langsam. „Geben Sie mir ein Glas Punsch, Parker. Mein Leben war noch nie so ernstlich bedroht wie heute.“

Er trank das Glas in kleinen Schlucken leer. Dann erzählte er:

„Wenn einem der Tod so nahe ist wie mir heute, erwacht der Wille zum Leben mit solcher Gewalt, daß ein Schwächling zum Athleten werden kann. Als ich den Spiritus bis an meine Schenkel spürte, da – da schlug ich mit dem rechten Absatz mit aller Gewalt nach hinten gegen die Wandung der Riesenflasche. Gleichzeitig warf ich mich in dem engen Behälter zur Seite, um ihn umzukippen. Und – beides gelang. Die Wandung zersplitterte, die Flasche fiel gegen die Trittleiter, und der angebliche Pestra sauste herab. Leider konnte ich nicht schnell genug herauskriechen. Er entwischte mir, sprang vom Balkon in den Garten und verschwand in der Dunkelheit. Ich kehrte nochmals in das Laboratorium zurück und nahm – dies hier mit!“

Er legte die fingerlange gelbe Wachskerze auf den Tisch.

„Was soll das Ding?“ meinte Parker verwundert.

Pratt erwiderte nichts, sondern faßte abermals in die Tasche und hielt Parker die abgerissene Ecke der Banknote hin.

„Wissen Sie, wie man Wachs prüft?“ fragte er. „Nun – indem man es erhitzt, bis es zu verdampfen beginnt. Dann riecht man bei einiger Sachkunde genau, welche Beimischungen das Wachs enthält. Auf dieselbe Art möchte ich jetzt diesen verschwommenen Tropfen Wachs auf dem Banknoteneckchen und einen Teil der Wachskerze prüfen. Ich vermute nämlich, daß der platt gedrückte Tropfen von dieser Kerze stammt. Und das möchte ich einwandfrei feststellen.“

Parker legte Pratt die Hand fest auf den Arm. „Was argwöhnen Sie sonst noch?“ fragte er eindringlich. „Wenn es nun wirklich dieselbe Wachsmischung wäre, müßte man dann nicht auf den Gedanken kommen, daß dieser Lewis Pestra vielleicht öfters im Laboratorium Doktor Smilopps weilt und daß der Mörder Laycborns ebenfalls dort aus und ein geht, daß also, Doktor Smilopp ebenfalls mit zu den Fälschern gehört?“

Pratt schüttelte den Kopf. „Diese Annahme dürfte kaum zutreffen. Ich bin bereits auf dem zuständigen Polizeirevier gewesen und habe mich nach Smilopp erkundigt. Er wohnt schon dreißig Jahre in jener Villa ganz für sich, treibt nur Privatstudien, tut viel Gutes, ist fast ganz gelähmt, wird im Rollstuhl gefahren und verkehrte nur mit ein paar Universitätsprofessoren. Vor drei Monaten war er sehr schwer krank, erholte sich dann aber wieder und mietete sich einen neuen Diener und eine neue Wirtschafterin, da die bisherigen Dienstboten es nicht länger bei ihm aushielten und bei Nacht und Nebel durchbrannten, worüber man sich genau so in der Nachbarschaft wunderte wie über den plötzlichen Abbruch seines Verkehrs mit seinen alten gelehrten Freunden. – Na, Parker, merken Sie etwas?“

„Freilich! Der neue Diener des Doktors wird vielleicht der Obermacher der Fälscher sein. Ihm steht ja das Laboratorium seines Herrn zur Verfügung. Dort kann er nachts in aller Ruhe dem Fälscherhandwerk nachgehen.“

Pratt hatte die Wachskerze angezündet und schabte nun von dem Banknoteneckchen das Wachs mit der Klinge eines Tischmessers ab, die er dann über die Lichtflamme hielt. Dabei sagte er:

„Ihre Kombinationen sind nicht schlecht, nur zu wenig phantasievoll. Ein Detektiv ohne Phantasie ist wie ein kurzsichtiger Jäger. Beide werden nie das Richtige treffen, dieser nicht mit der Büchse jener nicht mit den Gedanken.“

Das Wachs auf der Messerklinge dampfte. Pratt stand auf und sog die Dämpfe prüfend ein. Dann reinigte er das Messer, schabte etwas Wachs von der Kerze ab und erhitzte es.

„Es ist dasselbe Wachs,“ sagte er nun. Und zwar ist es ein sehr gutes Wachs mit ganz geringer Paraffinbeimischung. Dies genügt mir. Morgen vormittag werden wir das Nest in der Hulbergstraße ausheben. Jetzt spenden Sie mir wohl ein Nachtlager, lieber Parker. Ich bin hundemüde. Dort der Diwan scheint mir recht bequem zu sein.“

„Hm – noch eine einzige Frage, Mr. Pratt. Werden Sie denn auch Laycborns Mörder fangen und Lewis Pestra irgendwo erwischen?“

„Ganz bestimmt – beide, und beide in des Doktors Villa, lieber Parker.“

Da schüttete der Detektivinspektor doch sehr ungläubig den Kopf.

„Mr. Pratt, Pestra wird sich wohl hüten, in der Villa zu bleiben oder aber morgen dorthin zu kommen. Nein, das tut er sicherlich nicht!“

Pratt gähnte zwanglos.

„Warten Sie nur alles ab, Parker! Sie werden mich morgen als Bombenschmeißer bewundern können“

Parker zuckte die Achseln. „Ein unverständlicher Witz! – Dann also gute Nacht. Hier ist noch eine Decke und ein Kissen.“

Pratt schlief bis neun Uhr fest und traumlos. Er hatte nicht einmal von des Doktors Riesenflasche geträumt.

Um zehn Uhr wurde durch Polizeibeamte in Zivil die Villa des Doktors in aller Stille so umstellt, daß auch nicht eine Maus hinein- oder hinausgekonnt hätte. Die Umzingelung geschah dabei so unauffällig, daß die Bewohner der Villa nicht das geringste merkten, obwohl doch Doktor Smilopp in seinem Rollstuhl vorn auf der Terrasse beim Frühstück saß und sich von seinem Diener James die Speisen zureichen ließ.

 

5. Kapitel.

Die Bombe.

Inspektor Parker, Grablay und Nic Pratt begaben sich um halb elf ebenfalls nach der Hulbergstraße und ließen sich durch den Diener bei dem Doktor anmelden. James, ein älterer Mann, war ihnen bis zur Gitterpforte des Gartens entgegengeeilt und erklärte nun, es ginge seinem Herrn heute recht schlecht. Die Herren möchten ihn nur nicht mit allzu vielen Fragen aufregen. Die Vorfälle der Nacht hätten den Doktor ganz krank gemacht. Er war durch den Krach der umkippenden Riesenflasche munter geworden und hatte James in das Laboratorium geschickt, wo offenbar Diebe eingedrungen waren. James hatte dort jedoch nur die zertrümmerte Flasche und die umgeworfene Leiter vorgefunden, hatte dann weiter festgestellt, daß die Balkontüren offenstanden und die Diebe inzwischen entflohen waren.

Schweigend hörten Pratt und die beiden Polizeibeamten diesen knappen Bericht mit an.

Doktor Jonathan Smilopp, der in Decken gehüllt in seinem Rollstuhl in der heute vom klaren Herbsthimmel mit trügerischer Wärme herabstrahlenden Sonne saß, war ein weißbärtiger, äußerst gebrechlich aussehender Greis mit einer Riesenbrille und einem grünem Augenschirm vor den verkniffenen Augen.

Er begrüßte die drei Herren mit matter, klangloser Flüsterstimme, deutete auf die um den Tisch herumstehen Korbsessel und sagte dann, immer wieder von Atemnot gepeinigt: „Sie kommen wohl des versuchten Einbruchsdiebstahls wegen zu mir. Oh, es war eine unruhige Nacht. – James, bringe für die Herren ein Glas Wein und Zigarren –“

Der hinfällige Greis machte wirklich einen bemitleidenswerten Eindruck. Pratt, der unter dem Arm ein Kistchen trug, erzählte ihn nun, was sich in Wahrheit in der verflossenen Nacht im Laboratorium abgespielt hatte.

Der Doktor schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf.

„Sie können uns also keinerlei Auskunft über diesen angeblichen Pestra geben,“ fügte Pratt zum Schluß hinzu. „Vielleicht verkehrt er mit Ihrem Diener James, Mr. Smilopp. James ist doch erst kurze Zeit bei Ihnen. Ist er denn zuverlässig?“

„Oh – mehr als das,“ säuselte Smilopp. „Mehr als das! Er ist eine Perle. Er hat mit mir genug zu tun. Er empfängt nie Besuche – nie!“

„So?! Dann müssen wir also den Verdacht gegen James fallen lassen. – Ich hätte dann noch eine Bitte, Mr. Smilopp. Sie sind doch Chemiker. Ich habe hier eine Bombe mitgebracht, die gestern mittag im Bankhause Greep gefunden worden ist.“

Er entnahm dem Kistchen mit aller Vorsicht eine Blechbüchse von der Form einer großen Konservenbüchse. Außen waren an diese „Bombe“ allerlei Drähte, Häkchen, Metallschieber und sogar der Oberteil einer kleinen Weckeruhr samt dem Zifferblatt aufgelötet.

Pratt hielt dieses recht unheimlich wirkende Ding dem greisen Doktor hin und sagte:

„Mr. Smilopp, ich habe diese Höllenmaschine bereits untersucht und kenne die Zündvorrichtung. Sobald man eines dieser Häkchen herauszieht, beginnt ein Uhrwerk zu schnurren, und genau eine Minute später erfolgt mit unfehlbarer Sicherheit die Explosion. Ich möchte nun gern in Ihrem Laboratorium das gefährliche Ding ganz auseinander nehmen, damit Sie prüfen könnten, welcher Explosionsstoff –“

Im selben Moment kam irgendwo aus dem Garten ein faustgroßer Stein geflogen und traf Pratt gegen die linke Schulter.

Er zuckte vor Schreck zusammen, die Bombe entfiel seiner vorgestreckten Hand, er griff danach, packte gerade noch eines der Häkchen.

Mit blechernem Klang schlug die Höllenmaschine auf den Zementboden der Terrasse auf und rollte unter Doktor Smilopps Krankenstuhl.

Pratt und die beiden Beamten waren emporgesprungen und standen nun mit entsetzten Gesichtern da.

Man hörte deutlich, wie das Uhrwerk der Bombe abschnurrte.

Dann brüllte Grablay: „Fort mit uns –! Rette sich wer kann! Ins Haus – in die hinteren Zimmer!“

Die drei stürmten in wahnwitziger Eile davon.

Hinter ihnen drein kreischte Doktor Smilopp:

„Feige Hunde – feige Hunde! Sie lassen mich allein!“

Dann geschah etwas höchst Seltsames.

Der gelähmte Greis fuhr aus dem Rollstuhl hoch, sprang die Treppe der Terrasse in den Garten hinab und dies mit einer geradezu verblüffenden Fixigkeit. Ebenso blitzartig brachte er sich hinter einer dicken Buche in Sicherheit und wartete nun mit jagenden Pulsen auf die Explosion der Bombe.

Eine Explosion erfolgte auch. Aber sie war anderer Art, als Doktor Smilopp gedacht hatte.

Aus dem Gebüsch in seinem Rücken erklang nämlich ein herzhaftes, etwas ironisch gefärbtes dreistimmiges Lachen.

Smilopp, dem bereits eine leise Ahnung aufgegangen war, daß man ihn überlistet haben könnte, schnellte herum.

Da standen Nic Pratt, Grablay und Parker und riefen nun:

„Wir gratulieren, Mr. Smilopp! So schnell wie Sie ist noch kein Gelähmter gesund geworden!“

Dann fühlte der blamierte Verbrecher sich auch schon von hinten gepackt. Man riß ihm die Arme zurück. Stahlfesseln schnappten um seine Gelenke.

Pratt trat dichter hinzu und sagte kalt: „Gestern nacht wollten Sie als Lewis Pestra mit mir wetten, daß ich die Fälscherbande niemals entdecken würde. Sie sind weder Pestra noch Smilopp. Wer Sie in Wahrheit sind, wird sich sofort herausstellen. Ihr Bart und Ihr Haar sind künstlich gebleicht.“

Er nahm ihm die Brille und den Augenschirm ab, strich ihm die Haare aus der Stirn.

Da rief einer der Beamten, der den Verbrecher soeben gefesselt hatte: „Das – das ist Jonas Habberton, den wir wegen Doppelmordes schon seit einem Jahre suchen!“

Der Mörder lachte hart auf. „Nun gut, ich bin Habberton – Doktor Jonas Habberton! Ich weiß, daß ich den elektrischen Stuhl besteigen muß. Daher sollt Ihr alles hören. Wir haben Smilopp, seinen Diener und seine Wirtschafterin beseitigt, damit wir hier in der Villa als ehrenwerte Leute leben könnten, ich als Smilopp, mein Bruder James als mein Diener und meine Geliebte Mary Knoxor als meine Haushälterin. Wir sind auch die Hersteller der Fünfzigdollarnoten. So – nun wißt Ihr wohl genug.“

James und Mary Knoxor wurden herbeigeführt.

Dann sagte Grablay, der voller Spannung darauf gewartet hatte, daß Pratt nun auch entweder James Habberton oder Mary als Mörder Laycborns bezeichnen würde: „Und – wer erdolchte nun den Zigarrenhändler, lieber Nic?“

„Der Bruder Jonas Habbertons – James! Für Mary Knoxors Kräfte war der Stoß zu gewaltig. Das war Männerarbeit! Sollte James zu leugnen versuchen, so habe ich noch einen unumstößlichen Beweis gegen ihn: die gelbe Wachskerze aus dem Laboratorium, oder besser der Wachstropfen, der von ihr auf die Ecke der falschen Banknote fiel. In diesem breitgedrückten, erkalteten Wachstropfen war das Hautmuster einer Fingerspitze abgedrückt, das ich abgezeichnet und vergrößert habe. – Ah – Sie sehen ja, Grablay, wie James Habberton sich soeben verfärbt hat.“ Er wandte sich dem Verbrecher zu. „Sie werden keine Gelegenheit mehr haben, Wachskerzen beim Sortieren falscher Banknoten als Leuchte zu benutzen! Sie alle drei sind reif für den elektrischen Stuhl!“ –

Sechs Wochen später waren die Mordtaten des Fälscherkleeblatts gesühnt. Zu derselben Zeit hatte Nic Pratt bereits jenes Problem in Arbeit, das im nächsten Bande als eines der rätselhaftesten Verbrechen der Neuzeit eingehend geschildert werden soll.

 

Nächster Band:

Die Scheintote.