Nic Pratt
Amerikas Meisterdetektiv
Heft 17:
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922
by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.
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Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin
1. Kapitel.
Die großen Nasen.
In einer stürmischen Oktobernacht gegen halb zwölf saß Nic Pratt, Neuyorks bekanntester und erfolgreichster Detektiv, in seinem Arbeitszimmer im weichen, tiefen Klubsessel, rauchte seine kurze Pfeife und durchflog den Anzeigenteil der Abendausgabe der Neuyorker Zeitung „Expreß Telegraph“, die stets die meisten Annoncen brachte.
Pratts junges, frisches Gesicht bekam plötzlich einen gespannten Ausdruck.
Da stand unter „Verschiedenes“ eine recht merkwürdige Anzeige:
Filmfabrik sucht talentvolle Herren mit recht großer Nase. Glänzende Bezahlung! Offerten an Mr. Thomas Glongry, W. 19. Straße, Nr. 105.
Diese Anzeige wäre jedem andern kaum so sehr seltsam erschienen. Weshalb sollte eine Filmfabrik nicht vielleicht für ein Ulkstück Darsteller mit außergewöhnlich großen Riechorganen nötig haben?! — Nein an dieser Annonce selbst war nichts Besonderes. Die Sache bekam jedoch sofort ein anderes Aussehen, wenn man ein so vorzügliches Gedächtnis wie Nic Pratt hatte
Er besann sich nämlich, daß ihm gestern vormittag sein Freund, der Detektivinspektor Stuart Grablay, von drei geheimnisvollen Leichenfunden im Hafen von Neuyork erzählt und dabei erwähnt hatte, daß die drei aufgefischten männlichen Leichen insofern verstümmelt gewesen seien, als sei allen dreien offenbar durch Hammerschläge die Nasen völlig zerstört und auch das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zermalmt gewesen sei. Über die Todesursache dieser drei Leute, deren Persönlichkeit bisher nicht hatte festgestellt werden können, war man im unklaren geblieben. Die Polizeiärzte nahmen jedoch an, daß die Betreffenden erst chloroformiert und dann ins Wasser geworfen worden seien. —
Pratt legte die Zeitung beiseite und dachte angestrengt nach.
Dann erhob er sich, trat an seinen großen Bücherschrank und nahm die letzten zwanzig Nummern des Expreß Telegraph heraus, setzte sich wieder und durchblätterte die Zeitungen.
Zum ersten Male, stellte er so fest, hatte dieser Mr. Glongry die Annonce mit demselben Wortlaut am 2. Oktober eingerückt. Am 4. Oktober fand sich die Anzeige abermals in der Abendausgabe, und von da an täglich.
Pratt packte die Zeitungen in den Schrank zurück. Die Tatsache, daß dieser Thomas Glongry bereits siebzehn mal dieselbe Annonce aufgegeben hatte, und die weitere Tatsache, daß bei den drei männlichen Leichen die Nasen offenbar absichtlich zerstört worden waren, genügten ihm zu folgender Erwägung: In einer Riesenstadt wie Neuyork mit so viel Arbeitslosen müßte die Filmfabrik bereits nach dreimaligem Erscheinen der Annonce einen solchen Zulauf von Männern mit Riesennasen gehabt haben, daß sie aus den Bewerbern fraglos ein paar „talentvolle“ herausgefunden hätte. Mithin dürfte es sich gar nicht um die Anzeige einer Filmfabrik handeln, sondern um irgend einen dunklen Zweck, der mit dieser Anzeige verfolgt wird, — einen Zweck, der vielleicht verbrecherischer Art ist, worauf die drei Wasserleichen hindeuten, bei denen gerade die Nasen am meisten verstümmelt sind, denn diese Leichen können womöglich Männer sein, die sich bei Mr. Glongry gemeldet haben. —
Als Pratt sich dies klar gemocht hatte, hörte draußen auf der Pearlstraße vor seinem Häuschen ein Auto halten.
„Ah — noch ein Klient!“ murmelte er und begab sich in den Flur, schob die Blende des Guckloches der Haustür zurück und spähte hinaus.
Eine Dame bezahlte gerade den Chauffeur des Mietautos. Dann kam sie langsam durch den kleinen Vorgarten auf das Haus zu.
Vor Pratts Grundstück stand eine Straßenlaterne, deren Licht bis an die Haustür reichte und auch die gegenüberliegenden Häuser hell beschien.
Pratts scharfe Augen machten nun eine recht seltsame Entdeckung. Aus dem Hause Nr. 9, das dem seinen gegenüberlag, beugte sich aus einem Fenster des ersten Stocks eine Frau für ein paar Sekunden hinaus, die ein Fernglas an die Augen hielt. Dann verschwand sie wieder in dem dunklen Zimmer, und das Fenster wurde hastig geschlossen. Ohne Zweifel hatte diese Frau nach der Dame ausgespäht, die jetzt am Glockengriff der Haustür zog.
Pratt blieb noch am Guckloch. Die Dame trug einen kostbaren Abendmantel mit Pelzbesatz und hatte das Gesicht und das Haar mit einem golddurchwirkten schwarzen Sturmschleier völlig verhüllt.
Nic Pratt ließ sie warten. Er wußte, daß seine Klienten, wenn sie längere Zeit draußen vor der Tür stehen mußten, sehr bald ungeduldig wurden und dann irgendwie ihre besondere Charakterveranlagung verrieten: durch ärgerliches Aufstampfen mit dem Fuße, durch halblaut gemurmelte Worte oder auf andere Weise.
Er hörte jetzt, wie die Verschleierte mehrmals tief aufseufzen. Ein quadratisches Stück der Tür war nämlich in Augenhöhe sehr geschickt als Schalltrichter hergerichtet.
So konnten denn auch Pratt jetzt die hastig geflüsterten Worte nicht entgehen: „Mein Gott, wenn er nicht daheim wäre! Dann hätte ich alles umsonst gewagt!“
Dann abermals ein kläglicher Seufzer.
Nun schloß Pratt recht geräuschvoll auf und bat die Dame in sein behagliches Arbeitszimmer.
Nachdem sie auf dem Ledersofa Platz genommen, begann sie unaufgefordert:
„Mr. Pratt, mein Name tut nichts zur Sache. Hier sind zehntausend Dollar als Honorar. Sie sollen einen Herrn suchen, der seit dem 14. des Monats verschwunden ist.“
„Die Bezahlung hat Zeit,“ meinte Pratt mit kühler Höflichkeit. „Wer ist der Verschwundene? Wo wohnte er?“
Die Dame, die eine sehr angenehme Stimme hatte und offenbar noch jung war, zögerte etwas. Dann erklärte sie:
„Der Herr hieß Edgar Longreel. Wo er wohnte, kann ich Ihnen leider nicht sagen.“
„So?! Das ist doch etwas merkwürdig. Sie wollen einen Mann suchen lassen, dessen Wohnung Sie nicht einmal kennen?! Welches Interesse haben Sie denn an dem Herrn?“
Die Dame wurde sehr verlegen. Nervös spielte sie mit ihrem goldenen Handtäschen, dessen Schloß sie spielend auf- und zuknipste.
„Nehmen Sie an,“ erwiderte sie darauf, „daß ich den Herrn zufällig kennengelernt habe, daß er mir leidtat, weil es ihm schlecht ging, und daß ich seine Beschützerin wurde. Wir wollten uns am 14. im Caffee London in der Bleecker-Straße treffen. Dort waren wir schon häufiger zusammengekommen. Aber Mr. Longreel erschien nicht — weder am 14. noch an den folgenden Tagen. Heute haben wir nun den 18 Oktober, und da Longreel bisher nichts von sich hören ließ, fürchte ich, daß ihm etwas zugestoßen ist.“
Pratt ahnte bereits irgend eine romantische Liebesgeschichte
„Was wissen Sie denn überhaupt von diesem Longreel, Miß?“ fragte er nun. „Können Sie ihn mir beschreiben? Hatte er besondere Kennzeichen? Was war sein Beruf?“
„Ich weiß nur, daß er erst seit zwei Monaten hier in Neuyork weilte? Er kam aus London hierher. Er hoffte hier eine Anstellung zu finden. Er ist Techniker. Meine Bekanntschaft mit ihm wurde durch mein Auto vermittelt. Ich steuere es gern selbst. Am 1. Oktober hatte ich drüben jenseits des Hudson bei Leonia eine Panne. Longreel kam gerade des Wegs und half mir. Er sah so elend und krank aus, daß ich ihm eine größere Geldsumme aufdrängen wollte. Er nahm jedoch nichts von mir an. Dann trafen wir uns im Cafee London viermal bisher. Longreel ist im übrigen leicht herauszufinden. Er hat ein schmales, energisches Gesicht mit einer messerscharfen, etwas großen Nase, graue Augen, blondes Haar und trägt keinen Bart. Auf der Oberlippe links hat er einen Leberfleck in der Größe einer Linse. Er ist schlank, so groß wie Sie, Mr. Pratt, und sieht alles in allem recht vornehm aus trotz seines abgetragenen Anzugs.“
Pratts Augen hatten sich bei der Erwähnung der „messerscharfen, etwas großen Nase“ für einen Moment geschlossen.
Er fragte jetzt so nebenher:
„Hatte Longreel Ihnen gegenüber einmal die Absicht geäußert, sich bei einer Filmfabrik um eine Stellung zu bemühen?“
„Ja — ja, Mr. Pratt. Das wollte er. Er wollte sich als Filmstatist engagieren lassen. Er sprach etwas von einer Zeitungsannonce, ließ sich aber nicht näher darüber aus.“
Pratt wußte genug.
„Miß, ich will den Auftrag übernehmen,“ erklärte er. „Sie werden jedoch genau das befolgen, was ich jetzt verlange. Ich werde Sie hier etwa eine halbe Stunde allein lassen. Dann wird draußen vor meinem Hause ein Taxameterauto vorfahren. Sobald der Chauffeur viermal die Hupe ertönen läßt, gehen Sie hinaus und drücken die Haustür hinter sich ins Schloß, besteigen das Auto und geben dem Chauffeur irgend eine Straße als Ziel an, sagen wir die 62. Straße am Zentralpark. Alles weitere findet sich dann.“
Die Dame versprach genau nach Pratts Anweisungen sich zu richten.
Pratt verabschiedete sich dann mit einem „Auf baldiges Wiedersehen“ und verschwand im Nebenzimmer.
2. Kapitel.
Der rotnasige Irländer.
Es waren noch keine zwanzig Minuten vergangen, als draußen wirklich eine Autohupe viermal ertönte und die junge Dame daher Pratts Arbeitszimmer verließ und sich durch den nur ganz schwach erleuchteten Flur zur Haustür begab.
Hier stand jedoch eine ältere, hagere Frau mit goldenem Kneifer auf der Nase und flüsterte der Dame zu:
„Erschrecken Sie nicht, Miß. Ich bin Frau Allison, Pratts Hausdame. Warten Sie bitte noch einen Moment. Noch ist es zu früh —“
Die Dame hatte längst davon gehört, daß Nic Pratt nur zwei Vertraute besaß: den Detektivinspektor Grablay und diese Frau Allison.
„Sie sind also eingeweiht, Frau Allison?“ meinte sie lebhaft. „Was mag Mr. Pratt mit dem Auto nur bezwecken? Ich wollte ihn nicht fragen. Er hatte es so sehr eilig.“
„Pratts Absichten sind stets die besten, Miß,“ erwiderte die Häushälterin ausweichend und spähte zum Guckloch hinaus. Sie sah, daß im ersten Stock des Hauses gegenüber wieder eine Frau mit einem Fernglas am offenen Fenster stand. Diese Frau war jetzt aber vorsichtiger und hielt sich halb hinter der Gardine verborgen. Das Zimmer war wieder dunkel, und Frau Allison konnte nur die verschwommenen Umrisse der Gestalt erkennen.
Dann machte der Chauffeur des Autos eine bestimmte Handbewegung, worauf Frau Allison die Haustür öffnete und sagte:
„So, nun ist es Zeit, Miß. Gehen Sie langsam und rufen Sie dann dem Chauffeur das Fahrtziel zu.“
Die Dame wünschte Frau Allison gute Nacht und entfernte sich.
Die Haushälterin, die das Licht im Flur ausgeschaltet hatte, verschloß die Tür wieder und spähte abermals durch das Guckloch.
Kaum hatte sich das Auto mit der Verschleierten in Bewegung gesetzt, als Frau Allison einen Mann gewahrte, der aus dem Hause Nr. 9 heraustrat und sich auf ein Rad schwang. Sie nickte befriedigt und murmelte: „Pratt hat wieder einmal recht gehabt. Dort drüben haben sich bei Frau Smitson, die sich durch Vermieten ernährt, Spione eingenistet.“ —
Das geschlossene Auto fuhr nordwärts bis zum Zentralpark.
Hier schien der Motor plötzlich in Unordnung geraten zu sein. Der rotnasige und rothaarige Chauffeur, offenbar ein Irländer, fluchte, stieg ab, öffnete die Wagentür und sagte mit heiserer Schnapsstimme zu der Verschleierten:
„Miß, es tut mir leid. Sie müssen schon ein anderes Auto nehmen. Ich habe Panne. Das Fahrgeld beträgt anderthalb Dollar.“
Zögernd stieg die Dame aus, bezahlte, gab ein gutes Trinkgeld und war froh, als ein leeres Mietauto gerade daherkam. Sie rief es an, flüsterte dem Chauffeur einen Straßennamen zu und fuhr davon.
Der rotnasige Irländer hatte inzwischen bereits den Radfahrer erspäht, ging auf den Mann zu, der sich an seiner Maschine zu schaffen machte, und bat ihn er möge ihm doch einen kleinen Schraubenschlüssel leihen.
Der Radler hatte jedoch nur Augen für die Dame und meinte unwirsch: „Habe keine Zeit! Lassen Sie mich in Ruhe!“
Er trug einen dichten schwarzen Vollbart und eine Brille mit grauen Gläsern.
Der Rotnasige wurde ärgerlich. „Oho, ist das eine Art, jemand abzufertigen ?!“ rief er wütend und packte den Menschen am Arm. „Her mit dem Schraubenschlüssel! Mit mir ist nicht zu spaßen!“
„Scheren Sie sich zum Teufel!“ brüllte der andere, „Sie sind ja betrunken!“
„Wie — ich betrunken?!“ Der angebliche Irländer, der auch das Englische ganz nach Art der Iren sprach, packte noch fester zu, da der Spion sich losreißen wollte.
Soeben setzte sich das Auto mit der Verschleierten in Bewegung.
Der Radler merkte, daß er dem eisenfesten Griff des Chauffeurs nicht entgehen könne. Er ballte die Faust, wollte zuschlagen. Doch der Rotnasige, der sehr verdächtig nach Fusel duftete, kam ihm zuvor.
Ein Hieb unter das Kinn, und der Spion rollte sich im Straßenschmutz.
Im selben Moment kamen rasch zwei Polizeibeamte herbei, die bisher in einer Haustürnische gestanden hatten. Einer von ihnen nahm den Chauffeur fest, indem er ganz leise flüsterte:
„Mr Pratt, nicht wahr?“
„Stimmt. Es klappt tadellos,“ entgegnete Nic Pratt, denn er war der angebliche Irländer.
Der andere Beamte hatte sich an den Radler gewandt.
„Eine Rauferei auf der Straße! Folgen Sie mir zur nächsten Wache. Vorwärts!“ sagte er sehr energisch.
Der Spion machte Ausflüchte. Aber der Polizist verharrte bei seinem Befehl.
So zogen denn die beiden Beamten mit ihren Arrestanten zur Polizeiwache. Das Auto Nic Pratts wurde indessen von einem dritten Polizisten bewacht, der sich ebenfalls wie zufällig auf dem Schauplatz eingefunden hatte.
Auf der Wache legitimierte Nic sich als Chauffeur Jakob Smeelingray. Der Radler, der seine Maschine mitgenommen hatte, nannte sich Jonas Trux und gab als Wohnung die westliche 19. Straße Nr. 105 an, konnte auch Papiere auf diesen Namen vorlegen.
Pratt hatte aufgehorcht. — W. 19. Straße Nr. 105! Das war ja dasselbe Haus, in dem auch jener Thomas Glongry wohnte, der die langen Nasen suchte.
Der Beamte, der die Arrestanten vernahm, blätterte in Trux’ Papieren und meinte dann:
„Ah — Sie sind Privatdetektiv, wie ich sehe. Deshalb tragen Sie wohl auch den falschen Bart und die graue Brille! Nehmen Sie beides mal ab, Mr. Trux. Ich möchte Sie gern unmaskiert mir anschaun.“
Widerwillig gehorchte Trux.
„Auch die Perücke!“ forderte der Beamte dann.
Trux enthüllte so eine spiegelblanke Glatze, die nur mit einem dünnen Kranz schwarzer Haare umgeben war.
Sein Gesicht hatte etwas Fuchsähnliches, Listiges, Verschlagenes an sich. Die dicken Lippen und das breite Kinn deuteten einen brutalen Charakter an.
„So, Mr. Trux,“ erklärte der Beamte, „Sie sind nun entlassen. Diesen Mr. Smeelingray behalte ich noch hier. Er muß erst nüchtern werden.“
Der Privatdetektiv stülpte die Perücke wieder über, befestigte den Bart, setzt die Brille auf und sagte dabei vertraulich:
„Ich bin sozusagen im Dienst. Deshalb auch die Verkleidung. — Gute Nacht.“
Dann schob er ab, bestieg draußen sein Rad und fuhr davon.
Die ganze Komödie mit der Autopanne, dem Schraubenschlüssel und den Beamten war von Pratt mit Inspektor Grablay so genau telephonisch vereinbart worden, daß Trux keinerlei Verdacht geschöpft hatte. Deshalb ahnte er jetzt auch nicht, daß ihm ein Polizeidetektiv auf eine Rade dauernd auf den Fersen blieb. —
Pratt saß jetzt im Zimmer des Vorstandes der Polizeiwache auf dem Sofa und rauchte behaglich eine Zigarre. Nach zehn Minuten trat ein Chauffeur ein. Es war der, mit dessen Auto die Verschleierte weitergefahren war.
„‘n Abend, Grablay,“ meinte Pratt und reichte dem Freunde Sie Hand. „Na — wie steht’s?“
„Gut, Nic. Die Dame ließ sich nach der 24. Straße bringen und verschwand dann in einer kleinen Pforte einer langen Parkmauer. Der Park gehört zur Villa des Bankiers Güldenham, der nur ein einziges Kind, eine Tochter namens Luzie, hat. Die Dame wird Luzie Güldenham gewesen sein.“
„Famos!“ rief Pratt. „Nun wissen wir bereits eine ganze Menge. — Sagen Sie, Stuart, wo befinden sich die drei aus dem Hudson aufgefischten verstümmelten Leichen? Sind sie schon begraben worden?“
„Nein. Sie liegen im Kühlkeller des Leichenschauhauses.“
„Dann wollen wir sie uns mal ansehen. Vorwärts. Dieser Fall interessiert mich.“ —
Im Kühlkeller wurden zur Zeit zwölf unbekannte Tote aufbewahrt. Der große Raum, in dem die Temperatur künstlich auf drei Grad Kälte herabgemindert war, roch scharf nach Chemikalien. Auf Zinktischen lagen hier die Leichen in langer Reihe. Die elektrischen Deckenlampen bestrahlten gelbliche verzerrte Totengesichter.
Pratt sah sich die drei Wasserleichen mit den durch Hammerschläge entstellten Gesichtern sehr genau an.
„Nein,“ meinte er dann, „Edgar Longreel ist nicht darunter. Keiner der drei Toten hat auf der Oberlippe links einen Leberfleck. Das genügt mir vorerst.“
Grablay rieb sich fröstelnd die Hände. „Was nun, Nic?“
„Nun werde ich mich bei diesem Thomas Glongry melden. Meine Nase ist ja nicht gerade winzig.“
„Und ich?“
„Sie, lieber Stuart, lassen feststellen, wer in der ersten Etage von Pearlstraße 9 das Zimmer bei der Frau Smitson gemietet bat, dessen eines Fenster das dritte von links ist. Aber Vorsicht, Grablay! Hier handelt es sich bestimmt um eine große Sache!“
3. Kapitel.
„Der Spuk der Firne-Klippe“.
Am Vormittag gegen neun Uhr kam ein stutzerhaft gekleideter Mensch mit blondem Spitzbart und blonder Künstlermähne die 19. Straße entlang, machte vor dem Hause Nr. 105 halt, setzte seinen kleinen Koffer auf den Bürgersteig und entfaltete eine Nummer des Expreß Telegraph.
Der Portier des Hauses trat gerade vor die Tür, schmunzelte und meinte dann:
„He, Master, wollen Sie sich ebenfalls bei Mr. Glongry melden? — Dann sind Sie heute schon der dritte.“
„Das will ich — allerdings. Wieviel Treppen wohnt denn Mr Glongry?“
„Gartenhaus rechts zwei Treppen.“
„Danke. Glongry ist wohl Filmregisseur?“
„Nein, Schriftsteller, Master. Er hat einen Abenteuerfilm mit dem Titel „Der Spuk der Firne-Klippe“ geschrieben. Dazu braucht er nun fünf Darsteller mit besonders großen Nasen. Er hat es mir selbst erzählt.“
„Wohnt er schon lange hier?“
„Seit dem 15. September. — Sie werden kaum Glück bei ihm haben. Ihr Riechorgan ist zu klein,“ lachte der Hauswart gemütlich.
„Abwarten!“ und der geckenhafte Mensch mit den gezierten Bewegungen und der noch gezierteren Sprechweise nahm seinen Koffer und verschwand im Hause.
Als er im Gartengebäude die erste Treppe erklommen hatte, bemerkte er rechter Hand ein Türschild aus Pappe, auf dem in Rundschrift zu lesen war:
Jonas Trux, Privatdetektiv.
Er stieg weiter empor und läutete dann an Thomas Glongrys Flurtür.
Ein älterer, weißbärtiger Herr öffnete.
„Mein Name ist Glongry. Kommen Sie der Annonce wegen?“ fragte er mit schleimiger, undeutlicher Stimme.
„Ja. Ich heiße Hektor Tobin, bin Dekorationsmaler, war auch einige Monate Schauspieler, bin von Washington auf Ihre Anzeige hin —“
Glongry wehrte ab. „Ihre Nase ist zu klein, Mr. Tobin. Es hätte keinen Zweck, sich mit Ihnen aufzuhalten. Es tut mir ja leid, daß Sie das Fahrgeld geopfert haben. Aber — wirklich, die Nase paßt nicht recht. Die Form ginge ja an.“
Tobin machte ein ganz verzweifeltes Gesicht.
„Also auch diese Hoffnung vernichtet!“ rief er theatralisch. „Nun muß ich verhungern! Ich besitze nicht einmal das Geld für die Rückreise nach Washington. und hier in Neuyork habe ich nicht einen einzigen Bekannten!“
Der alte Glongry, der trotz des weißen Haares einen noch recht rüstigen Eindruck machte, überlegte und fragte dann leise: „Sie kennen hier also wirklich niemand?“
„Niemand!“ erklärte Tobin und hob die rechte Hand wie zum Schwur.
„Hm — treten Sie ein. Vielleicht — vielleicht würde es doch gehen!“
Er führte den Maler in ein sehr ärmlich eingerichtetes Zimmer. Daß dieser Maler kein anderer als Nic Pratt war, wird der Leser schon selbst herausgemerkt haben.
Pratt setzte sich auf einen wackligen Stuhl. Die grünen Stabjalousien an den Fenstern waren halb herabgelassen. In dem Zimmer herrschte daher nur mäßige Helle.
Der Schriftsteller Glongry nahm Pratt gegenüber an der anderen Tischseite Platz und begann ihm von seinem Film zu erzählen. „Die Standard-Filmkompagnie will nun das Werk nur dann verwerten, wenn ich für drei wichtige Nebenrollen auch drei Darsteller bereit habe,“ erklärte er weiter. „Diese drei Darsteller müssen eine gewisse Ähnlichkeit miteinander, wenigstens im Gesichtsschnitt und der Stirnbildung, und große Nasen haben. Bisher habe ich nur eine geeignete Persönlichkeit gefunden.“
‚Vielleicht Edgar Longreel!‘ dachte Pratt, dem diese Geschichte immer interessanter wurde. Das Filmstück war natürlich Schwindel. Dieser Glongry wollte ohne Frage die Großnasigen zu ganz anderen Zwecken benutzen.
„Ich würde ja mit Ihnen einen Versuch machen,“ fuhr Glongry fort. „Sie müßten dann aber Ihren blonden Spitzbart opfern, sich so maskieren, wie ich es wünsche, und mir außerdem feierlich schwören, nichts von dem Inhalt meines Films zu verraten, da Filmideen nur zu gern gestohlen werden.“
„Alles tue ich — alles!“ rief Pratt-Tobin. „Wer den Hunger kennt, ist zu allem bereit!“
Glongry grinste befriedigt. „Nun gut!“ meinte er. „Hier — sehen Sie sich diese Photographie an. Werden Sie eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Bilde erzielen?“
Pratt nahm die Photographie und trat ans Fenster. Sie stellte einen schlanken, älteren Herrn mit grauem kurzem Vollbart dar. Es war ein Bild in Kabinettformat, etwas verblichen und recht bescheuert.
„Wenn Sie mir einen Spiegel, eine graue Scheitelperücke, Bart und Schminken geben, wenn Sie mich eine halbe Stunde allein lassen und mich, den früheren Schauspieler, nicht bei der Arbeit des Maskierens stören, werde ich mich so herrichten, daß ich diesem Herrn vollkommen gleiche!“ versicherte er prahlerisch. „Auch meine Bewegungen, meine Sprache und Haltung sollen Ihnen dann beweisen, daß ich jede Rolle darstellen kann. Schere und Rasierzeug habe ich in meinem Koffer.“
Glongry nickte. „Kommen Sie in mein Schlafzimmer.“
Er führte Pratt in einen einfenstrigen Raum, der noch armseliger möbliert war.
„So, hier ist eine Perücke, ein Bart, Schminken und Klebstoff. Lassen Sie sich nur Zeit, Mr. Tobin. Sie gefallen mir. Wenn wir handelseinig werden, erhalten Sie als Anzahlung dreihundert Dollar.“
„Herr Gott — so viel Geld, Mr. Glongry! Da will ich mir doppelte Mühe geben, Sie zufrieden zu stellen.“
Der Alte verließ das Zimmer.
Im selben Moment läutete es wieder. Pratt hörte Glongry mit einem neuen Bewerber sprechen. Schnell öffnete er seinen Koffer. Im Nu hatte er sich scheinbar den blonden Bart wegrasiert, hatte auch die Künstlermähne, eine Perücke entfernt und die graue Perücke übergestülpt.
Glongry nahm den neuen Bewerber jetzt mit in sein Arbeitszimmer. So hatte Nic Pratt denn vollauf Zeit, nicht nur eine tadellose Maske nach dem Bilde sich zurechtzumachen, sondern auch die Photographie selbst sehr genau zu besichtigen. Von der Rückseite des Kartons, wo sonst der Firmenaufdruck steht war alles sorgfältig weggekratzt worden, was irgend hätte verraten können, in welcher Stadt das Bild seiner Zeit hergestellt war. Schon diese Vorsicht war verdächtig.
Pratt hätte zu gern gewußt, wer der Mann auf der Photographie wohl sein könnte. Gedankenvoll musterte. er jetzt auch die anderen Einzelheiten des Bildes. Der Schnitt des Anzugs, die Kragenform und die Krawatte entsprachen etwa der Mode von vor zehn Jahren.
Plötzlich stutzte Pratt. An der Uhrkette des graubärtigen Herrn hing ein Anhänger, ein Dreieck mit den Abzeichen der Freimaurer.
Pratt gehörte selbst ein Freimaurerloge an. Es mußte ihm daher ein leichtes sein, in den Neuyorker Logen nachzufragen, ob jemand den Herrn kannte.
Rasch entnahm er seinem Koffer jetzt auch den Liliputkodak und photographierte das Bild mehrmals, damit er eine recht scharfe Aufnahme erhielte. —
Als Master Glongry wieder eintrat, blieb er überrascht an der Tür stehen.
„Teufel — Sie sind ja noch kesser als der —“ Er wollte offenbar einen Namen nennen, verschluckte ihn aber und fuhr fort: „— besser als der andere! Ihre Maske ist glänzend!“ Er wurde ganz erregt und vergaß daher, seiner Stimme den heiseren, schleimigen Klang zu geben wie bisher.
Nic Pratt wußte jetzt Bescheid: dieser Glongry und der Privatdetektiv Jonas Trux waren ein und dieselbe Person! —
Glongry setzte sich. „Master Tobin,“ sagte er bedächtig, „Sie müssen jetzt schwören, daß Sie unbedingtes Stillschweigen bewahren wollen. Dann will ich Ihnen die Möglichkeit geben, dreißigtausend Dollar zu verdienen.“
Pratt-Tobin leistete den Schwur und fügte noch hinzu:
„Für diese Summe verschreibe ich meine Seele der Hölle!“
Glongry grinste. „Sie scheinen wirklich mein Mann zu sein. Die anderen wurden meist ängstlich — hm ja!“ Er räusperte sich. — Und Pratt dachte: „Diese anderen hat er fraglos stumm gemacht, damit sie nichts verrieten. Es werden die drei Wasserleichen sein.“
„Kommen Sie dann also heute um Mitternacht in den Battery-Park an den Südeingang des Aquariums,“ fügte Glongry hinzu. „Hier haben Sie zunächst fünfhundert Dollar. Ihre Maske brauchen Sie nicht mehr abzulegen. Meiden Sie aber belebte Straßen. Am besten ist, Sie nehmen ein Auto und fahren ein kleines Hotel im Südteil der Stadt.“
Pratt nahm seinen Koffer und verließ das Haus. Sehr bald hatte er festgestellt, daß niemand ihm folgte. Er fuhr also nach Hause, nach der Pearlstraße, wo er Stuart Grablay bereits vorfand.
Der Inspektor berichtete folgendes: Bei Frau Smitson drüben in Nr. 9 wohnte seit acht Tagen eine alte Engländerin, eine Schriftstellerin, namens Anna Madison, die studienhalber nach Neuyork gekommen war. Sie hatte einige Male abends Besuch gehabt, einen schwarzbärtigen Herrn mit Brille, der stets radelte.
„Also Jonas Trux alias Glongry,“ meinte Pratt. Diese Engländerin kann mich nicht verraten. Ich habe mein Haus soeben durch den zweiten Eingang betreten. Nun will ich wieder Nic Pratt werden und die Platten entwickeln. Ich habe da etwas erlebt, was sehr interessant ist.“
Grablay wartete, bis auch die Abzüge der Platten fertig waren. Pratt hatte die schärfte seiner Aufnahmen vergrößert und übergab nun diese Vergrößerung dem Inspektor mit der Bitte, in seinem Namen in den Logen nachzufragen, ob jemand den Herrn vielleicht kenne. Dann verabschiedete der Inspektor sich, nachdem die beiden Freunde für die Nacht noch allerlei verabredet hatten.
4. Kapitel.
Villa Firne-Klippe.
Nic Pratt. holte jetzt zunächst den versäumten Schlaf nach. Er ahnte, daß ihm aufregende Stunden bevorstanden. Er wollte geistig und körperlich recht frisch sein. Er hatte Frau Allison angewiesen, ihn um 5 Uhr nachmittags zu wecken. Sie tat es auch und reichte ihm zugleich einen Brief in sein Schlafzimmer, den ein Bote vor anderthalb Stunden gebracht hatte. Das Schreiben kam von Luzie Güldenham, die es freilich nur mit „die Besucherin von gestern abend“ unterzeichnet hatte. Es lautete:
„Heute abend wurde mir auf der Straße ein Brief Edgar Longreels zugesteckt. Longreel schreibt, daß er Erpressern in die Hände gefallen sei und daß er getötet werden würde, falls ich nicht hunderttausend Dollar heute abend acht Uhr an einer bestimmten Stelle einer Frau übergeben würde. Ich werde dies tun, denn –ich liebe Longreel! – Im übrigen bitte ich Sie, Mr. Pratt, Ihre Nachforschungen fortzusetzen. – Die Besucherin von gestern abend.“
Pratt pfiff leise durch die Zähne. „Aha – Mr. Thomas Glongry versucht sich auch als Erpresser!“ dachte er „Ich bin wirklich gespannt, wie diese Sache enden wird!“
Um sechs Uhr verließ er sein Haus in der Maske eines alten Straßenhändlers durch den geheimen Ausgang nach der Bloornstraße. Er hatte alles Nötige mitgenommen, um sich jeder Zeit in den graubärtigen Herrn der Photographie verwandeln zu können. Um ¼7 war er bereits in der 19. Straße vor dem Hause Glongrys. Jetzt Ende Oktober war es bereits völlig dunkel.
Um sieben Uhr erschien denn auch dieser rätselhafte Glongry vor der Haustür und ging langsam durch stille Nebenstraßen dem Hudson-Flusse zu. Er kehrte in eine bessere Hafenkneipe ein und nahm hier rasch einen Imbiß zu sich. Sehr bald tauchte in der Kneipe auch eine ältere Frau mit hagerem, faltigem Gesicht auf. Pratt, der ein paar Tische weiter saß, sah, wie die beiden eifrig miteinander flüsterten. Dann entfernte die hagere Person sich wieder, die fraglos mit der Engländerin Anna Madison identisch war. Pratt wußte nicht recht, ob er nun dieses Weib oder Thomas Glongry im Auge behalten sollte. Er entschied sich aber doch für Glongry. Der angebliche Schriftsteller verließ die Kneipe kurz vor acht Uhr und wandte sich dem nahen Silvester-Kai zu. Nic Pratt blieb wieder hinter ihm. So wurde er denn Zeuge, wie Glongry sich in der Nähe des Hafenbollwerks hinter einem Stapel Fässer verbarg. Pratt kletterte Hundert Meter weiter in einen Kahn und ruderte lautlos im Schutze des hohen Bollwerks flußaufwärts, bis er den Stapel Fässer gerade vor sich hatte. Als er jetzt den Kopf über den Rand des Bollwerks hob, erblickte er Luzie Güldenham, die mit Anna Madison langsam auf den Haufen Fässer zukam.
Dann geschah etwas, womit er nie gerechnet hatte: Im Schatten der Fässer fielen das Weib und Glongry über das junge Mädchen her und betäubten es.
Pratt wollte ihr zu Hilfe kommen, besann sich aber eines besseren und schob den Kahn schnell hinter einen großen Baggerprahm, da Glongry bereits sehr eilig zum Hafen hinablief. Wäre Pratt an derselben Stelle geblieben, so hätte Glongry ihn fraglos bemerkt.
Dieser kettete jetzt ein hier angeschlossenes Ruderboot los und half dann der angeblichen Engländerin, Luzie Güldenham in das Boot tragen, wo sie das junge Mädchen mit dem langen Mantel der Madison zudeckten. Dann griffen sie zu den Rudern und trieben das Boot auf den von leichten Herbstnebeln verhüllten Fluß hinaus.
Pratt hatte jetzt zu seinem Glück den leichten Kahn sofort zur Verfügung. Er pries den gelungenen Einfall, der es ihm nun ermöglichte, auch dem Boote folgen zu können, dessen schlecht geschmierte Ruderdollen derart quietschten, daß er nur diesen kreischenden Tönen nachzurudern brauchte.
Während er selbst ganz lautlos die Riemen handhabte, fragte er sich immer wieder, was dieser Thomas Glongry nur mit den Anzeigen bezwecken könnte. Er fand keine Erklärung, die ihm genügte, denn daß die Annoncen nicht etwa lediglich Edgar Longreel als Liebhaber der reichen Bankierstochter in die Netze dieser Leute hatten locken sollen. erschien ihm angesichts der Tatsache, daß diese Anzeigen bereits drei Todesopfer gefordert hatten, über jeden Zweifel erhaben. Was also sollte diese Lügengeschichte von dem „Spuk der Firne-Klippe“ und den dazu benötigten Darstellern?! – Er stand hier vor einem völlig undurchdringlichen Rätsel, das jetzt durch die Entführung Lucie Güldenhams noch dunkler geworden.
Das Boot mit den quietschenden Dollen hatte sich flußabwärts gewandt und überquerte nun die Upver-Bay und legte in einem schmalen Kanal des Stadtteiles New Utrecht auf Brooklyn an. Hier war der Nebel noch dichter Pratt war rasch ausgestiegen und am Ufer entlanggelaufen. So kam er gerade noch zur rechten Zeit, um beobachten zu können, wie Glongry und die Madison das junge Mädchen durch die Eisentür einer alten, hohen Gartenmauer trugen. Die Tür wurde dann von innen wieder verschlossen.
Pratt versuchte sofort, die Mauer zu überklettern. Es gelang ihm jedoch noch nicht. So eilte er denn weiter an der Mauer den nächsten Häusern zu. Plötzlich kam er an einem großen Gittertor vorüber. Er machte halt und besichtigte es. Rechter Hand war in der Mauer ein Glockengriff aus Messing eingelassen. Darüber entdeckte er ein Messingschild. Sein Leuchtstab beschien die Gravierung dieses Schildes. Da stand:
Villa Firne-Klippe.
Besitzer A. R. Basseterre.
Pratt stierte ganz entgeistert auf diese Inschrift. – Firne-Klippe! Spuk der Firne-Klippe! – Was bedeutete dies nun wieder?!
Er wollte sich jetzt über das Gitter schwingen, hörte aber noch im letzten Moment schwere wuchtige Schritte, die den Weg entlangkamen.
Es war ein Polizeibeamter, der hier die Runde machte. Pratt nahm ihn rasch beiseite, erklärte, wer er sei, und bat den Beamten um Aufschluß über die
Bewohner der Firne-Villa.
Der Polizist wußte genau Bescheid. „Master Basseterre, der Eigentümer, ist ein vornehmer älterer Herr, sehr reich, Junggeselle und so etwas Sonderling. Er wirtschaftet mit einem Diener und dessen Frau namens Betsy zusammen, die die Köchin spielt. Basseterre verkehrt mit niemandem. Sein Hauptvergnügen ist das Sammeln von Raritäten.“
„Können Sie ihn mir beschreiben?“ fragte Pratt atemlos.
„Gewiß. Er geht stets tadellos gekleidet, hat volles graues, gescheiteltes Haar, einen grauen kurzen Vollbart und eine recht große, leicht gekrümmte Nase. Letztens war er schwer krank. Jetzt geht es ihm aber wieder besser. Ich sah ihn noch heute nachmittag auf dem Balkon sitzen.“
„Und der Diener? Kennen Sie den?“
„Auch nur von Ansehen, Mr. Pratt. Er heißt Thomas Glarne und hat eine mächtige Glatze.“
„Ah – Glarne-Glongry-Trux,“ murmelte Pratt und fügte laut hinzu: „Seine Frau ist sehr hager und hat ein faltiges Gesicht, nicht wahr ?“
„Das stimmt, Mr. Pratt. Übrigens soll die Villa jetzt verkauft werden. Master Basseterre, Franzose von Geburt, will nach Paris zurückkehren.“
„So – so!“ meinte Nic Pratt sehr nachdenklich.
Dann verabschiedete er sich von dem Beamten, bestieg seinen Nachen wieder und ruderte nordwärts nach Neuyork zurück.
Um halb elf war er in Grablays Wohnung,
„Stuart,“ sagte er nach längerem Bericht über seine lebten Erlebnisse, „wie sieht’s mit den Nachfragen in den Logen?“
„Gut steht’s, Nic. Das Bild ist das Antoine Robert Basseterres – also desselben Mannes, dem die Villa in New Utrecht gehört.“
„Dann klappt ja alles wunderbar. - Ich werde mich jetzt in Basseterre verwandeln und mich Punkt zwölf zum Stelldichein mit Glonagry am Aquarium im Battery-Park einfinden.“
„Hm – und die ganze Sache – was steckt dahinter lieber Nic?“
„Eine der großzügigsten Betrügereien aller Zeiten, Grablay! Warten Sie ab. Sie werden noch in dieser Nacht völlig klar sehen.“
5. Kapitel.
Mr. Basseterre.
Pratt schlenderte in der Maske Basseterre kurz vor zwölf Uhr vor dem Aquarium wartend auf und ab. In der Hand trug er seinen kleinen Koffer, den er als Maler Hektor Tobin vormittags schon bei sich gehabt hatte.
Es wurde viertel eins — halb eins. Kein Glongry erschien.
Dann schlurfte der Parkwächter herbei, musterte Pratt mißtrauisch und verschwand wieder in den Anlagen, kehrte jedoch nach wenigen Minuten mit einem zweiten Wächter zurück. Beide machten nun vor Pratt halt, der noch immer, getäuscht durch die Dienstmützen und Armbinden nichts Arges vermutete. Plötzlich sprang ihm der eine Mann an die Kehle. Dies geschah so blitzschnell, daß Pratt vor Überraschung sich sekundenlang nicht regte. Dann erhielt er auch schon einen schweren hieb auf den Hinterkopf und brach bewußtlos zusammen.
„Fein gemacht, Betsy!“ lachte Thomas Glarne ironisch. „Der kluge Pratt wird uns nicht mehr schaden. — Fasse mit an, Betsy. Tragen wir ihn ins Gebüsch zu den beiden echten Wächtern, die uns ihre Mützen und Binden haben leihen müssen.“
Sie schleppten ihn davon. Hier stand inmitten einer dichten Buschanpflanzung das kleine Parkwächterhäuschen, in dem die Gerätschaften untergebracht waren. Vor dem versteckt liegenden Häuschen legten Glarne und die als Mann verkleidete Betsy Nic Pratt auf die Erde. Dann ging Glarne und holte von einem der betäubten und gefesselten Wächter, die im Schatten der Büsche undeutlich zu erkennen waren, den Schlüssel zu der hellgestrichenen Holzbude. —
Pratt kam wieder zu sich. Trotz der stechenden Schmerzen im Hinterkopf konnte er seine Gedanken sehr bald sammeln. Er sah sich aufrecht auf einem Fasse stehen. Unter den auf den Rücken gefesselten Armen lief ein Tau zur Decke des kleinen Raumes empor. Dieses Tau gab seinem Körper halt. Auch seine Fußgelenke waren mit Stricken eng zusammengeschnürt. In seinem Munde steckte ein Knebel. Vor ihm war in Augenhöhe an ein schräg gestelltes Brett mit einem Nagel ein Stück Papier befestigt, das durch eine kleine, an einem Draht hängende Petroleumlampe beleuchtet wurde.
Pratt kniff die Augen halb zu, um besser sehen zu können.
Auf das Papier war folgendes mit Bleistift geschrieben:
„Beinahe hätten Sie uns wirklich erwischt, Mr. Pratt! Daß Luzie Güldenham uns verraten würde, daß Sie Edgar Longreel suchen sollten und daß die gestrige Komödie mit dem Auto Ihr Werk war, konnten wir nicht voraussehen. Auf diese Weise wurde uns klar, wer Hektor Tobin gespielt hatte. Nachdem wir uns überzeugt hatten, daß keine Polizei in der Nähe, machten wir uns an Sie heran. Geben Sie sich keine Mühe, uns zu suchen. Bevor Sie hier gefunden werden, haben wir genügend Vorsprung. Ich wollte Sie eigentlich eine Masse Hudson-Wasser schlucken lassen. Aber Betsy ist zarter besaitet. So schenkte ich Ihnen denn das Leben. — Thomas Glongry.
„Pratts Schmerzen waren jetzt wie weggewischt. Er berechnete, daß Grablay, wie er dies mit ihm verabredet hatte, kaum vor zwei Uhr morgens die Villa Firne-Klippe umstellt haben könnte. Bis dahin konnten Glarne und Betsy längst zur Villa zurückgekehrt und von da entflohen sein, falls sie die Villa Überhaupt nochmals aufgesucht hatten.
Er wußte aus eigener Erfahrung am allerbesten, wie schwer es war, zwei flüchtige Verbrecher, die über genügend Mittel, sich zu verkleiden, verfügten, aufzustöbern. War deren Spur erst einmal verloren gegangen, dann konnte nur ein Zufall helfen; sie wieder einzufangen. Mithin mußte er alles daransetzen, recht bald freizukommen. — Er schaute sich um. Die kleinen Fenster des Häuschens waren mit festen Holzladen versehen. Der Schein der kleinen Petroleumlampe konnte also nicht ins Freie dringen. Sonst wäre vielleicht eine Polizeipatrouille durch den Lichtschimmer herbeigelockt worden. Pratt versuchte nur die Hände aus den Schlingen der Stricke herauszuwinden. Es gelang nicht. Dann hörte er die Schläge der Uhr vom nahen Zollamt herüberschallen. Er zählte mit: vier Uhr morgens! — Verzweifelte Wut packte ihn da. Sollten diese Schurken wirklich entkommen?! Sollte er hier vielleicht noch viele Stunden auf der Tonne stehen?! —
Abermals schaute er sich um, schaute auch zur Decke empor.
Ah, — die Leine, die ihn halb in der Schwebe hielt, war da oben an einem Lampenhaken festgeknotet. Wenn er sich nach, links drehte, wenn er dies so lange fortsetzte, bis die Leine einen Druck auf den Haken ausübte, würde es ihm vielleicht gelingen, den Haken auf diese Weise herauszudrehen oder aber die Leine zu zerreißen.
Sofort begann er mit diesem Versuch. Sehr bald verkürzte sich die zusammengedrehte Leine. Er mußte sich höher und höher recken, um mit den Fußspitzen noch das Faß zu berühren. Aber — nur zu rasch erkannte er, daß er auch auf diese Art nicht freikommen würde: Da wagte er ein letztes, sprang in die Höhe, zog die Beine an, um durch den Ruck seines schwebenden Körpers den Haken zu lockern.
Und — diesmal hatte er Glück. Der Haken brach ab, und Pratt fiel auf das Faß, glitt zu Boden, sprang wieder empor.
Mit dem Kopfe stieß er nun die Fensterscheiben ein — erst die eine — lauschte dann, ob das Klirren nicht gehört worden sei. Er hoffte ja, daß Grablay nach ihm suchen lassen würde. Dann zertrümmerte er die zweite Scheibe — lauschte wieder.
Und jetzt Stimmen.
Da klirrte auch schon die dritte.
„Hallo, Nic! Hallo —!“ — Das war Stuart Grablay selbst.
Dann ein Stoß gegen die Tür — noch einer! Sie flog auf. Vier Männer sprangen ein — und Pratt war frei, rief: „Wie ist’s mit der Villa, Stuart?“
„Ein Reinfall, lieber Nic! Master Basseterre hat mich gefragt, ob ich verrückt sei. Ich läutete vor einer Stunde an der Gitterpforte. Er kam selbst öffnen. Ich erklärte, genau wie Sie es mir für alle Fälle angegeben hatten, daß ich seinen Diener Glarne sprechen müßte. Da wurde er grob. So mitten in der Nacht Einlaß zu begehren, sei eine Frechheit. Wer ich denn wäre und was ich von Glarne wünsche? — Ich sagte, ich hätte Glarne etwas zu bestellen. — „Dann kommen Sie vormittags wieder!“ und er schlug die Gittertür zu. — Lieber Nic, der Mann hat ein — reines Gewissen.“
Pratt lachte. „Mag sein! — Vorwärts — hinüber nach New Utrecht zur Firne-Klippe! Der Spuk dort soll sehr bald erledigt sein. Sie wissen noch nicht alles, lieber Stuart!“
Ein Motorboot brachte Nic und die Beamten über die Upper-Bay. Dann läutete Pratt am Haupteingang der Parkmauer. Nach zehn Minuten blitzte im Garten ein Licht auf. Basseterre kam mit einer Laterne.
„Öffnen Sie!“ rief Grablay. „Hier Polizei!“ Und er hielt Basseterre durch die Gitterstäbe seinen Ausweis hin.
Man sah, wie der graubärtige Herr zusammenschrak. Verlegen stammelte er dann, indem er aufschloß: „Sollte ich wirklich so grob getäuscht worden sein!“
„Ja — Sie sind getäuscht worden, Master Edgar Longreel,“ sagte Pratt freundlich. „Ich habe mir bereits alles zusammengereimt. Nicht wahr — Sie sollten hier einen Mr. Basseterre spielen, und der angebliche Glongry hat betont, dies sei dann die Prüfung Ihrer Fähigkeiten als Kinodarsteller. Wurde nicht auch eine angebliche Kinoszene gespielt, in der es sich um den Verkauf dieser Villa handelte?“
„Gestern geschah dies. Selbst der Kaufpreis wurde dabei bezahlt. Alles ganz echt.“
„Und mit diesem Gelde und Basseterres Vermögen, mit den von Luzie Güldenham erpreßten 100000 Dollar und Luzies Schmuck ist das Ehepaar Glarne nun entflohen. Denn: Basseterre ist tot! Er mag eines natürlichen Todes gestorben sein. Dann kam Thomas Glarne auf den Gedanken, seinen Herrn wieder aufleben zu lassen, damit die Villa von dem scheinbar noch lebenden Basseterre veräußert werden könnte. Deshalb suchte Glarne durch die Anzeigen einen passenden Mann für diese Rolle. Drei von den Leuten, die sich meldeten, schöpften Verdacht. Glarne ermordete sie — warf sie betäubt in den Hudson — Jetzt wollen wir Miß Güldenham suchen, Mr. Longreel. Die Verbrecher haben sie hierher verschleppt.“
Man fand das junge Mädchen — im [Sack][1], gebunden, geknebelt, halb wahnsinnig vor Angst. Aber all das Entsetzen, all die überstandenen Schrecken waren im Nu vergessen, als sie Edgar Longreel erblickte, als er sie in die Arme schloß. —
Pratt hatte Longreel gefragt, ob das Ehepaar Glarne nach Mitternacht noch in der Villa gewesen sei. Longreel hatte dies verneint.
„Suchen wir sie!“ meinte Nic zu Grablay, „Vielleicht haben wir Glück. Etwas ahnt Glarne bisher nicht: daß ich weiß, wer bei Frau Smitson als angebliche Engländerin wohnt! Nein, dies kann er kaum vermuten! Fahren wir also nach der Pearlstraße Nr. 9. Es wäre gar kein so ganz dummer Gedanke von Glarne, sich in einer guten Verkleidung in meiner nächsten Nähe am sichersten zu fühlen! —
Sechs Uhr morgens. — In der stillen Pearlstraße wurde es plötzlich lebhaft. Aus dem Hause Nr. 9 führte man zwei gefesselte Männer, von denen der eine ein faltiges Weibergesicht hatte, zu dem eine Strecke weiter haltenden Polizeiauto. Nic Pratts Annahme hatte sich wirklich bestätigt: das Ehepaar Glarne war gerade dabei betroffen worden, als es sich mit viel Geschick in zwei einfache Hafenarbeiter verwandelt hatte. Zwei Monate später wurden die beiden hingerichtet. Kurz vorher war Luzie Güldenham Frau Longreel geworden. Diese romantische Heirat erregte in der Neuyorker Gesellschaft mindestens eben soviel [Aufmerksamkeit][2] wie Nic Pratts neuester Erfolg, der im folgenden Band geschildert werden soll und der mit Luzie Güldenhams Hochzeit eng zusammenhing.
Nächster Band:
Anmerkungen:
[1] Vorlage ist unleserlich. Wort mit 4 Buchstaben. Sinngemäß ergänzt.
[2] Vorlage unleserlich. Sinngemäß ergänzt.