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Der blinde Bettler

 

Nic Pratt

Amerikas Meisterdetektiv

 

Heft 18:

 

Der blinde Bettler.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922

by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.

Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

In der in einem großen Parke gelegenen Villa des Bankiers Güldenham in der 24. Straße in Neuyork feierte man die Verlobung des einzigen Kindes des stadtbekannten Milliardärs mit dem Techniker Edgar Longreel.

Diese Verlobung mit ihrer romantischen Vorgeschichte hatte bei den oberen Zehntausend der Riesenstadt begreifliches Aufsehen erregt, denn Edgar Longreel war ja nichts als ein bescheidener Elektrotechniker, freilich als Mann eine Erscheinung, die manchen Frauenblick auf sich zog.

Dieser hübsche, stattliche Longreel war erst vor wenigen Monaten nach Amerika von London aus herübergekommen, da er im gepriesenen Dollarlande leichter eine gutbezahlte Stellung zu finden gehofft hatte. Wie und wo er die Milliardärstochter kennenlernte und welche Rolle Nic Pratt, Amerikas bester Detektiv, bei der Vereinigung der beiden Liebenden gespielt hatte, ist für diesen Kriminalfall nicht von Bedeutung. Der Leser wird Einzelheiten hierüber im vorigen Band (Der Spuk der Firne-Klippe) finden. —

Auch Pratt weilte in dieser kalten Dezembernacht, als in der Villa Güldenham die Verlobung festlich begangen wurde, unter den Gästen.

Hierbei fiel Pratt nun auf, das einer der Diener (Güldenham hatte für den Abend noch drei Lohndiener gemietet), der die Gläser des Brautpaares füllte, den Versuch machte, dem Bräutigam einen eng zusammengefalteten Zettel zuzustecken. Edgar Longreel merkte jedoch nichts von der Absicht des Dieners, und so rollte das Papier denn unter den Tisch.

Pratt wartete, bis der betreffende Diener, der infolge seines Ungeschicks ein recht bestürztes Gesicht machte, aber nicht wagen durfte, sich zu bücken und das Papier aufzuheben, sich entfernt hatte. Dann lehnte er sich zurück und lüftete das Tafeltuch etwas, erspähte den Zettel in Reichweite seines Fußes und steckte ihn wenige Minuten später in die Tasche.

Nach Aufhebung der Tafel stellte er sich in eine Fensternische des Speisesaals und paßte auf, ob der Diener nach dem Zettel suchen würde. Da ihn die Fenstervorhänge vollständig verbargen, ward er so unbemerkt Zeuge, wie der Diener mit scheuen Blicken nahte und dann rasch unter den Tisch kroch.

Pratt lächelte. Der Mann da tat gerade so, als hätte er zumindest einen kostbaren Ring verloren. Er tastete den Parkettboden ab, spähte hierhin und dorthin, tauchte dann mit verstörter Miene wieder auf, sah sich scheu um und begann langsam den ganzen Saal abzuschreiten.

Schließlich gab er es auf und ging zögernd hinaus.

Pratt entfaltete jetzt den Zettel.

Seltsam: das Papier war leer!

Wieder lächelte Pratt, verließ sein Versteck und schlenderte ins Rauchzimmer, wo er den Zettel vorsichtig über einem Zigarrenlämpchen erwärmte.

Und — die Wärme half. Auf dem Zettel erschien in lila Farbe eine Reihe Zahlen.

„Also eine Geheimschrift!“ dachte Pratt und schob das Papier wieder in die rechte Tasche der Frackweste. Er wollte die Chiffreschrift daheim zu enträtseln suchen.

Ihm gegenüber an der Wand befand sich ein hoher Pfeilerspiegel. Pratt sah nun im Spiegel, wie die Türvorhänge nach dem Billardzimmer sich etwas bewegten. In der Spalte der kostbaren türkischen Portieren war der Teil eines blassen bartlosen Männergesichts zu erkennen, das jetzt blitzschnell verschwand. Dieses Gesicht war das des Dieners, der dem Bräutigam den Zettel hatte in die Hand drücken wollen.

Von den übrigen im Rauchzimmer noch anwesenden Herren hatte niemand auf Pratt geachtet. Die Herren standen in einer dichten Gruppe am Kamin zusammen und besprachen den plötzlichen Sturz der Pennsylvania-Aktien.

Pratt setzte sich in einen der rotbraunen, tiefen und köstlich weichen Klubsessel, streckte die Beine weit von sich und schnitt umständlich die Spitze von einer Zigarre ab, die, ein ganz besonders vorzügliches Kraut, in einer Gelatineröhre gesteckt hatte. Er bot so ein Bild vollkommensten Behagens und gänzlicher Harmlosigkeit.

Und doch: sein nie müdes Hirn war niemals wacher als in diesem Augenblick.

Der hohe Pfeilerspiegel hatte ihm noch mehr verraten: einer, der eleganten Börsenfürsten dort vor dem Kamin hatte nach jener Portiere hin eine Handbewegung gemacht, die niemandem auffallen konnte, die aber doch genügt hatte, den Spion zu verscheuchen.

Pratt war überzeugt, daß zwischen diesem schlanken Manne da, der jetzt gerade mit harter, energischer Stimme von einer drohenden Börsenpanik sprach, und dem Diener geheime Beziehungen bestanden.

Er kannte diesen Herrn nicht.

Jetzt redete jedoch einer der anderen ihn mit Lambry an.

Pratt hörte jedes Wort.

„Lambry, sie brauchen doch keine Angst zu haben, an der Börse Verluste zu erleiden,“ sagte der Betreffende lachend. „Unglück in der Liebe, Glück im Spiel! Das alte Wort wird sich auch an Ihnen bewahrheiten.“

Da drehte sich Lambry mit einem Achselzucken um. Sein Gesicht sah verärgert aus.

Und — da fiel sein Blick auf Pratt.

Nic Pratt hatte sich den Mann jetzt genauer angesehen. Ohne Frage: ein Mann von Bedeutung, dieser Lambry. Ein Charakterkopf, eine hohe kluge Stirn, kühle graue Augen, ein brutaler Mund, dazu Bewegungen, die Kraft und Geschmeidigkeit verrieten.

Der Milliardär Güldenham betrat das Rauchzimmer.

„Ab, hier findet man sie endlich, lieber Pratt,“ rief er. „sie werden am Telephon verlangt. Hoffentlich kein eiliger Auftrag. Luzie wäre untröstlich, wenn sie nicht mit ihr —“

Er schwieg, wurde leicht verlegen. Er hatte Lambry erkannt, der ihm halb den Rücken zukehrte.

Pratt erhob sich. Nichts entging ihm von all den Kleinigkeiten, die so vielsagend waren.

„Bitte, lieber Pratt, wenn sie mir folgen wollen,“ fügte der Milliardär jetzt hinzu — „Ich habe den Telephonhörer in meinem Arbeitszimmer abgehängt gelassen.“

Sie schritten hinaus über den Flur in den Seitenflügel. Güldenham öffnete eine Tür.

Das Zimmer war hell erleuchtet.

„Hier sind sie ganz ungestört, Pratt. Auf Wiedersehen.“ Und der Milliardär ließ den berühmten Detektiv eintreten und zog die Tür von draußen wieder zu.

Pratt war allein, nahm den Telephonhörer vom Schreibtisch auf und meldete sich.

„Hier Nic Pratt —“

„Ah — endlich — endlich!“ Das war eine Frauenstimme. „Mr. Pratt, ich flehe sie an, kommen Sie sofort zu mir. Hier hat sich etwas ereignet, das —“ Die Stimme wurde durch einen Tränenstrom erstickt. „Kommen sie — zögern sie keinen Augenblick. Ich — ich habe mich mühsam in den Flur schleppen können. Ich werde jeden —“ wieder nur ein undeutliches Gemurmel.

Und Pratt rief“ „Ihr Name, Ihre Wohnung?“

„Boster-Straße 99, Frau Amelang. — Oh, säumen sie nicht! „Nehmen sie ein Auto!“ Ich — ich werde sofort wieder ohnmächtig werden —“

„Gut — in zehn Minuten bin ich bei Ihnen —“

Noch waren die Privatautos nicht vorgefahren, die ihre Besitzer von der Verlobungsfeier wieder heimbringen sollten. Die Straße war still und einsam. Ein leises Schneegestöber trieb Pratt eisige Flocken ins Gesicht.

Ah — da hinten tauchten die Scheinwerfer eines Autos auf. Es kam näher.

Und er fuhr im gleichen Moment erschrocken herum.

Hinter ihm eine winselnde, krächzende Stimme:

„Eine Kleinigkeit nur — eine Kleinigkeit!“

Da hockte ein in Lumpen gekleideter Bettler, ein Greis mit wirrem Vollbart.

Pratt besann sich: derselbe Bettler mit der großen blauen Brille und dem Pappschild auf der Brust

„Völlig erblindet“

hatte schon vor drei Stunden an derselben Stelle gesessen, als er die Villa Güldenham betreten hatte. Und auch vor drei Tagen hatte er den Bettler bemerkt, als Luzie Güldenham ihn nachmittags zum Tee eingeladen gehabt hatte.

Pratt griff in die Pelztasche und warf dem Blinden einen Dollar zu.

Dann schaute er wieder nach dem Auto aus, rief es an. Es hielt dicht an der Bordschwelle.

„Boster-Straße 99,“ nannte Pratt dem Chauffeur das Fahrtziel.

Hinter ihm abermals die krächzende Stimme — jetzt kreischend, überlaut:

„Vorsicht — Vorsicht!“

Da knickte Pratt schon zusammen. Ein Hieb hatte seine Schläfe getroffen. Knickte zusammen, fiel halb in die Autotür, die er bereits geöffnet hatte.

Zwei behandschuhte schmale Hände zerrten ihn aus dem dunklen Innern des großen Kraftwagens völlig hinein. Die Tür wurde hastig geschlossen, und das Auto jagte davon.

 

 

2. Kapitel.

Zehn Minuten später fand ein patrouillierender Polizist an der Ecke der 24. Straße und der Sixth-Avenue im frisch gefallenen Schnee einen bewustlosen, elegant gekleideten Herrn liegen, in dem er sofort den bekannten Privatdetektiv Nic Pratt erkannte.

Er gab sofort mit seiner Pfeife einige Signale und schaffte Pratt dann mit Hilfe zweier Kollegen zur nächsten Polizeiwache, benachrichtigte Pratts Freund, den Detektivinspektor Grablay und ließ einen Arzt holen.

Pratt kam nach einer Stunde wieder zu sich, war jedoch so schwach, daß er kaum sprechen konnte.

Stuart Grablay beugte sich besorgt über ihn.

„Man hat sie völlig ausgeplündert, lieber Nic,“ sagte er voller Sorge. „Wie fühlen, sie sich?“

„Schlecht,“ hauchte Pratt. „Lassen sie mich nach Hause bringen, Stuart.“

Ein Polizeiauto war sehr bald zur Stelle. Man trug Pratt hinein. Grablay setzte sich neben ihn und stützte ihn. Das Auto ruckte an.

„Nun können wir die Komödie aufgeben,“ sagte Pratt da mit recht kräftiger Stimme. „Sie sind erstaunt, Grablay, nicht wahr? Oh — mein Schädel verträgt schon einen Puff! Ich bin nur kurze Zeit bewußtlos gewesen, war schon wieder bei Sinnen, als man mich aus dem Kraftwagen auf die Straße fallen ließ. Aber — ich will schwer krank sein! Sie verstehen, Stuart! Ich habe bei acht Grad Kälte im Schnee gelegen. Da ist eine Lungenentzündung durchaus wahrscheinlich. Wir werden Doktor Bonnert einweihen. Und Frau Allison, meine Haushälterin, ist ebenfalls verschwiegen wie das Grab. — Hören sie, was ich heute bei Güldenham erlebte, Grablay.“

Er erzählte. Dann faßte er in die Fracktasche.

„Aha — der Zettel mit der Chiffreschrift fehlt. — Nein, zum Teufel, da ist er ja! Was bedeutet das? Ich glaubte, man hätte mir nur den Zettel wieder abnehmen wollen! seltsam! Und jetzt ist der Zettel nicht mit geraubt! Hm —“

„Was denken sie, Nic? Raus mit der Sprache!“

„Das sage ich Ihnen bei mir daheim, Stuart. Sie werden mich ins Haus tragen. Es sind fraglos Spione da. Hier geht es um mehr als Kleinigkeiten.“

Das Auto hielt vor Pratts Häuschen, Pearlstraße Nr. 111. Nun begann die Komödie wieder. Nun wurde Doktor Bonnert geholt, nun lief Frau Allison scheinbar in größter Angst zur Apotheke.

Und dabei lag Nic sehr vergnügt im Bett, hatte zwar eine Eisblase auf der Schläfenbeule, rauchte aber schon wieder seine geliebte kurze Pfeife und sagte zu Bonnert:

„Doktor, ich habe also Lungenentzündung. Jeden Tag kommen sie zweimal her, verschreiben Mixturen. Die Zeitungen werden täglich berichten, wie es mir geht. Zu der ersten Woche Lebensgefahr, Doktor dann langsame Besserung. Nun wissen sie Bescheid. — Gute Nacht. Grablay bringt sie hinaus.“ —

Der Detektivinspektor kehrte zurück und setzte sich wieder neben Pratts Bett.

„Es war also nur eine Frau in dem Auto, Nic?“ fragte er und sog nachdenklich an seiner Zigarre.

„Ja. Ein Weib mit einem schwarzen Schleier vor dem Gesicht. Den Hieb erhielt ich von hinten.“

„Und der Blinde wollte sie warnen —“

„Nein, Grablay. Der blinde Bettler tat nur so. In Wahrheit versetzte er mir den Schlag mit einem Sandsack. Sein Schatten verriet ihn. Daran hat er nicht gedacht. Oben am Parktor hängt eine Bogenlampe. Daher fiel des Bettlers Schatten auf das grau gestrichene Auto. Ich sah den hochgereckten Arm. Aber es war zu spät, dem Hiebe auszuweichen.“

„Und der Zettel?“

„Geben sie ihn mal her. Auch ein brennendes Licht. — So. — Sehen sie, da werden die Zahlen durch die Wärme sichtbar. — Schreiben sie, Grablay. Obere Reihe:

4 21 23 9 18 19 20 14 9 3 8 20

zweite Reihe:

7 12 21 5 3 10 12 9 3 8 19 5 9 14

dritte Reihe:

13 5 9 14 6 12 21 3 8 21 5 28 5 18

letzte Reihe:

4 9 18

So, das wäre die Chiffreschrift. Nun die Entzifferung.“

„Das wird wohl eine böse Nuß werden, Nic.“

„Vielleicht auch nicht. - Wir müssen davon ausgehen, daß der Zettel eine Drohung enthalten dürfte. Mithin dürften die ersten Zahlen eine Anrede darstellen, entweder „Sie“, „Du“ oder „Ihr“, also eins der sogenannten persönlichen Fürwörter. – Papier und Bleistift her! Ich werde mit „Sie“ zuerst die Entzifferung versuchen. – Ah – das scheint nichts werden zu wollen. Nur Geduld. Nun kommt „Du“ heran. Dann wäre 4 — d und 21 — u. — Schreiben wir mal die Zahlen und Buchstaben von 4 und d fortlaufend untereinander:

4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

e f g h i j k l m n o p q

18 19 20 21 22 23 24 25 26

r s t u v w x y z

und probieren wir’s so mit den folgenden Zahlen. — Da haben wir’s ja! Dann ergibt 23 9 18 19 20 das Wort wirst — also: „Du wirst —“ — Nun weiter: „— wirst nicht glücklich sein. Mein Fluch —“ — Und jetzt sehen wir, daß 28 — b ist. Also: „Fluch über Dir,“ und das Ganze:

Du wirst nicht glücklich sein. Mein Fluch über Dir! Mithin — Eifersucht! Longreel scheint da noch eine Liebe gehabt zu haben, falls nicht —“

Pratt schwieg und starrte vor sich hin, murmelte dann:

„Hier stimmt etwas nicht! Ich habe mir das gleich gedacht. Es war zu merkwürdig, daß der Zettel nicht gestohlen wurde.“

„Was heißt das, Nic?“ fragte Grablay gespannt.

„Das Longreel fraglos keine andere Liebe gehabt hat, daß also die Chiffreschrift — ein Täuschungsversuch ist. Den richtigen Zettel hat man mir im Auto abgenommen und mir dafür diesen hier in die Tasche gesteckt.“

„Ah — das wäre —“

„— Das wäre ein ganz schlauer Schachzug. — Sie sagten mir vorhin, Stuart, daß der Senator Allan Lambry Ihres Wissens Luzie Güldenham den Hof gemacht hätte. Nun hat Luzie ihm den armen Longreel vorgezogen. Lambry macht auf mich ganz, den Eindruck, als ob er sehr temperamentvoll und rücksichtslos ist. Meine Beobachtungen sprechen dafür, daß er mit dem Diener — es war einer der Lohndiener — unter einer Decke steckte. Das Telephongespräch, daß mich aus der Villa lockte und dem bereitgehaltenen Auto zuführte, kann von einem anderen Apparat des Hauses gekommen sein, vielleicht aus dem Dienerzimmer. Das wird sich feststellen lassen.“

„Dann müßte auch der blinde Bettler, der natürlich nicht blind ist, mit Lambry im Bunde sein,“ meinte Grablay zweifelnd. „Ein Mann von Lambrys Ansehen wird kaum aus Eifersucht sich mit einem Lohndiener und einem Bettler einlassen. Das glaube ich niemals, Pratt!“

Im selben Moment schlug das auf dem Nachttischchen stehende Telephon an.

Grablay griff nach dem Hörer.

„Ja — hier Inspektor Grablay. — Ah — nicht möglich! Lambry?! Das — das ist ja —“ — Er lauschte wieder, legte den Hörer weg.

„Nic, Lambry ist ermordet worden,“ sagte er dumpf. „Man hat ihn in der Bibliothek der Güldenhamschen Villa in einem Sessel tot aufgefunden — Stich ins Herz! Ich muß sofort hin.“

Und Pratt war wie ein Blitz aus dem Bett und am Kleiderschrank. „Ich werde mich als Polizeibeamter maskieren, Grablay. Dann nehmen sie mich mit.“

 

 

3. Kapitel.

Mr. Güldenham selbst war es gewesen, der den Ermordeten aufgefunden hatte. Der Milliardär war ein Mann von guten Nerven. Er schloß das Zimmer ab, sagte niemand etwas von der furchtbaren Entdeckung, telephonierte an das Polizeiamt und begab sich in die Festräume zurück.

Zwanzig Minuten später rief ihn einer der Diener in die Vorhalle. Hier standen Grablay und zwei andere Polizeibeamte in Zivil. Einer von diesen, bärtig und bucklig, betrat dann als erster die Bibliothek. Güldenham schloß von innen wieder ab. Der Verwachsene sagte jetzt leise mit Pratts Stimme: „Bitte, bleiben sie drei an der Tür stehen.“

Der Milliardär fragte Grablay unsicher: „Ist es wirklich Pratt?“

„Ja. Aber niemand außer Ihnen darf erfahren, daß er nicht schwer krank daheim im Bett liegt.“

Pratt trat vor den am Fenster stehenden Klubsessel hin und beleuchtete den Toten mit seiner Taschenlampe. Dann begann er das Zimmer zu durchsuchen. Er fand nichts — aber auch nicht das allergeringste, was irgendwie auf den Täter hätte hindeuten können. Dann wandte er sich den Fenstern zu. Die Bibliothek besaß deren drei. Die Vorhänge waren überall vorgezogen. Aber — das mittlere Fenster war nicht verriegelt, nur angelehnt. Es war ein Doppelfenster. Auch die Außenfenster waren nicht verschlossen.

Draußen auf dem Fenstersims lag frischgefallener Schnee. Es schneite noch immer. Pratt blies die obere Schneeschicht weg und nickte befriedigt. Da —war undeutlich der Abdruck eines plumpen, sehr großen Stiefels zu erkennen, dessen Absatz ein Hufeisen gehabt hatte.

Pratt beugte sich hinaus. Die Bibliothek und die Gesellschaftsräume lagen im ersten Stock. Dicht am Fenster lief hier das Rohr des Blitzableiters hinab. Ein leidlich gewandter Kletterer mußte bequem an dem Rohr emporklimmen können.

Er wußte vorläufig genug.

„Mr. Güldenham,“ sagte er zu dem Milliardär, „schicken sie uns jetzt den Lohndiener mit dem bleichen länglichen Gesicht her. Aber unauffällig.“

Güldenham hatte sich bisher mit übermenschlicher Anstrengung beherrscht. Jetzt brauchte er nicht mehr wie vor seinen ahnungslosen Gästen und der ebenso ahnungslosen Dienerschaft zu heucheln. Er stöhnte auf und meinte traurig:

„O mein Gott — und dies am Verlobungsfest meines Kindes!“

Als der Milliardär die Bibliothek verlassen hatte, wandte Pratt sich an Grablay:

„Fragen sie den Diener genau aus. Aber stellen sie sich so, Stuart, daß ihm die Leiche zuerst verborgen bleibt. Dann zeigen sie sie ihm. Vielleicht verrät er sich irgendwie.“ —

Güldenham traf den Lohndiener, dessen Namen er nicht einmal wußte, im Anrichteraum neben dem Speisesaal im Gespräch mit einem Mädchen, das ebenfalls nur für heute als Aushilfe engagiert worden war.

Er hatte die Tür ganz leise geöffnet, die beiden fuhren erschrocken auseinander, als sie ihn gewahrten. Güldenham erschien ihr Benehmen recht verdächtig.

„Wie heißen sie doch?“ wandte er sich an den Diener.

„Charles Maupello, Mr. Güldenham.“ Der Mann verbeugte sich tief.

„Und sie?“ Das galt dem Mädchen.

„Anna Arlt, Master.“

„Miß Arlt, sie warten bitte hier. Ich habe einen Auftrag für sie,“ ordnete Güldenham an. „Sie, Maupello, können in der Bibliothek einen Schrank einräumen. Kommen sie —“

Maupello war rot geworden. Die Bibliothek schien ihm nicht zu behagen. Trotzdem folgte er dem Hausherrn ohne Widerrede.

In der Bibliothek brannte jetzt nur der eine dreiarmige Wandleuchter über dem Ledersofa. Der übrige Raum lag im Dunkeln.

Grablay fixierte den Diener scharf. „Sie kennen den Senator Allan Lambry?“ begann er das Verhör, nachdem Güldenham ihm und Pratt zugeflüstert hatte, weshalb er auch gegen Anna Arlt Verdacht geschöpft hätte.

Charles Maupello wurde verlegen, „Ja, von Ansehen, Master,“ erwiderte er zögernd.

„Ich mache sie darauf aufmerksam,“ erklärte Grablay sehr eindringlichen Tones, „daß ich Detektivinspektor Stuart Grablay bin und das hier im Hause vor kurzem in dieser Nacht ein Verbrechen verübt worden ist. – Lügen sie also nicht, oder ich muß sie verhaften lassen,“ fügte der Inspektor hinzu.

Nic Pratt gefiel diese Art des Verhörs durchaus nicht. Er machte Grablay jetzt ein Zeichen und trat vor.

„Wo ist der Zettel geblieben, den sie Mr. Longreel in die Hand drücken wollten?“ sagte er mit einem gutmütigen Lächeln. „Sie haben ihn ja so eifrig unter der Tafel gesucht, Maupello.“

Der Diener blickte den buckligen Unbekannten zitternd an. Diese Frage hatte auf ihn wie ein Keulenhieb gewirkt.

„Nicht wahr: Mr. Lambry gab Ihnen den Zettel?“ fragte Pratt weiter.

„Nein!“ entfuhr es dem Diener. Dann preßte er die Lippen zusammen. Und rief gleich darauf, ärgerlich über die eigene Dummheit: „Ich weiß nichts von einem Zettel!“

„Schade. Dann werden sie diese Nacht und manche andere in einer Zelle zubringen, Maupello. Sie haben sich ja schon verraten.“

Er nahm ihn beim Ärmel und führte ihn vor den Sessel, drehte hier den Wandleuchter an. Strahlende Helle überfloß die reglose Gestalt mit dem starren Totenantlitz. Rot und grell leuchtete der Blutfleck auf der weißen Frackweste.

Maupello prallte zurück, streckte die Arme abwehrend aus und stammelte:

„O mein Gott — was hat dies zu bedeuten?!“

„Mord!“ sagte Pratt hart. „Die Wahrheit also, Maupello! Wer gab Ihnen den Zettel?“

Maupello stand der kalte Schweiß auf der Stirn.

„Der — der Bettler!“ rief er.

„Und Lambry? Was hatten sie mit Lambry gemein?“

„Mr. Lambry ist mein früherer Dienstherr. Ich war vier Jahre bei ihm in Stellung. Dann erkrankte ich schwer. So verlor ich den Posten. Heute sah Mr. Lambry mich hier wieder. Er steckte mir im Flur hundert Dollar zu und sagte: „Charles, geben sie auf Mr. Pratt acht. Hier ist irgend etwas im Gange. Pratt hat bei der Tafel mit der Fußpitze ein Stück Papier an sich bringen wollen, das Ihnen entglitt, als sie es Longreel heimlich reichen wollten: Von wem stammte der Zettel?“ — Ich merkte, das er mich nur aushorchen wollte. Ich log und sagte: „Von einem Unbekannten, Mr. Lambry, der ihn mir nachmittags mit der Weisung gab, ihn Mr. Longreel bei Tisch in die Hand zu spielen.“ — Er glaubte mir und meinte noch: „Den Zettel muß ich haben, Charles, um jeden Preis! Tausend Dollar, wenn sie ihn mir beschaffen. Ich weiß nicht genau, ob Pratt ihn aufgehoben hat“ — Dann trennten wir uns. Ich stürzte in den Speisesaal und suchte den Zettel, fand ihn aber nicht. Nachher, als ich durch die Türportieren ins Rauchzimmer spähte, deutete Mr. Lambry mir durch eine Handbewegung an, das Mr. Pratt den Zettel hätte. Ich versichere, daß dies die volle Wahrheit ist.“

„Es scheint so,“ nickte Pratt. „Und nun das Wichtigere: der Bettler!“

 

 

4. Kapitel.

Charles Maupellos Gestalt überlief abermals ein Zittern, als Pratt den Bettler erwähnte. Seine Zähne schlugen wie im Fieberfrost aufeinander, sein Blick irrte angstvoll durch den großen Raum, gerade so, als ob er fürchtete, der Bettler könnte sich hier irgendwo verborgen haben.

Dann flüsterte er keuchend: „Oh — haben Sie Erbarmen mit mir! Erlassen Sie mir diesen Teil des Geständnisses! Ich — ich habe schwören müssen, zu schweigen, und ich weiß, daß ich morgen tot sein werde, wenn ich den Schwur breche. Der — der Bettler ist — ist allmächtig!“

Pratt überlegte. Dann fragte er:

„Hat auch Anna Arlt geschworen? War sie es, die auf vorherige genaue Anweisung des Bettlers am Telephon die schwer Bedrohte spielte?“

Maupello schaute zu Boden. „Ich — ich schweige!“ hauchte er nur. „Sperren sie mich meinetwegen ein.“

„Ich werde Anna Arlt holen,“ sagte Pratt nun.

Er verließ die Bibliothek, fand aber den Anrichteraum leer. Das Mädchen war nicht mehr da.

Im Flur traf er den Güldenhamschen Hausmeister, den würdigen Mr. Pordifer.

„Sagen sie, Mr. Pordifer,“ meinte der bucklige, unkenntliche Pratt gemütlich, „wo ist das Aushilfsmädchen Anna Arlt. Ich bin Geheimpolizist. Sie sahen mich ja vorhin in Mr. Güldenhams Begleitung.“

„Eine Frau hat das Mädchen soeben abgeholt, Master. Die Mutter der Arlt ist plötzlich erkrankt.“

Pratt kehrte hastig in die Bibliothek zurück.

Als er die Tür öffnete, sah er schon, daß auch hier inzwischen etwas Unheilvolles sich ereignet hatte: mitten auf dem Teppich lag Charles Maupello, und neben ihm kniete Güldenham, der Pratt jetzt zurief:

„Erschossen! Vom Mittelfenster her — mit einer Luftpistole! In die linke Schläfe! — Das war ein Schreck für uns, Mr. Pratt, als Maupello umsank! Wir hatten vorher keinerlei verdächtiges Geräusch gehört. Grablay und der andere Beamte sind sofort am Blitzableiter in den Park hinabgeklettert. Nun ist Maupello stumm für alle Zeit!“

„Und Anna Arlt ist weggeholt worden,“ fügte Pratt leise hinzu.

Er beugte sich über den toten Lohndiener und durchsuchte dessen Taschen.

„Vielleicht findet man etwas, das uns auf die Spur des blinden Bettlers verhilft,“ meinte er ohne viel Hoffnung. „Dieser Fall, Mr. Güldenham, ist einer von denen, die einem alle zehn Jahre einmal unter die Finger kommen. — Ah — was ist das?!“

Und er hielt ein winziges Fläschchen hoch, das mit einem eingeschliffenen Glasstöpsel verschlossen war.

„Da — stellen sie es auf den Tisch, Mr. Güldenham —“

Der Milliardär nahm es in der Hand. Zu spät sah Pratt, daß er es öffnete und an die Nase hielt. Offenbar hatte er durch den Geruch den Inhalt prüfen wollen.

Der kräftige Mann wankte plötzlich. Das Fläschchen entfiel ihm, zerschlug. Pratt schnellte hoch, fing Güldenham auf, schleppte ihn auf das Sofa.

Pratts durch den falschen Bart und die graue Perücke entstelltes Gesicht verzerrte sich förmlich. Der Gedanke, daß er, der berühmte Nic Pratt, hier machtlos einem rücksichtslosen Verbrecher gegenüberstand, der in der Maske des blinden Bettlers Untat auf Untat häufte, versetze ihn für einen Moment in besinnungslose Wut.

Kaum hatte er dem Bewußtlosen Kragen und Krawatte abgenommen und das Hemd geöffnet, als jemand an der Tür rüttelte.

„Wer da?!“ fragte Pratt.

„Longreel — Edgar Longreel!“

Pratt öffnete nur eine Handbreit die Tür. Als er sah, das Longreel allein war, als dieser ihm zuflüsterte:

„Der Hausmeister erzählte mir soeben, daß die Polizei in der Villa sei —“

Da ließ er ihn ein. riegelte wieder ab, beobachtete Longreel, der ihn nicht erkannt hatte.

Der Verlobte der Milliardärstochter sah die beiden Toten, sah den bewußtlosen Güldenham, wurde aschfahl, taumelte an die Tür zurück.

„Mein Gott, — was — was ist hier geschehen?“ kam es nur mühsam über seine Lippen.

Pratt war Menschenkenner. sein schwacher Verdacht, Longreel könnte mit dem Bettler irgendwie im Bunde sein, schwand wieder.

Leise sagte er nun: „Ich bin Nic Pratt, Mr. Longreel. Sie dürfen dies aber niemandem verraten.

Dann berichtete er kurz das Nötigste.

Als er den Zettel mit der Chiffreschrifft erwähnte, den der Lohndiener bei der Tafel Longreel hatte zustecken wollen, verfärbte Longreel sich abermals so merklich, daß Pratt mitten im Satze schwieg, dicht auf Longreel zutrat und flüsterte:

„Wenn sie irgend etwas zur Klärung dieser geheimnisvollen Morde beitragen können, dann sprechen sie! Es scheint so, als ob sie’s können! Reden sie! Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich, falls sie selbst manches zu verbergen haben, sie nach Möglichkeit schonen will.“

Aber Longreel schoß jetzt das Blut wieder ins Gesicht, und kühl erwiderte er:

„Ich habe nichts zu verbergen, Mr. Pratt. Ich weiß nicht, was der Zettel sollte. Auch ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich hier in Neuyork, wo ich ja erst so kurze Zeit weile, keinerlei Beziehungen zu irgend welchen fragwürdigen Existenzen angeknüpft habe, mehr noch, das ich hier nur drei, vier Leute flüchtig kennenlernte, bevor ich mit Luzie bekannt wurde.“

Pratt hatte trotz des aufrichtigen Klanges dieser Sätze den Eindruck, das Longreel mit irgend etwas zurückhielt.

Dann kehrten auch schon Grablay und der andere Beamte durch das Fenster zurück. Ihre Jagd nach dem Mörder war umsonst gewesen. Sie hatten nur festgestellt, daß der Pistolenschütze ein schlanker Herr im kurzen Sportpelz gewesen war, der dann auf der 24. Straße in ein Auto sprang und davonfuhr — in ein hellgraues Auto.

„Aber etwas Wichtiges haben wir doch gefunden,“ fügte Grablay dann hinzu. „Dies hier —! Dieses Stück Papier, lieber Nic, lag auf der Stelle, wo der blinde Bettler gesessen hatte. Es ist die rechte Ecke eines Zeitungsblattes, wie sie sehen, und da rechts steht mit Bleistift geschrieben:

Vorsicht! die Hunde sind los! W.“

Pratt glättete das rechteckige Stück Papier. Sein Blick war rasch zu Longreel hingeflogen. Und — der war wieder weiß im Gesicht wie der Kalk an der Wand.

Pratt sagte trotzdem gleichmütig: „Kennen sie vielleicht die Schrift, Mr. Longreel? Bitte — sehen Sie sie sich nur an.“

Zögernd trat Edgar Longreel näher.

„Nein,“ erklärte er dann sofort. „Woher sollte ich sie auch wohl kennen?! Das ist eine recht eigenartige Schrift übrigens, sehr energisch, sehr selbstbewußt.“

„Ja — und es ist eine Warnung des Bettlers an seine Verbündeten ohne Frage.“ —

Güldenham holte auf dem Sofa röchelnd Atem.

Pratt richtete ihn auf. „Mr. Güldenham, sie haben Glück gehabt. In dem Flacon war Amylnitrat. Hätten sie das Gift tiefer eingeatmet, wären sie jetzt der dritte Tote im Hause.“

Unauffällig ließ er dann das Stück Zeitungspapier in seiner Tasche verschwinden und sagte zu Grablay:

„Ich will jetzt nach Hause Stuart, sie sorgen dafür, daß alles, was meine Person angeht, geheim bleibt. Ich bin todkrank, meine Herren, — im Interesse der Aufklärung dieser Verbrechen!“

Im Flur hörte er verschwommen Walzermusik. Im Saale drehten sich elegante Paare, flirtete man, lachte man.

Und dort im Seitenflügel der Villa zwei stille Tote.

„Das Leben ist ein Hexensabbath!“ dachte Pratt.

Und der bucklige alte Polizist, also der junge, frische Nic, schritt durch den verschneiten Park der Pforte zu, trat auf die 24. Straße hinaus und zündete sich umständlich eine Zigarre an, schob dann die Hände in die Manteltaschen und stapfte gemächlich der nächsten Polizeiwache zu. Als er kaum dreißig Schritt gegangen war, hatte er, als er die Zigarre aus dem Munde nahm, seitwärts an den Mützenschirm einen länglichen Spiegel fest — einen Hohlspiegel, der ihm nun den rückwärts gelegenen Teil der Straße deutlich zeigte.

Und — so sah er, ohne daß er sich ein einziges Mal umzusehen brauchte, das ein Herr im dunklen Radmantel und Zylinder hinter ihm drein kam.

Pratt pochte das Herz vor Erwartung. Auf keinen Fall durfte er diesen Mann aus den Augen verlieren. Als er nun die Polizeiwache erreicht hatte, lief er rasch in den Dienstraum, wo die Beamten der Nachtschicht sich beim Kartenspiel die Zeit vertrieben, riß Perücke, Bart, Mantel, Jacke und den falschen Buckel ab, kehrte den Mantel um, der von beiden Seiten zu tragen war, klemmte sich einen schwarzen Schnurrbart unter die Nase, gab den Beamten im Depeschenstil allerlei Anweisungen und verließ die Wache über den Hof des Nachbargrundstücks, gelangte so zwei Häuser weiter wieder auf die Straße und sah noch gerade, wie der Mann im Radmantel die Treppe der Hochbahnstation emporschritt.

Der Hochbahnzug war gut besetzt. Pratt stand im selben Wagen mit dem bartlosen Fremden an der Tür. Der Mann im Radmantel hatte noch einen Sitzplatz erwischt. Pratt stellte fest, daß der Herr Gummischuhe trug, sogenannte Boots, und das die gebügelten Beinkleider merkwürdig faltig saßen — gerade so, als ob darunter noch ein paar Hosen steckten, vielleicht die des Bettlers!

Pratt fieberte förmlich. Noch nie in seinem Leben war er so aufgeregt gewesen wie jetzt. — Die hohen Gummischuhe des Fremden mit dem Krimmerbesatz waren so groß, daß sie ganz gut die plumpen Stiefel des Bettlers verbergen konnten. Und der Radmantel — auch der war sehr geeignet, ein anderes Kostüm zu verhüllen.

Neben Pratt stand eine Dame. Hätte er sich nicht so ausschließlich mit dem Fremden beschäftigt, wären ihm deren lange graue Wildlederhandschuhe, der dichte schwarze Schleier und der zarte Heliotropduft wohl aufgefallen. So aber ließ ihn die Erregung der Jagd heute den Fehler begehen, die nächsten Nachbarn nicht weiter zu beachten.

Der Zug hielt auf der Zentralstation. Der Fremde erhob sich. Pratt trat zur Seite. Die Dame hielt schon eine winzige Nickelspritze bereit. Ein haarfeiner Strahl schoß zur Seite, traf Pratts Augen.

Ein wahnsinniger Schmerz ließ ihn leise aufschreien. Seine Hand fuhr empor. Er rieb die Augen, wollte sie aufreißen. Tränenbäche hinderten ihn am Sehen.

Und als er dann im Zimmer des Stationsvorstandes die Augen eine halbe Stunde gekühlt hatte, als er sie wieder öffnen konnte, war an eine Verfolgung des Fremden nicht mehr zu denken.

Er kehrte mit aller Vorsicht auf Umwegen heim. Diesmal bemerkte er keinen Verfolger. Er betrat sein Haus durch den zweiten Zugang von der Bloornstraße und legte sich müde und enttäuscht zu Bett.

 

 

5. Kapitel.

Am Vormittag fand sich Grablay zum „Krankenbesuch“ ein. Nic lag noch im Bett. Sie besprachen die Ereignisse der verflossenen Nacht. Der Inspektor war sehr mißgestimmt und hoffnungslos. Pratt tröstete ihn. „Vier Tage warte ich noch,“ sagte er. „Dann beginne ich, lieber Stuart.“

„Womit?“

„Mit — der Beobachtung Longreels. Nur so werden wir der Mordbande auf die Spur kommen.“

Grablay war sprachlos. „Longreel?! Was in aller Welt hat der mit alledem zu tun?!“

„Er ist der Mittelpunkt der Geheimnisse behaupte ich.“

„Und auf Grund welcher Tatsachen nehmen sie das an?“

„Weil er die Schrift auf dem Stück Zeitung gekannt hat, weil er aschfahl wurde, als ich den Zettel mit der Chiffreschrift erwähnte.“

„Hat er etwa den Senator ermordet?“

„Nein. Allan Lambry wurde das Opfer einer Verwechslung. Der tödliche Dolchstoß galt Longreel. Ich habe mir heute morgen alle Einzelheiten bei drei Pfeifen Tabak sehr sorgfältig nochmals überlegt. Ich halte folgendes für gewiß:

Der Diener Maupello und die Anna Arlt sind von dem Bettler, der die Villa Güldenham schon längere Zeit beobachtet hatte, bestochen worden. Er hat ihnen etwas ganz Harmloses erzählt, wahrscheinlich, daß Longreel ein Weib betrogen hätte, die dem Ungetreuen nun Schwierigkeiten machen wollte. Er hat mit dem Gelde nicht gespart. So fand er denn zwei gefügige Werkzeuge in der Villa. Longreel sollte durch den ersten Zettel — ich erhielt ja nur einen Ersatzzettel im Auto in die Tasche gesteckt — in die Bibliothek gelockt werden. Ein Zufall führte den Senator dorthin, der in seinem Liebesschmerz vielleicht eine Weile allein sein wollte. Dort stach „man“ ihn nieder. „Man“ — der Bettler wahrscheinlich. Das Fläschchen Amylnitrat in Maupellos Tasche deutet darauf hin, das Longreel vielleicht auch vergiftet werden sollte, falls der Anschlag in der Bibliothek mißlang.“

„Ah — nun verstehe ich auch, Nic, weshalb sie auf der 8. Polizeiwache befahlen, Longreel ständig im Auge zu behalten!“

„Ja. Vielleicht verrät die Bande sich irgendwie. Im übrigen wird Longreel sich schon selbst jetzt vor Attentaten in acht nehmen. Er weiß, was ihm droht.“

„Lieber Nic — dann ist Longreel selbst ein Verbrecher!“

„Nein, Stuart! Bestimmt nicht. Was er ist, verriet mir das Hufeisen unter dem Absatz des Mörders Allan Lambrys. Und mehr verrate ich nicht!“

Grablay verabschiedete sich etwas gekränkt, weil Pratt nicht all seine Trumpfkarten aufgedeckt hatte.

Nic frühstückte und photographierte dann beide Seiten des Stückes Zeitung, vergrößerte die Aufnahmen und fand so drei Fingerabdrücke, die zwar sehr matt waren, sich aber nachzeichnen ließen. —

Abends um sieben verließ er sein Haus durch den Ausgang nach der Bloornstraße und begab sich nach der 24. Straße wo Edgar Longreel jetzt schräg gegenüber der Villa seines Schwiegervaters in einem vornehmen Miethause drei möblierte Zimmer bewohnte. Pratt war jetzt ein älterer Herr mit leicht hinkendem Gang, eisgrauem Vollbart und goldener Brille. Er hatte es daheim doch nicht länger ausgehalten. Er mußte diese Sache zu Ende bringen. Es ließ ihm keine Ruhe, daß die Mörder womöglich einen neuen Anschlag auf Longreel vorbereiteten.

Vor Longreels Haus stand jetzt ein Werkzeugwagen der städtischen Asphaltarbeiter. Die Straße war stellenweise aufgerissen. Zu dem großen Wagen, ähnlich einer der Wohnungen fahrender Schausteller, brannte Licht. Pratt lächelte: — Polizei! — Grablay hatte nun gleich mit großem Aufgebot Longreels Bewachung übernommen. — An der anderen Seite des Wagens lehnte ein Arbeiter und rauchte. Pratt bat ihn um Feuer und flüsterte? „Nic Pratt! Etwas Neues?“

„Ah — Master Pratt! Guten Abend. — Nein, nichts, — leider! Longreel ist zu Hause. Da — das erleuchtete Riesenfenster im ersten Stock ist sein Wohnsalon.“

Pratt blickte empor. Man sah, wie der Schatten eines Mannes regelmäßig über den Vorhang huschte Longreel schritt also dort oben rastlos auf und ab.

Pratts Augen überflogen auch die übrigen Fenster. Da waren im ersten Stock noch zwei andere erleuchtet. Und — da gewahrte er — und es ging ihm wie ein elektrischer Schlag durch den Körper! — gleichfalls auf den Vorhängen einen Schatten: den eines Mannes im Radmantel und Zylinder auf dem Kopf!

Pratt fühlte seinen Herzschlag sich beschleunigen. Gewiß — Radmantel und Zylinder gab es genug in Neuyork! Aber das da vier Fenster weiter von Longreels Wohnsalon ein solcher Mann stand und den Handbewegungen nach mit einer zweiten Person sprach, von der nur Teile eines Frauenkopfs als Silhouette zu erkennen waren, — das gab zu denken.

Nic flüsterte dem als Arbeiter verkleideten Beamten etwas zu. „Also Achtung — wenn ich die eine Scheibe einstoße, dann —!“

Und er schritt über den Fahrdamm, betrat das Haus, stand nun im ersten Stock auf dem Treppenabsatz, sah, daß hier zwei Fremdenheime, rechts und links, sich befanden, das die beiden erleuchteten Fenster zu dem linken Pensionat gehören mußten, während Longreel rechts wohnte, wie die angeheftete Karte verriet.

Gleich darauf stand er der einen Pensionsinhaberin gegenüber, legitimierte sich, fragte sie aus, erfuhr, daß seit drei Wochen eine Irländerin bei ihr wohne, eine Miß Joungs, die allerdings viel mit zwei Landsleuten verkehre und die ein graues Auto für Tage gemietet habe. Der eine ihrer Landsleute sei jetzt gerade bei ihr. — Pratt fragte, ob die Pensionsinhaberin vielleicht mal etwas schriftliches eines dieser Irländer gesehen hätte — Ja — Postkarten an Miß Joungs, erklärte sie. Eine der Karten läge noch zerrissen im Mülleimer in der Küche.

Pratt ging mit der Dame in die Küche. Die Schrift der Karte war dieselbe wie auf dem Zeitungsstück. Der Text der Karte betraf einen Theaterbesuch. — Pratt rieb die Fetzen der Karte mit einem bleigrauen Pulver ein und brachte so sechs Fingerabdrücke zum Vorschein. Zwei entsprachen genau denen, die er daheim auf dem Stück Zeitung sichtbar gemacht hatte.

Nun wußte er genug. Er nahm den entsicherten Revolver in die rechte Pelztasche, klopfte bei Miß Joungs an, trat rasch ein, schloß ebenso rasch die Tür und sagte kalt zu den beiden völlig Überraschten, indem er seine Waffe zum Vorschein brachte:

„Das Haus ist umstellt. Bleiben sie sitzen. Ich bin Nic Pratt. — Sie, Mr. Waltour, wie sie sich hier nennen, waren der blinde Bettler. Sie, Miß Joungs und Ihr dritter Kumpan gehören der irländischen Geheimgesellschaft „Hufeisen“ an, die seit dreihundert Jahren besteht, angeblich seit zehn Jahren aufgelöst sein soll und deren männliche Mitglieder Hufeisen mit einem Dreieck in der Mitte trugen. Ich erkannte diesen Hufeisenabdruck im Schnee des Fenstersimses. Sie sind aus Irland herübergekommen, um Longreel, der selbst Irländer ist und Mitglied des Bundes war, zu beseitigen oder Geld von ihm zu erpressen. Letzteres dürfte das Wahrscheinlichere sein.“

Waltour saß lächelnd da. Auch Miß Joungs lächelte. Sie hatten sich rasch gefaßt. Ihr Lächeln hatte etwas Bedrohliches an sich.

Dann sagte Waltour eisig: „Gut — wir mögen die Partie verloren haben. Wir wollten Longreel so etwas schröpfen. Er ist jetzt ja Schwiegersohn eines Milliardärs. Aus dem Bunde sind wir ausgestoßen. Das weiß er nicht. Aber auch sie sind verloren, Mr. Pratt. Sie werden ebensowenig wie wir dieses Zimmer lebend verlassen. — Bitte — rühren sie sich nicht. Dort rechts hinter dem Wandschirm steht unser Freund Morrell. Er hat ebenfalls einen Revolver.“

Pratts Blicke flogen nach rechts. Und — er schaute in das schwarze Auge einer Revolvermündung hinein.

Waltour lachte laut. „Wenn sie Ihr Leben also retten wollen, Mr. Pratt, sorgen sie dafür, daß wir entschlüpfen können.“

Pratt gegenüber befand sich die Tür. Links an der Tür war der elektrische Schalter zu erkennen. Pratts erhobener Revolver hatte etwa die Richtung dorthin.

Langsam erwiderte er: „Das wäre zu überlegen. Ich bin nicht Beamter. Wozu soll ich mich niederknallen lassen?! Ich will ehrlich sein: es befinden sich nur auf der Straße vor dem Hause Polizeibeamte. Es sind die Asphaltarbeiter. Fesseln sie mich und fliehen sie! Dann sind wir —“

Er hatte unmerklich mit seiner Waffe auf den Schalter gezielt. Traf er, so war mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, daß die Stromzuführung unterbrochen wurde und die elektrische Krone erlosch.

Auf das „wir“ folgten zwei Schüsse.

Pratt duckte sich sofort, und Morrells Kugel ging über ihn hinweg.

Im Zimmer war’s dunkel.

Pratts Faust zertrümmerte die eine Fensterscheibe; dann kroch er rasch hinter den Wandschirm, den Morrell mehr ins Zimmer gerückt hatte, um über Pratt herzufallen.

Draußen im Flur stimmen. Die Tür wurde auf gesprengt.

Laternenschein glitt durch den Raum. —

Aber — nur drei Tote schaffte man dann fort: Amylnitrat! Es hatte bei allen dreien blitzartig gewirkt. —

Edgar Longreel, der als Achtzehnjähriger dem Bunde der Hufeisenleute beigetreten war, wurde ein glücklicher Ehemann. Nie wieder haben sich Erpresser an ihn herangewagt. Der Bund, einst allmächtig, da ihm für seine politischen Zwecke unbegrenzte Mittel zur Verfügung standen, soll tatsächlich nicht mehr existieren. Soll! — Die arme Anna Arlt wurde später als Leiche aus dem Hudson gezogen.

 

 

Nächster Band:

Das leere Zimmer.