Erzählung von Walther Kabel.
(Nachdruck verb.)
Der elegante Jagdwagen hielt mit kurzem Ruck vor der breiten Freitreppe des Schlosses, und eilfertig riß der bereitstehende Lakai den Schlag auf, indem er mit tiefem Bückling, aber ohne besondere Herzlichkeit, die er sich als langjähriger vertrauter Diener des Kaisenbergschen Hauses wohl hätte erlauben dürfen, zu dem einzigen Insassen des Gefährtes sagte: „Ich gestatte mir, den Herrn Grafen in der Heimat wieder zu begrüßen.“
Die Worte klangen zu sehr wie eine bloße pflichtgemäße Redensart. Und Graf Axel Kaisenberg vermochte daher ein spöttisches Lächeln kaum zu unterdrücken. Man schien es ihm hier also wirklich trotz der zweijährigen Abwesenheit noch immer nicht vergessen zu haben, daß er, der mißratene Sproß der hochgeborenen gräflichen Familie durch seine plötzliche Verabschiedung aus dem Heere, die im Anschluß an eine höchst fatale Spieleraffäre erfolgte, recht unangenehme Wochen bereitet hatte, bis man ihn dann nach Tilgung seiner sehr beträchtlichen Schulden nach Amerika abschieben konnte, wo er jetzt angeblich bei einer großen Neuyorker Versicherungsgesellschaft in auskömmlicher Stellung beschäftigt war, tatsächlich aber ein Leben führte, das seinem früheren wenigstens insofern ähnelte, als er ebenfalls Abend für Abend als bezahlter Bankhalter eines der geheimen Spielklubs hinter dem grünen Tische saß. Vielleicht, daß bei Graf Axel diese Neigung für das Spiel ein Erbteil von seiner extravaganten Mutter war, die Graf Heinrich Kaisenberg nach dem Tode seiner ersten, ebenbürtigen Gemahlin trotz ihrer bürgerlichen Abkunft und ihres Berufs als Konzertsängerin im Widerspruch mit dem ganzen Familienrat geheiratet hatte, — ein Schritt, den der alternde Mann nur zu bald bereute, da die allzu verschiedene Lebensanschauung der beiden Gatten, insbesondere der genußsüchtige und oberflächliche Charakter der früheren Künstlerin eine harmonische Ehe unmöglich machte. Auch die Geburt eines Sohnes konnte die Gegensätze zwischen diesen ungleichen Naturen nicht überbrücken, und erst das kurz hintereinander erfolgte Ableben beider erlöste sie von einem Martyrium, das Graf Heinrich Kaisenberg sich in blindem Idealismus, die gefeierte Sängerin Adele Liebnau sich aber aus kühler Berechnung aufgeladen hatte. Als einzige Vertreter der gräflichen Linie des Kaisenbergschen Geschlechts blieben der jetzige Majoratsherr Graf Arthur als Kind aus der Ehe mit Felizitas, Gräfin Selnin, und der mit zwölf Jahre jüngere Graf Axel zurück, — zwei Menschen, bei denen die Folgen der verschiedenen Blutmischung von Mutterseite her sich nur zu sehr nicht nur in der äußeren Erscheinung, sondern auch in den feinsten Charakterregungen offenbarten. Zwischen den Stiefbrüdern hatte es nie ein rechtes Verstehen oder irgendwelche herzliche Zuneigung gegeben, und die Entfremdung war natürlich nach Axels wenig schönen Streichen noch größer geworden. Daß der jüngere Kaisenberg jetzt nach zwei Jahren wieder den Stammsitz seiner Väter aufsuchte, geschah auch nicht etwa freiwillig oder ohne besonderen Grund. Vielmehr war er erst auf einen Brief seines Bruders hin, dem eine ansehnliche Anweisung auf eine Neuyorker Bank beilag, für einige Zeit nach Europa herübergekommen. —
Graf Axel hatte auf die Begrüßung des alten Dieners nur hochmütig mit dem Kopf genickt. Wenn seine Gedanken für wenige Sekunden in die Vergangenheit zurückgekehrt waren, so wurden sie durch das, was sich seinen erstaunten Augen bei einem kurzen Rundblick über das prachtvolle, von zwei Türmen flankierte Gebäude und die wohlgepflegten Parkanlagen darbot, schnell wieder abgelenkt.
„Mein Bruder hat das Schloß ja mächtig herausgeputzt, Roderich!“ meinte er mit gut geheuchelter Gleichgültigkeit und sprang dann aus dem federnden Wagen auf den gelben Kiesweg herab, ohne das Trittbrett zu benutzen. Und die Bewegungen seiner schlanken, vornehmen Gestalt waren dabei trotz der zweistündigen Fahrt über die zum Teil recht sandigen Wege so leicht wie kaftvoll, daß der grauköpfige Diener ihn fast neidisch einen Moment von Kopf bis zu Fuß musterte.
„Wir erwarten ja auch demnächst unsere neue Herrin, Herr Graf“, erklärte der Alte dann bereitwillig mit einem freudigen Aufleuchten seiner treuen Augen und griff nach der Reisetasche, die auf dem Sitz stehen geblieben war, Daher entging es ihm auch, daß der jüngste Kaisenberg bei diesen Worten merklich zusammenfuhr und sein scharfgeschnittenes, etwas verlebtes Gesicht sogar um eine Schattierung blasser wurde.
Doch Graf Axel hatte in der Neuen Welt so mancherlei zugelernt, darunter auch eine vollkommene Selbstbeherrschung, die ihn jeder Situation gewachsen machte.
Keine weitere Frage folgte, nichts. Langsam schritt er die Stufen der Freitreppe jetzt empor. Kein Zucken in seinem Antlitz verriet, welch wilde Flut von Gedanken diese Nachricht in ihm hervorgerufen hatte. Nur seine dünnen Lippen, um die stets ein halb ironisches Lächeln spielte, waren fester aufeinandergepreßt, und in dem Blick seiner kalten grauen Augen lag ein seltsames Gemisch von Mißtrauen und brutaler, drohender Härte. —
Eine Stunde später saßen sich die Stiefbrüder in dem Arbeitszimmer des Majoratsherrn gegenüber. Graf Arthur lehnte zusammengesunken in einem Klubsessel dicht neben dem hohen Fenster, so daß das helle Licht des sonndurchleuchteten Augusttages seine blassen, kränklichen Züge beschien. Der jüngere dagegen hatte seinen altmodischen geschnitzten Eichenstuhl in den Schatten gerückt und beobachtete nun schon eine ganze Weile abwartend aus halbverhüllten Augen das nervöse Spiel der durchsichtig weißen Hände des anderen, der ein dolchartiges Papiermesser verlegen zwischen den Fingern drehte. Der große, dreifenstrige Raum, in dem sie sich befanden, war angefüllt mit einer Menge von Dingen, die jeden Altertumsforscher hoch entzückt hätten. Verwitterte und beschädigte Reliefs waren an den Wänden neben alten patinierten Büsten und Ornamenten zu sehen, und in breiten Glasschränken lagen sauber geordnet antike Waffen, Bruchstücke von Marmorstatuen, halbzerfressene Bücher und Pergamentrollen. All diese Sachen hatte der Majoratsherr als eifriger Liebhaberarchäologe aus aller Herren Ländern gesammelt und nach Kulturepochen eingeteilt.
Endlich brach Graf Arthur das Schweigen. Aber man merkte ihm an, welche Überwindung ihn diese Aussprache kostete.
„Axel, ich habe dich aus Neuyork herüberkommen lassen, um mit dir mündlich eine wichtige Angelegenheit ins reine zu bringen“, begann er stockend. „Wir sind die letzten Grafen Kaisenberg, und da wollte der eine nicht ohne Wissen des anderen einen Schritt tun, der für beide weitgehende Folgen haben wird.“
Er machte eine Pause und schaute unsicher zu seinem Stiefbruder hinüber, der jedoch gleichgültig seine eleganten Lackschuhe soeben einer Besichtigung unterzog.
„Ja, Axel,… weitergehende Folgen!“ wiederholte er jetzt mit etwas mehr Nachdruck. „ich… ich gedenke mich nämlich in nächster Zeit zu verheiraten.“
Nun erst schaute der Jüngere auf.
„Du wirst von mir hoffentlich nicht verlangen, daß ich dir zu dieser Verlobung gratuliere, von der ich vor einer halben Stunde durch den glatten Goldreif, den ich an deinem Finger bemerkte, Kenntnis erhielt“, sagte er kühl. „Ich kann es nicht, da ich diesen Heiratsplan für ein direktes Verbrechen halte, für ein Verbrechen an dem Weibe, das du, der kranke Mann, heimzuführen gedenkst.“
„Du irrst, Axel“, erwiderte der Majoratsherr, schwer atmend, und zwang sich sichtlich mit Energie zur Ruhe. „Ich hätte allerdings gewissenlos gehandelt, wenn ich mich Marga von Alten wieder genähert hätte, ohne mir über meinen Gesundheitszustand vorher Gewißheit zu verschaffen. Damals, vor neun Jahren, als ich an jenem unglücklichen Renntage mit dem Pferde vor der letzten Hürde mich überschlug, mußte ich unser Verlöbnis lösen, weil die Arzte mir nur noch wenige Lebensjahre gaben. Doch heute liegen die Dinge ja Gott sei Dank anders. Ich habe mich von mehreren Spezialisten untersuchen lassen, und alle neigen der Ansicht zu, daß jene Rückradverletzung nur unbedeutend gewesen sein kann, und daß die beschädigte Stelle durch die fortwährende Schonung völlig ausgeheilt ist, also jedenfalls die Befürchtung, es könne sich eine schleichende, tödliche Rückenmarkserkrankung herausgebildet haben nicht mehr besteht. Und warum sollte ich wohl unter diesen Umständen noch länger mit der Verwirklichung eines Herzenswunsches zögern, dem ich nun schon beinahe ein Jahrzehnt in stillem Entsagen wie einem unerreichbaren Glücksschimmer nachgetrauert hatte? Wir sind inzwischen alt geworden, Marga und ich, mit unseren dreißig und vierzig Jahren, aber unsere Liebe blieb jung, Axel, glaube mir. Und das Anrecht auf einen glücklichen gemeinsamen weiteren Lebensweg haben wir uns durch das treue Festhalten aneinander und die nie versiegende Hoffnung auf die endliche Besserung meines Leidens wahrlich verdient.“
Graf Arthur war aufs angenehmste überrascht, als Axel sich erhob, ihm die Hand hinsteckte und mit anscheinend ehrlichster Wärme im Ton sagte: „Allerdings — dann kann man dir wirklich aus vollstem Herzen nur Glück wünschen! Mag die Zukunft dir in reichstem Maße alle deine Erwartungen erfüllen, dir und deiner Braut, die ich noch so gut von früher her kenne, und die mir auch die Gewähr gibt, daß sie dir eine restlose Liebe zu schenken vermag.“ Und er drückte dabei die Finger seines Stiefbruders so fest und schaute ihn mit so strahlenden Augen an, daß dieser ganz gerührt wurde.
„Ich danke dir für diese Worte, Axel!“ erwiderte der Altere mit vor innerer Bewegung merklich zitternder Stimme, „Du nimmst mir wirklich eine Last von der Seele, Denn ich fürchtete, daß uns diese Heirat vielleicht ganz auseinanderbringen würde, da für dich nunmehr das Majorat, das dir nach meinem Tode zugefallen wäre, wahrscheinlich für immer… „ — wieder das ängstliche zögern — „verloren ist — sofern mir eben der Himmel einen Leibeserben schenkt.“
Der jüngste Kaisenberg war an das Fenster getreten und hatte den Kopf abgewandt, so daß der Ausdruck in seinen Zügen dem anderen verborgen blieb, schien völlig versunken in das herrliche Landschaftsbild, das sich seinen Blicken darbot, — grünende Wiesen, schnittreife Felder, unterbrochen von aufblinkenden Seen, und in der Ferne weite Forsten wie dunkle Striche, alles Kaisenbergscher Besitz, der dem stolzen Geschlecht seit Jahrhunderten gehörte. „Diese letzte Bemerkung mag als nicht gesprochen gelten“, sagte er dann „nach einer Weile mit seltsam gepreßter Stimme „Sie stellt meinem brüderlichen Empfinden und meiner Selbstlosigkeit gerade kein hervorragendes Zeugnis aus und paßte auch in die Gedanken, die der Anblick unserer Ländereien in mir hervorrief, recht wenig hinein. Denn diese Gedanken drehten sich nur um die Schönheit unserer engeren Heimat, die ich erst jetzt wieder zu schätzen weiß, wo ich mich zwei lange Jahre in der Fremde habe herumstoßen müssen.“
Etwas wie wehmütige Reue klang durch diese Sätze hindurch, und Graf Arthur, der stets so blind und so gern an das Gute im Menschen glaubte nahm sie als den Ausfluß aufrichtigsten Empfindens hin. Und in der Freude über friedlichen Ausgang dieser Zusammenkunft, bei der er eigentlich zum ersten mal eine wärmere Regung für den Stiefbruder spürte, ging er jetzt langsamen, schleppenden Schrittes auf ihn zu und legte ihm herzlich den Arm um die Schulter.
„Sei nicht traurig, Axel! Auch die Fremde wird dir zur Heimat werden, sobald du dir dort nur erst ein Feld der Tätigkeit erschlossen hast, das dir zusagt und dich voll und ganz befriedigt. Hier bei uns — das wirst du selbst einsehen — kannst du nach jener unseligen Affäre, bei der man selbst deine… Ehrlichkeit anzuzweifeln wagte, nicht mehr bleiben, schon deswegen nicht damit du dich keinen Demütigungen aussetzt. Aber jetzt, wo mir meine Braut ein ansehnliches Vermögen mit in die Ehe bringt, bin ich auch wieder in der Lage, dir eine größere Summe zur Verfügung zu stellen, die es dir ermöglicht, dich drüben selbstständig zu machen. Es sind fünfzigtausend Mark, die ich dir zugedacht habe. Vor deiner Abreise werde ich sie dir aushändigen. Nur eins versprich mir, Axel: spiele nie wieder — nie!“
Forschend schaute Graf Arthur dem neben ihm Stehenden in das schmale aristokratische Gesicht, das durch den nach englischer Art geschnittenen Schnurrbart noch jugendlicher erschien. Aber in diesem Gesicht regte sich nichts, und Axels graue Augen blickten weiter ebenso düster und verträumt in die Ferne hinaus. Endlich begann er leise:
„Ich werde keine Karte mehr anrühren, Arthur, — hier meine Hand. Das Darlehen aber — denn als solches betrachte ich die fünfzigtausend Mark nur — nehme ich gern hin, hoffe es dir auch langsam zurückzahlen zu können. — Bitte kein Wort dagegen! Du hast schon damals vor zwei Jahren meine Schulden bezahlt, Summen, die mein Erbteil um das Doppelte überstiegen. Nie werde ich dir diese deine Güte vergessen — nie! — Aber nun möchte ich allein sein… Mein Herz hat so vieles Neue zu verarbeiten, so viel Altes ganz abzutöten, daß ich die Einsamkeit brauche. Wir sehen uns ja nachher bei Tisch…“
Noch ein Händedruck, und Graf Axel verließ das Gemach, stieg die läuferbeleqte Treppe empor und verschwand in seinem Zimmer. Kaum aber hatte er die Tür hinter sich ins Schloß gezogen, als er tief aufatmend stehen blieb. In seinem Antlitz arbeitete es, wechselte der Ausdruck wie der Widerschein all der wilden Leidenschaften, die seine Seele erregten. Und plötzlich lachte er laut, höhnisch auf. In seinen Augen war jetzt wieder jenes drohende, grausame Flimmern, das schon vorhin in ihnen aufleuchtete, als er bei seiner Ankunft die Freitreppe so langsam hinaufschritt.
Zwei Tage später reiste der jüngste Kaisenberg ab, nachdem die Brüder die kurze Zeit des Wiederschens auch weiter im besten Einvernehmen zugebracht hatten. Graf Arthur vermochte nicht, den Stiefbruder zurückzuhalten, und ebensowenig lud er ihn zu seiner nach sechs Wochen stattfindenden Hochzeit ein, da Axel sich in der guten Gesellschaft vollständig unmöglich gemacht hatte und die Erinnerung an seine unter so schwer belastenden Umständen erfolgte Verabschiedung noch zu frisch in aller Erinnerung lebte.
Eine Woche nachher traf Axel in Monte Carlo ein, trotzdem er dem Majoratsherrn versprochen hatte, mit dem nächsten Dampfer nach Neuyork abzureisen, stieg in einem der teuersten Hotels ab und war bald einer der eifrigsten Besucher der Spielsäle, bis er nach einem besonders unglücklichen Abend beim Überzählen seiner Barschaft feststellte, daß sie bis auf fünfzehntausend Mark zusammengeschmolzen war. Da erst kam er etwas zur Besinnung. Aber die Rückkehr nach Amerika schob er doch noch hinaus, Die Schönheiten Italiens lockten ihn, und solange er noch einige Banknoten in seiner Brieftasche wußte, dachte er gar nicht daran, dieses bequeme Leben aufzugeben. Wie sich seine Zukunft gestalten würde, war ihm völlig gleichgültig, — so gleichgültig, daß er selbst all jene Pläne wieder vergessen hatte, die die ohnmächtige Wut über die bevorstehende Heirat seines Stiefbruders in ihm entstehen ließ, Pläne, vor denen ihm selbst bisweilen graute, die über in seinem verbrecherischen Hirn immer von neuem auftauchten und erst von dem nervenerregenden Klappern der Roulettekugel verdrängt wurden… —
Die Via Liguria in Rom gehört, trotzdem sie auf den Platz des Nationalmuseums mündet, zu jenen engen Gassen, in denen man neben modernen, himmelhohen Mietskasernen noch jene niedrigen Häuschen mit den bleigefaßten Fenstern vorfindet, die wohl zu derselben Zeit wie die Prunkpaläste der alten Patriziergeschlechter auf dem Corso Umberto und dem Petersplatz erbaut sind und sicherlich auf eine ebenso wechselvolle Vergangenheit zurückblicken können. Zu einem dieser baufälligen Häuschen, dessen altehrwürdige Front durch das Einsetzen eines großen Schaufensters mit grellgelb gestrichenem Rahmen verunziert war, befand sich einer jener Antiquitätenläden, wie man sie in Rom zu Hunderten sehen kann, Hier werden den kauflustigen Fremden angeblich wertvolle Raritäten aufgeschwatzt, hier steht das Geschäft jener Fälscher in vollster Blüte, die mit verblüffender Geschicklichkeit uralte Gemälde, Waffen, Urnen, Elfenbeinschnitzereien und Münzen herstellen und immer wieder für einen hohen Preis an den Mann bringen. In diesen Laden der Via Liguria verirrte sich eines Vormittags Axel Kaisenberg, der bereits zwei Wochen in Rom weilte, bisher aber vergeblich nach einem passenden Hochzeitsgeschenk für seinen Stiefbruder gesucht hatte. Denn mit einer ihm sonst fremden Energie versteifte er sich darauf, dem Majoratsherrn, dessen Vorliebe für Altertümer er kannte, irgendeinen möglichst seltenen Gegenstand für seine Sammlung zu senden, wobei er allerdings auch im stillen hoffte, daß diese scheinbar so feinsinnige Aufmerksamkeit seinen Geldbeutel weniger angreifen würde als der Einkauf eines modernen Prunkstücks. Die ihn bedienende, ärmlich gekleidete Frau des Inhabers dieses Antiquitätenladens hatte ihm bereits eine Unmenge von verstaubten Sachen vorgelegt, ohne daß er sich zu einer Auswahl entschließen konnte. Endlich fand er eine kupferne, mit eingelegter Arbeit reich verzierte Truhe, die ihm für seine Zwecke ganz geeignet schien. Nach einigem Handeln bezahlte er die Hälfte der zuerst geforderten Summe, gab seine Hoteladresse an, wohin ihm die Truhe zugeschickt werden sollte, und war auch bereits wieder auf die Straße hinausgetreten, als die Frau ihn nochmals zurückrief.
„Herr,“ flüsterte sie geheimnisvoll, „eben fiel’s mir ein, — ich habe da noch einen seltenen Ring aus dem fünfzehnten Jahrhundert, einen Wappenring. Eigentlich dürfte ich ihn ja nicht verkaufen: mein Mann, der Ernesto Bragenza, hat’s verboten, streng verboten. Aber seit Wochen ist er schon krank, Herr, schwer krank am Sumpffieber, und Arzt und Apotheker haben die wenigen Ersparnisse längst aufgezehrt, die Geschäfte gehen schlecht, und ich muß mir irgendwie weiterhelfen. Denn wer weiß, wann wieder einmal ein Fremder in die Via Liguria kommt.“
„Tut mir leid, ich habe keine Verwendung dafür!“ lehnte jedoch Axel jeden Handel ab. — Doch die Signora Bragenza ließ sich nicht so leicht abweisen.
„Nur ansehen sollt Ihr den Ring, Herr, — nur ansehen!“ bat sie flehentlich. „Wozu soll er auch noch länger in dem Fache liegen! Mag Ernesto ruhig zuerst schelten, — nachher wird er schon ein Einsehen haben. Wartet nur einen Augenblick, Herr… Er hat ihn in seinem Schreibtisch in unserem Wohnzimmer eingeschlossen. Ich muß zusehen, daß ich ihn unbemerkt herausnehmen kann.“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie durch die niedrige, in die hinteren Räumlichkeiten führende Tür, um nach einigen Minuten geräuschlos wieder einzutreten.
„Ernesto schläft, — ich habe Glück gehabt“, raunte sie Axel zu und riß dann hastig einen vielfach versiegelten Umschlag von einem kleinen Holzkästchen, in dem sich auch, wohlverpackt in Watte, das Schmuckstück vorfand.
Es schien wirklich eine Seltenheit zu sein, — das sah Graf Kaisenberg auf den ersten Blick. Ein Wappenring war’s, bei dem der tafelförmig geschliffene gelbe Topas, den ein Kranz von grünen Saphiren umgab, von zwei ineinander verschlungenen, aus Gelbgold gearbeiteten Drachen gehalten wurde. Das in den Topas eingeschnittene Wappen zeigte eine außergewöhnliche Klarheit der Zeichnung, war aber Axel gänzlich unbekannt. Die Innenseite des Ringes hatte keinerlei Inschrift und erschien vollkommen glatt ausgefüllt. Nur unter dem Topas befanden sich zwei feine Löcher, die vielleicht fünf Millimeter auseinanderlagen.
Trotzdem Axel dieses eigenartige Erzeugnis der Goldschmiedekunst, das sicherlich mehrere Jahrhunderte alt war und für Liebhaber von hohem Wert sein mußte, sehr gut gefiel, verbarg er doch wohlweislich sein Interesse und legte den Ring wieder in das Schächtelchen hinein.
„Ich kann ihn nicht brauchen, liebe Frau, wirtlich nicht,… Sie werden schon einen anderen Käufer dafür finden…“ sagte er mit kluger Berechnung.
„Herr, Ihr müßt ihn nehmen!“ bat die kränklich aussehende Signora Bragenza wieder. „Ihr sollt ihn auch billig haben, damit ich ihn nur loswerde; billiger, als Ernesto ihn vor einem halben Jahre der englischen…“
Sie schwieg plötzlich, und eine heiße Röte schoß ihr in das gelbliche, verhärmte Gesicht. Erstaunt, argwöhnisch schaute Axel sie daraufhin an. Aber schon hatte sie sich wieder gefaßt und fuhr mit derselben Zungenfertigkeit, wenn auch zunächst noch etwas unsicher, fort: „Ich weiß, Ernesto verlangte damals sechshundert Lire, ganz gewiß sechshundert Lire, ich besinne mich genau. Gebt dreihundertfünfzig Lire, Herr, und der Ring ist Euer…“
Er zögerte noch. Aber da der Preis ihm nicht zu hoch vorkam und die Truhe als einziges Hochzeitsgeschenk doch wohl etwas zu armselig war, so wurden sie nach einigem Feilschen doch handelseinig, Er bezahlte, schob das Kästchen mit dem Ring in die Tasche und verließ den niedrigen Laden, von der überglücklichen Signora Bragenza unter einem Schwall von Dankesworten bis auf die Straße hinaus begleitet. —
Drei Stunden später — Axel hatte sich gerade nach einem reichlichen Frühstück zu einem kleinen Nachmittagsschläfchen in sein Hotelzimmer zurückgezogen — wurde ihm durch einen der Kellner der Antiquitätenhändler Ernesto Bragenza gemeldet. Sehr unzufrieden mit der Störung richtete er sich auf seinem Diwan auf und schaute mißmutig dem Besucher entgegen, der sicherlich nur des Ringes wegen zu ihm kam, da die kupferne Truhe ja bereits sorgfältig eingepackt auf dem eleganten Reisekoffer dort in der Ecke stand. — Es war ein kleiner, nachlässig angezogener Mann, der jetzt mit allen Zeichen höchster Erregung hastig eintrat und sofort die Tür hinter sich ins Schloß drückte. Und ohne eine Anrede abzuwarten, stieß er dann fast keuchend hervor, während dicke Schweißtropfen über sein eingefallenes, bleiches Gesicht perlten:
„Herr Graf, — der heiligen Jungfrau sei Dank…! Sie leben, — Sie leben…!“ Und dabei atmete er tief auf, wie befreit von einer furchtbaren Angst.
Axel Kaisenberg konnte nur ebenso erstaunt wie belustigt über diese seltsame Begrüßung den Kopf schütteln. Dieser kleine Händler schien übergeschnappt zu sein, total übergeschnappt, oder aber er redete noch im halben Fieberdelirium.
„Gewiß, ich lebe, — warum auch nicht?!“ meinte er gemütlich und musterte nochmals verwundert die Gestalt des aufgeregten Italieners, der sich jetzt mit seinem Taschentuch die Stirn trocknete und dann mit flehentlich erhobenen Händen auf ihn zukam.
„Oh, — lachen Sie nicht, Herr Graf, — lachen Sie nicht!“ bat er beschwörenden Tones, „Und, Herr Graf, geben Sie mir den Ring wieder,… geben Sie ihn mir… Hier,… hier haben Sie Ihr Geld zurück…!“ Mit zitternden Händen legte er dabei ein kleines Beutelchen auf den nächsten Tisch.
„Ich denke gar nicht daran! Ihre Frau hat ihn mir verkauft, und wenn sie ihn zu einem zu geringen Preise abließ, so ist das nicht meine Schuld.“
Ernesto Bragenza knickte bei diesen Worten zusammen, als habe er einen kräftigen Faustschlag auf sein kahles Haupt bekommen. Und wieder traten ihm große Schweißtropfen auf die Stirn, während sein gelblichgrün schimmerndes Gesicht sich derart verzerrte, daß es Axel plötzlich ganz unbehaglich in der Nähe dieses so merkwürdig verstörten Menschen wurde.
„Herr Graf,“ begann da der Händler, und seine Stimme überschlug sich vor Erregung zu einem schrillen Fistelton, „Herr Graf, ich flehe Sie an: Händigen Sie mir den Ring aus, — lassen Sie uns das Geschäft rückgängig machen! Ich kann Ihnen denselben nicht verkaufen, kann nicht, und meine Frau handelte ohne meine Einwilligung… Ich will Ihnen auch den Kaufpreis für die Truhe zurückgeben, — Sie sollen Sie umsonst haben, ganz umsonst…“ Und etwas ruhiger, aber merklich unsicher setzte er hinzu: „Der Wappenring ist nämlich ein altes Erbstück, ein… Amulett, das in meiner Familie heilig gehalten wird…“
Axel antwortete nicht sogleich. Hier war etwas nicht in Ordnung, das fühlte er. Aus dem vor Angst halb irren kleinen Italiener redete offenbar nicht die Habsucht, wie er zuerst angenommen hatte, diese ganze Szene stellte keinen Versuch dar, eine größere Summe für das Schmuckstück zu erzielen. Also steckte mehr dahinter, — irgend ein Geheimnis, dessen Entdeckung jener eben zu fürchten hatte. Und dies Geheimnis glaubte jetzt Kaisenberg auch schon erraten zu haben; der Ring war sicherlich gestohlen, und zwar unter erschwerenden Umständen. Für die Richtigkeit dieser seiner Vermutung sprach ja nur zu sehr das Benehmen der Signora Bragenza, die so nachdrücklich hervorgehoben hatte, daß ihr Mann ihr untersagt habe, den Ring zu verkaufen. Sehr zufrieden mit dieser anscheinend so logischen Denkleistung pfiff Axel jetzt leise durch die Zähne und lächelte den vor ihm Stehenden überlegen an.
„Mein lieber Herr…, richtig… Bragenza,“ meinte er ironisch, „Sie müssen schon gestatten, daß ich Ihnen die Geschichte mit dem alten Erbstück und dem Amulette nicht glaube, ganz und gar nicht! Und in Ihrem eigensten Interesse dürfte es liegen, wenn Sie mir gestehen, was es mit dem Ringe auf sich hat. Keine weiteren Ausflüchte! Und Ihre Hände brauchen Sie auch nicht mehr so beschwörend gen Himmel zu recken! Geben Sie es nur ruhig zu: der Ring ist mal seinerzeit gestohlen worden, nicht wahr?“
Die geistigen Fähigkeiten des kleinen Italieners waren offensichtlich nicht weit her. Er unterschätzte seinen hartnäckigen Quälgeist ganz bedeutend. Sonst hätte er nicht mit einer Eilfertigkeit, die Axel stutzig machen mußte, diese Bemerkung aufgefangen und sich auch nicht so urplötzlich zu einem angeblichen Geständnis bequemt.
„Ja, Herr Graf, er ist gestohlen, wirklich gestohlen“, nickte er eifrig und offenbar hocherfreut, so leichten Kaufes davonzukommen. „Aber nun erhalte ich ihn doch auch zurück“, fuhr er dann schnell mit einem lauernden Blick fort.
Ungeschickter hätte er die Sache gar nicht anfangen können. Denn Kaisenberg merkte sofort, daß der Händler log, — log, um allen weiteren Fragen zu entgehen. Und das machte ihn noch mißtrauischer. Wenn er bisher nur deshalb die Wahrheit hatte herausbringen wollen, weil er seinem Stiefbruder doch schlechterdings nicht einen auf unredliche Weise erworbenen und vielleicht von dem früheren Besitzer eifrig gesuchten Gegenstand schenken konnte, so war es ihm jetzt zur Gewißheit geworden, daß Ernesto Bragenza noch mehr zu verbergen hatte, und zwar fraglos ein recht gefährliches Geheimnis. Daher schaute er jetzt den kleinen Mann, der unruhig seinen Filzhut zwischen den Händen zerknüllte, erst eine Weile durchbohrend an und sagte dann langsam, jedes Wort besonders betonend:
„Schade, ich hätte gern die Polizei aus dem Spiel gelassen! Aber Sie wollen ja nicht, belügen mich und hoffen, daß ich dumm genug sein werde, Ihr sogenanntes Geständnis für ernst zu nehmen. Nun, die Polizei dürfte mir dann wohl am besten darüber Aufschluß geben können, warum Sie ein so auffallendes Interesse an der Wiedererlangung des Ringes haben…!“
Kaum hatte der unglückliche Bragenza das Wort Polizei vernommen, als er sich mit einem nur halb unterdrückten Angstschrei seinem Peiniger zu Füßen warf und winselnd flehte:
„Gnade, Herr Graf, Gnade! Ich will ja alles gestehen! Nur nicht die Polizei, nur das nicht! Und Sie werden auch Erbarmen haben mit einem armen Manne, Herr Graf, der unter einem furchtbaren Verhängnis leidet und unschuldig sein Gewissen schwer belastet hat… Verraten Sie mich nicht, Herr Graf, — bringen Sie mich und meine Familie nicht ins Elend!“
Axel sah, daß der Italiener jetzt wirklich mürbe geworden war. Er hatte seinen Zweck erreicht und sagte daher beruhigend: „Ich gebe Ihnen mein Wort, kein Mensch soll je etwas von dem erfahren, was Sie mir erzählen werden. Fürchten Sie nichts… Und all die Aufregung hätten Sie sich ersparen können, wenn Sie gleich ehrlich gewesen wären.“ Nachdem er dann noch eigenhändig ein Glas Wein eingeschenkt hatte, das der noch immer an allen Gliedern zitternde Händler dankbar mit einem Zuge hinuntergoß, schob er ihm einen Sessel neben den Diwan hin und forderte ihn auf, Platz zu nehmen.
„Vor einem halben Jahrzehnt“, begann der Italiener dann, „erstand ich bei einer Auktion von alten Möbeln im Palazzo Orfani einen von Holzwürmern stark beschädigten Damenschreibtisch, der seiner Bauart nach aus den ersten Anfängen der Renaissancezeit stammen konnte. Ein schlechtes Geschäft, wie sich’s nachher herausstellte. Denn ich wurde den Schreibtisch nicht los, trotzdem ich schon einen recht geringen Preis verlangte. Vier Jahre stand er unbeachtet in einem Winkel meines Ladens, und ich hatte bereits alle Hoffnung aufgegeben, wenigstens das seinerzeit für ihn angelegte Geld zurückzuerhalten, als eines Tages ein ebenso reicher wie wortkarger Amerikaner zu mir kam und sich unter anderem auch den alten Damenschreibtisch mit den gewundenen wackligen Füßen zeigen ließ. Der Herr verstand etwas von Antiquitäten, das merkte ich sofort. Er zog alle Fächer des Aufbaues heraus, beklopfte die Wände, prüfte die Schnitzereien und die Beschläge und wandte sich dann nach einer Weile mit der Frage an mich, ob ich denn auch wisse, daß der Schreibtisch ein Geheimfach habe. Als ich verneinte, zeigte er mir durch ein paar einfache Abmessungen, daß die Schubladen und das Mittelschränkchen nicht den ganzen Raum des Aufsatzes ausfüllen konnten, daß also irgendwo noch ein verborgenes Fach vorhanden sein müsse. Und nach einigem Suchen fanden wir es auch. Es war sehr geschickt an der Rückwand verborgen und ließ sich nur durch das Hochschieben einer kleinen, ganz unauffälligen Holzleiste öffnen. Zu unserer Überraschung bemerkten wir darin zwischen einem Haufen gänzlich zerfressener Pergamentblätter ein kleines Holzkästchen, dasselbe Holzkästchen, das sich jetzt in Ihrem Besitz befindet. Und in diesem Kästchen lag ein Ring, derselbe Ring, den Sie heute von meiner Frau kauften. Der Amerikaner — er hieß Sounderton, ich werde den Namen nie vergessen! — schien sofort die wertvolle Eigenart und das Alter des Ringes erkannt zu haben, trat an das Fenster und besichtigte ihn mit Kennermiene, offenbar schon entschlossen, ihn zu erwerben. Ich stand neben ihm, und ahnungslos ließ ich es geschehen, daß er ihn über den Ringfinger seiner linken Hand streifte, was nicht ganz leicht gehen wollte, da Sounderton ziemlich dicke Gelenke hatte. Mit einem mal zuckte er leicht wie unter einer plötzlichen Schmerzempfindung zusammen und führte schnell die Linke dicht an die Augen, indem er den Ring forschend hin und her drehte. Dann zog er ihn jedoch ruhig wieder ab und reichte ihn mir hin. „Ich möchte beides kaufen, den Schreibtisch und diesen Wappenring, Nennen Sie mir den Preis’, sagte er dabei in seiner kurzen Art und ging dann der Mitte des Ladens zu, als ob er sich das alte Möbelstück nochmals ansehen wollte. Kaum aber hatte er zwei Schritte vorwärts getan, da begann er zu taumeln und sank auch schon, ehe ich noch zuspringen und ihn auffangen konnte, zu Boden und schlug hart mit dem Kopf auf. Sie können sich unser Entsetzen denken, Herr Graf — ich hatte in meiner Ratlosigkeit und Angst schnell meine Frau herbeigerufen —, als es uns trotz Anwendung aller nur möglichen Belebungsmittel nicht gelingen wollte, den anscheinend Ohnmächtigen wieder zum Bewußtsein zu bringen. Schließlich lief ich zum nächsten Arzt, aber dieser konnte nur den bereits eingetretenen Tod feststellen. Dann erschien die Polizei, es wurde das übliche Protokoll aufgenommen und darin als Todesursache ‚Gehirnschlag’ vermerkt, trotzdem das Gesicht der Leiche auch nicht im geringsten außergewöhnlich gerötet oder verzerrt war, Niemand schöpfte also irgendeinen Verdacht, ich selbst am allerwenigsten. Auch für mich war der Amerikaner eines natürlichen Todes gestorben. Wie sollte ich auch auf die Vermutung kommen, daß es sich anders verhielt, daß… Doch ich will nicht vorgreifen.
Der alte Schreibtisch aus dem Palazzo Orfani stand nun wieder in der Ecke meines Ladens, und auch das Kästchen mit dem Wappenring bewahrte ich weiter in seinem Geheimfach auf. Doch einen neuen Käufer fand ich für die Sachen nicht. So vergingen ungefähr acht Monate, und ich hatte den Tod Soundertons inzwischen fast vergessen, als an einem Nachmittag in diesem Frühjahr ein junger Engländer — Lord James Warngate, wie ich später erfuhr — mit seiner Gemahlin vor meinem Hause vorfuhr und mein Geschäft betrat. Die Herrschaften kauften mir auch bald ein elfenbeingeschnitztes Schachspiel ohne langes Handeln ab und besichtigten dann weiter die wertvollsten Stücke meiner Sammlung, die ich teilweise sogar von Bodenraum heruntertrug. Während meine Frau dem Lord die große Wanduhr mit den beweglichen Figuren und dem Spielwerk erklärte und den Mechanismus in Gang setzte — Sie werden das dunkelgebeizte Kunstwerk wohl an der Rückwand des Ladens bemerkt haben, Herr Graf — und ich vor seiner Gattin am Fenster einige echt venezianische Spitzen ausbreitete, fiel mir plötzlich der Wappenring ein, an den ich in meinem Eifer, möglichst viel Sachen loszuwerden, noch gar nicht gedacht hatte. Ich nahm ihn aus dem Geheimfach des alten Schreibtisches heraus und reichte ihn der Dame, die sofort ein lebhaftes Gefallen an ihm zu finden schien. Langsam streifte sie den linken Handschuh ab, und indem sie ganz nebenbei nach dem Preise fragte, schob sie den Ring wie spielend über den Finger. Ich forderte sechshundert Lire, Sie nickte nur und schaute sich fragend nach Lord Warngate um, der sich aber um unser Gespräch gar nicht gekümmert hatte und noch immer neben meiner Frau vor der alten Wanduhr stand, deren Spielwerk jetzt eben ein getragenes Kirchenlied begann. „Sechshundert Lire — gut; James wird den Ring kaufen“, sagte sie nachlässig und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit wieder dem Schmuckstück zu, das noch immer an ihrer Hand glänzte. „Schade, daß die Gravierung des Wappens so verstaubt ist“, meinte sie darauf bedauernd. Und schon zog sie ihr feines Batisttüchlein hervor und begann den gelben Topas eifrig zu reiben. Ich sehe sie noch vor mir, die schlanke Engländerin mit dem zarten, vornehmen Gesichtchen, wie sie den Reif an ihrem Finger immer wieder anhauchte und den Wappenstein zu reinigen versuchte, höre noch ihren leisen Aufschrei, sehe sie noch den Ring hastig vom Finger reißen und auf den Stuhl zwischen die kostbaren venezianischen Spitzen schleudern… Ja, ich werde die Einzelheiten jener Szene wohl nie, nie vergessen! Und dann wies sie auf ihren Ringfinger hin, auf dessen durchsichtig weißer Haut jetzt zwei rote Pünktchen zu bemerken waren, Pünktchen so fein wie Nadelstiche. „ich habe mich an dem Ringe geritzt, er muß eine scharfe Kante haben, meinte sie verwirrt, als ob sie sich bei mir entschuldigen wollte, daß sie mit meinem Eigentum so unvorsichtig umgegangen war. Nur ich hörte diese Worte, ich ganz allein, Herr Graf — zum Glück! Der Klang ihrer weichen Stimme liegt mir noch heute im Ohr, als wäre alles erst gestern geschehen… Und dazu spielte im Hintergrunde des Ladens die Wanduhr ihr trauriges Lied…
Dann, Herr Graf, dann wiederholte sich genau derselbe Vorfall wie damals mit dem Amerikaner. Auch Lady Warngate machte noch einige Schritte zu ihrem Gatten hin, taumelte plötzlich, schrie noch einmal laut „James“ und sank ihrem Manne bewußtlos im die Arme. Wir brachten die Ohnmächtige, die sich gar nicht erholen wollte, auf mein Anraten in den draußen wartenden Wagen, und der Lord fuhr in rasendem Tempo mit ihr zum nächsten Arzt. Ich sage: die Ohnmächtige! Und doch fürchtete ich, daß die Dame nicht mehr zu retten war, daß wir bereits einen Leichnam in das Gefährt getragen hatten, — ahnte es, da die Worte: „ich habe mich an dem Ringe geritzt“, einen furchtbaren Verdacht in mir entstehen ließen, der durch die näheren Umstände dieses Ohnmachtsanfalls nur noch verstärkt wurde. Denn beide, sowohl Sounderton wie Lady Warngate, waren umgesunken, nachdem sie den Wappenring nur für wenige Minuten getragen hatten, und bei beiden hatte ich auch vorher dasselbe schmerzliche Zusammenzucken bemerkt.“
Atemlos, weit vorgebeugt, war Axel Kaisenberg den Worten des Händlers gefolgt. Jetzt begriff er alles. Und die Gedanken, die jetzt blitzschnell sein Hirn durchkreuzten, waren auch für seine stählernen Nerven zu viel. Jetzt wußte er, welcher entsetzlichen Lebensgefahr er entronnen war. Mehrmals wechselte er die Farbe, stierte den Italiener aus weit aufgerissenen Augen an und preßte endlich heiser hervor:
„Der Ring ist vergiftet?! — So antworten Sie doch!“
Bragenza nickte scheu. Da erhob sich Axel fast taumelnd, ging zum Tische und stürzte mehrere Gläser von dem feurigen Wein hinunter. Aber beim Einschenken zitterte seine Hand derart, daß ein großer Teil auf die Decke floß. Dann ließ er sich wieder schwer auf den Diwan fallen.
„Erzählen Sie weiter!“ sagte er mühsam. „Ist Lady Warngate wirklich gestorben?“
„Ja, Herr Graf, — meine Ahnung bestätigte sich leider. Die Dame ist nicht wieder zu sich gekommen, Ein Herzschlag, hat der Arzt gemeint, zu dem sie hingebracht worden war. Und alle Welt hat an diesen Herzschlag geglaubt, — alle Welt, nur ich nicht! Denn ich hatte inzwischen den Wappenring vorsichtig untersucht und dabei festgestellt, daß mein Verdacht richtig gewesen. Geben Sie mir den Ring, Herr Graf, und ich will Ihnen die teuflische Einrichtung zeigen, mit der man morden kann, ohne je eine Entdeckung fürchten zu müssen.“
Als Axel ihm mit äußerster Vorsicht das gefährliche Instrument gezeigt hatte, fuhr Bragenza erklärend fort:
„Sie sehen hier unter dem Wappenstein in dem Golde zwei feine Löcher, Herr Graf. Wenn ich nun auf den Topas, der für gewöhnlich durch eine kleine, unsichtbare Feder gegen die Fassung gepreßt wird, leicht drücke, so dringen aus diesen Öffnungen zwei dünne Nadeln hervor, — da, gegen das Licht können Sie dieselben deutlich bemerken. Hört der auf den Stein ausgeübte Druck auf, so gleiten auch die Nadeln wieder zurück, die mit einem beinahe augenblicklich wirkenden Gifte umgeben sein müssen. — Das ist das furchtbare Geheimnis, Herr Graf! Und jeder, der den Ring überstreift und dann den Topas berührt oder mit ihm irgendwo anstößt, wird ahnungslos ein Opfer dieser unheimlichen Mordwaffe, indem sich die vergifteten Spitzen in seinen Finger bohren. Niemand kennt dieses Geheimnis, niemand! Selbst meiner Frau habe ich es verschwiegen. Und nun werden Sie auch begreifen, weshalb ich in solcher Angst zu Ihnen geeilt kam, weshalb ich so flehentlich den Wappenring zurückerbat! Zwei blühende Menschenleben hat er bereits vernichtet. Ich konnte es nicht verhindern! Aber Sie wollte ich retten um jeden Preis! Denn kaum war ich erwacht, und kaum hatte meine Frau mir erzählt, daß der Ring Ihr Eigentum geworden, da habe ich mich trotz meiner Schwäche selbst aufgemacht, um weiteres Unheil zu verhüten. Und wenn ich zuerst noch Ausflüchte vorbrachte und Sie zu belügen versuchte, so tat ich es nur aus Furcht, daß Sie mich den Behörden, der Polizei verraten könnten. Die Strafgesetze sind so dehnbar, Herr Graf, und vielleicht hätte man mich trotz meines völlig reinen Gewissens unter Anklage wegen fahrlässiger Tötung gestellt! Es handelte sich ja um eine vornehme Engländerin und einen reichen Amerikaner, und da ist man schneller bereit, eine lange Untersuchung anzustellen, die selbst, wenn ich nachher freigesprochen worden wäre, mein Geschäft vernichtet und meine Familie der bittersten Not ausgesetzt hätte.
Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe, Herr Graf. Zu meiner Verteidigung will ich nur noch erwähnen, daß ich damals nach dem zweiten Todesfall in meinem Laden zuerst die Absicht hatte, den Ring in den Tiber zu werfen ober irgendwo zu vergraben. Wenn ich es nicht tat, so hinderte mich — ich gestehe es unumwunden ein — nur die Gewinnsucht, besser die Hoffnung auf einen Verdienst daran. Ich wollte den Ring einige Jahre liegen lassen und ihn dann, wenn niemand mehr an die beiden Unfälle in meinem Geschäft dachte, einem Goldschmied anvertrauen, der die vergifteten Spitzen herausnehmen sollte. So hätte ich ihm ja mit ruhigem Gewissen veräußern können. Daß meine Frau ihn jetzt, wo es uns so schlecht geht, trotz meines strengen Verbots vorsuchte, Herr Graf, werden Sie mir nicht zum Vorwurf machen! Glauben Sie mir, die Angst, die ich soeben auf dem Wege zu Ihnen und hier in diesem Zimmer ausgestanden habe, ist Strafe genug für die Unvorsichtigkeit, den Teufelsring nicht vernichtet zu haben. — Und jetzt, Herr Graf, werden Sie wohl selbst in den Rückkauf willigen, nicht wahr?“
Axel Kaisenberg hatte schon längst die Herrschaft über seine Nerven wiedererlangt, und auch in sein Gesicht war die Farbe zurückgekehrt, Aber eine plötzlich in ihm aufgetauchte Idee schien seine Gedanken so völlig in Anspruch zu nehmen, daß er darüber eine Antwort völlig vergaß. Nachdenklich, mit halb zusammengekniffenen Augen starrte er mehrere Minuten lang vor sich hin auf das bunte Muster des Teppichs, während in seinem Antlitz nur die dünnen Lippen bisweilen zuckten. Und der kleine Antiquitätenhändler ahnte nicht, welche Pläne das Geheimnis des Wappenringes in der Brust des Grafen wieder hatte erstehen lassen, — Pläne, die die Habsucht, die Aussicht auf ein reiches Majorat den verkommenen Abenteurer und Spieler immer fester formen ließ.
Plötzlich schaute Axel wieder auf, fuhr sich zerstreut mit der Hand über die Stirn und sagte mit einem verzerrten Lächeln, für das Ernesto Bragenza keine rechte Erklärung fand:
„Nehmen Sie Ihr Geld nur wieder mit. Ich werde den gefährlichen Mechanismus aus dem Ringe entfernen lassen, sobald ich in meine Heimat zurückgekehrt bin. Er soll niemanden mehr schaden, glauben Sie mir! Und auf diese Weise sind Sie den Wappenring auch für immer los.“
Der Händler wollte noch Einwendungen machen, aber Axel schob ihn einfach zur Tür hinaus, nachdem er ihm das Geldbeutelchen wieder in die Hand gedrückt hatte. —
Schloß Waldburg, das dem Baron v. Alten, dem Schwiegervater des Grafen Arthur Kaisenberg gehörte und von Kaisenberg kaum zwei Meilen entfernt war, hatte der Urahne des jetzigen Besitzers aus einer trotzigen Raubburg zu einem bequemen Wohnsitz umbauen lassen, dessen hohe Fenster die weiten Räume jetzt mit einer Flut von Licht versahen und dem Bauwerk das Unfreundliche, Düstere benahmen. Dabei war der der Charakter der früheren Ritterfeste nach Möglichkeit gewahrt worden. So hatte man an der Ostseite den Burggraben nicht abgelassen, ihn vielmehr zu einem Weiher verbreitert, der mit seinem von Seerosen und Schilf halbverdeckten Wasserspiegel die dicken Grundmauern bespülte.
Es war wenige Tage vor der Hochzeit. Auf Schloß Waldburg hatten sich bereits die ersten Gäste eingefunden, darunter auch Professor Heinz Hagen, der an der Landesuniversität den Lehrstuhl für Archäologie innehatte und seit Jahren mit Graf Arthur eng befreundet war.
Den beiden ungefähr gleichaltrigen Männern, die zunächst nur dieselbe Vorliebe für das Studium der bildenden Künste und der Kunstgewerbe früherer Epochen zusammengeführt hatte, war halb bei den häufigen Begegnungen in der Gesellschaft für Archäologie, der sie als Mitglieder angehörten, und dem steten Gedankenaustausch über fachwissenschaftliche Fragen auch die volle Schätzung für die gegenseitigen Herzenseigenschaften aufgegangen und hatte zu einer wirklich selten innigen Freundschaft geführt. Professor Hagen gereichte aber auch mit seiner eleganten Figur, dem sicheren, weltmännischen Auftreten und dem durchgeistigten, von einem blonden Spitzbart umrahmten Gesicht jedem Salon zur Zierde. Er war eine jener glücklichen Naturen, die sich spielend leicht in die verschiedensten Lebensverhältnisse hineinzufinden verstehen und sich überall nützlich zu machen wissen, ohne dabei aufdringlich zu erscheinen. So hatte er denn auch einen großen Teil der mannigfachen Vorbereitungen für die Hochzeit des Freundes übernommen, hatte mit der Baronin von Alten lange geheime Konferenzen gehabt und war in der letzten Zeit beinahe Spezialist für den Verkehr mit allerhand Lieferanten geworden. Und da er während der großen Universitäts-Sommerferien diesem neuartigen Vertrauensposten auch alle seine Kräfte widmen konnte, so hatte er seine Aufträge zur vollsten Zufriedenheit der Baronin erledigt, die sich so nebenbei und ganz im geheimen die größte Mühe gab, den für die Ehe so wunderbar talentierten, aber leider ebenso hartgesottenen Junggesellen mit einer passenden Lebensgefährtin zu versehen, was ihr jedoch schwerlich gelingen sollte, weil Heinz Hagen für seine goldene Freiheit nur zu sehr fürchtete und sich jungen Damen gegenüber daher stets als verschrobenes Gelehrtenoriginal aufspielte, während er doch in Wirklichkeit der liebenswürdigste und genußfreudigste Mensch von der Welt war. Jetzt verlebte er auf Schloß Waldburg einige Ruhetage, bevor die Hochzeit wieder mit ihren allerhand Anforderungen an sein Festordnertalent herantrat. Aber zu einer rechten Erholung sollten auch diese Tage für ihn nicht werden. Man brauchte ihm eben überall, überall… Bald mußte er sein Gutachten über die Neudekoration des Speisesaales abgeben, bald jagte ihn Baron von Alten mit der Bitte auf, doch einmal die Anordnung der Palmen um den Altar in der kleinen Schloßkapelle auszuprobieren.
Soeben hatte nun an diesem so wunderbar klaren Septembervormittag einen weiten Spaziergang durch die sich bereits herbstlich färbenden Wälder unternehmen wollen, als er in der Ahnengalerie gerade vor dem Bilde des Herrn Melchior von Alten der Braut des Freundes begegnete, die sich sofort schmeichelnd in seinen Arm hing. „Lieber guter Professor,“ bat sie mit einem flehenden Blick, „Sie müssen uns helfen. Arthur ist vor wenigen Minuten mit dem Jagdwagen angekommen, und wir wollen nun zusammen auf Mamas Wunsch die Hochzeitsgeschenke auspacken. Und ohne Ihren Beistand geht das wirtlich nicht. Sie haben zu allem eine so geschickte Hand!“
Hagen wurde der Verzicht auf den beabsichtigten Ausflug recht schwer. Aber dennoch begleitete er die Baronesse — mit heimlichem Seufzer allerdings — in das große Bibliothekszimmer, in dem eine Unmenge von Kisten und Paketen in allen Größen aufgespeichert war. Das Bibliothekszimmer lag im Ostflügel des Schlosses, und seine drei Fenster gingen auf den alten, jetzt zu einem Weiher umgestalteten Burggraben hinaus. Sie standen weit offen und ein leichter Wind trug den kräftigen Erdgeruch von dem nahen Park bis in das weite Gemach hinein. Mit Lachen und Scherzen wurde die Arbeit des Auspackens begonnen, bei der allerdings Graf Kaisenberg nur den vergnügten Zuschauer machte, indem er erklärte, daß sich unter seinen Fingern gerade die teuersten Kaffee- und Teeservice und ähnliche leicht zu verbiegende Sachen unfehlbar in Scherben verwandeln würden. Man ließ ihm daher auch unbelästigt in der Ecke des hohen Paneelsofas sitzen und gab sich mit seinen kritischen, meist recht humorvollen Bemerkungen über die einzelnen Geschenke zufrieden. Baronesse Marga, der man ihre dreißig Jahre kaum ansah, wickelte dafür aber mit desto größerem Eifer und freudig geröteten Wangen all die kostbaren Tafelaufsätze, Bilder usw. aus den vielfachen Hüllen, und stellte sie auf den breiten Mitteltisch in die richtige Beleuchtung, während Hagen, der geschickt mit Hammer und Zange die Deckel von den Kisten löste, ihr die Gegenstände aus ihren Lagern von weicher Holzwolle zureichte.
Soeben hatte der Professor ein neues Paket in Angriff genommen und wandte sich jetzt, während ein besonders widerspenstiger Nagel sich quietschend gegen die Zange wehrte, an den Majoratsherrn: „Arthur, hier haben wir sogar etwas aus dem schönen Italien, aus Verona! Vorhin war auch schon Spanien vertreten, — da wird dann wohl das nächste Geschenk von einem schwarzen Fürsten aus Afrika sein…“
„Aus Verona?“ meinte Graf Kaisenberg erstaunt. „Ich wüßte nicht, daß ich dort Verwandte oder Bekannte habe. Aber vielleicht lebt dort ein Mitglied deiner Familie, Schatz?“ fragte er seine Braut, die neugierig zu Hagen an den Tisch getreten war. Doch auch Komtesse Marga verneinte. Inzwischen hatte der Professor die schwere Holzkiste glücklich geöffnet und reichte jetzt dem Freunde einen Brief hin, der obenauf gelegen hatte und in steilen, großen Schriftzügen des Majoratsherrn Adresse trug. Kaum erblickte dieser die auffallenden Buchstaben, als sich sein bisher so frohes Gesicht plötzlich verdüsterte und er mit leicht gereizter Stimme wie zu sich selber sprechend sagte:
„So so, — in Verona hält sich mein Herr Stiefbruder auf! Deshalb also erhielt ich bisher auch nicht eine Zeile von ihm, seitdem er Schloß Kaisenberg verlassen hat. Ich bin nur neugierig, wie er diese Verzögerung seiner Abreise nach Amerika wieder entschuldigt.“
Hagen und Komtesse Marga tauschten heimlich einen schnellen Blick aus. Sie verstanden sich. Beide kannten Axels Vergangenheit nur zu gut und bedauerten es von Herzen, daß Graf Arthurs heitere Stimmung durch diese Erinnerung an den Stiefbruder gestört wurde. Sie waren jedoch zartfühlend genug, ihre Gedanken zu verschweigen und hoben jetzt mit vereinten Kräften den recht schweren Gegenstand aus der Kiste heraus. Nachdem dann die vielfache Packpapierumhüllung entfernt war, kam eine altertümliche kupferne Truhe zum Vorschein, die sofort des Professors ganzes Interesse in Anspruch nahm. Er besichtigte sie von allen Seiten, prüfte die eingelegte Arbeit und nickte dazu sehr anerkennend mit dem Kopf. Nur einen Moment stutzte er, als er auf dem Boden der Truhe ein kleines Papierschildchen aufgeklebt fand, auf dem merkwürdigerweise „Ernesto Bragenza, Antiquitätenhändler, Rom, Via Liguria“ stand. Danach schien sie also nicht in Verona, von wo sie weggeschickt war, sondern in Rom gekauft zu sein. Doch er maß dieser Entdeckung weiter keine Bedeutung bei und hielt sie auch kaum für erwähnenswert.
Inzwischen hatte Graf Arthur das Schreiben schnell überflogen. Als er jetzt die Hand mit dem Brief sinken ließ, waren seine Züge wieder weich geworben und um seinen Mund spielte ein freudiges Lächeln.
„Armer Axel!“ sagte er ganz gerührt und erhob sich langsam. „Er ist doch ein guter Junge trotz seines Leichtsinns, Hört, was er mir schreibt:
„Du wirst es mir nicht verargen, lieber Bruder, daß ich den Rest meines Urlaubs noch zu einem kleinen Abstecher nach Italien benutzt habe. Ich bin billig gereist, sehr billig und… wenig standesgemäß. Doch — wie kann ich von Standesbewußtsein sprechen, da ich mir ja die bevorzugte Lebensstellung durch eigene Schuld verscherzt habe. — Genug davon. Ich will Dich nicht mit den Ergüssen meines reuigen Herzens langweilen, will nur noch zu Deiner Beruhigung erwähnen, daß ich jedes Glücksspiel ängstlich gemieden habe. Wenn Du diesen Brief erhältst, schwimme ich schon wieder auf dem Ozean, traurig, daß ich der Heimat den Rücken kehren muß und wiederum auch beseelt von neuen Hoffnungen, neuem Unternehmungsgeist, die Dein großmütiges Darlehen in mir geweckt hat. Um Dir nun ein wenig meine aufrichtige Dankbarkeit zu beweisen, sende ich Dir eine Truhe, die ich zufällig hier in Verona bei einem Händler entdeckte. In der Truhe findest Du in einem Holzkästchen einen alten Wappenring, den ich in demselben Antiquitätenladen erstanden. Ich bitte Dich herzlich: Trage ihn zum Andenken an Deinen Stiefbruder, der an Deinem Hochzeitstage Deiner in stiller Wehmut gedenken wird und Dir und Marga von Alten nochmals alles, alles Gute für die Zukunft wünscht.
Dein Axel.“
Professor Hagen war kein Wort entgangen. Der Brief erschien ihm zu süßlich, zu unaufrichtig. Und plötzlich fiel ihm noch ein, daß er vor wenigen Tagen in der Hauptstadt einen Kollegen gesprochen hatte, der die Familie Kaisenberg ebenfalls sehr gut kannte. Und dieser wußte ihm von Axel Dinge zu erzählen, die sich mit den Angaben in dem Brief durchaus nicht deckten. Geheimrat Wilmers hatte den jüngsten Kaisenberg nämlich in Monte Carlo am Spieltisch beobachtet und gesehen, wie dieser in kurzer Zeit Unsummen verlor. — Dies schoß Hagen plötzlich durch den Kopf. Und zugleich bemächtigte sich seiner ein Gefühl des Mißtrauens, eine argwöhnische Regung, von deren Grundlosigkeit er überzeugt war und die er doch nicht loswerden konnte. Während diese Gedanken ihn beschäftigten, hatte er den Deckel der Truhe aufgeklappt und das Holzkästchen, in dem sich der Wappenring befinden sollte, herausgenommen. Er öffnete es und reichte es nach einem flüchtigen Blick auf das Schmuckstück dem Majoratsherrn hin. Neugierig nahm dieser den Ring heraus und betrachtete aufmerksam das Wappen, dessen Zeichnung sich von dem gelben Topas so deutlich abhob. Dann rief er freudig erstaunt aus und hielt dabei Hagen den Ring entgegen:
„Heinz, wahrhaftig, — das ist das Wappen der Borgia! Damit hat mir Axel wirklich eine große Freude gemacht. Wir haben hier fraglos eine große Seltenheit vor uns.“
Der Professor war bei diesen Worten anscheinend erschreckt aufgefahren, nahm sich aber schnell zusammen und trat nun, indem er den Ring vorsichtig zwischen den Fingerspitzen anfaßte, an das offene Fenster, als ob er ihn in dem hellen Licht genauer untersuchen wollte. Plötzlich stieß er einen leisen Schreckensruf aus und beugte sich weit über die Fensterbrüstung vor. Als er sich dann wieder umwandte, malte sich in seinem Gesicht deutlich eine tödliche Verlegenheit.
„Arthur — bitte, sei mir nicht böse,“ meinte er verwirrt. „Ich bin ungeschickt gewesen. Der Ring ist mir entglitten und unten in den Weiher gefallen. Wir werden ihn aber sicherlich mit einem großen, engmaschigen Netz wieder herausfischen können. Ich habe mir die Stelle genau gemerkt, wo er verschwand. Nochmals — verzeih! Du kannst dir denken, wie unangenehm mir die Sache ist…“
Doch der Majoratsherr wußte mit seiner lieben Art den Freund bald zu beruhigen. Nur Baronesse Marga blieb sichtlich verstimmt, und während man dann schnell die letzten Kisten entleerte, traf ihr prüfender Blick mehr wie einmal des Professors ernstes Gesicht. Ziemlich bedrückter Laune wurde die Arbeit vollendet, und nachher begaben sich die Herren sofort in die Wohnung des Schloßgärtners, damit die Suche nach dem Ringe ungesäumt aufgenommen werden sollte. Aber trotz stundenlanger, sehr sorgfältiger Bemühungen konnte man den Wappenring der Borgia nicht finden. Der Grund des Weihers war moderig und auch die dichten Schlingpflanzen hinderten den Gebrauch des großen Rahmennetzes, mit dem man unter dem Fenster des Bibliothekszimmers den einstigen Burggraben durchwühlte. Endlich gab man die Hoffnung auf, das seltene Schmuckstück zurückzuerlangen.
Als aber Baronesse Marga an demselben Tage dem Professor allein auf der Terrasse begegnete, trat sie dicht an ihn heran und sagte schneidend:
„Ich glaube, Herr Professor, den Ring müßte man anderswo suchen! Es soll Gelehrte geben, die als leidenschaftlicher Sammler von Altertümern sich nicht scheuen, ihnen wertvoll dünkende und auf andere Art unerreichbare Gegenstände durch ein geschicktes Manöver an sich zu bringen.“
Damit ließ sie ihn stehen und schritt stolz erhobenen Hauptes die Treppe zum Park hinab. Hagen war bei ihrem Worten leicht zusammengezuckt, und fast schien es, als ob er ihr nacheilen wollte. Doch er bezwang sich und schaute ihr nur mit einem wehmütigen Lächeln nach, Baronesse Margas Benehmen ihm gegenüber blieb aber fortan so kühl und ablehnend, daß es dem Majoratsherrn sehr bald auffiel. Aber umsonst fragte dieser sie nach der Ursache ihrer plötzlichen Verstimmung. Sie wich einer direkten Antwort aus, und nur am Polterabend meinte sie zu ihrem heute besonders so glückstrahlenden Verlobten, indem sie ihn liebevoll umschlang: „Wie freue ich mich jetzt, daß ich dir nichts von meiner Beobachtung erzählt habe! Ich hätte dir ja sicherlich damit für lange Wochen jede Heiterkeit zerstört, Arthur. Denn einen langjährigen Freund verlieren bedeutet wohl für jeden tief veranlagten Menschen einen schweren Verlust. Bitte, dringe nicht weiter in mich. Vielleicht erfährst du nach der Hochzeit mehr von mir.“ Und mit einem langen, heißen Kuß verschloß sie ihm die neugierigen Lippen.
Vierzehn Tage später, — das junge Paar weilte gerade auf der Hochzeitsreise in Venedig — erhielt Graf Arthur Kaisenberg von dem Konsulat in Nizza die Nachricht, daß sich sein Stiefbruder Axel dort nach Verübung mehrerer Betrügereien erschossen habe, um sich seiner drohenden Verhaftung zu entziehen. Die amtliche Mitteilung war erst auf verschiedenen Umwegen in des Majoratsherrn Hände gelangt, und inzwischen müßten die Überreste des jüngsten Kaisenberg längst in der Ecke irgendeines Friedhofs bestattet worden sein. Graf Arthur war von dieser Kunde völlig niedergeschmettert. Erst langsam begriff er, daß Axel, von dem er seit jenem Briefe zu seiner Hochzeit nichts mehr gehört hatte, ihn in der schändlichsten Weise in dem anscheinend so tiefempfundenen Schreiben aus Verona belogen haben mußte. Vergebens bot die junge Frau ihre ganze Zärtlichkeit auf, um ihn zu trösten. Der Majoratsherr vermochte den demütigenden Gedanken, daß ein Kaisenberg zum Verbrecher herabgesunken war, nicht so schnell zu überwinden. Während die beiden Gatten noch traurig und in bedrücktem Schweigen auf dem Balkon ihres Hauses saßen, wurde Graf Arthur von dem Kellner eine Karte überreicht, bei deren Anblick über des Majoratsherrn verstörtes Gesicht ein heller Freudenschimmer flog.
„Denk dir, Margo, wer sich hier eben anmeldet?“ sagte er froh erstaunt. „Heinz Hagen ist’s, mein alter Heinz. Wir werden ihn doch annehmen, nicht wahr?“ setzte er schnell hinzu, als er bemerkte, daß, sich ihre Stirn ärgerlich zusammenzog. Die junge Frau bedeutete dem Kellner, erst im dem Salon auf Antwort zu warten, bevor sie sehr ernst erwiderte:
„Es tut mir leid, Arthur, daß ich der schmerzlichen Nachricht über Axels Ende noch eine neue Enttäuschung hinzufügen muß. Der Professor ist jedoch deiner Freundschaft nicht wert. Damals, als ihm angeblich der Wappenring der Borgia aus dem Fenster des Bibliothekszimmers in den Weiher fiel, stand ich so hinter ihm, daß ich sein Profil in dem offenen Fensterflügel wie in einem Spiegel ganz deutlich sehen konnte, was er tat. Und da habe ich leider bemerkt, daß er den Ring mit einer hastigen Bewegung in die Westentasche steckte, bevor er sich mit so gut geheuchelter Verlegenheit uns wieder zuwandte. Hagen ist eben einer jener leidenschaftlichen Sammler von Altertümern, die gegebenen Falles selbst vor einem Diebstahl nicht zurückschrecken.
Nun wirst du dir auch mein verändertes Benehmen ihm gegenüber erklären können. Und wenn ich bisher geschwiegen habe, so geschah es nur aus Rücksicht auf dein leicht empfindliches Herz. Ich wollte uns eben die Seligkeit der Hochzeit und der Flitterwochen nicht trüben. Hiernach wirst du selbst es wohl für am richtigsten halten, wenn wir auf Hagens Besuch unter irgend einem Vorwand verzichten. Denn daß meine Augen sich damals in dem Bibliothekszimmer auf Schloß Waldburg getäuscht haben, ist — —“
„… ausgeschlossen, vollkommen ausgeschlossen!“ vollendete plötzlich eine tiefe Männerstimme. Zwischen den Portieren der Balkontür stand der Professor, und um seinen Mund spielte ein leises Lächeln. Mit tiefer Verbeugung näherte er sich dann der Gräfin und streckte ihr freimütig die Hand hin.
„Gnädigste Gräfin, schlagen Sie ein! Es ist wirklich nicht die Hand eines Diebes, in die Sie Ihre zarten Finger legen sollen. Gewiß — Sie haben damals richtig gesehen —, ich verbarg den Ring in meiner Westentasche. Aber ich hatte meine schwerwiegenden Gründe dazu, sehr schwerwiegende Gründe, die mich und mein Verhalten rechtfertigen werden. Verzeihen Sie auch mein formloses Eindringen hier… Doch ich ahnte, daß Sie mich nicht vorlassen würden, da ich Ihre Worte auf der Terrasse von Waldburg mir sehr gut zu deuten wußte, Und ich war es meiner alten Freundschaft mit Arthur schuldig, endlich einen Vorfall aufzuklären, der in ihm berechtigte Zweifel über meine Ehrenhaftigkeit hätte hervorrufen können.“
Das alles klang so ungekünstelt wahr und herzlich, daß Marga Kaisenberg ihm jetzt ebenfalls ihre schmale Hand hinreichte und leicht verwirrt den alten Bekannten mit einigen freundlichen Worten begrüßte. Am erfreutesten über diese glückliche Wendung war jedoch Graf Arthur, der in seinem Innern auch nicht einen Augenblick an dem Freunde irre geworden war und sofort irgendein Mißverständnis vermutet hatte. Und um dem Professor sofort zu beweisen, daß er noch das frühere Vertrauen in ihn setze, erzählte er ihm, nachdem sie kaum wieder Platz genommen hatten, das wenige, was er von seines Stiefbruders Tod wußte.
„Ich habe schon immer gefürchtet,“ meinte Hagen dann ernst, „daß es mit Axel ein trauriges Ende nehmen würde. Aber glaube mir Arthur, er ist es nicht wert, auch nur einen Gedanken des Bedauerns seinem verfehlten Leben zu widmen. Denn das, was ich deiner Frau und dir jetzt berichten will, hängt leider ebenfalls nur zu sehr mit deines Stiefbruders Person zusammen, liefert einen weiteren Beweis, daß er ein gänzlich verderbter Charakter war. — Bevor ich jedoch beginne, muß ich für Sie, gnädigste Gräfin, noch einige Bemerkungen vorausschicken, damit Sie das Weitere in seiner ganzen Tragweite verstehen können. Wie Sie vielleicht wissen, habe ich mich hauptsächlich mit dem Studium des fünfzehnten Jahrhunderts der Geschichte Italiens beschäftigt, jener Epoche, in der trotz der politischen Zersplitterung auf der Apenninenhalbinsel Gewerbe und Kunstfleiß sich entfalteten und mitten unter den Wirren und Kämpfen sich die Kultur der Renaissance zu herrlicher Blüte geistigen Lebens und Schaffens entwickelte, in der aber auch die gegenseitige Eifersucht der Machthaber, Geldgier und Herrschsucht Charaktere bildete, die mit Gift und Dolch ihren Zielen nachstrebten, Charaktere wie z. B. Cesare Borgia, Herzog von Valence, der unter anderen Freveltaten auch seinen eigenen Bruder und seinen Schwager, den Gatten der ebenso berüchtigten Lucretia Borgia, ermordete und für seine Zwecke die teuflischst ersonnenen Mittel und Instrumente benutzte. In meinem umfangreichen Werk über die Familie Borgia finden Sie nun auch einen Ring erwähnt, den Cesare Borgia nach den Aufzeichnungen des Abtes Feriora, des besten Kenners jenes Abschnittes italienischen Kulturlebens, bei einem Goldschmied in Rom nach eigenen Angaben fertigen ließ und der mit einem Mechanismus versehen war, durch den der Träger des Ringes unfehlbar vergiftet wurde. Welche Schandtaten mit Hilfe dieses von dem Abte Feriora genau beschriebenen tödlichen Mordwerkzeugs begangen sind, hat die Geschichtsforschung nicht mehr nachweisen können. Der Ring, welcher das in einen Topas eingeschnittene Wappen der Familie Borgia zeigte, blieb dann mehrere Jahrhunderte lang verschwunden. Ich selbst sollte ihn zum erstenmal an jenem Tage sehen, als wir auf Schloß Waldburg die Hochzeitsgeschenke auspackten, erkannte ihn aber nach Ferioras Beschreibung sofort an der eigenartigen Form und Fassung der Steine wieder. Ich hätte jedoch wohl kaum irgendeinen Argwohn geweckt, wenn nicht schon vorher verschiedene auffällige Umstände stutzig gemacht haben würden. Zunächst enthielt nämlich Axels für meinen Geschmack viel zu gekünstelter und auf bloßes Stimmungmachen berechneter Brief eine bewußte Lüge. Denn von Geheimrat Wilmers hatte ich erfahren, daß dein Stiefbruder, lieber Arthur, in Monte Carlo wie ein Unsinniger gespielt und stets verloren hatte. Und damals schrieb er dir doch mit größter Aufrichtigkeit, daß er keine Karte angerührt habe. Weiter wollte er dann die Truhe und den Ring in Verona gekauft haben, was aber gar nicht zu dem kleinen Firmenschildchen stimmte, das ich am Boden der Truhe aufgeklebt fand und das von Axel sicherlich übersehen worden war. Dieses trug nicht die Adresse eines Veronesers, sondern die eines Antiquitätenhändlers aus Rom. Durch diese Beobachtungen war bereits ein unbestimmtes Mißtrauen in mir rege geworden. Als ich dann am Fenster des Bibliothekszimmers stand und sah, daß ich tatsächlich den berüchtigten Giftring der Borgia in der Hand hielt, reichte sich blitzschnell in meinem Hirn eine lange Kette von Kombinationen aneinander. Du hattest mir erzählt, daß Axel die Nachricht von deiner bevorstehenden Heirat mit auffallendem Gleichmut entgegennahm, trotzdem für ihn dadurch jede Hoffnung auf den einstigen Erwerb des Majorats erlosch, zu der er durch deine anfänglich so schwere Erkrankung einigermaßen berechtigt war. Diese Gelassenheit wollte mir nie ganz echt erscheinen, besonders da ich seine Charakterveranlagung genau kannte, jedenfalls genauer als du selbst, der niemandem so leicht etwas Schlechtes annehmen mag. Hieran erinnerte ich mich plötzlich, und notwendig sprangen meine Gedanken dann zu jenen Unwahrheiten über, die deines Stiefbruders Brief offenbart hatten. Jetzt glaubte ich an seine angebliche Besserung, seine reuevolle Einkehr nicht weiter. Und dem gewissenlosen Lügner, dem, der sein Ehrenwort, nicht mehr zu spielen, so leichtsinnig brach, besonders aber dem federgewandten Heuchler, der dein Mitleid durch tönende Phrasen wecken wollte, durfte ich auch eine noch größere Schurkerei zutrauen — eben den Versuch, dich durch den Giftring noch vor der Hochzeit zu beseitigen und dadurch in den Besitz der Kaisenbergschen Güter zu gelangen.“
Aus des Majoratsherrn Gesicht war jeder Blutstropfen gewichen.
Schwer atmend lehnte er jetzt in dem bequemen Korbstuhl, während seine junge Frau, die neben ihm saß, ihn wie schützend umfangen hielt.
„Unmöglich, Heinz — unmöglich!“ stöhnte er auf. „Du mußt dich irren! Denn das… das wäre ja gar nicht auszudenken… der einzige Bruder… derartige Absichten…“
„Und doch ist es so! fuhr Hagen traurig fort. „Wir, die wir stets aufrechten Hauptes in dem Bewußtsein unserer untadeligen Gesinnung durch das Leben gegangen sind, ahnen nicht, welche Abgründe sich in der Seele eines Menschen auftun können, der einmal erst von dem geraden Wege abgewichen ist. Vom Spieler zum Verbrecher ist nur ein kurzer Schritt, das lehrt uns die Kriminalstatistik aller Länder. Und so war’s auch mit Axel. Ein Zufall spielte ihm den Giftring in die Hände, und schon erstand in ihm der ungeheuerliche Plan, diesen Zufall für seine Zwecke auszunutzen. Er schickte dir den Ring als Hochzeitsgeschenk, bat dich denselben zum Andenken zu tragen, schrieb kaltblütig diese Worte nieder, die in Wahrheit dein Todesurteil werden sollten — sollten! Daß es nicht geschah, hat eine höhere Macht verhindert. Gerade ich, einer der wenigen, die das Geheimnis des Wappenringes kannten, mußte ihn zu Gesicht bekommen, mußte sofort den eigentlichen Zweck dieses Geschenkes durchschauen. Und schnell entschlossen ließ ich ihn in meiner Westentasche verschwinden, erfand ebenso glücklich die Ausrede, daß er in den Weiher gefallen sei. Du glaubtest an dieses Märchen, ahntest den wahren Sachverhalt nicht. Doch deine Gemahlin hatte mich beobachtet. Und damals gnädigste Gräfin, als Sie so erzürnt auf der Terrasse in Waldburg vor mir standen, da fehlte nicht viel, und ich hätte mein Geheimnis preisgegeben. Daß ich schwieg und ruhig Ihre Verachtung weiter trug, geschah aus denselben Gründen, die mich schon vorher dazu bestimmt hatten, den Ring heimlich an mich zu nehmen. Denn sage selbst, Arthur —, wäre dir nicht jeder Frohsinn, jede freudige Erwartung für deinen Hochzeitstag genommen worden, wenn ich Dir damals sofort in der Bibliothek meinen Verdacht mitgeteilt, dir auch bewiesen hätte, daß das Gift in dem Ringe noch seine volle Wirksamkeit besaß? — Den Gedanken, von einem Menschen, der deinen Namen trägt und dem du nur Gutes getan hast, mit so schnödem Undank behandelt zu sein, wärest du so bald nicht losgeworden. Er hätte die erste Zeit deines Eheglücks mit dunkeln Schatten verdüstert, hätte dir sicherlich die jetzt reine, selige Erinnerung an deinen Vermählungstag getrübt. Und das durfte ich als dein Freund nicht zulassen. Ich habe es verhindert, nahm mir jedoch zugleich vor, dich später in alles einzuweihen, einmal um dir über deinen Stiefbruder die Augen zu öffnen und dann auch, um mich von dem Verdacht zu reinigen, daß ich den Ring — stehlen wollte. — Gnädigste Gräfin, Sie brauchen mich nicht so unter Tränen um Verzeihung bittend anzusehen. Ich habe Ihnen diesen Verdacht auch nicht einen Augenblick verargt. Wie sollten Sie auch die Motive meines Handelns begreifen, da der Wappenring für Sie nichts anderes war, als eine wertvolle Antiquität? Sie konnten sich aus Ihrer Beobachtung nur eine Meinung bilden, eben die, bei der ich am schlechtesten wegkam. — Doch ich muß zu Ende kommen, will mich kurz fassen, um endlich dieses unerquickliche Thema zu erledigen. Nach deiner Hochzeit, Arthur, reiste ich sofort nach Rom, um dieser mysteriösen Ringgeschichte auf die Spur zu kommen. Ich wollte versuchen, festzustellen wo Axel den Borgia-Ring aufgestöbert hatte, wollte nebenbei auch zusehen, ob ich nicht herausbringen könnte, in wessen Händen das gefährliche Schmuckstück sich die letzten Jahrhunderte über befunden hatte. Das wäre jedenfalls eine wertvolle Bereicherung für mein Werk über die Familie Borgia gewesen. Ich sage: wäre! Denn diese meine Erwartungen wurden nicht erfüllt. Dafür erfuhr ich aber von jenem Händler in Rom, dessen Adresse ich unten auf dem Boden der Truhe gefunden hatte und den ich natürlich zuerst aufsuchte, so mancherlei, was mir nur zu sehr bewies, wie so begründet mein Verdacht gegen den Axel gewesen war. Der Händler wollte zunächst nicht recht mit der Sprache herausrücken, leugnete sogar, jemals eine Truhe, wie ich sie ihm beschrieb, besessen zu haben. Ich merkte sofort, daß der Mann, der auffällig ängstlich und verschüchtert war, mich belügen wollte. Und um mich nicht lange mit dem aalglatten Italiener aufzuhalten, wandte ich ein Mittel an, das seine Wirkung nicht verfehlte. Ich zeigte dem Antiquitätenhändler einfach den Ring und beobachtete dabei sein Mienenspiel. Der Erfolg war überraschend: er erbleichte, begann zu zittern. Das genügte mir. Er kannte also den Ring, und nun brauchte ich auch nicht länger zu bitten. bereitwillig erzählte er mir, daß Axel den Ring von ihm gekauft und ihm später dann auch das Geheimnis desselben abgepreßt habe.“
Hierauf berichtete der Professor dem entsetzt aufhorchenden Ehepaare, auf welche unheimliche Art der reiche Amerikaner und Lady Warngate in Ernesto Bragenzas Laden den Tod gefunden hatten.
„Axel wußte demnach,“ fuhr er sodann fort, „daß das Gift des Wappenringes durch die inzwischen verflossene Zeit nichts von seiner verderblichen Wirkung verloren hatte, wußte es und schickte dir, Arthur, trotzdem das furchtbare Mordinstrument mit der heuchlerischen Bitte, es zum Andenken an ihn zu tragen, wollte dich also beseitigen, beseitigen auf die heimtückischte Weise, die je das verbrecherische Hirn eines Menschen ersann. Nun, das Schicksal hat ihn inzwischen ereilt, er hat sich selbst gerichtet, nachdem er wahrscheinlich den Rest seines Geldes verspielt und dann vergeblich von Tag zu Tag auf die Nachricht deines Todes gewartet und damit auf die Reichtümer gehofft hatte, die ihm die Fortsetzung seines Spielerdaseins ermöglichen sollten.
Nach alledem, Arthur, mußt du Axels Namen aus deinem Gedächtnis auslöschen, als ob er nie gelebt hätte. Ich tue es gewiß. Nie wieder wird der entartete jüngste Kaisenberg von mir erwähnt werden.“
Ein Jahr später konnte Professor Hagen auf Schloß Kaisenberg einen kräftigen Stammhalter aus der Taufe heben, der ihm zu Ehren den Namen Heinz erhielt. Der Ring der Borgia aber, aus dem der gefährliche Mechanismus herausgenommen ist, gehört zu den wertvollsten Stücken jener Sammlung von Altertümern, die Graf Arthur in seinem Arbeitszimmer aufgestellt hat, und wird für das Kaisenbergsche Geschlecht ein stetes Wahrzeichen für das wunderbare Walten der göttlichen Vorsehung bleiben.
—Ende—
Anmerkung:
Die Novelle wurde, mit textlichen Anpassungen, von Walther Kabel vollständig in den Roman Der Ring der Bogia eingearbeitet; beginnend ab dem letzten Abschnitt Kapitel 7.