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Die Scheintote

 

Nic Pratt

Amerikas Meisterdetektiv

 

Band 16:

 

Die Scheintote.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922

by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.

Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Ellinors Erscheinung.

Der Neuyorker Spezialarzt für Nervenleiden Doktor Edward Price atmete erleichtert auf, als er am 12. Januar abends gegen sieben Uhr den letzten seiner Patienten aus der Nachmittagssprechstunde erledigt hatte.

Erschöpft saß er im Sessel vor seinem riesigen Diplomatenschreibtisch und machte nun noch einige Eintragungen in sein Journal.

Plötzlich hörte er trotz der gepolsterten Tür im Flur einen heftigen Wortwechsel zwischen seinem Diener und einem offenbar sehr erregten Herrn, der jetzt wie ein Verrückter schrie:

„Mr. Price mag meinetwegen 100000 Dollar für die Konsultation verlangen! Ich muß ihn sprechen!“

Dann ein Wutschrei des Dieners, den der späte Besucher wahrscheinlich gewaltsam beiseite gestoßen hatte.

Die Flurtür des Sprechzimmers wurde aufgerissen, und herein stürmte ein Herr im eleganten Gehpelz, einen spiegelblanken Zylinder halb im Genick. Sein bartloses, leiddurchfurchtes Gesicht sah so verstört aus, das Doktor Price unwillkürlich Mitleid mit dem fraglos den wohlhabendsten Kreisen der Millionenstadt angehörigen, wohl kaum dreißig Jahre alten Manne empfand.

Der Herr nahm jetzt hastig den Hut vom Kopf, machte Price eine knappe Verbeugung und sagte, von keuchenden Atemzügen oft unterbrochen:

„Mr. Price, ich bin Allan Godwell —“

In der Art, wie er dies aussprach. lag das natürliche Selbstbewusstsein des einzigen Erben eines Riesenvermögens und eines der bedeutendsten Bankhäuser Neuyorks.

„Nehmen sie Platz, Mr. Godwell,“ meinte der Arzt liebenswürdig. „Ich erkenne sie jetzt. Ich war mit Ihrer Gattin und Ihnen vor acht Wochen bei Harrimans zusammen.“

Der junge Multimillionär ließ sich in einen Stuhl fallen. Ein trockenes Schluchzen würgte in seiner Kehle.

„Meine — meine Frau, meine Ellinor, ist vor acht Tagen an Grippe verstorben,“ stieß er dann hervor. „Und ihretwegen komme ich zu Ihnen. Ich leide an Sehtäuschungen. Ich wandle am Rande des Irrsinns dahin. Ich habe Ellinor heute zum dritten Male lebend wiedergesehen —“

Doktor Price stand schweigend auf und holte für Godwell ein Glas schweren Burgunderweines.

„Trinken sie!“ sagte er kurz.

Godwell gehorchte. „Ah — das tut wohl,“ murmelte er und stellte das Glas weg.

„Nun sitzen sie fünf Minuten ganz still,“ ordnete Price weiter an. „Verfolgen sie mit den Augen das Vorrücken des Sekundenzeigers Ihrer Uhr, bis die fünf Minuten um sind.“

Godwell tat es. Er merkte, daß er ruhiger wurde.

„So — die Zeit ist vorüber!“ Er steckte die Uhr wieder in die Westentasche.

„Jetzt erzählen sie,“ sagte der Arzt. „Aber ausführlich bitte —“

„Gut, Mr. Price. — Vor zwei Jahren lernte ich in Chikago zufällig ein Tippfräulein namens Ellinor Repal kennen und verliebte mich in sie. Mein Vater war empört, als ich ihm erklärte, daß ich Ellinor heiraten wollte. Er erkundigte sich nach ihrer Familie und erfuhr, daß sie wirklich Waise und das einzige Kind eines kleinen Farmers unweit Chikago war. Ihre Eltern waren im Vorjahre verstorben. All das wußte ich bereits von Ellinor selbst. Gegen ihre Person war nicht das geringste einzuwenden. Trotzdem suchte mein Vater die Heirat zu hintertreiben, was ich ihm nicht einmal verargen konnte, denn sein Sohn sollte eben eine standesgemäße Ehe eingehen. Da ließ ich mich einfach mit Ellinor heimlich trauen und stellte meinen Vater und die Neuyorker Gesellschaft vor die vollzogene Tatsache. Meinem Pa mag diese Energie imponiert haben. Er nahm Ellinor gütig auf, und so konnte ich denn an ihrer Seite achtzehn Monate ein ungetrübtes Liebesglück genießen.“

Er schwieg und blickte sinnend vor sich hin. „Hm — so ganz ungetrübt war unsere Ehe in der letzten Zeit doch nicht, um ganz ehrlich zu sein. Ich kam zufällig dahinter, daß Ellinor mein Brautgeschenk, ein Diamantenhalsband, irgendwohin weggegeben und sich eine Imitation hatte anfertigen lassen. Ich sagte ihr nichts davon, daß ich dies bemerkt hatte. Aber ich suchte herauszubringen, wo der echte Schmuck geblieben war. Ich betraute einen Detektiv —“

„Wen?“

„— einen Detektiv namens Warpler mit Nachforschungen. Er konnte jedoch nichts ermitteln. Dann erkrankte Ellinor vor vierzehn Tagen. Als die Grippe in doppelseitige Lungenentzündung überging, verlangte Ellinor selbst, in die Privatklinik Doktor Hellforns gebracht zu werden.“

„Merkwürdig,“ warf Price ein. „Hellforn ist als Scharlatan bekannt.“

„Ja. Ellinor hielt jedoch sehr viel von ihm. Er war ihr Hausarzt. Jedenfalls starb Ellinor am 5. Januar in dessen Klinik ganz plötzlich. —“ Er kämpfte mit Tränen, nahm sich aber zusammen und fuhr fort: „Am 9. Januar wurde sie auf dem Westfriedhof in unserem Erbbegräbnis beigesetzt — neben meiner Mutter in der Gruft der Grabkapelle. Am 10. Januar, als einen Tag nach der Beerdigung, kam ich bei heftigem Schneetreiben allein vom Kirchhof, wo ich in stiller Andacht an Ellinors Sarg geweilt hatte. Ich bestieg mein vor dem Friedhof wartendes Auto und fuhr nach meiner einsamen Villa heim. Gerade als mein Auto an der Ecke der 112. Straße durch das Wagengewühl aufgehalten wurde, kam ein elegantes Dogcart, mit einem prachtvollen Rappen bespannt, vorüber. Und in diesem Dogcart saß — Ellinor — Ellinor in ihrem Nerzpelz mit dem grauen Samthut mit Reiherstutz. Sie kutschierte selbst, und hinter ihr saß auf dem Dienersitz ein Boy in einer dunklen Livree —“

Er atmete ein paarmal hastig.

„Wie ein Phantom jagte das Dogcart an mir vorüber und verschwand. — Das geschah vorgestern. Gestern abend gegen elf Uhr kam ich von einem Besuch bei meinem Vater zu Fuß heim. In der oberen Glane-Street begegnete mir, acht Häuser vor meiner Villa, dasselbe Dogcart — wieder mit Ellinor und dem Boy und dem feurigen Rappen. Ich stierte dem Wagen nach. Ich zitterte an allen Gliedern. Als ich dem Gefährt nachlaufen wollte, war es längst verschwunden „

Er tupfte sich jetzt die Schweißperlen von der Stirn.

„Und heute — heute vor einer Stunde kam ich aus unserem Bankgebäude. Ich hatte mir für alle Fälle meinen Freund Roger Talp, Hauptmann im 8. Regiment, mitgenommen, damit er mir als Zeuge diene, das ich, falls das Phantom wieder erschiene, wirklich nur in meiner Einbildung das Dogcart mit Ellinor wahrgenommen hätte.“

Er legte Price jetzt die Rechte schwer auf den Schenkel.

„Doktor — wir, Talp und ich, wurden an der Einmündung der Graham-Street in den Zentralpark von — von dem Dogcart überholt. Und Ellinor wandte den Kopf nach uns hin und blickte mich starr an. Ehe ich noch recht zur Besinnung kam, war der Wagen in den Wegen des Parkes untergetaucht.“

„Ah — und Ihr Freund Talp?“

„Er — er hat nichts von dem Dogcart bemerkt. Mithin — leide ich an Halluzinationen, mithin muß ich bei meiner Liebe zu Ellinor notwendig verrückt werden, wenn ich sie tagtäglich in dieser Weise lebend wiedersehe! — Doktor, helfen sie mir! Ich bin bereits am Rande meiner Widerstandskraft. Noch zwei — drei dieser Begegnungen, und ich — erschieße mich!“

Price schaute ihn durchdringend an. „Mr. Godwell, sie werden jetzt wieder Ihre Uhr vornehmen, werden zehn Minuten abzählen, genau zehn Minuten! — Los — zählen sie!“

Und Godwell begann eintönig die Zahlen vor sich hin zu sprechen.

Wieder fühlte er, daß er ruhiger wurde.

Als die zehnte Minute um war, sagte Price:

„Wo ist Ihr Freund Talp?“

„Er wartet unten auf der Straße.“

Price entschuldigte sich, verließ das Sprechzimmer und — fand zu seiner Überraschung Mr. Roger Talp im Flur in einem Korbsessel sitzen.

„Ah, gut, daß ich sie allein sprechen kann,“ sagte Talp hastig. „Mr. Price, der arme Allan wird Ihnen alles erzählt haben. Das tollste dabei ist, daß — auch ich das Dogcart gesehen und auch Ellinor erkannt habe. Ich wollte dies vor Allan deshalb verschweigen und tat so, als hätte ich nichts bemerkt, weil er dann völlig aus dem seelischen Gleichgewicht geraten wäre.“

Price ergriff Talps Hand. „Sie sind sein Freund! Glauben sie mir und meine Menschenkenntnis: dieser Fall muß gleichzeitig einem guten Privatdetektiv unterbreitet werden!“

Talp nickte. „Genau dasselbe habe ich mir schon gesagt. Ich behaupte, daß Ellinor Godwell, geborene Repal, nicht das harmlose Tippfräulein war, als das Allan sie heiratete. Die Geschichte mit dem Diamanthalsband gibt sehr zu denken.“

„Allerdings. — Ich weiß schon, was ich tue. Es existiert in Neuyork nur ein guter Privatdetektiv —“

„Ja — Pratt, Nic Pratt!“

„Stimmt! Und den werden wir beide ohne Godwells Wissen ins Vertrauen ziehen. Sie aber dürfen Godwell vorläufig nicht einen Moment allein lassen. Er hat bereits Selbstmordabsichten geäußert.“

 

 

2. Kapitel.

Die tote Ellinor.

Um halb neun Uhr abends fuhr Price zu Nic Pratt, bei dem er sich telephonisch angemeldet hatte.

Er hatte den berühmten. Detektiv noch nie gesehen und war daher erstaunt, einen jüngeren, bartlosen Herrn kennen zu lernen, der in allem den Eindruck eines. vollkommenen Gentleman machte und an dem eigentlich nichts besondere Geistesgaben verriet.

Pratt ließ sich den Fall Godwell von Price vortragen.

Der Arzt meinte zum Schluß seines Berichtes, daß es wohl keinem Zweifel unterliege, das Ellinor als Scheintot begraben worden sei und dann irgendwie den in der Gruft freistehenden Sarg habe verlassen und irgendwo Unterkunft finden können.

„Dann müßte der Sarg jetzt also leer sein,“ meinte Pratt. „Am besten ist, wir fahren sofort zum Westfriedhof und sehen nach.“

Der Doktor war verblüfft.

„Sie wollen also in die Kapelle, das Godwellsche Erbbegräbnis, eindringen?“ fragte er zögernd.

„Gewiß. Was ist denn dabei. In drei Minuten bin ich zum Ausgehen fertig.“

Price und der Detektiv nahmen ein Auto. In der Nähe des Südtores des großen Friedhofs stiegen sie aus und gingen zu Fuß weiter. Pratt half dem Arzt dann beim Übersteigen der Mauer.

So, als ob er sich auf der Promenade eines Parkes bewegte, schritt Pratt nun neben Price den Hauptweg des Friedhofs entlang, bog links ab und fand die Grabkapelle ohne jede Schwierigkeit.

Der Doktor war jetzt förmlich sprachlos.

„Sie wissen hier ja glänzend Bescheid,“ meinte er kopfschüttelnd.

„Weil ich dem Begräbnis Ellinor Godwells beigewohnt habe und die Geschichte des verschwundenen Diamanthalsbandes schon kannte,“ erklärte Pratt schlicht. „Der Kollege Warpler, den Allan Godwell engagiert hatte, war nämlich bei mir, da er allein in der Sache nicht vorwärts kam. Ich hatte jedoch gerade den Giftmord Reicester in Arbeit, und daher war ich unabkömmlich.“

Er hatte schon einen Patentdietrich hervorgezogen und öffnete die Tür der Kapelle.

Price schwieg. Ein tiefer Respekt vor Pratts ganzer Art verschloß ihm den Mund.

Dann standen sie unten in der Gruft vor dem kostbaren Eichensarge Ellinor Godwells, und das Licht der elektrischen Laterne des Detektivs glitt langsam über den Deckel hin.

„Wir können umkehren,“ meinte Pratt.

„Weshalb denn?“ entfuhr es dem Doktor halb gegen seinen Willen.

„Weil der Sarg nicht geöffnet worden ist.“

„So —?!“

„Ja. Ich habe damals in der Maske eines Zeitungsreporters das Begräbnis mitgemacht und in dem ungewissen Vorgefühl, das Ellinors Tod noch Weiterungen nach sich ziehen würde, ein unsichtbares Siegel an Deckel und Unterteil des Sarges angebracht. Bitte!“

Und er zeigte auf ein dünnes gelbes Seidenfädchen, das ganz unsichtbar mit Wachs über die Rille zwischen Deckel und Unterteil gespannt war.

„Ah — verstehe!“ flüsterte Price. „Das Fädchen müßte sich gelöst haben, wenn jemand den Deckel losgeschraubt und angehoben hätte.“

„Allerdings!“

„Hm — trotzdem möchte ich sie bitten, den Deckel doch zu lüften,“ meinte der Doktor zögernd. „Wir wollen sicher geben.“

Pratt erwiderte nichts, begann die silbernen Flügelschrauben herauszudrehen und hob dann mit Prices Hilfe den Deckel empor.

In einem reich mit echten Spitzen garnierten weißen Atlaskleide lag die blonde schöne Ellinor in dem Sarge auf kostbaren Kissen.

„Das Gesicht ist nur wenig verändert,“ flüsterte Price leise. „Ich erkenne sie wieder. Es ist die junge Frau Godwell.“

Sie verschlossen den Sarg wieder, und Pratt befestigte dann das Seidenfädchen abermals in der früheren Weise. —

Sie hatten das Auto warten lassen und fuhren nun der inneren Stadt zu.

„Werden sie den Fall übernehmen, Mr. Pratt?“ fragte der Doktor bittend.

„Ich habe ihn ja schon übernommen, Mr Price,“ erklärte der berühmte Detektiv in seiner selbstverständlichen Art. „Vorgestern habe ich das Diamantenhalsband bei einem Hehler aufgestöbert.“

„Donnerwetter!“ rief der Nervenarzt ganz verwirrt. „Bei einem Hehler?“

„Ja, bei dem Juwelier Bliern, Tom Bliern, einem scheinheiligen Halunken zu dem ich in der Maske eines englischen Lords gegangen war, um angeblich einen besonders kostbaren Schmuck zu kaufen. Bliern ließ sich täuschen und legte mir schließlich das Brillantgeschmeide vor. Ich — kaufte es auch — auf meine Art!“

„Und — wie denn?“

„Indem ich die Imitation, die ich durch Warpler erhalten hatte, geschickt in das Kästchen legte und den echten Schmuck einsteckte.“

„Verdammt, Mr. Pratt, — ein feiner Streich!“

„Dann erst gab ich mich Bliern als — Polizeibeamter zu erkennen. Bliern bestach mich. Ich versprach zu schweigen, und er erzählte mir, daß Ellinor Godwell ihm den Schmuck für eine halbe Million Dollar überlassen hatte. Er ahnt wohl heute noch nicht, daß er nur mehr die Imitation besitzt. Sie sehen, Mr. Price, das mir zwar Allan Godwells Halluzinationen neu waren, daß ich im übrigen aber bereits einiges erreicht habe — so daß der Schmuck sich jetzt bei mir in meinem Tresor befindet.“

„Und — was halten sie von dem Dogcart und dessen Lenkerin?“

„Sie verlangen zu viel. Ich bilde mir nie vorschnell eine bestimmte Meinung. Ich weiß nicht mehr wie sie, — eben nur das eine, daß es eine weibliche Person gibt, die zu einem noch nicht erkennbaren Zweck hier jetzt Ellinor Godwell spielt. Einen Zweck hat diese Komödie, ohne Frage, und sicherlich einen verbrecherischen Zweck.“

„Hm — Allan Godwell ist der Erbe von achtzig Millionen —“

„Ganz recht. Und seine Frau verkaufte ihr Brautgeschenk einem Hehler, von dessen Hehlertätigkeit nur wenige etwas ahnen. Mithin muß sie — mit Verbrecherkreisen Beziehungen gehabt haben, eben mit Leuten, die mit Bliern schon dunkle Geschäfte gemacht hatten.“

„Armer Godwell! Vielleicht war diese Ellinor eine recht fragwürdige Person!“

„In gewissen Sinne gewiß. Schon daß sie den Scharlatan Doktor Hellforn zum Hausarzt wählte, gibt sehr zu denken. — Darf ich sie an Ihrem Hause absetzen, Mr. Price?“

„Bitte —“ —

Pratt fuhr dann allein heim. Als er die Tür seines kleinen Häuschens in der Pearlstraße aufgeschlossen hatte, kam ihm schon seine Haushälterin Frau Allison entgegen und sagte ihm leise, daß zwei Herren im Arbeitszimmer säßen, die Pratts Hilfe in Anspruch nehmen wollten.

Der Detektiv betrat zunächst durch den Hinterflur sein Ankleidezimmer und schob an der Wand nach dem Vorderzimmer hin ein Bild beiseite.

Hier war ein kleines Fenster versteckt angebracht, so daß Pratt die beiden Herren, die am Mitteltisch saßen, bequem beobachten konnte.

Der eine von ihnen war offenbar ein Seemann. Sein blaurotes Gesicht, der kurze rotblonde Vollbart und die blaue, dicke Winterjacke verrieten dies dem Kenner. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein, war mittelgroß und sehr breitschultrig.

Der andere, mit einer gewissen Eleganz gekleidet, mochte zehn Jahre jünger sein. Sein bartlos, überaus mageres Gesicht wirkte wenig sympathisch. Die dünnen Lippen, die kaum sichtbaren Augenbrauen und die bis auf einen schmalen Spalt zugekniffenen Augen, ebenso ein grausam-brutaler Zug um den Mund, deuteten auf einen gefährlichen Charakter hin.

Über den beiden hing an der Zimmerdecke eine elektrische Lampe mit drei Glühbirnen und einem mächtigen Glasschirm darüber.

Dieser Schirm hatte seinen besonderen Zweck. Er war nichts anderes als ein Schallfänger. Ein elektrischer Apparat, der unsichtbar über dem Schirm montiert war, verstärkte selbst das noch so leise an dem Tische geflüsterte Wort bis zu vollkommener Deutlichkeit und leitete das Gesprochene einem neben dem geheimen Fenster hängenden Telephon zu.

Als sich jetzt der Seemann über den Tisch beugte, sicherlich in der Absicht, seinem Gefährten etwas zuzuraunen, nahm Pratt schnell den Telephonhörer ans Ohr, ohne die beiden Leute aus dem Auge zu lassen.

„Er ist bereits zurückgekehrt. Vielleicht beobachtet er uns. Wollen etwas Harmloses sprechen,“ vernahm Pratt ganz deutlich.

Der andere sagte darauf, indem er ein Gähnen nachahmte:

„Ob denn Nic Pratt gar nicht mehr kommt, Kapitän? Wir sitzen hier schon eine volle Stunde. Ich bin hundemüde.“

Er gähnte wieder.

„Jackson, ich bleibe hier, selbst wenn ich bis zum Morgen lauern müßte,“ erklärte der Seemann darauf. „Die Sache muß so bald wie möglich klargestellt werden.“

Pratt merkte, daß die beiden diese Unterhaltung jetzt für einen heimlichen Lauscher bestimmt hatten. Er wollte nicht länger Zeuge eines Gesprächs sein, das für ihn in keiner Weise Wert hatte. Er wusste ja bereits genug. Die beiden da waren fraglos in unlauterer Absicht zu ihm gekommen. Er würde daher auf seiner Hut sein. Der Fall Godwell warnte ihn. Er kannte ja die Großzügigkeit gewisser Verbrecher. Und hier bei dem Problem der Scheintoten, wie er die Sache Godwell in Gedanken getauft hatte, handelte es sich höchstwahrscheinlich um viele Millionen. Das bewies schon die seltsame Komödie der Dogcartlenkerin. Es war nicht ausgeschlossen, daß dieser Kapitän und der Magere an dieser Geschichte irgendwie beteiligt waren, das man Allan Godwell ständig beobachtet und so auch herausgebracht hatte, wie Doktor Price heute abend zu Pratt geeilt war, wie dann Pratt und der Arzt nach dem Westfriedhof gefahren waren und was sie dort getrieben hatten.

Dies schloss dem Detektiv jetzt durch den Kopf, als er den Telephonhörer weghängte und der Tür zum Vorderzimmer zuschritt. — Gewiß, er hatte nach alter Gewohnheit sowohl während der Autofahrt mit Doktor Price genau achtgegeben, ob jemand dem Kraftwagen folgte, hatte dieselbe Wachsamkeit auch nachher auf dem Friedhof nicht außer acht gelassen und selbst bei der Rückfahrt dasselbe mißtrauische Mustern der Umgebung in seiner unauffälligen Weise für notwendig erachtet, ohne irgendwie etwas Verdächtiges zu bemerken. Aber die Erfahrung hatte ihn längst gelehrt, sich nie vorschnell in Sicherheit zur wiegen. Es gab genug sogenannte erstklassige Großstadtverbrecher, die es an Schlauheit mit dem besten Detektiv aufnahmen. Besonders hier in Neuyork, dem Endziel der meisten europäischen Dampferrouten, sammelte sich das internationale Gaunertum, dem anderswo der Boden zu heiß geworden, stets in Menge an.

 

 

3. Kapitel.

Die Harpune.

Pratt öffnete die Tür, trat ein und entschuldigte sein langes Ausbleiben.

„Ich bin noch ohne Abendbrot gewesen,“ meinte er leichthin. „Ich musste noch schnell einen Happen zu mir nehmen. Sie hörten mich wohl kommen, meine Herren. Mit leerem Magen verhandelt es sich schlecht.“

Der Seemann hatte sich als Kapitän John Berting und seinen Begleiter als Ingenieur. Albert Partry vorgestellt.

Pratt zog sich einen Sessel an den Tisch, nahm Platz und bot seinen fragwürdigen Klienten eine Zigarre an. Er selbst stopfte sich seine kurze Pfeife.

Kapitän Berting begann dann:

„Mr. Pratt, ich will mich kurz fassen. Mein Schiff, die Schonerbark Estrella, liegt südwestlich von Neuyork in der Naritan-Bay vor Anker unweit Great Kills. Wir sind vor acht Wochen etwa, von London kommend, hier eingetroffen. Mein Freund Partry ist Miteigentümer der Estrella, die wir hier günstig verkaufen zu können hofften. Bisher ist daraus nichts geworden.“

„Sie sind also nur des Schiffsverkaufs wegen hierher gekommen?“ warf Pratt ein.

„Ja, nur deshalb. Wir haben die Besatzung abgemustert und wohnen nur allein auf der Estrella. Wir beide sind Junggesellen und besitzen etwas Vermögen, so daß wir uns mal ’ne Weile ausruhen können. Wir leben dort an Bord wie die Einsiedler. Ich angle viel, und Partry arbeitet an einer Erfindung. Er hat sich das Mannschaftslogis als Werkstatt eingerichtet. Vor drei Tagen sah ich nun, als ich abends gegen neun meine Aalschnüre um die Estrella herum auslegte, ein Motorfrachtboot aus der Richtung Neuyork nahen, auf dem ich mit meinen guten Augen einen leichten zweiräderigen Wagen, einen sogenannten Dogcart, sowie einen Rappen, ein Pferd, stehen sah. Außerdem waren noch drei Personen an Bord, darunter eine Frau und ein Junge. Das flache Motorboot fuhr langsam um die Halbinsel Great Kills herum und bog in die Bucht ein. Gestern um dieselbe Zeit etwa bemerkte ich das Frachtboot zum zweiten Male. Und heute — das hätte jeder getan! — heute paßte ich nun schon auf, ob das Boot kommen würde. Es — kam auch!“

Er machte eine Pause und sog an seiner Zigarre.

„An dieser Sache wäre ja nun an sich nichts Auffallendes, Mr. Pratt,“ fuhr er bedächtig fort. „Aber Pferd und Wagen waren alle drei Male mit Leinwand bedeckt. Ich hätte nicht gewußt, welche Ladung das Boot führte, wenn der Gaul nicht beim ersten Male, als ich das Fahrzeug sah, sich die Decke abgeschüttelt und dabei auch den Wagen mit enthüllt hätte. Außerdem — und das erscheint mir am wichtigsten — außerdem stellte ich fest, daß die Leute des Frachtbootes sehr vorsichtig sind und jedem Kutter der Hafenpolizei in großem Bogen ausweichen. — Wir hatten nun in den hiesigen Zeitungen wiederholt Ihren Namen gefunden und glaubten, daß das Frachtboot sie interessieren könnte. Irgend etwas ist an diesem Boot und den Insassen nicht ganz reinlich. So, das wäre alles, Mr. Pratt.“

Nic Pratt verstand es vortrefflich, sein Erstaunen zu verbergen. Er war wirklich mehr als verwundert über diesen Bericht des Kapitäns. Er konnte sich nicht darüber klar werden, ob er mit seinem Argwohn von vorhin, daß die beiden Herren vielleicht zu der „Scheintoten“ in Beziehung ständen, nicht daneben gehauen hätte.

Die Pfeife im Mundwinkel, den Kopf tief gesenkt, lehnte er in seinem Klubsessel und prüfte das Gehörte mit jener geistigen Sorgfalt, die er selbst bei den alltäglichsten Dingen sich zur Gewohnheit gemacht hatte.

Das, was Kapitän John Berting ihm soeben erzählt hatte, stimmte ja genau zu dem, was Allan Godwell mit dem Dogcart erlebt hatte. An denselben Tagen, an denen Godwell seine Gattin in einem Pelz und Hut, den sie als Lebende getragen, flüchtig auf der Straße als Lenkerin des Rappengefährts wiedergesehen hatte, waren nach Bertings Behauptung Pferd, Wagen, der Boy und das Weib an der Schonerbark im Frachtboot vorübergekommen.

Ja — alles stimmte! Und es war auch durchaus glaubhaft, daß die Leute die diese Dogcart-Komödie inszenierten, Pferd und Wagen nach Benutzung aus Vorsicht wieder aus Neuyork wegschafften.

Pratt war in der Tat in größter Verlegenheit, wie er sich hier benehmen solle. Waren Berting und Partry harmlose Menschen, die lediglich in ihr Einsiedlerleben auf der Estrella durch eine kleine Sensation, eben durch die Aufklärung der geheimnisvollen Fahrten des Frachtbootes, etwas Abwechselung bringen wollten, dann wäre es ja am richtigsten gewesen, das er mit ihrer Hilfe dem Boote und dessen Insassen nachspürte. Anderseits konnten sie ihn auch nur auf die Estrella locken und als ihnen unbequem verschwinden lassen.

Nun — hierüber würde er sich jetzt Klarheit verschaffen. Ihm war da soeben etwas eingefallen. Und so sagte er denn:

„Auch ich halte dieses Frachtboot für nicht ganz einwandfrei, Mr. Berting. Leider nimmt aber zur Zeit ein anderer Fall meine Zeit derart in Anspruch, das ich fürs erste nichts Neues vornehmen kann. Ich würde Ihnen raten, dem Boote weiter aufzulauern und ihm einmal heimlich zu folgen. Dann können sie mir ja Bericht erstatten, was sie festgestellt haben.“

„Schade!“ meinte der Kapitän. „Wir hatten gehofft, sie würden mit uns zusammen in dieser Nacht die Ufer der Great Kills-Bucht nach dem Frachtboot absuchen. Es muß dort doch irgendwo festgemacht sein.“

Pratt wusste jetzt Bescheid: man wollte ihn fraglos in eine Falle locken! Und — er würde scheinbar arglos den beiden auch folgen — sofort folgen! Aber er würde auch gleichzeitig dafür sorgen, daß diese hinterlistigen Burschen ihm nichts anhaben könnten. —

Fünf Minuten später verließ er mit Berting und Partry sein Häuschen. Am Westhafen bestiegen sie Bertings Jolle, die dieser hier am Kai angekettet gehabt hatte.

Pratt hatte sich am Kai nochmals vorsichtig umgeschaut. Die Nacht sternenklar. So erkannte er denn denselben Menschen, der sich vorhin in der Pearlstraße herumgedrückt hatte und ihnen gefolgt war, sofort wieder. Der Kerl spielte jetzt in seiner Matrosentracht den Betrunkenen und lehnte an einer Laterne.

Pratt sah noch mehr: der Mensch zündete sich seine Pfeife mit einem grünen bengalischen Streichholz an.

Eine grüne Flamme! Das war ohne Zweifel ein Signal! —

Nic Pratt setzte sich gelassen ans Steuer der Jolle.

Er hatte sich seine Sportmütze tief über die Ohren gezogen und den breiten Kragen seines warmen Ulsters hochgeschlagen, in dessen rechtem Unterärmel sich innen eine Tasche befand, die einen kleinen, zierlichen Revolver enthielt. So brauchte Pratt die Hand nur in den weiten Ärmel verschwinden zu lassen, um die Waffe ergreifen zu können.

Berting und Partry ruderten. Das leichte Boot flog nur so dahin.

Pratt hatte die Augen überall. Er war überzeugt, das sich etwas ereignen würde. Das grüne Licht konnte nur ein Signal für ein Boot gewesen sein. Und dieses Boot war zu fürchten.

Nachdem das Schiffs- und Bootgewimmel des Innenhafens hinter ihnen lag, als man die Freiheitsstatue passiert hatte und die ruhige Upper-Bay passierte, vernahm Pratt sehr bald das taktmäßige Geräusch eines Motors hinter sich. Das Geräusch kam nicht näher. Mithin fuhr das Motorboot dort nur mit halber Kraft. Es wollte die Jolle nicht überholen.

Pratt lächelte verstohlen.

Vielleicht würde das Motorboot die Jolle nachher rammen, vielleicht würde man ihn durch einen Hieb zu betäuben suchen, damit er ertränke. —

Das Feuerschiff von Robbins Riff tauchte vor der Jolle auf.

Da — der Verfolger kam näher. Das Knattern wurde stärker.

Pratt knöpfte unauffällig seinen Ulster auf, langte nach dem kleinen Revolver.

Dann schoß ein kleines Frachtboot an der Jolle vorüber.

Pratt hatte den Kopf gedreht. Das Boot war keine vier Meter entfernt.

Vorn stand ein Mann mit erhobenem Arm — eine Art Lanze in der Hand — eine Walfischharpune.

Die Harpune sauste durch die Luft.

Sie war vortrefflich gezielt, traf Pratt von der linken Seite gegen die Brust.

Mit einem gurgelnden Schrei schnellte er hoch, sank dann über Bord.

Und die trüben Wasser der Upper-Bay schlossen sich über dem Opfer menschlicher Hinterlist.

 

 

4. Kapitel.

Der Einbrecher.

Die Wache auf dem nahen Feuerschiff von Robbins Riff wurde gleich darauf durch gellende Hilferufe die von Norden her herüberschallten, dazu veranlaßt, ein Boot zu Wasser zu bringen und nach der Stelle hinüberzurudern, wo offenbar zwei Menschen in den Fluten um ihr Leben rangen.

Man zog die bereits recht erschöpften Schwimmer noch lebend ins Boot. Sie wurden auf das Feuerschiff gebracht, mit trockenen Kleidern versehen und gaben dann vor dem Inspektor der Hafenpolizei Davis zu Protokoll, daß sie heute abend bei dem Detektiv Nic Pratt gewesen seien und ihn gebeten hätten, mit ihnen zusammen einem verdächtigen Fahrzeug nachzuspüren, einem Motorfrachtboot durch welches ihre Jolle dann vorhin in den Grund gebohrt worden war, nachdem von dem Motorboote aus durch einen Hapunenwurf Nic Pratt den Tod gefunden hatte. — Sie unterzeichneten das Protokoll mit Berting und Partry und wurden durch ein Boot nach ihrer Schonerbark geschafft.

Mr. Davis meldete Pratts Tod telephonisch dessen Freunde, Detektivinspektor Grablay, und ließ dann von Fischern die in Betracht kommenden Teile der Bucht mit Netzen absuchen. Man fand die Leiche nicht mehr. Die Strömung mußte sie davongeführt haben.

Inspektor Grablay wieder fuhr nach der Pearlstraße zu Pratts Wirtschafterin Frau Allison und teilte ihr die Trauerkunde mit. Frau Allison war ganz verzweifelt und beschwor Grablay, ein wachsames Auge auf die beiden Männer zu haben, die Nic Pratt abgeholt hatten. „Der eine, der jüngere,“ betonte sie immer wieder, „kam mir recht verdächtig vor. Er hatte kein gutes Gesicht.“

Grablay schüttelte den Kopf. „Liebe Frau Allison, Sie tun den Leuten Unrecht. Es sind ein harmloser Kapitän und ein Ingenieur, die auf einem Segelschiff hausen, das sie gern verkaufen möchten.“

Frau Allison, ein hageres Weiblein, treu, anhänglich und in vielem Pratts Vertraute, sprang plötzlich von ihrem Stuhle empor und lief in ihres Herrn Ankleidezimmer hinüber. Nach einer Weile kam sie zurück und flüsterte Grablay geheimnisvoll etwas zu.

„Ah — wirklich?!“ rief der Inspektor hoffnungsfroh. „Das ändert die Sache!“

„Dann noch etwas, Mr. Grablay,“ flüsterte die hagere Alte weiter. „Pratt hat mir letztens gesagt, daß ich, falls ihm etwas zustieße, Ihnen folgendes anvertrauen sollte. In seinem Tresor in seinem Schlafzimmer liegt ein Diamantgeschmeide. Dieses Schmuckes wegen sollen Sie sich in aller Stille mit Mr. Allan Godwell in Verbindung setzen. Da Pratt jetzt etwas zugestoßen zu sein scheint, entledige ich mich dieses Auftrags hiermit. Den Schmuck hat er dem Juwelier und Hehler Bliern abgenommen, indem er eine Imitation unterschob.“

Grablay, der von Allan Godwells Begegnungen mit dem geheimnisvollen Dogcart noch keine Ahnung hatte und der ebensowenig etwas von der Tatsache wußte, daß Ellinor Godwell sich ihres Brautgeschenks aus irgend einem Grunde entäußert hatte, war einer der besten Detektivbeamten der Millionenstadt.

Er versank jetzt in tiefes Nachdenken und meinte dann:

„Ich werde Sie nun verlassen, Frau Allison, werde aber sehr bald verkleidet zurückkehren und zwar über die Dächer und Höfe der Nachbargrundstücke. Wenn Ihr Verdacht gegen diesen Kapitän — Berting und den Ingenieur Partry irgendwie begründet ist und die beiden Nic Pratt absichtlich aus dem Hause gelockt haben, damit er beseitigt werden könnte, liegt es sehr nahe, daß die Kerle es auf den Schmuck abgesehen haben, von dessen Vorhandensein hier im Hause sie irgendwie etwas erfahren haben können. Ich werde daher hier diese Nacht wachen. Gehen Sie nur ruhig zu Bett, nachdem Sie mir den Schlüssel zur Hintertür gegeben haben.“ —

Etwa eine Stunde später betrat Grablay in der Verkleidung eines Hafenstrolches abermals das Prattsche Häuschen vom Hofe aus, schlich durch den Hinterflur und öffnete lautlos die Tür des Schlafzimmers seines Freundes.

Er hatte nur eine kleine Blendlaterne mit, und als er sich jetzt bei deren schwachem Lichtschein nach einem Versteck umschaute, glaubte er dies hinter einer mit einem Vorhang versehenen Kleiderecke ganz nach Wunsch gefunden zu haben. Er schlug den Vorhang zur Seite und — prallte zurück.

Zwischen den dort hängenden Kleidungsstücken hatte ihm jemand einen kleinen Revolver drohend entgegengestreckt!

„Rühr’ Dich nicht, Bursche!“ flüsterte gleichzeitig eine Stimme. „Harpunierte Detektive sind noch gefährlicher als andere!“

Da lachte Grablay leise auf.

„Lieber Nic,“ meinte er heiter, „als Frau Allison mir sagte, daß aus Ihrem Ankleidezimmer der leichte Stahldrahtpanzer fehlte, dachte ich mir gleich, was es mit Ihrem Harpunentode auf sich hätte!“

„Desto besser. — Kommen sie, Grablay, hier ist noch Platz für sie.“

Der Inspektor zwängte sich ebenfalls hinter die Kleider, und Pratt fügte hinzu? „Ich war diesmal besonders vorsichtig. Ich ließ die Harpune ruhig auf mich zufliegen. Ich wusste, daß sie mir nichts anhaben konnte. Dann plumpste ich ins Wasser, streifte den Ulster ab, schwamm ein Stück unter Wasser nach Norden, tauchte auf, holte Atem, tauchte wieder gelangte schließlich beim Constable-Fort an Land, wo Leutnant Jeffris mir mit trockenen Kleidern aushalf und mich in seinem Motorboot nach der Great Kills-Halbinsel brachte. Als Berting und Partry dann kaum zehn Minuten an Bord ihrer Estrella gewesen waren, verließen sie das Schiff wieder in einer Gig (größeres Boot) und landeten später hier im Hafen unweit der Straße, in der Juwelier Bliern seinen kleinen Laden hat. Ich schlich ihnen nach. Sie verschwanden hinter Blierns Ladentür, nachdem sie auf besondere Weise angeklopft hatten. Daher vermutete ich, sie würden sich aus meinem Tresor die Halskette holen, die —“

„Das weiß ich alles, lieber Nic. Das hat Frau Allison mir erzählt. — Pst — hörten sie?!“

„Ja — eine Scheibe wurde mit einem Pechlappen eingedrückt!“

„Ah — dann werden die Schufte bald die Stahlfesseln näher kennen lernen, die ich in der Tasche habe!“

„Das werden sie nicht, Grablay! Das wäre sehr unklug von uns. Im Gegenteil, wir werden die Kerle den Schmuck ruhig holen lassen. Ich habe es ihnen schon recht bequem gemacht und den Tresorschlüssel in das Beinkleid gesteckt, das dort über dem Bett liegt. Nachher folgen wir ihnen. Ich muß wissen, wo die Bande wohnt. Wissen sie schon etwas von Allan Godwells scheintoter Gattin?“

„Nein, nichts. Was ist’s damit?“

„Still!“

Das Türschloss hatte leise gekreischt.

Nun quietschten auch die Türangeln ganz wenig. Dann wurde die Tür zu gedrückt.

Pratt hatte den Vorhang ein wenig beiseite gedrückt. So konnte Grablay und er denn zwischen den Kleidern hindurch den grellen Lichtkegel einer Taschenlampe sehen und auch undeutlich einen schlanken, schmächtigen Mann erkennen, der die Lampe in der Rechten hielt.

Der Mann näherte sich lautlos den Tresor, machte davor halt und betrachtete das Schloß. Er hatte eine graue Seidenmaske vor dem Gesicht und einen schäbigen Mantel an. Dazu trug er eine Sportmütze, die ballonartig am Hinterkopf aufgebauscht war und bis ins Genick hinabreichte.

„Merken sie etwas, Grablay!“ hauchte Pratt dem Inspektor ins Ohr. —

Da — ein leises Schluchzen.

Der Einbrecher hatte sich auf den nächsten Stuhl gesetzt und — weinte!

Grablay traute seinen Augen und Ohren nicht. Was in aller Welt bedeutete dies? Ein Dieb, der am Tatort sich hinsetzt und so jammervoll schluchzt — das war ihm noch nie begegnet!

 

 

5. Kapitel.

Die Leidensgeschichte einer Frau.

Pratt brachte abermals seinen Mund an Grablays Ohr.

„Ein Weib – die hinten aufgetriebene Sportmütze!“ flüsterte er.

Der Inspektor starrte auf die noch immer leise schluchzende verkleidete Frau. Jetzt erhob sie sich und zog ein paar für diesen Zweck ganz unbrauchbare Nachschlüssel aus der Tasche. Sie hantierte damit an dem komplizierten Kunstschloß des Tresors herum, bis sie die Nutzlosigkeit dieser Bemühungen einsah und sich wieder auf den Stuhl setzte. In der Haltung einer völlig Verzweifelten saß sie da. Die kleine elektrische Lampe hatte sie auf das dicht daneben stehende Bett gelegt. Regungslos stierte sie auf den leuchtenden Fleck des Lichtkegels. Dann geschah das, was Pratt beabsichtigt hatte.

Mit jäher Bewegung griff sie nach dem Beinkleid. Ihre Finger befühlten gierig die Taschen. Dann etwas wie ein heiserer Schrei.

Sie hatte den Schlüssel gefunden, sprang auf, probierte ihn am Schloß des kleinen Panzerschranks.

Ein tiefer Seufzer der Erleichterung kam über ihre Lippen. Die schwere Stahltür ging auf.

Im Mittelfach lag ein Päckchen: das in Watte gepackte Brillantkollier!

„Gott sei Dank!“ flüsterte die Frau. „Gott sei Dank! So kann ich doch wenigstens dies eine wieder gut machen!“

Abermals weinte sie still in sich hinein, raffte sich dann auf, schob das Päckchen in die Tasche und eilte wie von Furien gehetzt in den Flur, wo sie eine Scheibe des neben der hinteren Flurtür liegenden Fensters eingedrückt hatte.

Geschickt schwang sie sich hinaus, sprang in den Hof hinab und huschte um das Haus herum, gelangte durch den kleinen Vorgarten auf die Pearlstraße und bemühte sich hier, das ruhige Tempo eines harmlosen nächtlichen Wanderers anzuschlagen. Daß ihr jemand heimlich folgen könnte daran dachte sie nicht im entferntesten.

So kam sie bis an die Kreuzung der, Pearl- und Oßlingstraße. weit und breit war kein Mensch zu sehen. Nur ein paar Schritt in die Oßlingstraße hinein hielt ein geschlossenes Taxameterauto, Der Chauffeur saß vorn und las bei der schlechten Beleuchtung einer kleinen Glühbirne eine Zeitung.

Die verkleidete Frau rief ihn an, fragte ob der Wagen frei sei und erhielt eine brummige bejahende Antwort.

Gerade als sie einstieg und der Chauffeur den Motor anwarf, lugten Pratt und Inspektor Grablay um die Straßenecke.

Beide hörten den schnell verstummenden gellenden Aufschrei aus einer weiblichen Kehle und den Knall der zugeworfenen Autotür.

„Ah — eine neue Schurkerei!“ flüsterte Pratt. „Überlassen Sie mir das weitere, Grablay. Ich werde versuchen, mich hinten auf das Auto zu schwingen. Es ist kein anderes in der Nähe. Es muß gelingen!“

Und es gelang ihm auch dank seiner fabelhaften Gewandtheit. So hing er denn nun, nur mit den Finger- und Stiefelspitzen einen Halt findend, halb unter dem Kraftwagen, der in raschester Fahrt den östlichen Teilen der Millionenstadt zustrebte.

Pratt kannte Neuyork in allen Teilen wie seine eigene Tasche. Das Auto jagte jetzt die Houstonstraße entlang und bog in die Pittstraße ein.

Da wusste Nic Pratt , wo der Kraftwagen halt machen würde. Hier in der Pittstraße wohnte der Marktschreier von Arzt Doktor Edward Hellforn. Hier hatte er seine Klinik, in der Ellinor Godwell verstorben war.

Jetzt ließ er sich auf die Straße fallen, sprang sofort wieder auf und huschte in den Eingang der 18. Polizeiwache hinein. Von hier aus rief er Grablay telephonisch au, der auf der 5. Wache in der Oßlingstraße auf diese Meldung wartete.

Bereits nach zehn Minuten war der Detektivinspektor mit acht Beamten in Zivil zur Stelle.

Doktor Hellforns Haus lag mitten in einem großen, dichtbewachsenen Garten. Als Pratt und Grablay mit vieren der Leute des Inspektors durch ein Fenster der Hinterfront in das Gebäude eingedrungen waren und den oberen Flur erreicht hatten, hörten sie hinter einer Tür erregte Stimmen. Pratt öffnete die Tür des Nebenraumes und huschte hinein. Die Verbindungstür nach rechts war ausgehoben und durch einen kostbaren Vorhang ersetzt worden. So konnten denn Pratt und Grablay jetzt jedes Wort verstehen, was dort verhandelt wurde. Gerade jetzt rief die verkleidete Frau mit verzweifelter Energie:

„Ich bin Euch heute entflohen und werde es bei nächster Gelegenheit abermals tun. Tötet mich doch! Warum ließt Ihr mich nicht vor vierzehn Tagen ruhig sterben?! Ich beneide Daisy um ihre Ruhe im Grabe! Ich hatte mich völlig von Euch losgesagt, verdiente mir ehrlich mein Brot, wollte nie mehr daran erinnert werden, daß ich einst Ellinor Berting hieß, daß mein Vater der berüchtigste Hafenpirat der Themse war und meine Schwester und meine Brüder ebenfalls — Verbrecher und Betrüger, wie Du einer bist, Edward, der hier den Arzt spielt. Ich gehöre nicht mehr zu Euch, seit Jahren nicht mehr! Ich hatte ein großes Glück gefunden, war eine vielbeneidete Frau geworden! Dann sah Edward mich hier wieder, dann rief er Euch herbei! Und Ihr kamt mit dem unredlich erworbenen Segler über das Weltmeer, das ich zwischen mich und die Schmach des Namens Berting gelegt hatte. Dann verkaufte ich den Schmuck, um Euch das Geld vor die Füße zu werfen, um Euch loszuwerden! Aber aufs neue strecktet Ihr die Krallen nach mir aus, aufs neue plantet Ihr in Eurer Geldgier ein ungeheures Verbrechen. Wachsabdrücke der Schlüssel zu den Gewölben der Godwell-Bank sollte ich Euch liefern! Zum Glück erkrankte ich. Da hatte ich für Tage Ruhe. Und dann — dann die größte Scheußlichkeit: meine Zwillingsschwester starb an der Grippe, auch Ihr sorgtet dafür, daß sie an meiner Stelle als Frau Godwell beerdigt wurde. Eure raffinierte Brutalität kannte keine Grenzen. Ihr zwangt mich zu den Dogcartfahrten, Ihr drohtet, meine Herkunft zu verraten, wenn ich nicht gefügig wäre! Ich sollte meinen Gatten, wenn er eines Abends mit den Bankschlüsseln nach Geschäftsschluss heimkehrte, in den Zentralpark locken, damit Ihr ihn überfallen und ihm die Schlüssel abnehmen könntet. Zum Schein ging ich auf dieses freventliche Spiel ein. Heute gelang es mir, Robert vom Dienersitz herabzustoßen und mit dem Wagen davonzujagen!“ Ihre Stimme wurde immer schriller. „Und — heute werde ich ganz frei sein!“

Pratt sah durch den Spalt des Vorhangs, wie sie auf den angeblichen Doktor Hellforn zusprang und ihm den Revolver entriß, den er in der Hand hielt.

Blitzschnell richtete sie die Waffe auf die eigene Stirn.

Pratt war schneller. Pratt feuerte noch rechtzeitig, und seine Kugel schlug ihr den Revolver zur Seite.

Dann drangen schon die Beamten ein; dann entstand ein ungeheurer Tumult.

Pratt hatte die halb ohnmächtige Ellinor in die Arme genommen und brachte sie hinab zu dem auf der Straße stehenden Polizeiauto, brachte sie weiter nach der Glane-Straße zu ihres Gatten Villa.

So ward Allan Godwell in dieser Nacht die tief betrauerte Gattin wiedergegeben; so reichte Nic Pratt dem Kranze seiner Ruhmestaten ein neues Blatt an, auf dem geschrieben stand: „Das Glück zweier Menschen neu begründet!“ —

Es sollte nicht das letzte Blatt bleiben, das er dem Kranze seiner Erfolge anreihen durfte.

 

 

Nächster Band:

Der Spuk der Firne-Klippe.