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Das Seegespenst

 

Nic Pratt

Amerikas Meisterdetektiv

 

Heft 27:

 

Das Seegespenst.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922

by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Nic Pratt, Amerikas Meisterdetektiv.

Zu beziehen durch alle Buch- und Schreibwarenhandlungen, sowie vom
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26 Elisabeth-Ufer 44.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Die Schiffbrüchigen.

Mitten im Golf von Mexiko liegt eine weltferne Insel, die trotz ihrer Fruchtbarkeit unbewohnt ist.

Dieses Eiland Patara, so klein, daß man es nur auf sehr genauen Seekarten verzeichnet findet, war im Februar 1922 der Schauplatz aufregendster Ereignisse. Nic Pratt, Neuyorks berühmtester Privatdetektiv, hatte hier die Kinder des reichen Kaufmanns Horace Tampry wieder aufgefunden, die von einem ränkelüsternen Weibe entführt worden waren.

Pratt hatte am Tage nach der Befreiung der Kinder, die mit ihrem Vater und den gefangenen Helfershelfern jenes Weibes mit einem Dampfer nach Neuyork abgefahren waren, die aus acht Leuten bestehende Besatzung der Motorjacht Hudson, die noch in einer kleinen Bucht der Südküste der Insel ankerte, frühmorgens in der Kajüte zusammengerufen und ihnen folgendes erklärt:

„Die Jacht ist mir bis auf weiteres von dem Eigentümer zur Verfügung gestellt worden. Unsere Aufgabe hier ist nun zwar erledigt, aber ich möchte noch einige Zeit hier bleiben, da ich einem ganz besonders gearteten Verbrechen auf die Spur gekommen zu sein glaube. Ich kann von Ihnen, Kapitän Burns, und Ihren Leuten nicht verlangen, daß Sie sich meinetwegen in Gefahr begeben. Ich möchte also abstimmen lassen, wer hier bei mir ausharren und wer lieber nach Neuyork zurück will. Ich weiß, daß die meisten von Ihnen verheiratet sind. Ich könnte es durchaus begreifen, wenn Sie auf weitere Abenteuer verzichten. Sollte sich eine Mehrheit für die Heimkehr finden, so werde ich allein auf der Insel bleiben und bitte nur, daß man mich nach vierzehn Tagen abholen läßt. Dafür würden Sie dann wohl sorgen, Kapitän Burns. – So, nun die Abstimmung. Wer dafür ist, mein neues Abenteuer mitzumachen, hebe die Hand hoch.“

Fünf Leute, ältere Männer, die in Neuyork ihre Familien wohnen hatten, blickten etwas verlegen zu Boden. Nur Burns und zwei andere unverheiratete Matrosen hoben die Arme sofort empor.

„So, dann ist die Frage also entschieden,“ meinte Pratt gleichgültig. „Die Hudson verläßt in einer Stunde die Insel. Ich behalte nur etwas Proviant hier. Das genügt mir.“

Der alte graubärtige Burns rief unwillig:

„Nein, Mr. Pratt, – auch ich bleibe! Sie werden mich –“

„Halt, lieber Burns!“ fiel der berühmte Detektiv ihm ins Wort. „Das geht nicht. Sie wären mir nur hinderlich. Mir liegt daran, daß Sie in Neuyork ebenso wie Ihre Leute das Gerücht verbreiten, ich sei nach Kalifornien weitergereist, und daß gerade Sie an Bord bleiben. Würden Sie nicht in Neuyork mit eintreffen, so würde man wohl rasch auf den Gedanken kommen, wir beide hätten etwas Besonderes vor. Also – nichts für ungut Burns: machen Sie die Jacht seeklar und sagen Sie mir eine Stunde später ebenfalls Lebewohl.“

Burns gab sich zufrieden.

Da war jedoch einer der beiden Matrosen, ein Mann namens Jim Knox, der längst schon darauf brannte, mal etwas zu erleben, das nicht alle Tage vorkam. Dies konnte er nur, wenn er mit Pratt auf der Insel hier dem Geheimnis nachspüren durfte. Er fürchtete jedoch, daß Pratt, falls er ihn bäte, ihn bei sich zu behalten, die Bitte abschlagen würde. So unterließ er dies denn und ging still und in sich gekehrt an seine Arbeit.

Um neun Uhr vormittags verschwand die kleine Jacht am nordöstlichen Horizont.

Pratt hatte ihr vom Strande mit seinem Fernglas nachgeschaut.

„So,“ murmelte er, „nun ans Werk!“

Und hastig eilte er durch den gras- und buschreichen Ostteil der Insel der bewaldeten Westhälfte zu, wo in einem Walde hinter undurchdringlichem Dickicht ein Felsen von 20 Meter Höhe in Würfelform sich erhob, der innen hohl war.

Mit Hilfe einer Strickleiter klomm Pratt zur Plattform des mächtigen Steingebildes empor und stieg durch einen natürlichen, gewundenen Felsgang in die Höhle hinab, die sich in dem Riesenblock befand. Hier waren auch Mr. Tamprys Kinder gefangen gehalten worden. Hier hatte Pratt gestern abend ebenfalls mit einer Taschenlampe sich genau umgesehen und war dabei auf einen Teil der Felswand aufmerksam geworden, in den, nur für seine scharfen Augen erkennbar, dicke eiserne Gelenke wie Türangeln geschickt in tiefe Ritzen des Gesteins eingefügt waren. Bald hatte er denn auch die Geheimtür, aus einem Stück Felsen bestehend, gefunden und geöffnet gehabt.

Auch jetzt zog er die schwere Tür auf, deren zackige Steinränder sich so genau in ein Loch in der Wand einfügten, daß ein weniger geschulter Blick als der Pratts hier kaum einen Zugang zu weiteren unterirdischen Räumen vermutet hätte.

Ein breiter Gang führte steil in die Tiefe. In den Fels waren hier stufenähnliche Vertiefungen eingehauen worden, so daß man bequem hinabsteigen konnte.

Die weite Grotte, zu der sich der Gang dann verbreiterte, lag bereits außerhalb des Felswürfels, also unter dem Walde des Westteiles der Insel.

Sie war mit Kisten, Ballen und Fässern, alles wohlgeordnet, zur Hälfte angefüllt.

Gestern hatte Pratt nicht die Zeit gehabt, den Inhalt dieser Frachtstücke zu prüfen. Er wollte es jetzt nachholen. Er ließ sich Zeit dabei.

Was er fand, war das Kostbarste an überseeischen Einfuhrartikeln: chinesische Seidenstoffe, indische golddurchwirkte Webwaren, persische Teppiche, seidene Gebetteppiche aus Buchara, feinste gegerbte Häute aus der Mongolei, deutsche optische und physikalische Präzisionsapparate, Teile von elektrischen Apparaten, deren Kontaktstellen aus dem jetzt so teuren Platin bestanden, vier Kisten Uhren aus der Schweiz, zumeist aus Gold, sechs Kisten kostbare alttürkische Waffen, reich mit Edelsteinen verziert, zwei Kisten voll silbernem Tafelgerät, das offenbar in dem valutaschwachen| Deutschland aufgekauft war, – und anderes mehr.

Ein Warenlager also, das einen Wert von vielen Millionen Dollar hatte!

Pratt staunte. Daß all diese Frachtstücke, deren Signaturen bewiesen, daß sie von verschiedenen Dampfern stammten, geraubt worden waren, hatte er ja schon gestern vermutet. Daß hier aber derartige Werte lagerten, kam ihm doch überraschend. –

Als er gestern abend unter den Kollisignaturen zwei Namen von bestimmten Dampfern entziffert hatte, da war sofort der Verdacht in ihm aufgestiegen, daß diese Dampfer nicht, wie man bisher angenommen hatte, durch Seeunfall verloren gegangen, sondern daß sie – von Piraten ausgeplündert und versenkt seien.

Hatte doch schon im Januar, vor etwa vier Wochen eine Neuyorker Zeitung eine Liste der seit einem Jahr vermißten Schiffe veröffentlicht und dabei angedeutet, daß immerhin die Möglichkeit vorläge, all diese mit zum Teil recht wertvollen Gütern beladenen Frachtdampfer könnten die Beute eines in aller Stille arbeitenden Piraten geworden sein, der, um jeden Verrat zu hintertreiben, die Besatzungen der ausgeraubten Schiffe über die Klinge habe springen lassen. – Damals war die Zeitung von Konkurrenzblättern mit Spott und Hohn überhäuft worden. Jetzt aber hatte Nic Pratt, der vor einem Monat ebenfalls noch über diese Vermutung gelächelt hatte, sich zu einer anderen Ansicht bekehrt.

Dies hier war fraglos der geheime Warenspeicher eines modernen Freibeuters. Es fragte sich nur, ob etwa die Leute, von denen die Kinder Tamprys entführt worden waren, mit zu diesen Piraten gehörten. Pratt nahm dies nicht an. Er war vielmehr überzeugt, daß die Wächter der Kinder nichts von dem Vorhandensein dieses Versteckes ahnten und daß die Freibeuter während der letzten fünf Monate, als ihre Insel hier von anderen Verbrechern in Besitz genommen war, die Insel trotzdem besucht hatten, wenn auch nur nachts, und daß aus dieser Grotte hier noch ein zweiter Ausgang ins Freie führen müsse, der es den Piraten ermöglicht hatte, in aller Stille neue Waren zu landen und hier zu verbergen.

Die Räuber der Kinder waren ja nichts als Neuyorker gewerbsmäßige Diebe gewesen und unter ihnen hatte sich nicht ein einziger Seemann von Beruf befunden.

Nein, sagte er sich jetzt nochmals, die Leute, die diesen Schlupfwinkel zum Ausspeichern geraubter Frachtstücke benutzen, sind weit großzügigere und gefährlichere Banditen. Deshalb auch will ich hier vierzehn Tage heimlich bleiben und festzustellen suchen, ob die Freibeuter inzwischen nicht hier abermals landen und, wenn sie die Insel leer finden, mit größerer Kühnheit sich hier zeigen. –

Nun begann er die Höhle nach dem zweiten Ausgang abzusuchen. Da dieser Ostteil der Insel recht hoch lag, konnte vielleicht gar eine Fortsetzung der Grotte bis zum Oststrande hinführen – vielleicht bis in eine versteckte Bucht.

Mit allem Eifer machte Nic Pratt sich jetzt an die genaue Prüfung der Beschaffenheit der Felswände. Er richtete sein Hauptaugenmerk auf die Ostwand, da dort am ehesten seiner Ansicht nach eine geheime Tür zu vermuten war.

Und – schon nach zehn Minuten hatte er das Geheimnis entdeckt. Eine Tür aus dickem Gestein, nur höher und breiter als die andere, öffnete ihm den Zutritt zu einer langgestreckten Nebenhöhle, die fast tausend Meter weit sich horizontal hinzog und schließlich dicht über dem Wasserspiegel einer bewaldeten Bucht endete, wo es eine dritte ähnliche Tür gab.

Durch diese verließ Pratt nun den unterirdischen Seeräuberschlupfwinkel, nachdem er noch in dieser Nebenhöhle auf ein paar stubenähnliche, möblierte Holzverschläge gestoßen war und in einem dieser Räume als einzigen Fetzen beschriebenen Papiers ein Stück von einem – ärztlichen Attest gefunden hatte, das er zu sich steckte, ohne es zunächst weiter zu beachten.

Inzwischen waren etwa zwei Stunden vergangen. Pratt spürte Hunger und wollte zu der Bucht an der Südküste zurückkehren, wo er seine Lebensmittelvorräte verborgen hatte.

Er wählte den Weg am Strande entlang. Der Wind hatte aufgefrischt. Am Himmel ballte sich dichtes Gewölk zusammen. Dabei war die Luft schwül und heiß wie vor einem Gewitter.

Als Pratt nun ein paar Felsblöcke umging, an denen die heranrollenden Wogen wie an Wellenbrechern zerschellten, stutzte er.

Da lag fünf Schritt vor ihm ein halbnackter Mensch im Sande, von den auslaufenden Wellen umspült.

Das bärtige Gesicht war halb mit Seetang bedeckt. Alles deutete darauf hin, daß der Mann ein Schiffbrüchiger war.

Pratt kniete schon neben dem anscheinend Toten, machte das Gesicht des Mannes frei und fühlte ihm nach dem Puls. Zu seiner Freude merkte er, daß der Pulsschlag kräftig und gleichmäßig war.

So hob er den Ohnmächtigen, dessen Oberkörper zahlreiche blutige Hautabschürfungen zeigte, empor und trug ihn in den Schatten des nahen Uferwaldes, wo er ihn denn auch bald ins Bewußtsein zurückrief.

Der Fremde hatte sich nach zwei Stunden so weit erholt, daß er Pratt seinen Namen nennen und sein Mißgeschick erzählen konnte

 

 

2. Kapitel.

Der dritte und vierte auf der Insel.

„Ich heiße Marcell Brutton und bin Kaufmann in New Orleans. Am 19. Februar machte ich mit meinem offenen Segelboot eine Vergnügungstour den Mississippi abwärts bis in den Golf von Mexiko hinein. Ich hatte zwei Diener bei mir, zwei Mulatten. Das Wetter war so verlockend, daß wir uns leider zu weit von Land wegwagten. Ein Gewittersturm brachte das Boot zum Kentern. Die Mulatten ertranken. Ich hatte mich an dem Boote festgeklammert, und nach vielen Stunden gelang es mir, es wieder aufzurichten. So konnte ich denn Hunger und Durst an den mitgenommenen, im Heckverschlag untergebrachten Vorräten stillen. – Der Mast war zerbrochen. Ich errichtete einen Notmast, konnte aber des widrigen Windes wegen nicht nordwärts steuern, sondern wurde immer weiter nach Süden getrieben. Drei Tage vergingen so. Dann sah ich in der Ferne Land. Leider aber rannte mein Boot gerade jetzt auf ein unter Wasser treibendes Wrack auf. Der Stoß schleuderte mich hinaus, und eine scharfe Strömung entführte mich so rasch von meinem Fahrzeug, daß ich bereits den Tod vor Augen sah, als mir als letzte Hoffnung das Gestade dieser Insel entgegenwinkte. Ich schwamm – ich schwamm um mein Leben! Doch meine Kräfte reichten nicht aus. Ich wollte mich schon freiwillig in die Tiefe sinken lassen. Plötzlich sah ich eine Schiffsplanke neben mir auftauchen. bekam sie zu packen, band mich mit meinen Hosenträgern daran fest und – Wurde ohnmächtig. – Mehr weiß ich nicht. Ihnen Mr. Crapp, aber dankte ich von Herzen, daß Sie mich –"

„Oh – keine Ursache, Mr. Brutton,“ unterbrach Pratt ihn freundlich, der dem Schiffbrüchigen bereits vorher einen falschen Namen genannt hatte. „Ich bin Naturforscher,“ log er kaltblütig, um seine Anwesenheit hier auf der Insel recht harmlos zu erklären. „Ich will hier eine Weile bleiben und den Pflanzenwuchs und die Tierwelt Pataras studieren. Eine Motorjacht hat mich gestern hier an Land gesetzt. – Ich werde Ihnen jetzt etwas Eßbares holen, Mr. Brutton. In einer halben Stunde bin ich zurück.“

Pratt tat so, als wollte er seine Wanderung am Südstrande fortsetzen. Als er jedoch Brutton aus den Augen war, schlüpfte er in den Wald und schlich der Stelle wieder zu, wo der Schiffbrüchige unter den Bäumen lag.

Mit einem Male blieb er stehen: und holte das Stück Papier hervor, das er in der Nebenhöhle gefunden hatte.

Es sah so aus:

Nervenheilanstalt Quisisana,

Hampton, Draakestreet 18,

Inhaber Dr. Charles Rouvier,

den 4. Dezember 1921

Auf Antrag der nächsten Verwandten des in meiner Anstalt seit vier Jahren untergebrachten Thomas Albin Stuart Gloversend gebe ich über den Geisteszustand des Genannten folgendes Gutachten ab:

Stuart Gloversend, zur Zeit 35 Jahre alt, etwas über mittelgroß, von kräftiger, schlanker Gestalt und sehr stark entwickelter Armmuskulatur, blond, starke Nase und buschige Augenbrauen, Augenfarbe dunkelbraun, besondere Kennzeichen: fingerlange tiefe Narbe am Hinterkopf, entstanden durch Sturz von einer Leiter vor zehn Jahren, leidet an unheilbarer –

Hier war das Attest durchgerissen. –

Pratt lächelte.

Dieser angebliche Brutton war zweifellos kein anderer als Stuart Gloversend! Die Personalbeschreibung des Gutachtens stimmte in allem mit dem Äußeren des Schiffbrüchigen überein!

Mithin – ja, mithin unterlag es wohl keinem Zweifel, daß dieser Brutton-Gloversend mit zu den Piraten gehörte! Wie sollte sonst wohl das Attest, das ihn betraf, in den Freibeuterschlupfwinkel gelangt sein?!

Daß dieser Schiffbrüchige den Bericht seiner Abenteuer lediglich erfunden hätte, davon war Nic Pratt sofort überzeugt gewesen. Die Geschichte enthielt zu viel Unwahrscheinlichkeiten. Ein einzelner Mann wäre zum Beispiel nie imstande gewesen, ein gekentertes Segelboot wieder aufzurichten! –

Pratt war deshalb auch umgekehrt. Er wollte sehen, was dieser fragwürdige Brutton treiben würde, wenn er allein war.

Nun – als Pratt jetzt mit aller Vorsicht der Stelle sich näherte, als er Brutton-Gloversends Gesicht beobachten konnte, stellte er zu seiner Befriedigung fest, daß der zweifelhafte Herr hin und wieder ironisch vor sich hin lächelte, ganz so, als ob er sich freute, diesen Mr. Crapp gehörig hinters Licht geführt zu haben. –

Pratt schlich wieder davon.

Er war gespannt, wie dieses Abenteuer enden würde. Er legte sich viele Fragen vor, fand jedoch auf die wenigsten eine Antwort.

Wie war Gloversend-Brutton jetzt hier auf die Insel gelangt? Seit wann war er hier und was wollte er allein hier?

Pratts Gedanken wurden dann jäh abgelenkt.

Aus einem Gebüsch trat – ein Seemann hervor, ein junger Matrose.

„Jim Knox – Ihr?! Was – was heißt das?! Ihr seid auf der Insel zurückgeblieben?" rief Pratt halb verwundert, halb ärgerlich.

Jim machte zuerst ein sehr schuldbewußtes Gesicht.

„Ich wollte so gern etwas erleben, Mr. Pratt. Ich habe auf meine Schiffskiste einen Zettel gelegt, daß ich lieber bei Ihnen ausharren möchte. Kapitän Burns weiß also Bescheid, Mr. Pratt.“

Und lebhaft fügte er hinzu:

„Übrigens ist’s ein Glück, daß ich nicht mit der Hudson ebenfalls davonfuhr! – Mr. Pratt, ich habe hier, während Sie oben im Würfelfelsen waren, sehr merkwürdige Dinge beobachtet!“

Pratt reichte ihm herzlich die Hand.

„Brav, Jim, daß Ihr mir Gesellschaft leisten wollt. – Gehen wir weiter. Erzählt mir nun, was Ihr gesehen habt.“

„Ja, das war ‘ne ganz komische Sache, Mr. Pratt,“ begann Jim Knox in seiner munteren Art, die zu der sonst Seeleuten eigenen Bedächtigkeit in angenehmem Gegensatz stand. „Ich will mein Garn von Anfang an spinnen. Ich hatte mich also so sachte von der Jacht weggeschlichen, nachdem ich den Zettel auf meine Kiste gelegt hatte. Mir pupperte doch etwas das Herz, ob mein Fehlen wohl bemerkt werden würde. Ich wurde erst ruhiger, als die Hudson dann in See stach und Sie Käpten Burns noch so lange nachwinkten. Dann bin ich Ihnen gefolgt, als Sie zum Würfelfelsen gingen, Mr. Pratt. Ich wußte nicht recht, wie ich es anfangen sollte, mich Ihnen zu zeigen, ohne daß ein Donnerwetter aus Ihrem Munde sich über mich entlud. Nachher schlich ich hier zum Weststrande, um mich, falls Käpten Burns mit der Hudson mich doch noch holen wollte, irgendwo im Dickicht zu verstecken. Ich suchte mir ein verborgenes Plätzchen aus, von dem ich die See nach Westen zu weithin überblicken konnte. Dort hatte ich etwa ‘ne halbe Stunde gelegen, als ich mit einem Male so ein riesiges Stück Grasnarbe bemerkte, wie der Mississippi sie häufig bei Hochwasser von den Ufern seiner Mündungsarme abreißt und weit in den Golf von Mexiko hineinführt. Dieses Stück Grasnarbe, vielkantig, aber mindestens sechzig Meter lang und vierzig breit, trieb mit den Wellen und der Strömung langsam vorüber. Mit einem Male sah ich dann einen Mann ganz in der Nähe der grünen schwimmenden Insel im Wasser, der auf die Ostküste von Patara und ziemlich genau auf mein Versteck zuhielt.“

Pratt fragte schnell: „Und vorher hattet Ihr den Mann nicht bemerkt?“

„Nein, bestimmt nicht! Ich denke mir, er muß auf dem schwimmenden Inselchen gelegen haben, das ja mit kleinerem Gestrüpp bestanden war. Er hätte sich recht gut darauf verbergen können. – Jedenfalls näherte er sich dem Ufer und legte sich dann so zurecht, wie Sie ihn fanden, Mr. Pratt.“

„Hm – hat er denn stundenlang still gelegen?“

„Nein, das nicht. Und – nun kommt das Merkwürdigste, Mr. Pratt: bevor er sich den Seetang auf das Gesicht warf und sich dann nicht mehr regte, hörte ich im Walde einen – einen Vogel pfeifen, der kein Vogel war. Er sollte nur so klingen, als ob die Töne nicht von einem Menschen herrührten.“

„Ah – und wie war das Signal?“

„Es war, wie gesagt, so ähnlich, als ob Stare pfeifen.“

„Ihr meint also, Jim, es könnte außer uns beiden und jenem angeblichen Schiffbrüchigen noch ein vierter Mensch auf der Insel sein?“

„Ich weiß, daß er da ist, Mr. Pratt. Gesehen habe ich ihn nicht, aber – gerochen.“

„Ich verstehe, Jim. Nachdem das gepfiffene Signal dem angeblichen Mr. Brutton-Gloversend mein Nahen angezeigt hatte, wolltet Ihr den Vogelstimmenimitator beschleichen. Während ich mich mit dem Fremden beschäftigte, der seine Bewußtlosigkeit ganz geschickt geheuchelt hat, fandet Ihr das Versteck des Vierten –“

„Ja, er saß auf dem höchsten Hügel der Ostseite in einer Baumkrone.“

„Und Ihr rocht den Tabakrauch seiner Pfeife?“

„Seiner Zigarette, Mr. Pratt. Nachher warf er das Mundstück von oben ins Gras. Hier ist es."

Pratt besichtigte das Papierröhrchen, das an dem einen Ende noch einen Rest angekohlten Tabaks hatte, und dessen anderes Ende zerkaut war.

Der Stempel der Fabrik auf dem Mundstück war der einer bekannten Neuyorker Firma.

Pratt steckte das Mundstück zu sich und fragte:

„Wo blieb der Mann?“

„Das weiß ich nicht. Ich konnte ihn in dem dichten Blätterdach nicht sehen. Ich hörte jedoch, daß er abwärts stieg. Dann wurde alles still. Ich wartete noch etwa eine Viertelstunde. Ich roch auch keinen Zigarettenrauch mehr.“

Pratts Augen schweiften mißtrauisch in die Runde. Er und der junge Matrose standen auf einer kleinen Waldlichtung unweit des Strandes. Auch Jim Knox schien sich plötzlich hier unbehaglich zu fühlen.

„Was fürchten Sie, Mr. Pratt?“ fragte er leise.

„Alles!“ erwiderte der berühmte Detektiv mit Nachdruck. „Alles, lieber Jim! Ich gebe für unser beider Leben keinen Penny! Wir befinden uns hier auf einer Pirateninsel mit mehr Geheimnissen, als ich es bisher ahnte. Der Zigarettenraucher, den Ihr aufspürtet, ist fraglos auch hier während der Monate gewesen, als Tamprys Kinder in dem Felswürfel gefangen gehalten wurden. Er war der Wächter des Beutelagers, das ich entdeckt habe. Der andere Mann aber, jener Gloversend, ist jetzt hierher gekommen, um dem anderen zu helfen, uns beide unschädlich zu machen. Ich behaupte, er hat von der Spitze jenes Baumes aus Signale nach See hin gegeben und den Helfer herbeigerufen. Ich möchte fast weiter behaupten, daß die Piratenbande im Besitz eines –“

Er schwieg plötzlich.

Sein rechter Arm fuhr hoch, deutete durch die Bäume auf das offene Meer.

Dort war eine mittelgroße Motorjacht zu erkennen, die sich rasch der Insel näherte.

 

 

3. Kapitel.

Das Seegespenst.

Jim starrte wie gebannt auf das schlanke Schiff, das in der Mitte Kajütaufbauten und darüber eine Kommandobrücke, am Heck aber gleichfalls niedere Aufbauten mit blinkenden kleinen Fenstern hatte.

„Was bedeutet das, Mr. Pratt?“ flüsterte der Matrose atemlos. „Soeben war von der Jacht dort noch nicht die Spur zu bemerken! Als Sie sich so argwöhnisch umschauten, habe ich doch ebenfalls den Horizont dort nach Westen zu gemustert."

Nic Pratt erwiderte nichts, beobachtete nur die Jacht, die jetzt kaum noch fünfhundert Meter entfernt war.

An Deck erkannte man mehrere Leute mit großen Strohhüten. Drei Personen standen oben auf der Brücke.

Pratt wandte sich wieder an den Matrosen.

„Ihr habt doch gute Augen, Jim. Fällt Euch nichts an der Jacht auf?“

„Hm – sie muß ganz frisch gestrichen sein. Der weiße Anstrich glänzt ordentlich.“

„Ja – ja, – frisch gestrichen!“ wiederholte Pratt gedankenvoll. Dann lebhafter: „Jim, wir beide müssen die Rolle harmloser Leute weiter spielen. Nur so können wir uns retten. Ich bin der Doktor und Naturforscher Mr. Crapp aus Neuyork. Ihr aber seid von der Hudson desertiert, um mir Gesellschaft zu leisten.“ – So gab Pratt dem Matrosen genau an, was sie beide aussagen und was sie verschweigen sollten.

Dann liefen sie zum Strande hinab und winkten den Leuten der Jacht mit ihren Mützen zu, eilten weiter nach Norden, da die Jacht dorthin steuerte, kamen so an dem angeblichen Schiffbrüchigen vorüber und nahmen ihn mit.

„Mr. Brutton, wir erhalten Gesellschaft,“ hatte Pratt vergnügt dem Piraten zugerufen. „Die Jacht dort will eine Bucht ansteuern, die ich vorhin entdeckt habe. – Wir stützen Sie, Mr. Brutton. Kommen Sie nur!“ –

Zehn Minuten später hatte die weiße elegante Jacht in der Bucht genau an derselben Stelle Anker geworfen, wo sich im steilen felsigen Ostufer die von Pratt benutzte Steintür befand.

Eine Laufplanke wurde nun von Deck auf das Ufer geschoben, und ein Herr in hellem Flanellanzug, mit breitem Strohhut und weißen Leinenschuhen kam Pratt, Jim und dem fragwürdigen Mr. Gloversend entgegen.

Der Herr hatte ein bartloses, tief gebräuntes Gesicht und begrüßte die drei nun mit den liebenswürdigen Worten:

„Es freut mich, Ihnen vielleicht Hilfe bringen zu können. Ich nehme an, Sie sind Schiffbrüchige. Ich kam mit meiner Jacht auf einer Vergnügungsreise hierher und wollte einmal diese Insel besuchen, die ja äußerst fruchtbar sein soll. Mein Name ist Austin Gloversend.“

Pratt nannte auch seinen Namen und die seiner beiden Begleiter – aber natürlich nicht etwa seinen richtigen, sondern den andern: Doktor Edward Crapp.

Austin Gloversend lud sie darauf ein, an Bord seiner Jacht ‚Seaghost‘ (Seegespenst) seine Gäste zu sein.

Inzwischen hatte die aus Mestizen, Mulatten und Negern bestehende Besatzung der Jacht bereits das Achterdeck mit einem Segel überspannt und einen Tisch und mehrere Korbsessel zurechtgestellt. Hier nahmen Austin Gloversend und seine Gäste Platz. Ein Neger erschien mit Zigarren, Zigaretten und eisgekühlten Getränken.

Während Brutton, der falsche Schiffbrüchige (den Pratt der Ähnlichkeit nach längst als Bruder des Besitzers des „Seegespenst“ erkannt hatte), jetzt weiter so tat, als wäre ihm Austin ein völlig Fremder und ihm seine (erfundenen) Abenteuer erzählte, fand Nic Pratt Zeit, sich seinen Plan nochmals in allen Einzelheiten zu überlegen.

Er war fest davon überzeugt, daß diese Jacht mit dem unheimlichen Namen das Piratenschiff war und daß dieses, was er ja sofort vermutet hatte, ein Fahrzeug von besonderer Eigenart sein müßte.

Weiter sagte er sich, daß er seine Rolle als harmloser Naturforscher nur dann mit Erfolg spielen könnte, wenn der Mann, der als Wache hier auf der Insel zurückgeblieben war, nicht etwa schon während der Anwesenheit der Hudson erlauscht hatte, wie dieser Doktor Crapp in Wirklichkeit hieß. Erfuhren diese modernen Freibeuter, daß sie es mit dem Detektiv Nic Pratt zu tun hätten, so würden sie ihn und Jim Knox ebensowenig schonen, wie sie die Besatzungen der von ihnen gekaperten und versenkten Frachtdampfer geschont hatten.

„Pratt wollte jedenfalls versuchen, den Edward Crapp zunächst weiter vorzuspielen, und den Piratenkapitän (das mußte Austin Gloversend sein!) nachher bei Seite nehmen und ihm mitteilen, daß er hier unter dem Würfelfelsen ein ganzes Beutelager entdeckt hätte. Dies mußte er tun, um keinen Argwohn zu erregen, da der ‚Wächter‘ ihn wahrscheinlich in der Höhle heimlich beobachtet hatte. –

Bald kam denn auch an Pratt die Reihe, zu berichten, wie er hier nach Patara gekommen sei.

„Ich bin ein Freund Mr. Tamprys“, erklärte er, „dessen Kinder entführt worden waren. Der Neuyorker Detektiv Pratt fand auf Grund scharfsinniger Kombinationen das Versteck der Kinder. Ich begleitete die Herren und blieb dann hier, um die Vegetation der Insel zu studieren. Jim Knox hatte sich mir als Diener angeboten und desertierte später von der Hudson. – Ich möchte Sie, Mr. Gloversend, nun gern allein einmal sprechen. Ich habe Ihnen etwas anzuvertrauen.“

Gloversend erhob sich sofort und trat mit Pratt abseits.

„Ich habe hier ein merkwürdiges Geheimnis entdeckt,“ flüsterte Pratt. „In einer Höhle unter einem würfelförmigen Felsblock lagern große Mengen kostbarster Waren.“

„Nicht möglich!“ rief Gloversend, den Erstaunten spielend.

„Ich will Ihnen die Höhle zeigen. Ich bin als Gelehrter ein armer Teufel, Mr. Gloversend. Sie könnten mir das Geheimnis abkaufen,“ flüsterte Pratt weiter.

„Darüber ließe sich reden,“ nickte der Besitzer des Seaghost. Vertrauen gegen Vertrauen, Mr. Crapp: auch mich hat eine bestimmte Absicht hergeführt. – Eine Frage: wissen Sie mit einem Taucheranzug Bescheid?“

„Ja, Mr. Gloversend, – sehr gut sogar.“

„Und – haben Sie sich schon einmal als Taucher versucht?“

„Freilich! Ich bin verschiedentlich bis zu Tiefen von fünfzig Meter hinabgestiegen.“

„Ab – das trifft sich ausgezeichnet! Dann werde ich die Besatzung meiner Jacht jetzt unter einem Vorwand an die Ostküste der Insel schicken. Ist Jim Knox zuverlässig?“

„Vollständig.“

„Gut, dann darf er mittun. Auch Mr. Brutton wird sich zum Schweigen verpflichten. Wir vier genügen für das, was ich vorhabe. – Warten Sie, meine Leute sollen in fünf Minuten verschwunden sein. Dann können wir hier tun, was wir wollen.“

Er schritt auf das Vorderdeck hinüber und rief die Besatzung zusammen.

Pratt beobachtete ihn unauffällig.

Er hoffte, daß seine List geglückt sei und daß der Piratenkapitän ihn wirklich für einen harmlosen Naturforscher hielt. Er war gespannt, was Gloversend wohl vorhaben könnte. Er vermutete, daß vielleicht einmal ein besonders wertvolles Beutestück hier in der Bucht versenkt worden sei, welches nun, ohne daß die Besatzung es merkte, herausgeholt werden sollte.

Sehr bald zogen die vierzehn Farbigen, die sämtlich saubere Matrosenanzüge trugen, mit Spaten und Beilen quer durch die Insel nach dem Oststrand, wo sie für Gloversend eine Wohnhütte aus Strauchgeflecht errichten sollten.

 

 

4. Kapitel.

Todfeinde.

Austin Gloversend sagte nun zu Pratt, Jim Knox und dem angeblichen Brutton:

„Sie werden mir Stillschweigen geloben und mir helfen, hier einen Schatz zu beben, der in einer Kiste auf dem Grunde der Bucht ruht. Es soll Ihr Schade nicht sein, wenn Sie mir dabei helfen. Ich habe heimlich eine Taucherausrüstung mitgebracht, die wir nun an Deck schaffen werden, ebenso eine Luftpumpe. Doktor Crapp hat sich ja bereit erklärt, in dem Taucheranzug in die Tiefe hinabzusteigen. – Bitte, folgen Sie mir. Ich und Mr. Brutton, der ja noch immer recht mangelhaft bekleidet ist, werden Matrosenjacken anziehen, wie es sich für eine solche Arbeit gehört.“

Er ging voran dem Mittelaufbau zu, öffnete die Tür der mittelsten Kabine unter der Brücke und trat ein.

Pratt fand nun seine Annahme bestätigt: Im Fußboden der Kabine, die völlig leer war, gab es eine Luke, durch die man ins Innere des Schiffes hinabsteigen konnte, – eine Luke wie auf einem Unterseeboot!

Auch das Innere des „Seegespenst“ verriet deutlich, daß die elegante Motorjacht ein U-Boot war, das zur Verhüllung seiner wahren Eigenart die Deckaufbauten trug.

Austin Gloversend rechnete wohl darauf, daß dieser Doktor Crapp und der Matrose durch die besondere Bauart des Innenschiffes nicht stutzig werden würden.

Die Taucherausrüstung lag in einer verschlossenen Kammer unweit der Mittelluke in zwei Kisten.

Als Jim Knox nun einen Teil der Luftpumpe nach oben trug und einen Augenblick mit Pratt allein war, flüsterte er hastig:

„Dieses Seegespenst ist ja ein Unterseeboot, Mr. Pratt! Nun verstehe ich auch, wo Brutton mit einem Male herkam, wie die weiße Jacht so plötzlich auftauchen konnte und weshalb der Anstrich so glänzte. Sie war eben naß – sie war wirklich auf–ge–taucht “

„Still!“ warnte Pratt „Hier – nehmt diesen Revolver, Jim! Und dann – fest zupacken nachher!“

Jims Augen blitzten.

„Keine Sorge! Wir werden die Halunken schon festnehmen!“ –

Und abermals eine halbe Stunde drauf hatte Pratt den Taucheranzug angelegt und kletterte an der Steuerbordseite an einer Strickleiter ins Wasser hinab, während Brutton und Jim die Luftpumpe bedienten und Gloversend an der Reling stand und die Signalleine hielt, mit der die Taucher durch Rucke ihre Befehle nach oben geben.

Pratt hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptete, er wüßte mit Taucherarbeiten Bescheid.

Sein vielseitiger Beruf hatte ihn schon verschiedentlich gezwungen, unter Wasser den Spuren eines Verbrechens nachzugehen.

So war ihm denn auch seine jetzige Aufgabe eine Kleinigkeit, zumal die Tiefe der Bucht kaum acht Meter betrug.

Austin Gloversend hatte ihm die Stelle gezeigt, wo etwa die Kiste liegen würde.

Als Pratt nun den steinigen Grund erreicht hatte, als er im Dämmerlicht des Wassers langsam der Stelle zuschritt, überlegte er abermals, was es wohl mit dem ärztlichen Gutachten auf sich haben könnte, das er leider unvollständig in der Höhle gefunden hatte.

Daß dieser Brutton in Wahrheit Stuart Gloversend und ein Bruder Austins(1) war, stand für ihn außer Zweifel. Und daß die beiden Brüder gebildete Männer von tadellosen Umgangsformen waren, hatte er persönlich bei den Gesprächen mit ihnen feststellen können.

Wie in aller Welt waren die beiden also zu Piraten geworden? Woher hatten sie sich das U-Boot beschafft, dem sie in so schlauer Weise das Aussehen einer Vergnügungsjacht gegeben und mit dessen Hilfe sie ihre Freibeuterstreiche doppelt leicht hatten ausführen können?!

Da – sein Fuß stieß gegen einen von Wasserpflanzen halb umhüllten großen Gegenstand.

Es war die gesuchte Holzkiste!

Sofort legte Pratt nun das mitgenommene Tau in mehreren Schlingen fest herum, so daß diese nicht abgleiten konnten. Dann kehrte er zur Strickleiter zurück und stieg wieder an Deck.

Austin Gloversend schraubte ihm rasch den Taucherhelm ab.

„Geglückt?“ fragte er, als Pratt mit dem Helm in der Hand nun tief Atem holte.

In demselben Moment sprang Brutton herbei und schlug Gloversend, ehe Pratt es noch verhindern konnte, durch einen Hieb mit einem Ruder blitzschnell zu Boden, rief dann:

„Endlich – endlich ist die Stunde der Rache da! – Ich weiß, daß Sie Mr. Pratt sind!“ wandte er sich an den Detektiv. „Mein Freund Murphison hat mir es signalisiert, als ich auf der Grasinsel versteckt lag! Helfen Sie mir den Schurken binden, der uns drei fraglos jetzt niedergeschossen hätte!“

Er kniete schon neben dem Bewußtlosen und zog ihm zwei geladene und entsicherte Revolver aus den Beinkleidertaschen.

„Austin ist mein Vetter,“ erklärte er dann weiter. „Was er mir angetan, ahnen Sie nicht, Mr. Pratt. – Hier sind Stricke! Binden wir ihn!“

Nic Pratt zögerte nicht länger.

Mit einem Mal war ihm ein Teil der Geheimnisse dieser beiden Feinde und Verwandten entschleiert worden.

Kaum hatten sie Austin Gloversend gefesselt, als er auch schon wieder erwachte.

Er richtete sich halb auf, blickte seinen Vetter mit Augen an, aus denen ein wilder Haß und eine grenzenlose Wut hervorleuchtete, und brüllte:

„Schuft, – diesen Hieb wirst Du bereuen!“

Stuart Gloversend zuckte die Achseln.

„Du wirst Deine Untaten mit dem Tode büßen,“ sagte er kalt. „Endlich habe ich Dich überführt! Weißt Du, wer dieser Doktor Crapp ist? Es ist der Detektiv Nic Pratt! Jetzt wirst Du keine Gesunden mehr hinter den Mauern von Irrenanstalten begraben!“

Ein schlanker, bärtiger Mann erschien am Ufer.

Stuart winkte ihm zu.

„Nur herbei, Alan! Wir haben ihn!“

Und Allan Murphison, der Zigarettenraucher der Vogelstimmenimitator, kam eilends über die Laufplanke an Bord des Seaghost.

„Mein Freund Allan Murphison,“ stellte Stuart vor. „Nun jedoch herauf mit der Kiste und dann in See mit dem Piratenschiff, bevor uns die Farbigen erwischen! Austin nehmen wir mit!“

Murphison erklärte hastig: „Es ist unmöglich, noch das offene Meer zu erreichen. Die Bande muß Verdacht geschöpft haben! Sie kehren hierher zurück. Hinein ins Wasser mit der Taucherausrüstung und der Luftpumpe! Dann flüchten wir! Ich weiß ein Versteck, wo niemand uns aufstöbert!“

Pratt warf schon den Taucheranzug ab. Im nu war alles in der Bucht versenkt – auch das Tau, an dessen anderem Ende die Kiste befestigt war.

Murphison lief voran in den Wald hinein, nach Süden zu, bis zu einem tropischen Baume von ungeheurer Dicke.

Jim Knox erkannte den Baum sofort wieder. Es war der, in dessen Krone er den Raucher aufgestöbert hatte.

„Der Baum ist hohl,“ meinte Pratt. „Man kann von oben durch den hohlen Stamm hinabklettern. Auf diese Weise verschwanden Sie vorhin. Mr. Murphison, als Jim Sie beobachtete.“

Murphison nickte. „Es ist so! Alles weitere werden Sie sehen! – Vorwärts – hinauf mit uns!“

Auch Austin Gloversend, dem man einen Knebel in den Mund geschoben hatte, wurde an einer Leine emporgehißt.

 

 

5. Kapitel.

Das Geheimnis des Seaghost.

1n dem vollkommen hohlen Urwaldriesen führte von dem Loche zwischen den Ansätzen der stärksten Äste eine Strickleiter in einen dicht unter der Erdoberfläche liegenden Haufen von Felsstücken hinein, zwischen denen der mächtige Baum seine Wurzeln in die Tiefe getrieben hatte. Hier gab es ebenfalls einen ausgedehnten Hohlraum, der sich bis zu einer sowohl Pratt als auch den Piraten bisher unbekannten Abzweigung des unterirdischen Beutelagers fortsetzte.

Murphison hatte dieses Versteck, wie er erklärte, durch einen Zufall entdeckt, als er vor fünf Monaten hier allein zurückgeblieben war, nachdem er mit Stuart Gloversend nach vielen Fehlschlägen endlich den Schlupfwinkel der Piraten, eben die Insel Patara, gefunden hatte.

Allan Murphison war dann sehr bald durch die Ankunft der Leute, die gerade Tamprys Kinder verschleppt hatten, hier auf der Insel zu einem Leben gezwungen worden, das dem eines verfolgten Verbrechers völlig glich. Sein ganzes Sinnen und Trachten mußte darauf gerichtet sein, sich verborgen zu halten. Deshalb gelang es ihm auch nicht, den Ort ausfindig zu machen, wo die Piraten, deren Landung er und Stuart zweimal von ihrem Motorkutter aus beobachtet hatten, die Beute hinschafften. –

Diese kurzen Erklärungen gab Murphison in dem Raum ab, den er, ein freiwilliger Robinson, sich hier in der Grotte als Wohnung hergerichtet hatte.

Eine Karbidlampe brannte auf einem plumpen Tisch, dessen Platte aus einem großen Stück Baumrinde bestand. Ihr Licht bestrahlte grell Austin Gloversends, des Piratenanführers, jetzt vor Angst blasses und verzerrtes Gesicht. Er lehnte an der Felswand und hatte die Augen zu Boden geschlagen. Der Knebel war wieder entfernt worden, und nichts hinderte ihn, sich zu verteidigen. Er schwieg beharrlich. Er sah wohl ein, daß er verloren war.

Pratt sagte nun zu Stuart Gloversend:

„Sie brauchen mir nur noch Einzelheiten Ihrer Lebens- und Leidensgeschichte nachher mitzuteilen. Ich glaube, bereits das Richtige über die jetzige Jacht Seegespenst herausgefunden zu haben. Als ich im Taucheranzug vorhin in die Tiefe der Bucht hinabstieg, konnte ich im Wasser die Formen des Rumpfes des U-Bootes, das jetzt als Seegespenst Freibeuterei treibt, erkennen. Diese Formen entsprechen genau denen der beiden Handelsunterseeboote die Deutschland während des Weltkrieges bauen ließ. Eins davon gilt als verschollen, kehrte von seiner Fahrt nach Amerika nicht zurück. Ich nehme an, daß der „Seaghost“ dieses U-Boot ist. Sie beide, Mr. Stuart, Ihr Vetter und Sie, müssen sich irgendwie dieses U-Bootes bemächtigt haben.“

Stuart nickte. „Ja, wir beide dienten während des Krieges als Marineoffiziere, Mr. Pratt. Austin befehligte ein Torpedoboot, das den Wachtdienst vor der Mündung des Mississippi hatte. Eines Nachts tauchte aus dem Meere ein großes U-Boot auf. Die Hauptluke wurde geöffnet, aber nur ein einzelner Mann erschien taumelnd an Deck, glitt aus, fiel in die See und ertrank, ehe wir ihn retten konnten. Wir untersuchten das U-Boot. Wir fanden die Besatzung erstickt auf. Ein Gasolinbehälter war explodiert. Da die Besatzung unseres kleinen Torpedobootes nur aus Farbigen bestand, konnte Austin deren Schweigen leicht erkaufen. Er wollte die wertvolle Ladung des deutschen Handelsunterseebootes sich aneignen. Ich widersprach zuerst. Da wiegelte er die Farbigen gegen mich auf. Sie hätten mich getötet, wenn ich nicht zu allem still gewesen wäre. Wir schleppten das U-Boot nach einem einsamen Punkte der Küste in einen sumpfigen Flußarm, wo wir es im Schilf verbargen. Dort blieb es bis zum Kriegsende. Im Januar 1920 – ich hatte mich nicht mehr um die Sache gekümmert und auch Austin seit zwei Jahren nicht gesehen – erschien mein Vetter, übrigens mein einziger näherer Verwandter, eines Tages in meiner Wohnung in Neuypork und schlug mir vor, mit ihm zusammen das U-Boot zum Piratenfahrzeug auszurüsten und Seeraub zu treiben. Ich lehnte entrüstet ab, obwohl ich ahnte, daß Austin, der stets schon stark abenteuerliche Neigungen gehabt hatte, fernerhin mein Todfeind sein würde. Es gelang ihm denn auch, mit Hilfe käuflicher Ärzte mich in eine Privatirrenanstalt einzusperren, aus der mich Murphison dann befreite. Wir beschlossen, da ich nicht gern der Polizei meine Mitwisserschaft der Bergung des deutschen U-Bootes eingestehen mochte, Austin und seine Bande, die bereits ihr schändliches Handwerk aufgenommen hatten, allein unschädlich zu machen. Murphisons Motorkutter diente uns dazu, Austins Tun und Treiben auch auf See zu beobachten. Alles weitere wissen Sie bereits, Mr. Pratt.“

Nic Pratt überlegte eine Weile. Dann erklärte er: „Wir müssen versuchen, das Seegespenst irgendwie in unsere Gewalt zu bekommen. Ich werde jetzt zunächst allein dieses Versteck wieder verlassen und sehen, was die Besatzung des Piratenschiffes tut. Die Leute werden durch unser und Austins Verschwinden fraglos in große Unruhe versetzt worden sein. – Jim, gebt mir den Revolver zurück. Ich will für alle Fälle meine beiden Revolver bei mir haben.“

Zehn Minuten, drauf näherte Pratt sich kriechend der Bucht. Dichtes Gestrüpp schützte ihn. Bald hatte er denn auch den Seaghost keine zehn Meter entfernt vor sich. An Deck bemerkte er nur vier Mestizen, die jetzt mit Karabinern und Revolvern bewaffnet waren. Aus den erregten Worten der Leute entnahm er, daß die übrige Besatzung die Insel nach Austin Gloversend absuchte.

Sofort tauchte auch in seinem regen Hirn ein sehr einfacher Plan auf, wie man die vier Mestizen in aller Stille überwältigen könnte. Er eilte zum Schlupfwinkel seiner Gefährten zurück, ließ Austin so an den plumpen Rindentisch fesseln, daß er sich unmöglich befreien konnte, und brach mit Jim, Stuart und Murphison wieder nach der Bucht auf, wo sich inzwischen noch zwei Neger auf dem Freibeuterschiff eingefunden hatten. –

Pratt erschien plötzlich in wilder Hast aus dem Walde und rief den Farbigen schon von weitem atemlos zu:

„Der Kapitän schickt mich! Von Norden naht ein Kriegsschiff! Ihr sollt schleunigst in den Würfelfelsen kommen – in die Höhle, wo die Beute lagert! Das Wertvollste soll an Bord geschafft werden! Vorwärts, beeilt Euch! Austin Gloversend fürchtet, daß Ihr verraten worden seid!“

Gerade die Erwähnung des Beutelagers mußte die Piraten überzeugen, daß der angebliche Doktor Crapp die Wahrheit sprach.

"Laßt Eure Waffen nur hier!“ meinte Pratt weiter. „Sie behindern Euch nur. Lauft voraus! Ich soll dem Kapitän Verbandszeug bringen. Er hat sich die linke Hand verletzt.“

Die sechs Leute eilten auch wirklich durch den Wald dem Würfelfelsen zu.

Nun waren Pratt und die drei anderen Herren der Jacht, machten schnell die Taue los und ließen die Motoren arbeiten. Langsam setzte der Seaghost sich in Bewegung. Als man die Mündung der Bucht erreicht hatte, sah man am Ufer drei Neger, die jetzt starr vor Schreck dem enteilenden Schiffe nachschauten.

Vier Tage drauf begegnete man unweit der Mississippimündung einem amerikanischen Schlachtschiff, das dann sofort Kurs auf Patara nahm und schon in der zweiten Nacht vor der Insel ankerte, Boote und bewaffnete Matrosen an Land schickte, den halb verhungerten Austin auffand und die Farbigen, die sich in dem Würfelfelsen zu verteidigen suchten, bald zur Übergabe zwang.

Nun wurde auch im Beisein Pratts und seiner Gefährten die Kiste gehoben, die Goldbarren im Werte von fünf Millionen enthielt.

Den Piraten wurde in New Orleans dann der Prozeß gemacht. Sie wurden sämtlich zum Tode verurteilt und gehenkt. Das „Seegespenst“ aber kaufte ein Unternehmer in der Versteigerung auf Abbruch. Die Eisenteile des einstigen deutschen Handels-U-Bootes und späteren Piratenfahrzeugs fanden in der Industrie eine neue friedliche Verwendung.

Pratt erhielt ebenso wie Jim, Stuart Gloversend und Murphison eine ansehnliche Belohnung. Kaum war er nach Neuyork zurückgekehrt, als ihn ein neuer Auftrag bis in das Gebiet des ewigen Eises, in die Polargegenden führte.

 

 

Nächster Band:

Der tote Missionar.

 

 

Anmerkung:

(1) Vorlage: Albins ... Der Name wechselt im weiteren Verlauf der Erzählung immer wieder zwischen Austin und Albin. Alles auf Austin vereinheitlicht.