Nic Pratt
Amerikas Meisterdetektiv
Band 3:
Preis 5 Mk.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922
by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.
Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin
1. Kapitel.
Die Explosion in der Pincraystraße.
Nic Pratt, Neuyorks berühmtester Privatdetektiv, saß am 10. Juni 1922 in seinem geschmackvoll eingerichteten Arbeitszimmer gegen neun Uhr beim Frühstück.
Wie immer las er dabei die Morgenzeitungen. Selbst die Anzeigenspalten studierte er sehr genau, besonders die Rubrik ‚Vermischtes’.
Auch heute fand er darin eine Annonce, die ihm beachtenswert erschien.
Sie lautete:
Klub der Geheimnisvollen
Herren besserer Stände, die ein Geheimnis zu bewahren haben, das Ihnen irgendwie das Leben verbittert, finden Rat, Hilfe und die angenehmste Gesellschaft. Wer sich für den Klub der Geheimnisvollen interessiert, möge sich persönlich bei Mr. John Roswick, hier, Grahamstraße 13, zwischen zwölf und zwei Uhr mittags melden.
Pratt lächelte etwas und dachte: ‚Daß dieser merkwürdige Klub andere Zwecke als die gegenseitiger Beratung, Hilfeleistung und Unterhaltung verfolgt, erscheint mir gewiß. Man müßte sich eigentlich mal diesen Mr. Roswick ansehen. Ich habe jetzt keinen Auftrag, der meine freie Zeit vollkommen ausfüllt und –’
Hier zerriß Pratts Gedankenfaden, da die Telephonglocke auf dem Schreibtisch so anhaltend schrillte, daß er mit zwei langen Schritten zum Schreibtisch eilte und den Hörer abnahm.
„Hier Nic Pratt, Pearlstraße 111 –“ meldete er sich.
„Gott sei Dank, daß Sie daheim sind, Master Pratt –“
Nic hörte durch den Apparat einen tiefen Seufzer der Erleichterung.
„Mein Name ist Horam Bennett, Master Pratt. Ich bin Rentner, nebenbei so etwas Altertumsforscher. Ich wohne in meiner eigenen Villa – eine sehr bescheidene Villa ist’s – in der Pincraystraße Nr. 34. Vor einer Viertelstunde erhielt ich durch die Post ein Paket, etwa Zigarrenkistengröße. Ich nahm es mit in mein Zimmer, um es hier in Ruhe zu öffnen. Ich glaubte, es würde irgend eine Antiquität enthalten –“
„Wer war denn der Absender?“ fragte Pratt.
„Ein Master Nathanael Robler steht als Absender auf dem Paket vermerkt. – Dieses war in graues, dickes Papier eingeschlagen. Der starke Bindfaden war viermal gesiegelt. Als ich die Umhüllung entfernt hatte, fand ich ein weißes Holzkistchen vor mit aufgeschraubtem Deckel. Ich stellte es auf meinen Schreibtisch und begann die Schrauben zu lösen. Als ich die dritte herausgedreht hatte, hörte ich plötzlich in dem Kästchen ein Summen –“
„Summen? Beschreiben Sie das Geräusch genauer.“
„Nun – es brummte so, wie etwa ein elektrischer Zähler brummt –“
„Gut. Weiter –“
„Da bekam ich einen Schreck. Ich hatte doch letztens noch von dem Attentat auf den Direktor Polling gelesen, und Polling ist durch eine Kiste mit einer Höllenmaschine darin getötet worden. Das Summen ließ nicht nach. Obwohl ich nun wahrhaftig keine Feinde habe und ein Attentat nicht zu fürchten brauche, packte mich doch plötzlich die Angst, und so rief ich Sie an. Geben Sie mir bitte einen Rat, Mr. Pratt. Was soll ich tun?“
„Wo steht die Kiste jetzt, Mr. Bennett?“
„Hier neben mir auf dem Schreibtisch. Der Deckel wird noch durch drei Schrauben festgehalten. Sie summt noch immer.“
„Dann tragen Sie sie rasch in den Garten, wo sie keinen Schaden –“
In diesem Moment vernahm Pratt durch den Apparat einen so furchtbaren Knall, daß ihm das Trommelfell wehtat.
Einen Augenblick stand er wie gelähmt.
Kein Zweifel, es war einer Höllenmaschine gewesen, und diese war jetzt explodiert!
Er legte den Hörer weg, eilte in den Flur, rief seiner Haushälterin Frau Allison zu, was nötig war, griff nach der Mütze und rannte durch den Vorgarten auf die Straße, traf ein Auto und jagte dem Orte des Verbrechens zu.
Inzwischen hatte Frau Allison sich mit der Polizeidirektion verbinden lassen und Pratts Freund, dem Detektivinspektor Grablay, das Nötige mitgeteilt.
Nic Pratt selbst fand vor der kleinen Villa Bennetts bereits einen Wall von Neugierigen und vier Polizeibeamte vor.
Diese ließen den bekannten Privatdetektiv ohne weiteres durch die Absperrung.
Das Arbeitszimmer Bennetts, das jetzt nur noch ein wüstes Durcheinander zertrümmerter Möbel und blutiger Körperreste des durch die Explosion zerrissenen Rentners bildete, lag im Hochparterre.
Als Pratt es betrat, waren schon zwei Geheimpolizisten anwesend, die gerade die bleiche, weinende Wirtschafterin des alten Witwers ausfragten.
Nic Pratt berichtete von seinem so jäh unterbrochenen Telephongespräch mit Bennett und brachte so das erste Licht in diesen für die Beamten bisher recht dunklen Vorfall.
Dann begann er nach den Resten des Kistchens zu suchen. Er fand jedoch nur Holzsplitter, formlose Metallteile und Stücke von besponnenen Drähten.
Den Schreibtisch hatte die Explosion ganz auseinandergesprengt, und das Telephon war durch das Fenster in den Garten geflogen.
Pratt suchte mit Ausdauer. Nach zehn Minuten entdeckte er unter den Trümmern des Schreibtisches den Papierbogen, in den das Kistchen eingewickelt gewesen war.
Auch das Packpapier war zerrissen. Aber jener Teil, der die Paketadresse enthielt, ließ sich noch recht genau zusammenfügen.
Pratt blickte auf die mit Tinte geschriebene Adresse. Die Handschrift war schmucklos, schien flüchtig geschrieben und war offenbar nicht verstellt.
Lange blickte Nic Pratt auf diese Adresse, so lange und so geistesabwesend, daß er nicht einmal Inspektor Graylays Erscheinen bemerkte.
„Morgen, Pratt,“ begrüßte der Inspektor ihn.
Pratt zuckte leicht zusammen, schaute Grablay zerstreut an und murmelte:
„So ein Pech – so ein Pech!“
„Ja, der arme Bennett kann einem wirklich leidtun,“ murmelte der Polizeibeamte. „Erzählen Sie mal, Pratt. Wie war die Sache mit dem Telephongespräch.“
Pratt gab erschöpfend, aber noch immer ganz geistesabwesend, die gewünschte Auskunft.
„Hm – er muß doch Feinde gehabt haben, der alte Herr!“ erklärte Grablay dann.
„Nein, das bestreitet die Wirtschafterin eben,“ warf einer der Detektive ein. „Bennett hat nur wenig Verkehr gehabt. Frau Johnson, seine Hausangestellte, nannte nur die Namen angesehener Männer, die Bennett besuchten und wohl seine Freunde waren.“
Pratt reichte dem Inspektor jetzt das Stück Papier mit der Paketadresse. Er hatte die Teile durch Stecknadeln verbunden.
„Hier, Grablay, das hat der Attentäter oder ein Helfershelfer geschrieben.“
„Sehr wichtig, sehr wichtig! Eine recht charakteristische schlichte Handschrift.“
„Nur etwas flüchtig und undeutlich,“ murmelte Pratt und starrte auf die blutigen Reste des zerschmetterten Kopfes des Rentners.
Die Adresse war mit lateinischen Buchstaben geschrieben und sah so aus:
Mr. H. Bennett
Neuyork 19
Pincraystraße 34
Abs.:
Nathanael Robler,
Neuyork 12,
Grahamstraße 14
Grablay begannen jetzt in den Papieren des zertrümmerten Schreibtisches zu wühlen.
„Helfen Sie mir, Pratt,“ sagte er. „Man wird Bennetts Vorleben prüfen müssen. Wir werden den Punkt schon finden, wo es auch in des Rentners beschaulichem Dasein dunkle Geschehnisse gibt, deren Folgen dieses Attentat war.“
„Sie werden diesen Punkt schwerlich finden,“ meinte Nic Pratt leise. „Ich habe leider keine Zeit mehr, Grablay. Ich habe noch etwas anderes vor. Morgen will ich Ihnen dann helfen. Auf Wiedersehen.“
Es war jetzt elf Uhr. Pratt fuhr direkt heim, ging in seine Ankleidezimmer und legte die Maske eines älteren, etwas buckligen Mannes an, nahm eine Aktentasche unter den Arm und saß um zwölf Uhr abermals in einem Auto, das ihn nach der Grahamstraße brachte.
Unterwegs überlegte er nochmals seinen Feldzugsplan. Er hatte da auf der Adresse eine Entdeckung gemacht, die ihm sehr wertvoll schien. Dann war ihm noch aufgefallen, daß der Absender der Höllenmaschine Grahamstraße 14 wohnen wollte, während die Anzeige des Klubs der Geheimnisvollen die Ortsangabe Grahamstraße 13 enthalten hatte.
‚Gewiß’, sagte er sich, ‚der Absender des Kistchens wird ja niemals seinen richtigen Namen und seine richtige Adresse angegeben haben. Immerhin ist es sonderbar, daß heute die Grahamstraße zweimal bei besonderer Gelegenheit mir in die Augen fiel. Und nun, zwei benachbarte Häuser 13 und 14! Das muß ich an Ort und Stelle nachprüfen.’ –
In der Grahamstraße ließ er halten und betrat wenig später die große Mietskaserne Nummer 14, fragte den Pförtner nach Mr. Nathanael Robler und erhielt zu seinem Erstaunen die Antwort, Robler wohne im zweiten Stock, Gartenhaus links.
Der Pförtner erklärte dann weiter, Robler sei pensionierter Oberst, Junggeselle und ein sehr freundlicher Herr.
Pratt betrat das Gartenhaus und läutete bei Robler an. Das Messingschild an der Tür trug die Aufschrift:
Nath. Robler
Oberst
Ein weißbärtiger, rotbäckiger Herr von straffer Haltung öffnete.
„Sie wünschen?“
„Nur eine Auskunft, Herr Oberst. Kennen Sie Mr. Horam Bennett?“
Der Oberst fuhr leicht zusammen, wechselte die Farbe und stieß hervor:
„Nein. – Wer sind Sie denn eigentlich?“
„Ein Freund Mr. Bennetts, der vor zwei Stunden ermordet wurde,“ flüsterte Pratt.
Der Oberst lehnte sich wie in einem Anfall von Schwäche an den Türrahmen, sagte tonlos:
„Bitte, treten Sie näher –“
2. Kapitel
Nummer14 und Nummer13.
Nic Pratt zögerte erst. Er hatte das Gefühl, daß dieser Oberst ein sehr schlechtes Gewissen hatte und zu allem fähig wäre, wie man so sagt. Trotzdem folgte er Robler in dessen bescheiden eingerichtetes Wohnzimmer.
„Nehmen Sie Platz,“ erklärte der Oberst jetzt sehr höflich. „Dürfte ich Ihren Namen erfahren?“
Pratt setzt sich in den Plüschsessel neben den Sofatisch.
„Ich heiße Preedomp und bin Versicherungsagent,“ erklärte er. „Nebenbei sammle ich Altertümer, soweit mir dies meine Mittel gestatten. Auch Bennett ist Antiquitätensammler und Altertumsforscher.“
Der Oberst nickte und fragte:
„Diese gleiche Leidenschaft hat Sie mit Bennett zusammengeführt?“
„Ja –“
„Sie lügen!“ rief Robler schneidend.
Er war dicht an Pratt herangetreten, und ehe dieser es sich versah, hatte der stämmige Oberst ihm einen solchen Boxhieb gegen die Herzgrube versetzt, daß Pratt kraftlos nach vorn auf den Teppich rutschte.
Im Nu hatte Robler ihn dann auf einen Stuhl gefesselt und ihm einen Knebel in den Mund gezwängt.
Pratt erholte sich langsam.
Robler stand dicht vor ihm und hatte aus einer an der Wand angebrachten Waffensammlung einen Pfeil mit Knochenspitze herausgesucht, den er Pratt nun vor die Nase hielt.
„Dies ist ein Pfeil der Lipuma-Indianer aus Südamerika,“ sagte er. „Die Spitze ist vergiftet – mit dem bekannten Pfeilgift Curare, das sofortige Nervenlähmung erzeugt. – Sie sind jetzt gewarnt. Sobald Sie um Hilfe rufen, steche ich Sie in die Halsschlagader.“
Er entfernte Pratts Knebel, nahm ihm dann auch Bart und Perücke ab und lachte ironisch auf.
„Ah – ein noch ziemlich junger Mann! Das Gesicht sollte ich doch kennen! Ich muß letztens irgendwo ein Bild von Ihnen gesehen haben. Wer sind Sie also?“
Pratt schwieg. Er wußte jetzt, daß Robler mit Bennett sogar recht gut bekannt sein müsse, sogar so gut, daß Bennetts Freunde ihm nicht fremd waren. Deshalb hatte er an diesen Agenten Preedomp nicht geglaubt. Aber – weshalb hatte er dann sofort zugeschlagen?!
Der Oberst faßte den Giftpfeil fester.
„Lieber Freund,“ erklärte er mit unheimlicher Entschlossenheit, „wenn Sie nicht sofort in allem die Wahrheit sagen, sind Sie geliefert! Ein Mann wie ich droht nicht umsonst. Ich bin kein Verbrecher, aber ich wehre mich meiner Haut. Mich überlistet man nicht! – Also – wer sind Sie?“
Pratt merkte, daß sein Leben hier tatsächlich an einem Zwirnsfädchen hing.
„Ich bin Nic Pratt,“ erwiderte er also.
Rogers Augen weiteten sich vor Schreck.
„Verdammt – gerade Nic Pratt! Sie haben uns noch gefehlt!“
Pratt paßte genau auf. ‚Uns noch gefehlt!’ hatte der Oberst gesagt. ‚Uns –!’ Nicht ‚mir’! – Robler hatte also noch Bekannte, denen Pratt ebenfalls unangenehm werden konnte.
„Was wollen Sie hier?“ fragte der Oberst weiter.
„Bennett ist durch eine Höllenmaschine vor zwei Stunden etwa ermordet worden. Die Adresse des Kistchens, das die Dynamitpatrone und das Uhrwerk barg, enthielt Ihren Namen und Ihre Wohnung als den des Absenders.“
Robler stierte Pratt ganz fassungslos an.
„Wie?!“ rief er, „ich sollte der – der Attentäter sein?! Ich?!“
„Das behauptet niemand. Ich bin nur in dieses Haus gekommen, um nachzufragen, ob es hier einen Nathanael Robler gibt. Denn im Adreßbuch sind Sie nicht verzeichnet, Herr Oberst. Ich hatte es daheim durchgesehen.“
Robler legte den Giftpfeil auf den Tisch und begann wie ein Verrückter im Zimmer auf und ab zu rennen, wobei er unverständliche Worte vor sich hin murmelte und heftig mit den Händen herumfocht.
Nic Pratt beobachtete ihn kritisch. Der Mann heuchelte nicht; er war wirklich im höchsten Grade erregt.
Weshalb aber?! Weshalb?! Bennetts Mörder war dieser Robler ja auf keinen Fall!
Dann blieb der Oberst wieder vor Pratt stehen und zwang sich gewaltsam zur Ruhe.
„Mr. Pratt,“ sagte er höflich, „es tut mir leid, daß ich mich geirrt und mich an Ihnen vergriffen habe. Verzeihen Sie mir –“
Er begann ihn loszubinden.
„Ich bitte Sie herzlich, mir mein Verhalten nicht zu verargen,“ fügte er hinzu. „Sie könnten mich wegen Mißhandlung, Freiheitsberaubung und Bedrohung zur Anzeige bringen und meinen geachteten Namen dadurch bloßstellen. Nochmals – tun Sie es nicht! Ich bitte Sie dringend darum.“
Nic Pratt war frei, stand auf und erwiderte ohne jede Empfindlichkeit:
„Ich als Detektiv erlebe vieles, was ich vergessen muß, Herr Oberst. Die Sache ist erledigt. Nur eine Gegenleistung fordere ich, Sie müssen mir einige Fragen beantworten.“
„Gern. Das heißt, soweit ich darf, Mr. Pratt. Es gibt eben Umstände, die mir die Zunge binden, was gewisse Dinge angeht. – Nehmen Sie wieder Platz. Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten?“
Pratt lehnte nicht ab. Auch Robler setzte sich. Beide rauchten eine Weile schweigend und starrten vor sich hin.
Dann sagte Nic Pratt:
„Sie kennen Horam Bennett?“
Der Oberst neigte nur etwas den Kopf.
„Sie kennen ihn sogar sehr gut,“ sagte Pratt darauf. „Die Nachricht von seinem Tode hat Sie schwer erschüttert. Aber in Bennetts Villa verkehrten Sie nicht. Seine Wirtschafterin zählte uns seine Freunde auf. Ihr Name war nicht darunter.“
Robler schwieg und schaute zu Boden.
„Dann etwas anderes,“ meinte Pratt. „Seit wann wohnen Sie hier?“
„Seit zwei Monaten. Ich war bisher stets auf Reisen.“
„Würden Sie mir einmal den Namen ‚H. Bennett’ und ‚Neuyork’ und ‚Pincraystraße 34’ sowie ‚Absender Nathanael Robler’ und Ihre Adresse mit Tinte auf ein größeres Blatt schreiben?“
„Bitte, gern –“ Der Oberst ging an den Schreibtisch und reichte dann Pratt den ausgefüllten Papierbogen.
Nic prüfte die Handschrift.
„Zug um Zug die Aufschrift des Dynamitpakets,“ sagte er und blickte Robler scharf an.
„Also doch!“ murmelte der Oberst und begann wieder hastig auf und ab zu gehen.
„Daß Sie Bennett nicht ermordet haben, weiß ich,“ erklärte Pratt nach einer längeren Pause. „Wie aber kam Ihre Handschrift auf die Paketumhüllung?“
Der Oberst machte vor Pratts Sessel halt.
„Das – das kann ich Ihnen nicht beantworten. Besser – ich darf es nicht. – War es eine auf das Papier aufgeklebte Paketadresse?“
„Ja. Eine weiße Paketadresse. Sie geben aber zu, daß Sie das Papier ausgefüllt haben?“
„Ich gebe nichts zu, Mr. Pratt. Fragen Sie etwas anderes.“
„Die Polizei wird Sie hiernach fragen, und dann werden Sie antworten müssen, Herr Oberst.“
Robler murmelte in Gedanken versunken: „Ja, ja – die Polizei!“
Dann sagte er lebhafter: „Verzeihen Sie, Mr. Pratt. Ich muß Sie jetzt leider wegschicken. Ich erwarte Besuch.“
„Oh – dann will ich nicht stören. – Auf Wiedersehen, Herr Oberst.“
Pratt hatte sich schon vorher Bart und Perücke wieder befestigt. Robler drückte ihm die Hand und meinte mit seltsamem Lächeln: „Ja – auf Wiedersehen!“
Nic stieg langsam die Treppen hinab. Er hatte das Gefühl, als ob er sich geistig jetzt durch einen Irrgarten hindurchtastete. Dieser Robler war ihm ein neues Rätsel. Der Fall Bennett schien sich zu einer ebenso schwierigen wie vielseitigen Angelegenheit seltsamster Art auszuwachsen.
Pratt ging die Straße entlang, machte aber bald wieder kehrt. Dann ein leises Lachen hinter ihm.
„Tag, Pratt. Für meine Polizeiaugen sind Sie der berühmte Nic trotz des Buckels!“
Es war Inspektor Grablay. Er hatte ebenfalls Maske gemacht, schob seinen Arm in den Pratts und fuhr fort:
„Na – gibt es einen Nathanael Robler?“
„Ja – sehr sogar, lieber Grablay.“ Und Pratt erzählte, was er soeben erlebt hatte.
„Hm – wir werden diesen Oberst sofort nochmals ins Gebet nehmen,“ sagte der Inspektor nachdenklich. „Was halten Sie von ihm, Pratt?“
„Ein Gentleman!“
„So?! Und weshalb wollte er nicht alles sagen, was er weiß?“
„Das weiß ich nun nicht!“
Sie hatten das Haus Nummer 14 wieder erreicht. Der Pförtner arbeitete im Vorderflur am Fahrstuhl. Er erkannte den buckligen Pratt und meinte:
„Wollen Sie nochmals zu Mr. Robler? Der ist vor kaum drei Minuten weggegangen. Er hatte einen Koffer mit und sagte, er verreise für längere Zeit. Er würde auch wahrscheinlich seine Wohnung aufgeben. Er will mir noch dieserhalb schreiben. Auch den Wohnungsschlüssel ließ er mir schon da.“
Grablay warf Pratt einen langen Blick zu. Dann zeigte er dem Pförtner seine Legitimation und sagte: „Holen Sie mir den Wohnungsschlüssel.“
Als der Hauswart sich entfernt hatte, flüsterte Grablay:
„Der Kerl ist ausgekniffen! Wenn er nun doch der Absender des Dynamitpakets war?!“
„Beruhigen Sie sich, Grablay. Er war es nicht.“
„Wie können Sie das so bestimmt behaupten?!“ rief der Inspektor ärgerlich. Er war jetzt wirklich leicht gereizt.
„Lieber Grablay, warten Sie noch bis morgen. Dann will ich Ihnen sagen, was Sie übersehen haben – nämlich fünf Buchstaben. – So, ich habe anderswo zu tun. Auf Wiedersehen –“
Und Nic Pratt verließ eilig den Hausflur von Nummer 14 und – bog sofort nebenan in den von Nummer 13 ein.
Grablay hatte ihm nachgeschaut, bis die Tür von Nummer 14 wieder zufiel. „Hm – fünf Buchstaben?! Was mag er nur meinen?!“ brummte er. „Weiß der Teufel, er hat immer seine Heimlichkeiten! Wahrscheinlich hat er gar wieder mit seinen Luchsaugen irgend etwas entdeckt!“
Da kam der Pförtner mit dem Schlüssel, und der Inspektor begab sich in das Gartengebäude, um bei Oberst Nathanael Robler Haussuchung zu halten.
Pratt aber stieg in Nummer 13 ebenfalls im Gartenhause die Treppen empor, nachdem er auf der Haustafel festgestellt hatte, daß Mr. John Roswick, doch scheinbar der Obermacher des Klubs der Geheimnisvollen, dort zwei Treppen hoch wohnte.
Mittlerweile war es ja ein Uhr geworden, und da Mr. Roswick in Klubangelegenheiten dem Inhalt der Annonce nach von zwölf bis zwei Uhr mittags zu sprechen war, hoffte Nic Pratt bestimmt, diesen Herrn anzutreffen.
An Roswicks Tür hing ein Emailleschild mit der Aufschrift:
John Roswick, Privatgelehrter
Kl. d. G. nur 12 bis 2
Das letzte hieß fraglos: ‚Klub der Geheimnisvollen nur zwölf bis zwei.’
Pratt drückte auf den Klingelknopf. Drinnen schrillte eine Glocke. Dann erlauschten Pratts scharfe Ohren hinter der Tür ganz leise Schritte und das Knarren von Dielen.
Die Tür hatte ein Guckloch. Pratt konnte jedoch nicht feststellen, ob jemand hindurchschaute. Jedenfalls, es öffnete niemand!
Pratt läutete abermals. Es kam ihm so vor, als ob die Schritte sich jetzt von der Tür wieder entfernten.
Und – er läutete zum dritten Male. Doch niemand erschien.
Nic Pratt stand da und überlegte. Er war überzeugt, daß Roswick daheim war und daß dieser ihm durch das Guckloch gemustert hatte. Weshalb öffnete Roswick nicht?! Weshalb wohl?! Er mußte doch annehmen, daß jemand den Klub besuchen, ja vielleicht ihm beizutreten wünsche.
Pratt stieg wieder die Treppen hinab. Auf dem Hofe sprengte der Pförtner von Nr. 13 den sogenannten Garten.
„Ob Mr. Roswick wohl zu Hause ist?“ erkundigte sich Pratt freundlich.
„Ja. Der geht zwischen zwölf und zwei Uhr mittags nie aus,“ lautete die Antwort.
„Wie lange wohnt er denn hier schon?“
„Etwa sechs Wochen. – Haben Sie Mr. Roswick besuchen wollen?“
„Ja. Doch es öffnete niemand.“
„So?! Aber sein Freund, der Oberst Robler von nebenan, kam doch soeben über den Hof und stieg zu ihm hinauf. Mr. Roswick muß daheim sein.“
Pratt schoß da plötzlich ein besonderer Gedanke durch den Kopf. Er lächelte und blickte an dem Gartenhause empor. Sein Lächeln verstärkte sich noch, er drehte sich um und schritt davon.
3. Kapitel
Die beiden Neger.
Er ging nicht weit, nur wieder bis Nr. 14 nebenan.
Grablay würde sich wundern, wenn er in des Obersten Wohnung erschien. Noch mehr würde er sich wundern, was Pratt dort suchen wollte. –
Zunächst begegnete Pratt auf der ersten Treppe des Gartenhauses ein rotbärtiger Herr mit riesiger Hornbrille und einer verdächtig blau schimmernden Nase, der es sehr eilig hatte. Der Herr trug in der Linken eine Reisetasche und in der Rechten einen Schirm, lief an Pratt vorüber die Stufen hinab und schimpfte dabei leise vor sich hin.
Nic Pratt läutete nun an Oberst Roblers Tür. Dann aber fiel ihm etwas ein, das ihn bewog, mit langen Sprüngen die Treppen wieder hinunter zu hasten. Er stürmte auf die Straße, schaute sich nach dem Rotbärtigen um und sah gerade, wie dieser in ein Auto stieg.
Pratt hatte Glück. Auch er fand ein leeres Auto, rief dem Chauffeur zu: „Ich bin Nic Pratt! Da vorn – jenem Auto nach! Zehn Dollar extra!“
Die Jagd begann, dauerte zehn Minuten. Dann hielt das Auto des Rotbärtigen vor einem Hause der 114. Straße. Bevor Pratt noch mit seinem Auto heran war, hatte der Mann mit der Hornbrille das Haus Nr. 56 betreten. Pratt bezahlte den Chauffeur und folgte dem Rotbärtigen in das Haus. Aber – sehr bald stellte er fest, daß Nr. 56 einen Durchgang nach der Buccragstraße hatte und daß der Verfolgte diesen Durchgang benutzt hatte.
Pratt war trotzdem nicht enttäuscht. Gewiß – der Mann war ihm entwischt. Aber er würde ihn schon wiederfinden! Vielleicht war es sogar besser so, daß der Rotbärtige zunächst entkommen war.
Nic nahm wieder ein Auto und fuhr zur Grahamstraße 14 zurück. Der Pförtner fegte jetzt den Bürgersteig.
„Kennen Sie Mr. Roswick aus Nr. 13 von Ansehen?“ fragte er den Hausmeister.
„Und ob, und ob! Er ist ja der beste Freund von Oberst Robler.“
„Er trägt Hornbrille, hat einen rötlichen Vollbart und eine bläuliche, dicke Nase, nicht wahr?“
„Das stimmt. Eine Schönheit ist Mr. Roswick nicht. Aber stets freundlich –“
Pratt eilte weiter, eilte die Treppen im Gartenhause empor und läutete nun abermals an Roblers Tür. Er läutete und läutete, donnerte mit der Faust dagegen, murmelte schließlich:
„Es stimmt! Grablay wird kaltgestellt worden sein!“
Dann zog er den Patentdietrich aus der Tasche und schob ihn ins Schlüsselloch.
Das Schloß knackte. Die Tür ging auf.
Nic Pratt schaltete die Flurlampe ein, denn der Wohnungsflur war dunkel. Nun stieß er die Tür nach dem Arbeitszimmer Roblers auch.
Und – da saß mitten im Zimmer auf einem Stuhl Detektivinspektor Stuart Grablay – gefesselt und geknebelt!
Als er Pratts Schritte hörte, wandte er den Kopf und stierte Pratt nun aus vor Wut ganz roten Augen mit einem Ausdruck wildesten Grimmes an.
Nic Pratt entfernte rasch den Knebel.
Grablay atmete keuchend, stieß dann hervor:
„Pratt – der Kerl war hier in der Wohnung versteckt, der Oberst! Er hat mich niedergeboxt – Herzstoß! So ein Lump! – Schneiden Sie mich los – schnell!“
Dann reckte und streckte Grablay sich, rieb sich die Handgelenke, fluchte und erzählte:
„Ich war kaum fünf Minuten hier in der Wohnung und stand gerade dort vor dem Schreibtisch, zog gerade die Fächer auf, als mir jemand die Hand leicht auf die Schulter legte und sagte: ‚Das dürfen Sie nicht!’ – Ich fuhr herum, stand einem rotbärtigen Menschen gegenüber, der dann sofort zuschlug. Ich knickte zusammen, und als ich wieder zu mir kam, war ich auf dem Stuhl festgebunden. Der Schuft mit der Hornbrille war weg. Es war natürlich Robler, der seine Wohnung gar nicht verlassen hatte –“
„Nein, es war nicht Robler, lieber Grablay. Der sieht ganz anders aus. – Und doch war es Robler!“
Der Inspektor pfiff durch die Zähne.
„Verstehe. Er war verkleidet.“
„Ja. Als Mr. John Roswick, der im Nebenhause wohnt – Wand an Wand mit Robler. – Haben Sie schon mal was vom Klub der Geheimnisvollen gehört, Grablay?“
„Gewiß. Die verrückten Kerle annoncieren ja zuweilen und suchen so neue Mitglieder.“
„Aber daß dieser Roswick drüben in Nr. 13 der Obermacher des Klubs ist, wissen Sie nicht?“
„Ah – verdammt, Pratt, das wird interessant! Also Roswick und Robler kennen sich?“
„Sogar so gut, wie Sie sich selbst kennen, Grablay!“
Der Inspektor stutzte, rief dann:
„Die beiden sind ein und dieselbe Person, spielen abwechselnd mal Robler oder Roswick!“
„Ja. Und ihre Wohnungen müssen eine geheime Verbindung haben. Suchen wir danach.“
Sie brauchten nicht sehr lange dazu. In Roblers Schlafzimmer war hinter einem großen Schrank eine Tapetentür angelegt worden, die durch ein Loch in der Doppelmauer hinüberführte, wo es ebenfalls eine Tapetentür hinter einem Schranke gab.
Grablay und Pratt befanden sich nun in Roswicks Wohnung. Hier gab es nicht viel zu sehen. Die Einrichtung war recht ärmlich. Schränke und Schubkästen waren bis auf ganz unwichtige oder wertlose Kleinigkeiten leer.
„Wie sind Sie dahinter gekommen, daß Robler und Roswick von demselben Menschen gemimt werden?“ fragte Grablay, während Pratt noch Roswicks Schreibtisch durchwühlte.
„Oh, sehr einfach. Zunächst sah ich sofort, daß der weiße Bart und das weiße Kopfhaar Roblers falsch waren. Als er dann angeblich verreist war und ich hier bei Roswick Einlaß begehrte und mir nicht geöffnet wurde, während Roswick doch offenbar daheim war, dachte ich zunächst: ‚Es ist doch merkwürdig, daß Roswick nicht öffnet!’ Und weiter fiel mir ein, daß Robler geäußert hatte: ‚Sie haben uns noch gefehlt!’. Da entstand bei mir der Verdacht, daß Robler und Roswick gut Freund sein könnten, und der Oberst seinen Hausnachbar vor mir vielleicht bereits gewarnt hätte. Ich traf dann den Pförtner auf dem Hofe, der mir mitteilte, der Oberst sei soeben zu Roswick nach oben gegangen. Außerdem sah ich auch vom Hofe aus an der Bauart der beiden Häuser, daß Robler-Roswick Wand an Wand in den Gartenhäusern wohnten. Ich ging dann nach Nr. 14 hinüber und begegnete hier dem rothaarigen Roswick, ohne zunächst zu ahnen, daß er es sein könne. Bald dachte ich jedoch daran, daß es eine Verbindung zwischen den beiden Wohnungen geben könnte, und eilte dem Rotbärtigen nach. Ich verfolgte ihn. Er entkam mir mit Hilfe eines Durchgangs nach der Buccragstraße.
Die Sache war mir nun schon ziemlich klar, wurde auch noch durch den Pförtner von Nr. 14 hier bestätigt, der mir mitteilte, Robler und Roswick seien die dicksten Freunde und Roswick trage Hornbrille und roten Vollbart. Da wußte ich auch, daß Roswick sie niedergeboxt haben würde, lieber Grablay, genau wie er es mit mir getan hatte – denn er und der Oberst sind ja eins!“
„Unglaublich!“ brummte Grablay. „Nicht wahr, Pratt, nun glauben Sie doch auch, daß dieser Kerl mit den beiden Namen – Gott weiß, wie er richtig heißen mag! – der Mörder Bennetts ist!“
Nic Pratt schüttelte den Kopf. „Nein, das denke ich nicht, lieber Grablay! Und niemals werde ich das glauben, denn – die fünf Buchstaben sprechen dagegen!“
„Zum Teufel – was für fünf Buchstaben?“
Pratt und Grablay zuckten jetzt beide gleichmäßig zusammen. Das Telephon auf dem Schreibtisch hatte durch ein schrilles Glockenzeichen sich gemeldet.
Nic faßte schon zu, nahm den Hörer ab.
„Hier John Roswick,“ meldete er sich mit gedämpfter Stimme.
„Hier Oberst Nathanael Robler. – Mr. Pratt, lassen Sie die Scherze. Sie haben jetzt also mein Geheimnis entdeckt. Ich ahnte, daß Sie in meiner anderen Wohnung sein würden. Bitte entschuldigen Sie mich bei Mr. Grablay. Es ging mir sehr gegen den Strich, daß ich ihn niederschlagen mußte. Ich fürchtete mich jedoch, meine Wohnung in Nr. 13 über die Treppe und den Hof zu verlassen, weil Sie schon mit dem Hauswart gesprochen hatten. Deshalb ging ich durch das Mauerloch nach Nr. 14 und sorgte dafür, daß Mr. Grablay mir nicht gefährlich werden könnte. – Ich heiße tatsächlich Nathanael Robler, Mr. Pratt, bin auch wirklich Oberst a.D. Was denken Sie nun zu tun?“
„Sie zu suchen, falls Sie sich nicht freiwillig bei mir einfinden. Ich glaube nämlich, daß Sie mir den Mörder Bennetts namhaft machen können.“
„Sie werden umsonst suchen, Mr. Pratt. Ich verlasse Neuyork für immer auf einem Wege, auf dem Sie mir nicht folgen können. Leben Sie wohl.“
„Halt!“ rief Pratt. „Noch einen Augenblick, Mr. Robler –“
„Bitte – ich bin noch am Apparat –“
„Eine Frage nur – eine einzige Frage! Ihr Klub der Geheimnisvollen hat nie existiert, und die Annoncen in den Zeitungen waren lediglich ein zwischen Ihnen und ein paar Freunden vereinbartes Zeichen, sich irgendwo zusammenzufinden, eben bei dem angeblichen Roswick. Ist das richtig?“
Keine Antwort.
Dann aber hörte Pratt durch den Apparat einen gellenden Aufschrei:
„Hilfe – Hilfe – Mörder!“
Noch etwas wie ein dumpfer Knall, und dann wurde die telephonische Verbindung unterbrochen.
Pratt rief noch mehrmals Robler zu, er solle sich melden.
Nichts mehr –! –
Pratts Stirn lag im tiefen Falten, als er Grablay nun den Inhalt der Sätze, die Robler gesprochen hatte, mitteilte.
„Meinen Sie, Robler ist überfallen und…?“ fragte der Inspektor dann.
Nic Pratt hatte die Augen fast völlig zusammengekniffen. Er gab zunächst keine Antwort. Erst nach einer geraume Weile erwiderte er: „Wenn das geschehen ist, dann ist Bennetts Mörder auch der Roblers. Vielleicht ist Robler aber mit dem Leben davongekommen. Ich möchte dies fast annehmen.“
„Weshalb?“
„Weil der Hörer des Telefons sofort nach dem Hilferuf auf die Stütze gelegt wurde, nachdem er Robler erst vor Schreck aus der Hand gefallen war. Dieses hörte ich als dumpfen Knall. Hätte sich dort, wo Robler telephonierte, noch mehr abgespielt, dann würde ich dies vernommen haben. Ich denke, Robler hat den Mörder durch den Hilferuf verscheucht und den Hörer selbst abgehängt, damit ich nichts weiter fragen sollte.“
„Das erscheint mir nicht sehr klar, lieber Pratt. – Warten Sie, ich werde das Amt anrufen und festzustellen bitten, welche Nummer hier soeben mit uns gesprochen hat.“
Diese Feststellung gelang. Es war die Nummer eines kleinen Postamts im 27. Bezirk in der Godweller Straße.
„Fahren wir nach dem Postamt,“ meinte der Inspektor.
Pratt war einverstanden.
Die beiden verließen die Räume durch die Tapetentüren und begaben sich nach der anderen Wohnung hinüber.
Grablay ging voran, durchschritt Roblers Schlafraum und betrat nun das Arbeitszimmer. Pratt, der dicht hinter dem Inspektor war, hatte nicht das geringste verdächtige Geräusch gehört und fühlte doch, wie plötzlich zwei Hände sich von hinten um seinen Hals legten und ihm die Kehle so blitzschnell und mit solcher Gewalt zudrückten, daß nicht einmal mehr ein Gurgeln über seine Lippen kam.
Gleichzeitig riß der Angreifer ihn hoch und verhütete so, daß Pratt nicht etwa durch Stampfen mit den Füßen Grablay aufmerksam machen könnte.
Nic Pratt Versuchte jetzt, in der Umklammerung dieser riesenstarken Hände zappelnd, nach der Tasche zu greifen und den Revolver hervorzuholen. Es gelang ihm nicht. Der Angreifer preßte ihm nun die Halsschlagader zu, und Pratt verlor fast augenblicklich das Bewußtsein.
Grablay war bereits im Flur, als es im ähnlich erging.
Dieser Mann, der nun auch den Inspektor auf dieselbe Weise überwältigte, war ein Neger von wahrem Zyklopenwuchs. Er schleppte jetzt den ohnmächtigen Grablay in das Schlafzimmer, wo schon ein zweiter Neger, der nicht viel kleiner als der andere war und ebenfalls einen gelbleinenen Arbeitsanzug trug, Pratt gefesselt und geknebelt hatte.
Auch Grablay wurde jetzt gebunden und bekam einen Zeugfetzen in den Mund. Dann blieb der eine Schwarze bei den Gefangenen im Schlafzimmer zurück, während der Hercules durch die Tapetentür in die Nebenwohnung hinüberging.
Pratt erholte sich bald, atmete tief durch, schlug dann die Augen auf und sah sich auf dem Bett in Roblers Schlafzimmer neben Grablay liegen.
Ein Neger bückte sich über sie, der ihnen Zeugfetzen auch vor die Augen band.
Pratt war blind. Aber sein Gehör lauschte desto wachsamer.
Nach gut einer halben Stunde kam der Hercules zurück und flüsterte dem andern enttäuscht zu:
„Nichts – nichts! – Dann weg mit dem Gefährlicheren!“
4. Kapitel
Die fünf Buchstaben.
Im Flur stand ein großer Wäschekorb mit Deckel, wie ihn die Dampfwäschereien zum Verpacken der fertigen Wäsche benutzen.
Pratt hörte das Knarren des Korbdeckels, als man ihn hineinlegte. Dann wurde der Deckel zugeklappt, und nun verließen die Neger mit dem Korbe die Wohnung und das Haus, hatten vorher noch Grablay auf dem Bett so festgebunden, daß er sich nicht herabwälzen konnte.
Vor dem Hause Nr. 14 stand das Geschäftsauto der Dampfwäscherei Blendox. In dieses Auto wurde der Korb geschoben. Dann stiegen die Neger auf den Vordersitz und fuhren davon.
Nic Pratt war indessen nicht müßig. Wenn die Schwarzen ihm auch die Knie an die Brust geschnürt hatten und er sich daher kaum regen konnte, verlor er doch nicht die Hoffnung, sich dank seiner Übung im Abstreifen von Fesseln befreien zu können.
An dem Geruch des Korbes und des Innern des Autos merkte er, daß es der Kraftwagen einer Wäscherei sein mußte. Außerdem hatte der Neger, den er neben dem Bett hatte stehen sehen, an der Mütze ein Blechschild mit dem Namen ‚Blendox’ gehabt, und Blendox war eine der bekanntesten Wäschereien Neu Yorks.
Nein, er gab so leicht die Hoffnung nicht auf, die Fesseln abstreifen zu können. Er versuchte zuerst die eine Hand aus den Schlingen herauszudrehen. Als er erkannte, daß ihm dies gelingen würde, verhielt er sich fernerhin regungslos. Er wollte abwarten, was die Schwarzen mit ihm beginnen würden. Vielleicht konnte er aus ihrem Verhalten irgend einen Schluß ziehen, inwiefern der beiden Überfall mit Roblers Geheimnissen zusammenhing.
Die Autofahrt endete gegen fünf Uhr nachmittags jenseits des East River im Nordteile von Brooklyn in einer Wagenremise der Dampfwäscherei.
Als kurz darauf die Arbeiter die Gebäude der Blendox verlassen hatten, nahmen die beiden Neger den Korb und trugen ihn zu der rückwärtigen Mauer des großen Grundstücks, welches an den alten Friedhof der anglikanischen Gemeinde stieß.
Dicht an der Friedhofsmauer befand sich hier das von Bäumen umgebene, tempelähnliche Erbbegräbnis einer reichen Brooklyner Familie.
Die Schwarzen wußten, daß dieser Teil des Riesenfriedhofs stets einsam und verlassen dalag. Sie schafften den Korb über die Mauer, und der Hercules schloß nun mit einem Nachschlüssel die schmiedeeiserne, verrostete Tür des Erbbegräbnisses auf. –
Nic Pratt fühlte, wie er aus dem Korbe herausgehoben und in einen anderen Kasten gelegt wurde. Dumpfer Modergeruch drang ihm in die Nase, dazu der unangenehme Duft welker Blumen.
Ein Deckel knallte mit dumpfem Krach zu.
Dann Stille. Totenstille. –
Pratt sog nochmals prüfen die Luft ein.
Ein Eisesschauer ging ihm plötzlich über den Leib. Er hatte die Ellbogen gehoben, hatte sich halb umgedreht.
Und – da waren seine Finger über ein paar gekrümmte Stäbe hingeglitten – nein, nicht Stäbe, es waren die Rippen eines Skeletts! Er lag in einem Sarge – in einem Steinsarg!
Im Nu hatte er jetzt die rechte Hand frei, knotete die Stricke auf, riß den Knebel heraus und den Lappen vom Gesicht.
Ringsum tiefste Finsternis; nirgends auch nur der schmalste Lichtstreifen.
Er griff in die Tasche, holte die kleine Lampe hervor, schaltete sie ein.
Und sah sich wirklich in einem Marmorsarge neben einem Skelett.
Nun – der weiße Knochenmann störte ihn nicht weiter. Viel unangenehmer war der Gedanke, daß seine Kräfte nicht hinreichen könnten, den schweren Marmordeckel zu lüften.
Er versuchte es. Doch der Deckel rührte sich nicht.
Nic Pratt wurde unruhig. Die Gefahr, hier zu ersticken, rückte mit jeder Sekunde näher. Die Luft im Sarge mußte in kurzem verbraucht sein.
Er schob den stillen Knochenmann zur Seite, kniete sich hin, so daß sein Nacken den Sargdeckel berührte.
Dann spannte er jede Muskel – preßte mit aller Kraft die schwere Steinplatte empor.
Ah – links ein Lichtstreifen –! Der Deckel hatte sich verschoben.
Noch dreimal dieselbe Kraftanstrengung, und Pratt konnte hinaus schlüpfen.
Er schob die Steinplatte wieder zurecht und überlegte. Wenn er jetzt sofort das Erbbegräbnis verließ, konnte er gesehen werden. Er blieb also, setzte sich auf die Bank neben dem kleinen Altar und stopfte sich zunächst einmal seine geliebte kurze Holzpfeife. Nach den ersten Zügen war er wieder der alte Nic Pratt, frisch, unternehmungslustig, rasch im Denken, wohlüberlegt im Handeln.
Dann hörte er, daß es draußen zu regnen begann. Bald schon goß es in Strömen. Da nahm er den Patentdietrich und verließ das Erbbegräbnis. Pudelnaß erreichte er die nächste Autohaltestelle. Um halb sieben war er wieder drüben in Neuyork, und bald auch daheim in seinem behaglichen Häuschen.
Mutter Allison mußte ihm schnell einen Imbiß herrichten, während er sich umzog.
Kurz vor halb neun – inzwischen hatte er die Polizeidirektion antelephoniert und erfahren, daß Grablay dort noch nicht erschienen war – befand er sich schon in Roblers zweiter Wohnung, Grahamstraße 13 und betrat durch die Tapetentüren dessen Schlafzimmer, wo er Grablay auf dem Bett hilflos und wütend bis zum Bersten liegen sah und rasch befreite.
„Fluchen Sie nicht, Inspektor,“ meinte er. „Vorwärts, fahren wir zum Postamt nach der Godweller Straße.“
Hier berichtete der Vorstand ihnen ganz eingehend über den Raubmordversuch, den ein Neger heute gegen sechs Uhr auf einen Besucher des Postamtes unternommen, der eben eine der Telephonzellen benutzt hatte. Zum Glück seien sofort ein paar Leute zugesprungen, so daß der Neger von seinem Opfer abließ und entfloh. Auf der Straße war er dann von einem Polizeibeamten, weil er Widerstand leistete, erschossen worden.
„Wer war der Mann, der überfallen wurde?“ fragte Pratt.
„Ein Master Robler aus der Grahamstraße, Oberst a.D. Robler, ein weißbärtiger, vornehmer Herr.“
„Und der Neger?“
„Das weiß man noch nicht, da er keinerlei Papiere bei sich hatte.“
„Gehen wir, Grablay,“ meinte Pratt, nachdem er dem Postbeamten für die Auskunft gegangen hatte.
Grablay und Pratt stiegen in ein Auto.
„Nach der Buccragstraße, Chauffeur!“ befahl Nic und lehnte sich behaglich in die Polster.
„Was sollen wir denn dort?“ fragte Grablay. „Aus dieser Geschichte mag der Teufel schlau werden. Mit einem Dynamitpaket beginnt sie, und mit Negern setzt sie sich fort –“
„– und mit den fünf falschen Buchstaben, bester Grablay. Wenn Sie sich die Adresse auf der Umhüllung des Kistchens genau angesehen hätten, würden Sie bemerkt haben, daß diese Adresse zum Teil gefälscht, besser verändert worden war. Sie lautete zuerst: Mr. H. Bennett, Neuyork 12, Buccragstraße 3. Aus diesem Buccragstraße 3 und aus der 12 hat jemand mit Leichtigkeit, da die Buchstaben überhaupt sehr flüchtig hingemalt waren, Pincraystraße 34 und Neuyork 19 gemacht. Ich hatte diese Korrektur sofort erkannt und auch noch die ursprüngliche Adresse herauslesen können. Zu Hause sah ich im Adressbuch nach und fand, daß Buccragstraße 3 ein gewisser Horace Bennett wohnt –“
5. Kapitel
Der dritte Bennett.
Grablay pfiff jetzt durch die Zähne, packte Nic Pratts Arm und rief: „Teufel – der Horace Bennett! Das ist ja derselbe Kerl, der letztens wegen Erpressung unter Anklage stand, sich aber geschickt herausgeschwindelt hat.“
„Ja, lieber Pratt, und dieser Horace ist ein Vetter zweiten Grades von Horam Bennett, wie mir aus den Berichten über den Prozeß noch geläufig war, bei dem Horam, als Zeuge vernommen, die Aussage verweigerte. Er sollte sich über Horaces Charakter äußern. Dieser Horace aber war seinerzeit Direktor der Dampfwäscherei Blendox. Daher kennt er die Neger, deren er sich als Helfershelfer bediente.“
„Pratt, sie sind ein Genie, weiß Gott! Daß Sie die Buccragstraße herausgelesen haben, war glänzend! Mir geht nun auch schon ein kleines Lichtlein über den Zusammenhang der Dinge auf! Horace Bennett hat sich von Robler die Adresse schreiben lassen, seine eigene, und dann hat er daraus die Horam Bennetts gemacht –“
„Stopp, Grablay, das stimmt nicht ganz. Die Sache dürfte so liegen, daß der Erpresser den Oberst irgendwie in seiner Gewalt gehabt hat. Robler hat mal an Horace Bennett ein Paket geschickt zu haben. Die Anschrifft auf dem Dynamitpaket schien er ja wirklich geschrieben zu haben, mithin muß Horace diese Adresse von dem von Robler erhaltenen harmlosen Paket abgelöst und zu dem gefährlichen nachher verwandt haben, das an seinen Vetter Horam ging, den er vielleicht beseitigen wollte, um ihn zu – beerben. Da so das Dynamitpaket Roblers Anschrift und sogar ihn als Absender zeigte, glaubte Horace die Sache überaus schlau angefangen zu haben. Er rechnete eben nicht damit, daß, falls die Adresse die Explosion überdauerte, jemand die Änderung des Straßennamens und der Zahlen bemerken würde.“
„Gut. Das leuchtet mir ein. Aber nun der Klub der Geheimnisvollen?“
„Ich sagte ja schon, der Klub existiert gar nicht, lieber Grablay. Ich vermute in dieser Beziehung folgendes: – Oberst Robler und Horam Bennett kennen sich sehr genau. Sie sind Freunde, aber sie wagten aus irgendwelchen Gründen nicht miteinander zu verkehren. Daß diese meine Annahme richtig sein dürfte, beweist die Tatsache, daß Robler sich nie in Horam Bennetts Villa sehen ließ. – Weil sie nun wenigstens insgeheim zusammenkommen wollten, weil sie aber auch wußten, daß man einen von ihnen beobachtete und jeden seiner Schritte belauerte, erfand der Oberst den Klub der Geheimnisvollen unter dem Namen und der Maske des John Roswick. So konnte Horam Bennett denn diesen Roswick besuchen – anscheinend als Klubmitglied. Der Klub wird ja trotz der Annoncen kaum großen Zulauf gehabt haben, und wer sich bei Roswick als Mitglied melden wollte, wird eben abgewiesen worden sein. Die Annoncen aber, die bald der Oberst, bald Horam einrückte, je nach Bedarf, waren dann für den anderen nur das Zeichen: ‚Ich muß dich sprechen!’ Und dann erschien Horam eben Grahamstraße 13 bei Roswick.“
Der Inspektor nickte. „Auch das hat Hand und Fuß, lieber Pratt! Sind diese Kombinationen richtig, dann muß aber auch folgendes richtig sein.
Erstens: Horam und der Oberst müssen vor Horace Bennett eine scheußliche Angst gehabt haben.
Zweitens: Horace Bennett muß die beiden andauernd haben beobachten lassen –“
„Halt – nicht beide, Grablay, nicht beide, denke ich, sondern nur Horam, denn ich behaupte weiter, daß Nathanael Robler, der sowohl als Oberst wie als Roswick eine Verkleidung trug, gar nicht Robler heißt. Gerade weil er es noch in dem Telephongespräch so nachdrücklich versicherte, daß er wirklich der Oberst Robler sei, wird er gelogen haben. Nein – er heißt anders, und er war der Mann, auf den der Erpresser Bennett es hauptsächlich abgesehen hatte; er war es, der sich vor Horace verbarg, er hatte diesen zu fürchten, und Horam Bennett wieder tat auch seinerseits alles, damit nicht durch ihn der Freund entdeckt würde.“
„Hm – aber Robler hat doch Ihres Erachtens an Horace ein Paket geschickt. Wie reimt sich dies zusammen?!“
„Sehr einfach. Der Erpresser ist schließlich doch dahinter gekommen, daß sich in der Maske Roblers der Mann verbarg, den er suchte. Robler mußte ihm daher irgend etwas aushändigen, und dies geschah per Post als Paket. Daß der Erpresser Roblers Geheimnis der beiden Wohnungen zuletzt gekannt hat, beweist ja das Erscheinen der zwei Neger in Roblers Wohnung. – Ich gebe zu, daß einige Punkte all dieser Rätsel noch nicht völlig geklärt sind. Aber in der Hauptsache werden meine Kombinationen stimmen. Davon bin ich fest überzeugt.“ –
Das Auto hatte jetzt die Buccragstraße erreicht und hielt. Grablay und Pratt stiegen aus, befahlen dem Chauffeur hier zu warten, und gingen die Straße hinab. Die rechte Seite war meist mit kleinen Villen bebaut, die von gutgepflegten Gärten umgeben waren.
„Ich kenne Horace Bennetts Besitz,“ sagte der Inspektor jetzt. „Ich habe Bennett ja schon einmal verhaftet. Es ist ein hübsches, zweistöckiges Haus, das von Buchen und Kastanien völlig umgeben ist. Was wollen Sie nun tun, Pratt?“
„Etwas spionieren. Ich hoffe, einer der Neger wird zu Bennett kommen und Bericht erstatten, ob der Anschlag auf uns beide geglückt ist. Vielleicht kann ich Horace belauschen. Bleiben Sie vor dem Gartengitter auf der Straße, Grablay. Geben Sie mir Ihre Trillerpfeife mit und sehen Sie zu, daß Sie noch schnell ein paar Geheimpolizisten herbeordern können. Horace Bennett ist ja reif zur Verhaftung. Mich hat er umbringen lassen wollen, damit ich ihm nicht gefährlich würde. Ich wäre sicher in dem Marmorsarge erstickt, wenn ich die Fesseln nicht hätte abstreifen können.“ –
Pratt kletterte dann über das Gartengitter von Nr. drei und verschwand in den Büschen. Bald hatte er das Haus des Erpressers dicht vor sich.
Nur im ersten Stock waren zwei Fenster, nach der Seite hinaus gelegen, erleuchtet. Während Pratt noch zu diesen Fenstern emporschaute, bemerkte er einen Mann, der am Blitzableiter mit großer Gewandtheit emporkletterte und sich dann in ein dunkles, aber offenes Fenster im ersten Stock hineinschwang. Pratt wäre ihm auf demselben Wege gefolgt, aber der Mann verriegelte oben das Fenster sofort.
Nic Pratt überlegte kurz. Da stand eine mächtige Buche dicht an der Seitenwand des Hauses. Ein starker Ast ragte fast bis an eines der erleuchteten Fenster heran.
Und so erklomm Pratt die Buche. Vorher hatte er noch einen faustgroßen Stein in die Tasche gesteckt. Er wollte ihn im Notfall als Schlagwaffe benutzen. Er gelangte auch auf den wagerechten Ast bis in die Nähe des Fensters. Kaum hatte er sich hier zurechtgesetzt als er auch schon in dem erleuchteten Fenster Stimmen hörte, die immer erregter und lauter wurden.
„Schurke,“ brüllte jemand, und das war Roblers Stimme, „meinen Vater hast du heimtückisch ermordet, um ihn zu beerben! Satan, der du bist, – die Paketadresse hast du verändert, damit der Verdacht auf mich fiele! Soll ich denn ewig unter der einstigen Jugendverfehlung zu leiden haben! Soll ich weiter deinetwegen wie ein gehetztes Wild mich verkriechen! Jetzt ist die Stunde der Abrechnung da! Du hast mich zur Verzweiflung getrieben! Stirb, Schurke!“
Drinnen ein gellender Hilferuf.
Dann erschienen auf dem geschlossenen Vorhang des einen Fensters die Schattenbilder zweier Männer, von denen der eine den anderen bei der Kehle gepackt hielt und mit einem Dolche zustoßen wollte.
Pratt besann sich nicht lange.
Er hob den Stein, schleuderte ihn in das Fenster, richtete sich auf und – wagte den Sprung, erreichte auch glücklich das Fenster, stieß es mit dem Ellbogen völlig zu Scherben und war mit einem Satz im Zimmer.
Sein Revolver hielt den Erpresser in Schach.
„Da – nehmen Sie die Trillerpfeife und geben Sie ein Signal zum Fenster hinaus,“ rief er zu dem schlanken, etwa fünfunddreißigjährigen Sohne des ermordeten Horam Bennett. –
Grablay und drei andere Beamte erschienen kurz darauf. Horace Bennett, der Mörder und Erpresser, wurde abgeführt.
Edward Bennett aber, der Sohn des Ermordeten, bestätigte nun in allen Punkten Nic Pratts geistvolle Schlußfolgerungen. Edward hatte mit zweiundzwanzig Jahren als Bankangestellter die Kasse bestohlen. Sein Vater schickte der Bank anonym das Geld zurück, und auf Edward fiel keinerlei Verdacht. Aber Horace Bennett hatte hiervon Kenntnis erhalten und benutzte dies zu Erpressungen an Edwards Vater, der immer wieder Geld hergab, damit sein ehrlicher Name nicht geschändet würde. Schließlich waren jedoch Horaces Forderungen so unverschämt geworden, daß Vater und Sohn beschlossen, Edward solle scheinbar bei einer Segelpartie auf See ertrinken.
So galt Edward denn als tot. Er ging ins Ausland. Aber der alte Bennett sehnte sich zu sehr nach seinem Kinde. Edward kehrte vor drei Monaten als wohlhabender Mann zurück und begann aus Angst vor Horace, der an seinen Tod nie recht geglaubt hatte, sein Doppelleben als Robler und Roswick. Der Klub sollte Vater und Sohn lediglich häufigeres Beisammensein ermöglichen.
Dann hatte der Schurke Horace vor fünf Tagen das Geheimnis doch entdeckt und verlangte von Edward Schweigegeld. Dieser schickte ihm ein goldenes, edelsteinenbesetztes Kästchen zu, das zweihundertfünfzigtausend Dollar Wert hatte. So kam es, daß Horace die Paketadresse zu dem Dynamitattentat benutzen konnte. Außerdem hatte er jetzt noch Edward durch den Neger beseitigen lassen wollen. –
Nun empfing der Mörder und Erpresser endlich die gerechte Strafe: er wurde auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Edward Bennett, den man allgemein bedauerte, konnte als geachteter Mann unter seinem wahren Namen weiterleben. Niemals vergaß er es Nic Pratt, daß dieser ihn durch den Steinwurf in das Fenster im letzten Moment von einem Morde zurückgehalten hatte.
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