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Jonny Vierzehs Meisterstück

Nic Pratt

Amerikas Meisterdetektiv

 

Heft 31:

 

Jonny Vierzehs Meisterstück.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1923

by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.

Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel

Jonnys seltsame Beobachtungen.

Nic Pratt, Neuyorks berühmtester Detektiv, saß im Speisezimmer seines Häuschens in der Pearlstraße gerade beim Abendbrot, als die Wirtschafterin Frau Allison, die im Vorgarten mit einer Nachbarin sich unterhalten hatte, plötzlich hereingestürzt kam und mit allen Zeichen höchster Erregung rief:

„Mr. Pratt – Mr. Pratt, soeben hat man draußen auf der Straße eine junge Frau erstochen! Niemand weiß, wie die Dinge sich so recht abgespielt haben. Alles ging so blitzschnell.“

Pratt gegenüber saß am sauber gedeckten Eßtisch ein vielleicht zehnjähriger Knabe mit schmalem, frischem Gesicht. Es war dies des berühmten Detektivs kleiner Freund und Schützling Jonny Glourr, bis vor kurzem noch ein richtiger Neuyorker Gassenjunge, eines von den tausenden elternloser Kinder, die in der großen Hafenstadt als Stiefelputzer, Zeitungsverkäufer und sonst noch auf alle möglichen Arbeiten ihr Leben fristend. Pratt hatte diesen kleinen Burschen, der ihm bei der Aufdeckung eines Verbrechens wichtige Dienste geleistet, vor zehn Tagen ganz zu sich genommen, um ihn zu einem tüchtigen Menschen zu erziehen.

Jonny, von seinen Kameraden stets Jonny Vierzeh genannt, weil er an den Füßen nur vier Zehen hatte, was ja häufiger als die körperliche Leistungsfähigkeit nicht weiter schädigende Mißbildung vorkommt, dieser schlaue Jonny mit den pfiffigen Augen sprang jetzt sofort auf und rannte schnell aus dem Zimmer, um sich die Ermordete möglichst rasch anzusehen.

Auch Pratt erhob sich.

„Wie spielten sich die Dinge dann ab, Frau Allison?“ fragte er hastig.

„Nun, ich bin vielleicht der einzige Mensch, der hierüber etwas angeben kann, Mr. Pratt. Ich stand mit Frau Tomps, der Gemüsehändlerin von drüben, an der Gitterpforte unseres Vorgartens. Die Pearlstraße war wenig belebt. Da fiel mir eine schlanke Dame im hellgrauen Seidenmantel auf, die sehr schnell aus der Richtung der Masterstraße auf dem rechten Bürgersteig daherkam. Etwa dreißig Meter vor unserem Haus holte ein geschlossenes Auto die Frau ein. Es fuhr in ganz wildem Tempo, Mr. Pratt. Und als es dann auf einer Höhe mit der Dame war, sah ich, daß aus dem Wagenfenster blitzartig etwas hervorschoß – etwas im Abendsonnenschein Funkelndes. Es sah richtig wie ein Blitz aus. Und dann schrie die Frau auch schon auf, taumelte und sank zu Boden. Das Auto rollte weiter und verschwand. –

Ich habe Frau Tomps gesagt, man solle die Tote liegen lassen, bis die Polizei käme. Es handelt sich ja um ein Verbrechen.“

„Ich die Dame denn wirklich tot?“

„Sie lag ganz still und…“

Da kehrte Jonny schon zurück.

„Sie lebt – sie lebt! Man bringt sie zu uns, Mr. Pratt,“ rief er erregt. „Dr. Barrell meint, der Stich sei nicht schlimm. Die Dame sei wohl nur vor Schreck ohnmächtig geworden.“–

Pratt ließ die Verwundete in sein Arbeitszimmer auf den Diwan tragen. Sie war jetzt bei Bewußtsein.

Dr. Barrell, ein älterer Arzt, der in der Pearlstraße wohnte, untersuchte die Wunde nun genauer. Die Waffe des Mordgesellen, offenbar ein langer Degen oder dergleichen, war von der einen Fischbeinstange des Mieders der Frau abgeglitten und hatte so nur die Haut über den Rippen aufgeschlitzt.

Nachdem die Wunde dann verbunden worden war und die blonde hübsche Dame ein Glas Wein getrunken hatte, war sie bereits im Stande, dem inzwischen erschienenen Polizeiinspektor Tocker folgendes zu erklären:

Sie hatte sich auf dem Weg zu Nic Pratt befunden, um ihn zu bitten, nach ihrem Gatten, dem in der Barrowstraße dicht am St. Joseph Krankenhaus wohnenden Arzt Dr. Edward Henriot, zu suchen, der am vergangenen Abend halb elf Uhr telephonisch zu einem Patienten gerufen und seit dem nicht zurückgekehrt war.

Sowohl Pratt als auch der Polizeiinspektor waren nach diesen Angaben Frau Marry Henriots über den Mordanschlag einer Meinung, als sie aussprachen, der Mörder im Auto habe Frau Henriot beseitigen wollen, damit sie sich nicht an Pratt wenden könne, der ja bei allen Verbrechern als geistreichster Detektiv mehr als die ganze Neuyorker Polizei gefürchtet war.

Nic Pratt begann nun Frau Henriot auszufragen.

Leider konnte sie ihm nur folgendes angeben: Sie hatte gestern abend mit ihrem Gatten musiziert, als nebenan in dessen Sprechzimmer das Telephon anhaltend geschrillt hatte. Dr. Henriot war darauf an den Apparat geeilt, hatte sich gemeldet und bald gerufen: ‚Ich komme sofort…’ Dann stürzte er in den Flur und sagte zu seiner Frau, als er den Mantel überwarf: ‚Ein sehr ernster Fall, Marry… Auf Wiedersehen!’ Darauf griff er nach seiner Arzttasche und verließ die Wohnung. Das war etwa fünf Minuten nach halb elf gewesen. Seitdem hatte seine Gattin ihn nicht wieder gesehen, hatte auch keinerlei Nachricht von ihm erhalten.

Pratt notierte sich allerlei, so besonders Dr. Henriots Kleidung am gestrigen Abend, und manches andere, was ihm wichtig erschien.

Er versprach der jungen Frau – das Ehepaar war erst zehn Monate verheiratet –, alles zu tun, was er nur bewirken könnte, um den Verbleib ihres Mannes aufzuklären, und riet ihr, sich vorläufig nicht aus dem Haus zu wagen.

Frau Henriot fuhr dann in Begleitung des Polizeiinspektors heim.

Pratt merkte jetzt, daß Jonny das Haus wieder verlassen hatte. Frau Allison wußte nur, daß er sich sehr eilig seine Mütze aufgestülpt und von sich ihr fünf Dollar hatte geben lassen.

„Dann hat er fraglos etwas entdeckt,“ meinte Pratt, indem er nachdenklich seine kurze Pfeife stopfte und aus seinem tiefen Sessel seine Haushälterin zerstreut anblickte.

Frau Allison nickte. „So wird es sein. Das Geld wollte er haben, damit er nötigenfalls die Straßenbahn benutzen, ein Auto nehmen oder ein Restaurant oder dergleichen betreten könnte.“

Pratt rauchte und streckte die Beine noch weiter von sich.

„Welche Farbe hatte das Auto? Wie sah der Chauffeur aus?“ fragte er nach einer Weile.

„Es war ein schwarz lackierter eleganter Wagen, Mr. Pratt. Der Chauffeur trug einen Mantel, Autobrille und dunkle Schirmmütze. Sonst kann ich leider…“

Die Tür flog auf, und vom Flur stürmte Jonny herein, atemlos, hochrot im Gesicht.

„Da bin ich,“ rief er. „Ich habe viel zu erzählen, Mr. Pratt…“

„Ruhe, mein Junge,“ mahnte der Detektiv. „Setz’ dich mal. – So, und nun erstattete Bericht.“

„Also die Sache war so,“ begann Jonny Vierzeh und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Als ich von Abendbrottisch weg auf die Straße rannte, sah ich um die Verwundete einen Kreis von Neugierigen stehen, und von allen Seiten kamen noch mehr Gaffer herbeigelaufen. Man kennt das ja. Die Neuyorker sind neugierig wie die Elstern, Mr. Pratt. Ich sah aber noch mehr, nämlich eine verschleierte Frau im dunkelgrauen langen Regenmantel, die als einzige nicht die Stelle verließ, wo die Verwundete lag. Und das fiel mir auf. Die Verschleierte stand vor Jacksons Friseurladen und blickte dauernd nach dem Haufen der Gaffer hinüber. Ich tat so, als ob ich sie nicht weiter beachtete, dachte mir aber so in meinem Sinn: ‚Jonny, daß sieht gerade so aus, als ob die Verschleierte sich nicht recht näher traut aber doch gern wissen möchte, was geschehen ist.’ Als Dr. Barrell die Verwundete dann zu uns bringen befahl, als ich vorauseilte und meldete, daß das Opfer des Attentats bei uns hier vorläufig bleiben sollte, rief die Verschleierte mich an und fragte, ob denn dort jemand ermordet worden sei. Ich erwiderte: ‚Nur verwundet!’ und eilte weiter ins Haus hinein. Nachdem man die blonde Dame auf den Diwan gelegt hatte, ließ ich mir von Frau Allison…“

„Das weiß ich schon, lieber Jonny…“

„Na gut – ich rannte also wieder auf die Straße und hatte auch Glück: die Verschleierte ging langsam nach der Oßlingstraße zu davon. Ich blieb hinter ihr, Mr. Pratt. Ich verstehe es ja, jemanden zu verfolgen, ohne mich sehen zu lassen. –

Ich will noch erwähnen, daß die Frau ‘ne ganz komische Stimme hatte, so etwa wie ‘n Schauspieler, der Charlie Tante mimt. Und auch das war mir nicht recht geheuer vorgekommen. –

Wie ich nun so der Person nachschlich, sah ich, daß sie für eine Frau recht große Füße besaß. Sie trug braune Halbschuhe mit flachen Absätzen und Gummihacken. Die Gummihacken waren ganz neu. Die Frau ging die Oßlingstraße empor bis zum Telephonautomatenhäuschen an der Ecke der Glocester Straße. Sie betrat eins der Reihenhäuser.

Aber – sie kam nicht wieder heraus, Mr. Pratt. Nein, nur ein Herr mit einem schwarzen Bart erschien nach vier Minuten, ein Paket im Arm. Er hatte einen grauen Jackenanzug an und … braune Halbschuhe mit neuen Gummihacken, Mr. Pratt!“

Jonny grinste schlau…

„Na – und da wußte ich natürlich Bescheid, Mr. Pratt: Der Mann war die Verschleierte!“

„Sehr gut,“ lobte Pratt. „Weiter, lieber Jonny. Was geschah dann?“

„Dann nahm der Schwarzbärtiger ein Mietauto, und – ich auch. Die Fahrt ging nach Brooklyn hinüber, über die Brooklyn-Brücke, am Fluß entlang bis zur Flushing-Bucht. Hier stieg der Mann aus, kettete ein kleines Boot vom Steg los und ruderte davon. Leider war es das einzige Boot da, und so mußte ich umkehren. – Ich denke aber, wir werden den Mann schon finden, Mr. Pratt. Der hat fraglos was mit dem Attentat auf die blonde Dame zu tun.“

„Ohne Zweifel, Jonny. –

Ich bin mit dir sehr zufrieden. Du sollst nun auch erfahren, wer die Dame ist, die man aus dem Autofenster heraus durch einen Stich zu töten suchte. Wäre die Spitze der Waffe nicht abgeglitten, hätte Frau Dr. Henriot mir meine Fragen sicherlich nicht mehr beantworten können.“

Pratt berichtete, was er von Frau Marry von dem Verschwinden ihres Gatten gehört hatte und fügte hinzu:

„Sie sagte mir nun auch, daß ihr Mann gestern abend einen dunkelgrauen Jackenanzug, braune Halbschuhe, grauen Gummimantel und dunkelgrünen Filzhut getragen hätte.“

Jonny fuhr wie elektrisiert hoch. „Stimmt, Mr. Pratt: dann war der von mir beobachtete Verkleidete, der zuerst Weiberperücke und eine Damenkappe sowie dichten schwarzen Schleier…“

„Ja – vielleicht war’s Dr. Henriot selbst,“ fiel Pratt ihm ins Wort.

„Der dunkelgrüne Filzhut stimmt nämlich auch!“ triumphierte Jonny. „Mr. Pratt – das wird ein neuer feiner Fall! Vielleicht liebt Dr. Henriot seine Frau nicht und will sie los sein! Daher ist der verduftet!“

Pratt lachte. „Deine altklugen Kombinationen sind etwas vorschnell, mein Junge! Immerhin – fahren wir nach der Flushing-Bucht und sehen wir zu, ob wir dort etwas feststellen können. Wir werden natürlich im Kostüm die Ermittlungen beginnen. Zieh dir also deine alten Kleider wieder an…“

 

 

2. Kapitel

Auf den Ost-River-Inseln.

An demselben Abend gegen zehn Uhr verließ ein blinder alter Bettler, der von einem zerlumpten Jungen geführt wurde, die Straßenbahn in dem nordwestlichen Vorort Corona, der an der Südseite der Flushing-Bucht liegt.

Es war jetzt ganz dunkel geworden.

Ein für diese Mainacht recht kühler Wind strich über den Ost-River hinweg und schleuderte kleine Wellen gegen die Pfähle eines außerhalb des Ortes angelegten Bootsteges, an dem mehrere Segeljachten und Motorboote vertäut waren.

„Dies ist der Steg, Mr. Pratt,“ flüsterte der Junge dem Bettler zu, als sie angelangt waren. „Das kleine Boot ist nicht da. Der Mann ist also hierher nicht zurückgekehrt.“

Pratt in der Verkleidung des blinden Bettlers mit blauer Brille vor den Augen sah sich um.

„Dort steht ein Haus, Jonny,“ sagte er leise. „Die Leute sind noch wach. Es brennt Licht im Erdgeschoß. Geh’ und frage, wer an dem Steg hier sein Boot festmacht, wenn er vom Nordufer herüberkommt.“

Jonny eilte davon.

In dem schlichten Holzhaus wohnte ein Flußfischer. Der alte Mann gab bereitwilligst Auskunft.

„Drüben nach Westen zu liegt die kleine Riker-Insel, Bürschchen. Dort wohnt seit kurzem ein Schriftsteller. Und er hat mich gebeten, ob er nicht zuweilen sein Boot an meinem Steg vertäuen darf. Arling heißt der Herr.“

Jonny bedankte sich und eilte zu Pratt zurück.

„Hm – die Riker-Insel kenne ich,“ meinte der Detektiv bedächtig. „Ist nur ein Inselchen von dreihundert Meter Länge, dicht mit Bäumen bewachsen. In der Mitte erhebt sich ein altes Blockhaus, das zum Sommer an andere vermietet wird. – Sehen wir zu, ob wir an einem anderen Steg ein Fahrzeug finden.“

Eine halbe Stunde später hatten sie wirklich ein Boot losgekettet und ruderten langsam im Licht des soeben aufgegangenen Vollmondes der bewaldeten Insel zu, landeten an der Südspitze und zogen das Boot aufs Ufer.

Durch die Büsche leuchtete ihnen ein heller Schein entgegen, als sie jetzt dem Blockhaus zuschlichen.

Das Licht kam aus einem der Vorderfenster. Dieses war nicht verhängt, so daß sie in die Stube hineinschauen konnten.

An einem einfachen Holztisch saß da mit einer Karbidlampe ein bartloser Mann und schrieb, sog zuweilen an seiner Zigarre und lehnte sich dann in seinem Stuhl zurück, starrte nachdenklich eine Weile vor sich hin und setzte seine Arbeit wieder fort.

Pratt erkannte den Mann jetzt. Er hatte ihn noch unlängst bei einem Wohltätigkeitsfest im Hotel ‚Imperial’ in Gesellschaft des Milliardärs Bromby gesehen, ohne zu wissen, daß dies der Schriftsteller John Arling war, der sich durch spannende Romane rasch einen Namen gemacht hatte.

Arling trug einen dunkelgrauen Jackenanzug, wie Pratt unschwer feststellen konnte.

Während der berühmte Detektiv und sein kleiner Freund noch den fleißigen Schriftsteller heimlich beobachteten, indem sie sich in ein paar Fliederbüschen vor dem Fenster zusammengekauert hatten, hörten sie hinter sich vom Wasser her das schnell näherkommende Knattern eines Motorbootes.

Das Geräusch verstummte.

Dann vernahmen sie Schritte auf dem gepflasterten Fußweg, der vom Ufer zum Haus führte.

Es waren leichte, flüchtige Schritte, und dann tauchte auch schon links von ihnen eine Frau im hellen Mondlicht auf – eine Frau im hellgrauen Seidenmantel, einen Sturmschleier um den hellblonden Kopf und das Gesicht geschlungen.

Pratt stutzte.

Kein Zweifel: das war Frau Marry Henriot, die Gattin des verschwundenen Arztes!

Was bedeutete dieser Besuch bei John Arling? Was wollte die blonde Frau hier, die doch mit ihrer Verletzung nach Dr. Barrells Anordnung mindestens fünf Tage hatte das Bett hüten sollen?! –

Sie huschte jetzt zum Fenster, pochte an die Scheibe, flüsterte dann hastig mit Arling, der den einen Fensterflügel geöffnet hatte.

Die leise Unterredung der beiden wurde sehr bald lebhafter und gereizter. Die Worte waren jetzt zuweilen zu verstehen.

„Ich verbitte mir das, Marry!“ rief der Schriftsteller offenbar in höchster Erregung. „Du hast keinen Grund, mich in so schändlicher Weise zu verdächtigen! Du solltest dich hüten, mich zu beleidigen. Ich weiß genug von dir, um dein Eheglück zu zerstören!“

Die blonde Frau trat vom Fenster zurück.

„John, du bist ein Schurke!“ hörte Pratt ihre vor Erregung keuchende Stimme. „Du hast schon mehr in deinem Leben an elenden…“

Da schlug Arling das Fenster zu, ließ den Rollvorhang herab und deutete Frau Marry auf diese unhöfliche Art an, daß er das Gespräch nicht fortzusetzen gedächte.

Die blonde Frau hob jetzt wie drohend die rechte Hand gegen das halbdunkle Fenster und eilte dann den Weg zurück dem Bootsteg der Insel zu.

Ein schnell verhallendes Knattern bewies, daß sie mit ihrem Motorboot wieder davongefahren war.

Pratt zupfte Jonny am Ärmel.

„Komm’, hier gibt es für heute kaum noch etwas zu ermitteln, mein Junge.“

Jonny aber dachte anders darüber. „Lassen Sie mich hier nur zurück, Mr. Pratt,“ flüsterte er hastig. „Vielleicht kann ich doch noch etwas beobachten. Ich wette, Arling ist der Verkleidete gewesen!“

„Dafür hast du nur recht trügerische Beweise,“ meinte Pratt. „Der dunkelgraue Anzug Arlings besagt gar nichts, und das Boot dort an des Fischers Steg kann auch ein anderes als das Arlings gewesen sein. Hüte dich stets vor voreiligen Schlüssen! Dieses Geheimnis ist dunkler und schwieriger, als du glaubst. Denkst du etwa, daß man Dr. Henriot irgendwohin gelockt und dann hierher verschleppt hat?! Denkst du, daß er hier gefangen gehalten wird?“

„Ja, das nehme ich an, Mr. Pratt.“

„Nun gut, dann bleibe hier. Ich werde dich morgens um sechs Uhr von der Südspitze wieder abholen. Sei aber für alle Fälle vorsichtig, mein Junge. Du hörtest ja, daß Frau Henriot Arling einen Schurken nannte. Daß Arling in diese dunkle Angelegenheit mit hineinverwickelt ist, davon bin ich überzeugt. Nur in anderer Weise, als du glaubst. – Auf Wiedersehen also…“

Pratt schlich unter den Bäumen weiter, schob das Boot ins Wasser, sprang hinein und ruderte dem anderen Ufer zu.

Inzwischen war es halb eins geworden, und ein leichter Nebel breitete sich über den Ost-River aus.

Im Licht des Mondes schimmerten die Nebelschwaden wie milchiger Rauch.

Pratts Gedanken waren bei Jonny. Er bereute es schon, den unternehmungslustig kleinen Kerl auf der Insel zurückgelassen zu haben.

Er bemerkte nicht, daß ihm ein anderes Boot entgegenkam und lautlos dem seinen sich näherte…

Drei Männer saßen darin.

Jetzt schnellte sich der eine mit mächtigem Satz in das andere Fahrzeug hinüber, riß Pratt von der Ruderbank herab und umklammerte seinen Hals mit unheimlicher Gewalt.

Umsonst waren alle Bemühungen des Detektivs, den Gegner abzuschütteln und nur zu bald verlor er das Bewußtsein.

Die drei Männer, die der Kleidung nach zum Neuyorker Hafengelichter gehörten, fesselten ihn, zwängten ihm einen Knebel in den Mund und fuhren mit ihm, das andere Boot ins Schlepptau nehmend, nach dem Steg, wo Pratt vorhin sein Boot losgekettet hatte.

Hier vertäuten sie es und ruderten nun mit ihrem Gefangenen bis zur einer anderen kleinen Insel am Südufer des Ost-River, legten an einem in das Wasser hinausgebauten Bootschuppen an und trugen Pratt einen mit hellem Kies bestreut Weg entlang bis zu einem zierlichen eisernen Pavillon, der sich auf einem gemauerten Fundament erhob.

Gleich darauf verließen sie die Insel wieder ohne Pratt!

Und in den Nebelschleiern des Flusses verschwanden sie rasch mit ihrem Fahrzeug nach Westen zu.

 

 

3. Kapitel

Im Hause Arlings.

Sehen wir nun erst einmal zu, wie es unserem kleinen Freund Jonny inzwischen ergangen ist.

So ein echter Neuyorker Gassenjunge, wie Jonny es noch vor kurzem gewesen, kennt keine Angst. Wer wie er schon als winziges Bürschchen von sechs Jahren aus der Findlingsanstalt entlaufen war, denn seine Eltern hatte er nie gekannt, und in der Anstalt herrschte eine überaus strenge, jeder Liebe entbehrende Zucht, – der wie er vom sechsten Lebensjahr an sich selbst sein Brot verdient, nachts bald in leeren Möbelwagen oder in deren Schuppen, im Winter auf Hausböden in der Nähe warmer Schornsteine genächtigt hatte, den hatte dieses klägliche, abenteuerliche und doch einen Schimmer von Romantik durchaus nicht entbehrende Dasein vorzeitig reif, gerissen und körperlich außerordentlich widerstandsfähig gemacht.

Dieser kleine, hagere, muskulöse Jonny stand noch eine geraume Weile regungslos in den Fliederbüschen, nachdem Pratt sich entfernt hatte, und überlegte kaltblütig, was er nun wohl unternehmen könnte, um sich darüber Gewissheit zu verschaffen, ob Dr. Edward Henriot hier in dem großen Blockhaus gefangen gehalten würde.

Prüfend ließ er jetzt seine Blicke über das Dach hinschweifen. Es war ziemlich flach, mit Pappe benagelt und hatte in der Mitte ein kleines, im Mondschein blinkendes Fenster.

Jonny kroch jetzt auf allen vieren auf eine knorrige Buche zu, die ihre Äste weit über das Dach hinwegreckte.

Diesen Baum zu erklettern bereitete ihm weiter keine Anstrengung. Und ebenso leicht war es, von einem der Äste sich auf das Dach hinabzulassen.

Bald lag er denn auch dicht neben dem erspähten Fenster. Es hatte einen eisernen Rahmen, und die vier Scheiben waren ebenfalls in eiserne Kreuzstädte eingefügt.

Leider zeigte es sich, daß die Fensterstütze innen in den dazugehörigen Zapfen eingehakt war. Es ließ sich nicht öffnen. Es blieb Jonny nichts anderes übrig, als eine der Scheiben zu zertrümmern. Er nahm seine schmierige Mütze, drückte sie auf die linke untere Scheibe und stemmte dann die Faust auf die Mitte des Glases, bis es mit leise Klirren zersprang. Nur ein paar kleine Stücke fielen nach innen auf die Dielen des Hausbodens – ohne stärkeres Geräusch. Trotzdem lauschte Jonny ein paar Minuten, ob das Klirren nicht etwa von den Bewohnern des Inselhauses gehört worden sei. Dann erst zog er die Glassplitter vorsichtig einzeln aus dem Rahmen und legte sie auf das Dach.

Nun konnte er durch das Loch hindurchgreifen und die Stütze loshaken. Er hob das Fenster empor und schob sich zuerst mit den Beinen in den Raum hinein, hielt sich am Rand fest und glitt abwärts, erreichte mit den Fußspitzen die Dielen des Bodens und ließ das Fenster wieder in den Rahmen zurückfallen, indem er es mit der einen Hand stützt, damit jedes Klappern vermieden würde.

Sein Benzinfeuerzeug – welcher Neuyorker Gassenjunge besaß nicht ein! – leuchtete ihm auf dem weiteren Weg zu der rohen Holztreppe, die nach unten in den Hinterflur des einstöckigen Hauses führte.

Immerhin war eine halbe Stunde vergangen, bevor er hier unten angelangt war.

Der Flur, von Balkenwänden eingerahmt, lief von der Vorder- zur Hintertür. Beide Türen hatten oben breite Fenster, so daß das Licht der hellen Mondnacht hier im Flur eine schwache Dämmerung hervorrief. Jonny sah, daß sich an jeder Seite des Flures zwei Zimmertüren befanden. Vorn linker Hand war die Stube, in der John Arling arbeitete. Die Türritzen schimmerten hell. Also brannte noch die Lampe da drinnen.

Jonny wollte jetzt gerade für alle Fälle die Hintertür, in deren Schloß ein mächtiger Schlüssel steckte, aufschließen, als er aus Arlings Zimmer das Geräusch eines rasch zurückgeschoben Stuhles hörte.

Dann öffnete Arling auch schon die Stubentür und ein breiter Lichtstrom drang in den Flur.

Dem kleinen Burschen blieb das Herz vor Schreck stehen. Hastig hatte er sich in die Ecke geklemmt, neben der ein Kleiderriegel an der Wand befestigt war, an denen zwei Mäntel und ein Hut hingen.

Zum Glück warf Arling jedoch nicht einen einzigen Blick nach dieser Seite hin, sondern schloß rasch die Vordertür auf und trat in den Mondschein hinaus.

Jonny konnte draußen drei Männer erkennen, deren schädige Kleidung sie als Hafentramps verriet. Er sah, daß Arling ihnen Geld gab. Die Summe schien den Tramps jedoch nicht zu genügen, und einer von ihnen rief laut:

„He – für ein so gewagtes Geschäft dreihundert Dollar!! Da legt nur noch hundert zu, Mr. Arling, sonst geben wir Pratt lieber wieder frei!“

Jonny war erstarrt bei diesem Ausruf, während Arling eine unwillige Handbewegung machte.

„Dreihundert waren vereinbart, Smidtson!“

„Ja – für Pratt! Aber der Junge, Mr. Arling? Den sollen wir doch auch noch abfassen! Der war nicht mit im Boot!“

John Arling erschrak.

„Wie – und da sagt ihr mir, die Sache sei erledigt!“ fuhr er Smidtson an. „Also den Bengel habt ihr nicht ergriffen? Wo steckt er denn? Er war doch mit hier auf der Insel! Ich sah die beiden doch landen. Ich ahnte, daß sie kommen würden! Ich hatte ja gemerkt, daß der Junge mir nachschlich! Leider merkte ich’s erst, als ich schon im Boot saß. Da konnte ich nicht mehr zurück. – Also ist der kleine Lump noch hier! Vorwärts – helft mir ihn suchen. Zweihundert Dollar, wenn wir ihn unschädlich machen!“

Kein Wunder, daß unserem Jonny jetzt doch ein kalter Schauer über den Leib ging.

Smidtson lachte krächzend. „Oh – den wollen wir bald haben! Er steckt ja sicher hier draußen irgendwo! – Jimmy, du läufst hinab zum Bootsteg, damit der Bengel nicht etwa mit einem Boot davonfährt. Und Sie, Mr. Arling, schließen die Tür ab und helfen uns suchen.“

Arling tat es. Und unser Jonny in seinem Ecke schmunzelte schon wieder vergnügt. Mochten die vier ihn nur suchen! Er würde ebenfalls suchen – aber jemand anders!

Leise öffnete er die nächste Tür rechter Hand.

Oh – die Küche war’s. Das kam ihm gerade recht. Wenn Dr. Henriot hier versteckt gehalten wurde, so mußte man zunächst mal feststellen, ob es hier einen Keller gab.

Jonny war schlau. Er ließ sich auf die Knie nieder und fühlte die Küchendielen. Er vermutete hier eine Kellertür, die für die untere Räumlichkeit den Zugang bildete.

Bald hatte er denn auch einen eisernen Ring entdeckt. Er zog mit aller Kraft. Langsam hob sich die Falltür. Rasch schlüpfte er hindurch, stützte sie gegen seinen Rücken und stieg die Holztreppe abwärts, ließ die Tür wieder hinabgleiten und rieb sein Feuerzeug an.

Da das Blockhaus auf der Spitze eines hohen, flach abfallenden Hügels stand, hatte man hier drei trockene, geräumige Kellergelasse ausmauern können. Die waren jedoch bis auf ein paar leere Kisten und Fässer völlig leer.

Jonny schüttelte enttäuscht den Kopf. –

Sollte er sich wirklich so geirrt haben?! Sollte Dr. Henriot sich tatsächlich nicht hier befinden und Pratt recht behalten, der offenbar den Verschwundenen anderswo vermutete?! –

Der kleine kecke Bursche wollte sich jedenfalls nicht so rasch damit zufrieden geben, daß hier nichts zu finden sei. Er kannte verschiedene berüchtigte Kneipen im Chinesenviertel, deren jede der reine Fuchsbau war mit Geheimtüren, doppelten Wänden, Zugängen zu den Nebenhäusern und falschen Schornsteinen, in denen man an Steigeisen hochklettern konnte.

Geheimtüren!! Ja – danach mußte er suchen! Arling würde sich auch sich gehütet haben, Dr. Henriot hier so offen als Gefangenen eingesperrt zu halten! Wußte er doch, daß er bis zum Bootsteg verfolgt worden war! Er hatte ja soeben zu Smidtson und dessen Freunden gesagt, er hätte mit Pratts Erscheinen gerechnet!

Als Jonny sich jetzt dies alles klarmachte, erkannte er so recht, wie dunkel diese ganze Geschichte des Verschwindens des Arztes sein müßte und wie richtig Pratt all dies beurteilt hatte – eben als ein schwer zu enträtselndes Geheimnis!

Dann fiel sein Blick auf eine einfache Laterne, die auf einer der Kisten stand, und in der noch ein dickes Licht steckte.

Jonny zündete die Laterne an.

Die Kellermauern waren verwittert. Der Mörtel war zum Teil aus den Fugen herausgefallen. –

Jonny suchte nun nicht etwa plan- und ziellos nach einer Geheimtür. Nein – er vergegenwärtigte sich nochmals die Form des Hügels, auf dem das Haus erbaut war. Er konnte ungefähr berechnen, daß die Keller sich von der Mitte des Hauses nach Norden zu erstreckten. Er begann also damit, die Südmauer des Kellers zu prüfen, und das war gerade die, welche der Hinterwand des Hauses entsprach. Nur nach Süden zu konnte ja ein verborgener Kellerraum noch in dem Hügelinnern Platz finden.

Diese an sich so einfache Schlußfolgerung hatte nur in dem Hirn eines Jungen entstehen können, der durch den Daseinskampf frühzeitig gezwungen worden war, allzeit die Augen offen zu halten und auch den alltäglichen Dingen Beachtung zu schenken.

Bevor Jonny jedoch diese genaue Besichtigung der Kellerwand begann, überzeugte er sich nochmals, ob auch die kleinen Luftöffnungen der Kellerräume, die von innen durch vorgenagelte Bretter und mehrfach zusammengelegte Säcke abgedichtet waren, keinerlei Lichtstrahl der Laterne durchlassen könnten. Er wunderte sich, daß diese kleinen quadratischen Fenster so sorgfältig vernagelt worden waren. Fast schien es, als ob man bedacht gewesen, durch die dicken Säcke auch das Hindurchdringen von Geräuschen aus dem Keller zu verhindern.

 

 

4. Kapitel

Jonny als Sieger.

Der kleine gewitzte Bursche brauchte dann nur wenige Minuten, um mit der Klinge seines Taschenmessers in den Fugen der Mauer einen für die Augen nicht sichtbaren Eisenrahmen herauszufinden. Dieser Rahmen konnte nur der Umriß einer Geheimtür sein, die aus denselben alten Mauersteinen hergestellt war. Bald hatte er auch den Riegelverschluß entdeckt, konnte die schwere Tür nun langsam aufschieben und ließ den Schein seiner Leuchte in den dahinter befindlichen Raum hineinfallen.

Ein metallisches Blitzen machte ihn sofort stutzig. Da stand eine Maschine mitten in dem großen Raum, über deren Bedeutung er sich nicht klar werden konnte.

Argwöhnisch und auch etwas beklommen trat er näher, hob die Laterne ganz hoch und schaute sich in dem länglichen Keller genauer um. Außer einem Tisch, zwei Stühlen, einem Schränkchen und einer Kiste war hier jedoch nichts zu entdecken.

Von Dr. Edward Henriot jedenfalls keine Spur! Und das verdarb Jonny die ganze Freude über die Entdeckung dieses Schlupfwinkels.

‚Was sollte hier nun wohl die Maschine?’ fragte Jonny sich immer wieder und starrte die glänzenden Metallstangen, Räder und Hebel neugierig an.

Mit einem Mal bückte er sich. Ein zusammengeknülltes Blatt Papier hob er vom Unterteil der Maschine auf, wo es zwischen ein paar Metallbuckeln gelegen hatte.

Es sah aus wie ein dunkelblauer Zettel mit Bildern. Als Jonny es nun aber glattstrich, zuckte er wie von einer Natter gestochen zusammen.

Der zerknitterte Zettel war eine … Fünfdollarnote – eine beim Druck mißglückte Banknote! Der Kopf des Indianers auf dem Kassenschein war recht unklar und verwischt, ebenso die gedruckten Worte. Und – die Rückseite war überhaupt leer, war unbedruckt!

Da ging Jonny plötzlich ein Licht auf: die Maschine war eine Druckpresse! Und hier in diesem Versteck wurde falsches Papiergeld hergestellt!!

Diese Entdeckung ließ ihn so recht begreifen, in welcher Gefahr er sich hier befand! Kein Zweifel: John Arling war der Fälscher, und wenn der ihn hier erwischte, würde er Jonny für alle Zeit stumm machen, schon in seinem eigenen Interesse!

Der kleine abenteuerlustige Kerl überlegte rasch. Was sollte er noch hier? Dr. Henriot wurde hier nicht gefangen gehalten. Mithin war es am klügsten, schleunigst das Haus und die Insel zu verlassen und Pratt zu suchen, den dieser Arling durch die drei Hafentramps hatte überfallen lassen.

Doch – wohin mochte man Mr. Pratt gebracht haben? Und – wie sollte er, Jonny, den väterlichen Freund aufstöbern und befreien?

Sehr bald kam er auch zu einem Entschluß. Er begab sich wieder in den anderen Keller, drückte die Geheimtür zu, blies die Laterne aus und stellte sie auf die Kiste zurück. Dann stieg er die Treppe hinan, gelangte in die Küche, schloß auch die Falltür wieder und öffnete im Dunkeln das Küchenfenster.

Inzwischen war draußen der Mond am ausgestirnten Nachthimmel noch höher geklettert.

Jonny hatte sich da im Vertrauen auf seine Schwimmfertigkeit einen Plan zurechtgelegt, bei dem alles auf seine Kaltblütigkeit und seine Geschicklichkeit ankam.

Er schwang sich zum Fenster hinaus, schlüpfte hinter den nächsten Baum, nachdem er den Fensterflügel wieder in den Rahmen zurückgelehnt hatte, streifte seine zerrissenen Leinenschuhe ab und warf sie ebenso wie seine geflickte Jacke in die Büsche. Dann kroch er um das Haus herum, bis er den gepflasterten Fußweg erreichte, der zum Wasser hinablief.

Bisher war er nicht bemerkt worden. Aber – er wollte bemerkt sein! Man sollte ihn verfolgen!

Deshalb eilte er jetzt den Fußweg entlang, im hellen Mondschein, lief nicht allzu schnell und tat ganz so, als ob er vor Angst nicht wüßte, wohin er sich wenden sollte.

Arlings laute Stimme erklang denn auch bald von der rechten Seite her:

„Hallo – hierher! Hier ist er! Kreist ihn ein!“

Nun rannte Jonny wie gehetzt davon, doch auch Arling und der lange Smidtson waren nicht faul, kamen ihm rasch näher.

Besonders John Arling bewies, daß er fast ein Schnellläufer war.

„Steh’, Bengel!“ brüllte er ingrimmig. „Steh’, oder ich brenne dir eins auf den Pelz!“

Jonny hatte das hier abschüssige Ufer erreicht, wandte sich um, tat als ob er in den Fluß springen wollte…

Arling feuerte … zweimal …

Mit gellendem Aufschrei sank Jonny hintenüber ins Wasser, wurde von der Strömung im Untersinken erfaßt und scheinbar mit fortgerissen.

Arling und Smidtson waren ihm nachgesprungen. Ihnen reichte das Wasser bis an die Schultern. Nach zehn Minuten gaben sie jedoch die vergebliche Suche auf.

„Er ist tot!“ murmelte Arling finster. „Schadet nichts! Ihr werdet ja schweigen, Smidtson!“

„Das tun wir – für weitere fünfhundert Dollar, Mr. Arling!“

„Gut, ihr sollt das Geld haben. Da – nehmt! Und nun macht, daß ihr mit eurem Boot verschwindet!“

Sie waren bis zum Bootsteg gegangen, wo im ganzen drei Boote vertäute lagen.

Die Hafentramps bestiegen das größte und ruderten davon, nachdem Arling sie nochmals zur Verschwiegenheit ermahnt hatte.

Als das Boot in dem milchigen Nebel untergetaucht war, stieg Arling in eins der anderen Boote, kettete es los und setzte sich auf die mittlere Ruderbank, legte die Riemen in die Dollen und ruderte langsam in die Nebelmassen hinein.

Daß hinter dem Boot ein kleiner ausdauernder Schwimmer daherkam, ahnte er nicht. So gelangte er nach einer Viertelstunde an die Insel des Ost-River, wo man Pratt vorhin in den eisernen Pavillon geschafft hatte. – –

Nic Pratt war unterdessen wieder zu sich gekommen. Er lag in tiefster Dunkelheit auf einem Haufen welken Laubes, das bei jeder Bewegung raschelte und knisterte. Seine Fesseln waren nur zu kunstgerecht um Arm- und Fußgelenke geschlungen. Er konnte sie nicht abstreifen. Auch der Knebel im Mund ließ sich nicht mit der Zunge herausstoßen.

Pratt hatte sich eine Weile mit all seiner Kraft abgemüht, die Stricke zu lockern, hatte es nun jedoch aufgegeben, nutzlos seine Handgelenke wund zu scheuern. Recht erschöpft lag er in den muffig riechenden Laubhaufen und überdachte seine Lage.

Daß er es hier mit rücksichtslosen Gegnern zu tun hatte, war schon durch den Mordanschlag auf Frau Marry Henriot erwiesen, bei dem der als Weib verkleidete Schriftsteller Arling nur den Zuschauer gespielt hatte. Wer aber wohl hatte den Stoß mit der langen blinkenden Waffe aus dem eleganten Auto gegen die Gattin des Arztes geführt? –

Pratt konnte sich diese Frage nicht beantworten. Er wußte nur, daß Arling es nicht getan hatte, daß dieser aber Kenntnis davon gehabt haben mußte, daß dieses Attentat erfolgen würde! Deshalb hatte sich Arling eben in der Nähe des Prattschen Hauses eingefunden. Er hatte feststellen wollen, ob Frau Henriot auch wirklich dem heimtückischen Stoß erlegen sei. Die Möglichkeit, daß der verkleidete Arling vielleicht doch Insasse des Autos gewesen und dies nach dem Attentat etwa in einer Nebenstraße verlassen habe und an den Tatort zurückgekehrt sei, verwarf Pratt vollständig. Diese Rückkehr an den Tatort wäre eben eine so große Unvorsichtigkeit gewesen, daß man keinem Menschen von gesundem Verstand sie zutrauen durfte. Außerdem war ja auch zwischen dem Attentat und Jonnys Erscheinen auf der Straße eine so kurze Zeit verstrichen – Jonny hatte die Verkleidete, also Arling, ja sofort bemerkt! – daß ein Insasse des Mörderautos niemals so schnell den Tatort wieder hätte erreichen können.

Nein – Arling war nicht der Attentäter, war nur ein in die Tat Eingeweihter! Und der dritte Eingeweihte war der Chauffeur gewesen! Pratt hatte es hier also zum mindesten mit drei Gegnern zu tun, die zunächst Dr. Henriot offenbar in eine Falle gelockt und dann am nächsten Abend den Versuch gemacht hatten, Frau Henriot zu beseitigen. –

Dies war aber auch so ziemlich alles, was Pratt bisher wußte. Daß die verwundete Frau Henriot dann vorhin mit einem Motorboot Arling besucht und von ihm in Unfrieden nach der erregten Auseinandersetzung geschieden war, ließ den ganzen Tatbestand nur noch dunkler erscheinen.

Plötzlich hörte Pratt jetzt über sich ein Geräusch, sah, daß ein greller Lichtstrahl durch eine schnell sich verbreiternden Spalte zu ihm hereindrang. Und erkannte, daß da oben zwei Dielenstücke ausgehoben wurden, durch die ein Mann nun eine leichte Gartenleiter in diesen achteckigen, fensterlosen, gemauerten Raum hinabließ.

Der Mann war Arling. Mit einer Blendlaterne in der Linken kam er langsam herabgeklettert.

„Eine unangenehme Lage für Sie, Mr. Pratt!“ höhnte er leise und leuchtete dem jetzt aufrecht sitzenden Detektiv ins Gesicht. „Die Umstände verlangen leider, daß ich Sie für alle Zeit verschwinden lasse. Hier wird Ihre Leiche unter dem Laub, das ich noch höher aufschichten werde, vermodern. Vielleicht findet man nach Jahren im Unterbau dieses Pavillons zufällig ein Skelett. Jedenfalls: Sterben müssen Sie! Es steht zu viel auf dem Spiel. – Haben Sie noch einen Wunsch?“

Pratt merkte: der Schurke drohte nicht nur!

Und in jäh erwachendem Wunsch, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, wollte er jetzt überraschend hochschnellen und dem elenden Arling mit dem Kopf einen solchen Stoß vor den Unterleib versetzen, daß der kaltherzige Mordbube für eine Weile wehrlos würde.

Pratt kam nicht dazu, sein Vorhaben auszuführen.

Oben im Pavillon hatte Jonny Vierzeh, der Arling bis hierher gefolgt war, die höhnischen, blutdurstigen Worte des Verbrechers mit angehört und in Ermangelung einer anderen Waffe eine der ausgehobenen Dielen ergriffen und sie von oben wie eine breite Lanze auf Arling niedersausen lassen, der etwas vorgebeugt dagestanden hatte und den nun das schwere Brett mit der schmalen Kante gerade ins Genick traf.

Ein Zufall war’s, daß sich ein Nagel an dieser Kante so umgebogen hatte, daß er Arling das Genick durchbohrte und das Rückgrat verletzte.

Wie vom Blitz gefällt stürzte Arling vornüber auf Pratts Beine, regte sich nicht mehr. Das Brett sank zur Seite. Der Nagel löste sich aus der kleinen Wunde, und nur ein paar Blutstropfen verrieten die Stelle, wo Jonnys Geschoß ganz gegen den Willen des kleinen Retters in der Not den Feind nicht nur kampfunfähig gemacht, sondern auch getötet hatte.

Jonny war im Moment unten bei Pratt, zerschnitt dessen Armfesseln und half ihm auf die Füße. Pratt befreite sich rasch auch von dem Knebel und den anderen Stricken, reichte Jonny die Hand und meinte:

„Junge, das vergesse ich dir nie – niemals! Das war Hilfe zur rechten Seite!“

Die Laterne war ins Laub gefallen, brannte aber noch.

Pratt sah sofort, daß Arling tot war.

Als er Jonny dies mitteilte, taumelte der Knabe entsetzt gegen die Mauer. Pratt beruhigte ihn schnell.

„Nimm dir das nicht etwa zu Herzen, Junge! Arling hätte mich getötet. Kein Mensch kann dir einen Vorwurf machen!“

Dann verließen sie den Pavillon.

Als sie draußen im Mondschein standen, sah sich Pratt überrascht um.

„Das ist hier die Kolteresch-Insel,“ meinte er. „Ich erkenne sie an der Marmorgruppe dort. Sie gehört dem Milliardär Allan Kolteresch, besser dessen einziger Tochter, der verwöhnten Luzie Kolteresch. Sie liegt keine zehn Meter vom Südufer des Ost-River entfernt, wo sich der Park des Palastes des Milliardärs fast eine halbe Meile weit hinzieht.“

Jonny packte plötzlich Pratts Hand.

„Dort kommt jemand! Rasch in die Büsche!“ flüsterte er.

Im Nu waren die beiden verschwunden.

 

 

5. Kapitel

Wo ist Dr. Henriot?

Luzie Kolteresch, die schöne, reiche, herrschsüchtige Luzie, hatte vor kaum drei Minuten ihre leichtes Boot am Südufer der Insel festgemacht und schritt nun hastig durch die Wege der in einen wundervollen Garten verwandelten Insel dem Pavillon zu, wo sie sich mit John Arling, einem ihrer glühendster Verehrer, um ein Uhr morgens verabredet hatte.

Ihr pikantes, blasses Gesicht erschien im Licht des Mondes wie versteinert.

Am Fuß der Treppe des Pavillons machte sie halt, lehnte sich an das Geländer und stützte die Hände mit den funkelnden Brilliantringen auf die Goldkrücke ihres Bambusspazierstockes.

Sinnend starrte sie empor zum milden leuchtenden Nachgestirn. Wiederholt seufzte sie schmerzlich auf. Und plötzlich brach ein Strom von Tränen aus ihren Augen hervor.

Dann … ein Griff, und die Krücke löste sich von dem Bambusstock. Eine in die Goldkrücke eingelassene Degenklinge funkelte auf wie ein Blitz…

Luzie Kolteresch stemmte die Klinge gegen die Erde, bog sie, bis sie mit feinem Klirren zersprang.

Heftiger noch weinte sie, warf die Teile des Degenstocks wie angeekelt in die Sträucher, in denen Pratt und Jonny standen.

Reue war’s, bittere Reue, die jetzt die Seele des jungen Weibes folterte.

Die vom Fluß herüberwehende feuchte Kälte ließ sie erschauern und dann rasch die Treppe hinabeilen, die Tür öffnen und eintreten…

Bevor Nic Pratt noch einen Warnungsruf ausstoßen konnte, erscholl im Pavillon ein gellender Schrei: Luzie war durch das Loch im Fußboden in die Tiefe gestürzt, war jedoch an der Leiter entlang geglitten und lag nun mit gebrochenem rechten Arm bewußtlos quer über der Leiche des Mannes, den sie sich zu ihrem Werkzeug erkoren gehabt und der sie mit in seine finsteren Pläne hineingezogen hatte.

Pratt hastete die Leiter hinab.

Jonny leuchtete ihm von oben mit der wieder angezündeten Laterne.

Der berühmte Detektiv nahm Luzie in die Arme und trug sie behutsam nach oben, befahl Jonny, die Dielen einzufügen, und legte die Ohnmächtige auf eins der Wandsofas des Pavillons.

„Sie wird bald wieder erwachen,“ meinte er leise zu seinem kleinen Freund, indem er den gebrochenen Arm mit Hilfe einiger Leisten der Fensterblumenkästen vorläufig schiente. „Sie ist die Attentäterin, die mit dem Stoßdegen Frau Henriot verwundete. Ich vermute, daß hier eine Eifersuchtstragödie vorliegt. Warten wir, bis Luzie Kolteresch wieder zu sich kommt. – Erzähle mir inzwischen, was du auf Arlings Insel erlebt hast, mein Junge.“

Als Jonny in seinem Bericht nun auch die Maschine und die schlecht geratene Fünfdollarnote erwähnte, rief Pratt gedämpften Tones, aber nicht minder erregt:

„Jonny, das ist dein Meisterstück gewesen! Seit Monaten sucht man in ganz Amerika nach den Banknotenfälschern, die ihre geradezu glänzend gelungenen falschen Scheine überall in Umlauf setzen…! Nun kennen wir den Fälscher. Arling ist’s! Arling, der fraglos eine Menge Helfershelfer hat, die die Banknoten unterbringen. Junge, von der Regierung sind fünftausend Dollar Belohnung für den ausgesetzt, der die Fälscher findet! Du hast sie gefunden. Dir gehört die Belohnung, dir allein!“

Luzie Kolteresch schlug jetzt mit einem langen Seufzer die Augen auf, schaute verwirrt um sich, sah den zerlumpten Bettler neben sich – Pratt trug ja noch immer seine Verkleidung – und wollte sich erschrocken aufrichten.

„Bleiben Sie liegen, Miß,“ sagte Pratt kalt. „Sie sind verletzt. Ich bin … Nie Pratt!“

Das schöne junge Weib sank mit einem wimmernden Laut zurück.

Jonny hielt die Laterne so, daß das leichenhafte Antlitz Luzie Kolteresch hell beschienen wurde.

„Wo ist Dr. Henriot?“ fragte Pratt strengen Tones. „Sie sind es, die ihn in eine Falle gelockt hat! Sie haben dann seine Frau ermorden wollen, als sie in ihrer Angst zu mir eilte! Leugnen Sie nicht! Dort unten im Unterbau des Pavillons liegt John Arling – tot – tot, Miß Kolteresch! Auch ich sollte sterben, damit Ihre Schandtaten nie an den Tag kämen!“

„Das – das ist nicht wahr!“ fuhr sie auf. „Bei Gott – das ist nicht wahr!“

Pratt lachte ironisch…

„Feige sind Sie also auch noch!“

Da sprang sie auf die Füße. Der geschiente Arm bereitete ihr furchtbare Schmerzen. Doch sie achtete nicht darauf.

„Ich bin nicht feige!“ sagte sie fest. „Sie sollen alles hören, Mr. Pratt…!“

„Aber bitte – die Wahrheit, Miß! Mich belügt man nicht!“

„Das werde ich nicht tun…! Sie fragen, wo Edward Henriot sich befindet: – – Bei seiner Gattin – daheim!“

„Ah – dann haben Sie ihn freigelassen, Miß, weil Ihr Plan mißglückt ist! Es muß so sein. Sie liebten Henriot, er aber verschmähte Sie, heiratete die arme Marry, die er…“

„So ist’s!“ fiel Luzie ihm ins Wort. „Ich wollte Henriot mir zurückerobern. Ich hatte ermittelt, daß Marry eins mit John Arling kurze Zeit heimlich verlobt gewesen, was Henriot nicht wußte. Arling übergab mir Briefe, die Marry ihm geschrieben hatte. – Henriot war nach der Wohnung meine Chauffeurs Molark geschafft worden, nachdem er ahnungslos ein unbewohntes Haus in der Glocester Straße betreten hatte. Molark mußte Henriot diese Briefe zu lesen geben. Ich hoffte, daß Henriot sich von seiner Frau abwenden würde. Aber seine Liebe zu ihr war edler und größer, als ich geglaubt.

Ich war in Molarks Zimmer verborgen, als er die Briefe ins Feuer warf und rief:

‚Marry war damals ein Kind! Was sie damals tat, geht mich nichts an! Jetzt als reifes Weib liebt sie nur mich! Das weiß ich!’ –

Da bin ich aus meinem Versteck hervorgestürzt und habe mich so weit gedemütigt, vor Henriot auf Knien um Liebe zu betteln. Er stieß mich zurück. Ich kam endlich zur Besinnung und – gab ihn frei! Das war vor einer Stunde, Mr. Pratt. Henriot war großmütig genug, mir zu verzeihen. Ich habe auch ihm alles gestanden. – Jetzt kam ich hierher, um mit Arling abzurechnen, der ohne daß ich’s geahnt hatte, einen verkommenen Menschen in mein Auto gesetzt hatte, damit dieser Frau Marry mit meinem Degenstock töte. Weshalb Arling dies beabsichtigt hat, weiß ich nicht. Daß nicht ich Frau Henriot niederstieß, kann ich jeder Zeit beweisen: Ich war zu derselben Stunde bei meiner Schneiderin mit zwei anderen bekannten Damen zusammen!“

„Aber ich kann Ihnen erklären, weshalb Arling Frau Marry beseitigen lassen wollte,“ sagte Pratt rasch. „Jetzt weiß ich es: er wollte mich durch diesen Mord in eine Falle locken! Ich sollte ihn verfolgen, damit er mich durch seine Helfershelfer niederschlagen lassen konnte! Er fürchtete mich, weil er jener Falschmünzer ist, den zu suchen die Regierung mich vor drei Tagen beauftragt hatte, wie auch in den Zeitungen zu lesen war.“

Luzie Kolteresch schwankte plötzlich und fiel bewußtlos auf das Wandsofa zurück.

Die Widerstandskraft ihrer Nerven war erschöpft.

Pratt gelang es nicht, sie wieder ins Bewußtsein zurückzurufen. Nachdem er sie schnell mit Jonnys Hilfe in das Boot, über den Fluß und in das Häuschen des Parkwächters ihres Vaters geschafft hatte, holte er einen Arzt herbei, der nach kurzer Untersuchung sehr ernst ein beginnendes Nervenfieber feststellte.

Luzie rang volle zwei Monate mit dem Tode. Als sie genesen, war sie schneeweiß und ein Krüppel: man hatte ihr den gebrochenen Arm abnehmen müssen! –

Die Polizei und Pratt hatten inzwischen ihre Angaben nachgeprüft, hatten nicht nur den Attentäter, sondern auch Arlings Kumpane ermittelt, die die falschen Banknoten in Umlauf gesetzt hatten.

Jonny Vierzeh erhielt die Belohnung von fünftausend Dollar ausgezahlt.

Er hatte sie mit Recht verdient. Ein Meisterstück wie seine Flucht von Arlings Insel war mit fünftausend Dollar nicht zu hoch bewertet. –

Wir werden Jonny als schlauem, keckem Helfer Nic Pratts noch häufiger begegnen. Vielleicht schon in Der Schreibtisch Lord Dogbys, der folgenden Erzählung.