Argus-Kriminal-Bibliothek
Von
W. Kabel.
In dem Polizeibureau der ostpreußischen Mittelstadt Lanken saßen sich an einem stürmischen Oktoberabend zwei Männer gegenüber, von denen der eine soeben erst eine längere Reise zurückgelegt zu haben schien. Wenigstens ließen die neben ihm stehende lederne Handtasche mit aufgeschnalltem Stock und Schirm sowie sein Anzug – er trug einen langen wolligen Herbstulster – mit ziemlicher Sicherheit darauf schließen. Der andere in dem blauen Überrock mit goldenen Achselstücken war der Polizeiinspektor der Stadt, ein älterer, schon etwas bequemer Herr, der jetzt nach nachmaliger eingehender Musterung des späten Besuchers diesem herzlich die Hand hinstreckte.
„So heiße ich Sie denn bei uns willkommen, Herr Kriminalkommissar. Hoffentlich gelingt es Ihrer Erfahrung, den geheimnisvollen Dieb endlich unschädlich zu machen.“
Der Kommissar, der von Berlin aus besonders herübergekommen war, um eine Reihe geradezu unerklärlicher Einbruchsdiebstähle aufzudecken, zuckte leicht die Achseln.
„Vielleicht trauen Sie mir auch zu viel zu, Herr Inspektor. Sie müssen bedenken, daß mir das Terrain hier ganz unbekannt ist und sich mir schon deshalb allerlei Schwierigkeiten in den Weg stellen werden. Trotzdem – hoffen wir das Beste! – meine speziellen Wünsche haben Sie doch für alle Fälle erfüllt, nicht wahr?“
„Ganz genau. – Hier ist Ihre Einladung zu dem Maskenball, der heute beim Landrat von Oppen stattfindet. Sie lautet, wie Sie sehen, auf den Namen eines praktischen Arztes Dr. Gulling aus Königsberg. Mit dem Veranstalter des Festes habe ich alles Weitere ebenfalls sorgfältig besprochen. Sie werden als ein alter Studienfreund des Landrats in die Gesellschaft eingeführt werden. Einen Maskenanzug finden Sie in jenem Karton, den ich Ihnen nachher sofort unauffällig ins Hotel schicke.“
Kriminalkommissar Fehlhauser hatte die elegante Einladungskarte, auf deren Vorderseite ein tanzendes Paar, ein Harlekin und eine fesche Bäuerin, abgebildet war, in die Brusttasche seines Rockes gesteckt. Jetzt zog er seine Uhr hervor, ließ den Deckel springen und meinte, nachrechnend:
„Fünf Minuten nach acht. – Fünf Minuten brauche ich bis zum Hotel, eine Viertelstunde zum Umkleiden, – da habe ich noch eine ganze Weile Zeit. – Also benutzen wir diese und sprechen wir den Fall eingehend durch. Bisher kenne ich ihn ja nur aus Ihren schriftlichen Mitteilungen. –
Wann und wo fand der erste dieser raffinierten Diebstähle statt?“
Polizeiinspektor Gruber strich sich nachdenklich über den grauen Vollbart.
„Einen Augenblick. Ich muß mich erst etwas besinnen. Es liegen ja im ganzen vier einzelne Diebstähle vor, die ich auseinanderhalten muß, was nicht ganz leicht ist, da sie sich in der Ausführung wie ein Ei dem andern gleichen. – Richtig, – der erste war der bei dem Baron von Alten auf Schloß Waldburg.“
Hier unterbrach ihn der Kommissar.
„Wenn ich bitten darf, Herr Polizeiinspektor, so erzählen Sie mir diesen ersten Diebstahl mit allen Einzelheiten.“
„Gut. Es war in diesem Jahr im Mai, als Baron von Alten ein großes Gartenfest arrangiert hatte, zu dem der ganze Adel der Umgegend sowie die Honoratioren unserer Stadt Einladungen erhalten hatten. Während des Feuerwerkes, das gegen zehn Uhr abends im Park des Schlosses vor dem Weiher abgebrannt wurde, sollte ein Diener aus dem im ersten Stock gelegenen Arbeitszimmer des Hausherrn eine Kiste Importen holen. Er fand jedoch die Tür verschlossen und eilte darauf zu dem Baron zurück, um sich den Schlüssel auszubitten. Herr von Alten behauptete jedoch, der Schlüssel müsse im Schloß stecken. Er jedenfalls habe nicht abgeschlossen. Um die Sache aufzuklären, begab sich nun die einzige Tochter des Schloßherrn, Komtesse Marga von Alten, persönlich in das weitläufige, burgähnliche Gebäude. Sie fand die Angaben des Dieners bestätigt. Die Tür war wirklich abgeschlossen und zwar von innen. Jetzt erst stieg in dem Baron ein unbestimmter Verdacht auf. Da das Feuerwerk inzwischen vorüber war, wollte er selbst die merkwürdige Tatsache aufklären. Einer der Diener mußte mit Hilfe einer langen Feuerleiter in das offene Fenster des Zimmers, dessen zweite Tür nach dem Billardsaal sich gleichfalls versperrt fand, einsteigen und von innen aufschließen. Bereits als man die Leiter anlegte, entdeckte man halb verborgen unter dem üppig wuchernden wilden Wein einen Strick, der bis zur Erde herabreichte.“
„Was für ein Strick war das?“ warf der Kommissar ein.
„Ein Stück von einer gewöhnlichen Wäscheleine,“ erwiderte Gruber ohne langes Überlegen. „Der Dieb hatte es sich aus einer Kammer im Dachgeschoß geholt, wo wir das übrige Ende noch aufgerollt fanden.“
„Mithin muß der Spitzbube im Schloß tadellos Bescheid gewußt haben,“ meinte Fehlhauser. „Aber fahren Sie nur fort, Herr Inspektor.“
„Der Strick war am Fensterkreuz befestigt, und ihn hatte der Dieb auch wohl fraglos auf seinem Rückzuge aus dem Arbeitszimmer benutzt,“ begann Gruber seinen weiteren Bericht. „In dem Gemache selbst fand man dann die Schubladen des Schreibtisches sowie alle anderen Behälter durchwühlt. Und der Baron stellte bald fest, daß ihm aus seiner Schatulle gegen sechshundert Mark bares Geld und einige Juwelen fehlten.“
„Haben Sie auch nach Spuren unter dem Fenster gesucht? Zeigte sich das Weinspalier neben dem herabhängenden Strick geknickt?“
„Spuren –?! Als ich am nächsten Morgen nach Schloß Waldburg gerufen wurde, war die Erde unterhalb des Fensters von all den Neugierigen so zertrampelt, daß sich nichts von Bedeutung mehr herausfinden ließ. Und – hm, ja, – auf das Weinspalier habe ich, ehrlich gesagt, nicht geachtet.“
„Aber gerade das war doch die Hauptsache. Der Dieb hätte doch unbedingt ein paar Zweigen bei seiner Klettertour zerbrechen müssen, – wenn er eben diesen Weg wirklich benutzte.“
„Wozu wohl sonst das Tau?“ meinte der Polizeiinspektor kopfschüttelnd. „Natürlich hat er es gebraucht, freilich nur auf dem Rückwege, wie ich schon vorhin behauptete.“
„So natürlich ist das durchaus nicht. Ich bin sogar der Ansicht, daß er die Leine nur zum Schein an dem Fensterkreuz befestigt hat, – eben um die Behörde auf eine falsche Fährte zu locken. Um dies festzustellen – deshalb fragte ich eben nach den Beschädigungen am Spalier. –
Doch darauf kommen wir später noch zu sprechen. – Wie verhielt es sich nun mit den anderen Diebstählen?“
„Die waren, wie gesagt, genau nach der gleichen Methode ausgeführt. Überall fand sich das heimgesuchte Zimmer von innen verschlossen und aus dem Fenster hing die übliche – ‚Rettungsleine‘ heraus,“ versuchte Gruber zu scherzen.
„Und – nicht wahr – diese vier Diebstähle wurden doch stets begangen, während man in dem betreffenden Hause ein Fest feierte?“ forschte Fehlhauser weiter, ohne den Witz des Inspektors zu würdigen.
„Haus ist zu bescheiden ausgedrückt. Der Spitzbube hatte vornehmere Neigungen. Die Geschädigten sind sämtliche Adlige und Schloßbesitzer. Alles übrige ist richtig.“
Der Kriminalkommissar hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und schaute nachsinnend vor sich hin. Draußen heulte der Oktobersturm um die spitzen Giebel des alten Rathauses, in dem das Polizeibureau gleichfalls untergebracht war. Irgend eine lose Regenrinne schlug mit hohlem Klang alle Augenblick gegen die Mauer, Fehlhauser zuckte bei dem Geräusch jedes Mal nervös zusammen. Den alten Gruber störte das nicht. Er war daran gewöhnt. Auch seine Gedanken beschäftigten sich mit ganz anderen Dingen, als die seines Gegenübers. Er dachte an sein behagliches Heim, wo seine getreue Ehehälfte jetzt ohne Zweifel schon mit dem Abendessen wartete. Acht Uhr war ja längst vorüber. Überhaupt – daß man diesen Kriminalkommissar hatte kommen lassen, war doch eigentlich höchst überflüssig. Der würde jetzt auch nichts Besonderes mehr entdecken, wo seit dem letzten Diebstahl bereits zwei Monate verstrichen waren.
Gruber wartete geduldig, bis der Kommissar wieder das Wort an ihn richten würde. –
Die Minuten verstrichen. Noch immer saß Fehlhauser bewegungslos auf dem alten, ledergepolsterten Bürosessel und starrte vor sich hin. In dem gelblichen Licht der Gaslampe sah sein glattrasiertes Gesicht mit den scharfen Zügen und den harten Linien um Mund und Kinn wie aus Stein gemeißelt aus.
Gruber dachte an daheim, an das gute Essen, – Königsberger Klops, die nun unfehlbar kalt und schwammig wurden. Schließlich wagte er es, räusperte sich leise.
Fehlhauser schaute auf, beinahe erschreckt.
„Verzeihung, Herr Polizeiinspektor –“ meinte er mit leisem Lächeln. „Wir Kriminalbeamte gewöhnen es uns so leicht an, unsere Gedanken ohne Rücksicht auf die Umgebung spazieren zu führen. Freilich hat diese stille Geistestätigkeit stets einen Zweck. So auch jetzt. Ich bin mit mir über die merkwürdigen Diebstähle nämlich schon so ziemlich ins reine gekommen.“
Eine kleine Pause. Und dann etwas zögernd:
„Wissen Sie, wen ich für den Täter halte? – Denn es kommt ja sicher nur eine Person und zwar stets dieselbe in Frage.“
„Ich bin wirklich gespannt, – wirklich.“
Gruber hatte plötzlich sein leckeres Mahl daheim völlig vergessen. Denn das dieser Berliner Herr schon nach kaum einstündiger Anwesenheit hier in Lanken so weitgehende Schlüsse gezogen haben sollte, erschien ihm geradezu unglaublich, besonders wo er, der doch auch seine Erfahrungen besaß, sich mit derselben Sache ein ganzes halbes Jahr abgemüht hatte und zwar ohne jeden Erfolg, – ohne jeden.
Inzwischen hatte Fehlhauser mit halb zusammengekniffen Augen – bei ihm das Zeichen scharfen Nachdenkens – bereits mit seinen Eröffnungen begonnen.
„Die Tatsache, daß der Dieb sich für seine Raubzüge stets einen Tag aussuchte, an dem die Bewohner des von ihm aufs Korn genommenen Hauses durch eine Festlichkeit beschäftigt waren und die allgemeine Aufmerksamkeit und Wachsamkeit daher geringer war als sonst, ferner der Umstand, daß der Täter bei all seinen Einbrüchen eine geradezu auffällig genaue Ortskenntnis verriet und stets ebenso genau wußte, wo er gute Beute zu erwarten hatte, läßt im Verein mit seiner ‚Arbeitsmethode‘ nur den einen Schluß zu, daß man den Spitzbuben nicht etwa in den niederen Volksschichten unter gewerbsmäßigen Verbrechern, sondern in den ersten Kreisen zu suchen hat. Sie erschrecken und halten diese meine Schlußfolgerung jedenfalls für zu gewagt, Herr Polizeiinspektor. Ich hoffe, Sie trotzdem noch zu meiner Ansicht zu bekehren. Bedenken Sie doch nur, wie schwer es für jeden Fremden – ich meine jeden Einbrecher von Beruf – gewesen wäre, die Gelegenheit für all diese Diebstähle auszubaldowern, besonders wo es sich doch hier um Schlösser reicher Großgrundbesitzer handelt, zu denen kein gewöhnlicher Sterblicher so leicht Zutritt erhält. Schon dieses eine Moment ist so schwerwiegend, daß man unwillkürlich stutzig werden muß. – Habe ich recht?“
Gruber nickte eifrig.
„Stimmt, Herr Kommissar, stimmt! Da fällt mir ja auch noch etwas ein, was vielleicht wichtig ist und worauf ich jetzt erst aufmerksam werde, wo Sie mir die Sache von einer etwas anderen Seite beleuchtet haben. Wie Ihnen ja schon aus meinen Briefen bekannt sein dürfte, hat der Dieb zwei Mal dem Arbeitszimmer des Hausherrn und die beiden anderen Male dem Toilettenzimmer der Damen, wo er Juwelen raubte, Besuch abgestattet. Regelmäßig war nun nicht nur die vom Korridor in den betreffenden Raum führende Tür nachher von innen verriegelt, sondern ebenso regelmäßig auch die zweite Verbindungstür nach den Nebengemächern versperrt und der Schlüssel spurlos verschwunden.“
Fehlhauser hatte sich plötzlich aufgerichtet. Jede seiner Mienen drückte die lebhafteste Spannung aus.
„Das ist ja von ungeheurer Wichtigkeit,“ rief er ganz erregt. „Gerade diese Beobachtung paßt vorzüglich in meine Kombinationen hinein. Nun weiß ich auch bestimmt, wie die Diebstähle ausgeführt wurden, sogar ganz bestimmt. –
Unterstellen wir einmal, der Dieb ist wirklich ein Angehöriger der besten Gesellschaft, hier in der Stadt oder der Umgegend ansässig und häufiger Gast bei den adeligen Besitzern. Er kennt mithin das Innere der Schlösser recht genau, weiß auch, wo die einzelnen Räume lieben, wohin die Türen münden und so weiter. Zu allen festlichen Veranstaltungen wird er natürlich zugezogen. Er vermag sich also in aller Ruhe die Gelegenheit auszusuchen, wo er in dem allgemeinen Trubel solch eines Festes unbeobachtet das Zimmer, in dem er Beute vermutet, betreten kann. Hinter sich sperrt er dann sofort die Türen ab, so daß ein Überraschtwerden unmöglich ist. In aller Eile werden die Schubfächer erbrochen und der Raub eingesteckt. Nun das Wichtigste: das Hervorrufen der falschen Fährte. Ein mitgebrachtes Seil wird schnell zum offenen Fenster hinausgehängt. Das erweckt den Anschein, als habe der Dieb auf diesem Wege das Schloß verlassen. In Wahrheit macht sich der Spitzbube jedoch durch die Tür nach dem Nebengemach davon, dessen Schlüssel er abzieht und später irgendwo verschwinden läßt. Ebenso harmlos wie vorher mischt er sich nun wieder unter die Gäste. Begegnet ihm irgend jemand auf den Korridoren, so kann das ja nicht auffallen. Er ist ein guter Bekannter des Hauses und darf sich überall zwanglos bewegen. –
Sagen Sie selbst, Herr Inspektor, ist diese Theorie nicht wirklich einleuchtend? Wird sie nicht allen Momenten der vier Verbrechenstatbestände gerecht?“
„Freilich, freilich. Und doch – es fällt mir so schwer, daran zu glauben, daß wirklich ein Mitglied der guten Gesellschaft so tief gesunken sein sollte. Ich kenne die Herrschaften hier doch alle. Und nicht einer ist darunter, gegen den man auch nur die Spur eines Verdachts hegen könnte – nicht einer!“
Fehlhauser lächelte etwas überlegen.
„Mein lieber Herr Polizeiinspektor. Sie kennen all die Abgründe der Menschenseele nicht, die sich auch hinter der vornehmsten Außenseite verbergen. Ich könnte Ihnen aus meiner Praxis Geschichten erzählen, daß Sie den Glauben an die ganze Menschheit dabei verlieren würden. Vielleicht ein andermal. Heute ist’s zu spät geworden. Ich muß fort. Nur noch eines zum Schluß: So schlau sich dieser GentlemanEinbrecher auch vorkommen mag, – eine unglaubliche Dummheit hat er doch begannen: Er hätte, wenn er ganz gerissen gewesen wäre, seine Methode wechseln und nicht stets nach derselben Schablone arbeiten dürfen. Wenn ich dem ‚feinen Herrn‘ jetzt hinter seine Schliche kommen sollte, – und ich hoffe das stark – so hat er sich das selbst zuzuschreiben. Ich weiß jetzt, wo ich nach dem Täter suchen muß. Geahnt habe ich das alles ja schon in Berlin nach dem ersten Überlesen Ihres Berichtes. Sonst hätte ich mir ja auch nicht diese Einlaßkarte für den heutigen Maskenball von Ihnen besorgen lassen. –
Vielleicht fällt die Entscheidung schon in ein paar Stunden. Etwas wie eine Ahnung sagt mir, daß dieses Maskenspiel möglicherweise tragisch enden kann. –
Nun aber wirklich adieu, Herr Inspektor. Und den Karton mit dem Kostüm bitte sofort ins Hotel ‚Deutscher Kaiser‘, wo ich mich ebenfalls als Dr. Gulling aus Königsberg einschreiben werde.“
Damit trennten sich die beiden Herren.
Kaum war der Kommissar verschwunden, als auch Gruber sofort seinen Paletot anzog und sich auf den Heimweg machte, nachdem er noch einen der Beamten in der Wachtstube den Karton zur Besorgung übergeben hatte.
Zu derselben Zeit, als die beiden Polizeibeamten die wichtige Besprechung wegen der geheimnisvollen Diebstähle erledigten, fand keine drei Häuser weiter in der ersten Etage eines modernen Neubaues eine nicht minder interessante Unterredung statt. Dort bewohnte Graf Axel Kaisenberg drei elegant möblierte Zimmer, die er von der verwitweten Frau Sanitätsrat Krüger gemietet hatte.
Die Kaisenberg gehörten zu einem der ältesten Geschlechter des ostpreußischen Adels. Seit der Zeit des Großen Kurfürsten war dieser Stamm stets in der Armee unter den obersten Heerführern vertreten. Die Befreiungkriege, in denen so manche vormals reiche Adelsfamilie allzu freigebig für das allgemeine Wohl Summen auf Summen gespendet hatte, waren auch den Kaisenbergs verhängnisvoll geworden. Seit jener Zeit hatte sich die Grafenfamilie gerade noch so eben standesgemäß von den Einkünften ihres Stammgutes durchschlagen können. Jetzt ruhte das Kaisenbergsche Geschlecht nur noch auf vier Augen, – den beiden bisher unvermählten Grafen Arthur und Axel. Letzterer, der jüngerer der beiden, war nur kurze Zeit Offizier gewesen und hatte dann den Dienst quittiert. Weswegen, wußte niemand so recht. Jedenfalls schien dem Ansehen des jungen Grafen dieses Ausscheiden aus der Armee nicht im geringsten bei seinen Standesgenossen geschadet zu haben. Im Gegenteil. Der jüngste Kaisenberg war als liebenswürdiger Gesellschafter überall gern gesehen und, da er sich jetzt angeblich literarisch betätigte, hielt man ihn nebenbei noch für einen vielseitig gebildeten, geistreichen Menschen. Daß er auch dem Glücksspiel recht stark huldigte, verargte ihm niemand, obwohl es allgemein bekannt war, daß er oft Summen verlor, die zu seinen Einkünften in keinem rechten Verhältnis standen.
Vielleicht, daß bei Graf Axel diese Neigung für das Spiel ein Erbteil von seiner extravaganten Mutter war, die Graf Heinrich Kaisenberg nach dem Tode seiner ersten, ebenbürtigen Gemahlin trotz deren bürgerlichen Abkunft und ihres Berufs als Konzertsängerin im Widerspruch mit dem ganzen Familienrat geheiratet hatte, – ein Schritt, den der alternde Mann nur zu bald bereute, da die allzu verschiedene Lebensanschauung der beiden Gatten, insbesondere der genußsüchtige und oberflächliche Charakter der früheren Künstlerin eine harmonische Ehe unmöglich machte. Auch die Geburt eines Sohnes konnte die Gegensätze zwischen diesen ungleichen Naturen nicht überbrücken, und erst das kurz hintereinander erfolgte Ableben beider erlöste sie von einem Martyrium, das Graf Heinrich Kaisenberg sich in blindem Idealismus, die gefeierte Sängerin Adele Liebnau aber aus kühler Berechnung aufgeladen hatte.
Als einzige Vertreter der gräflichen Linie des Kaisenbergschen Geschlechts blieben der jetzige Majoratsherr Graf Arthur als Kind aus der ersten Ehe mit Felizitas, Gräfin Selnin, und der um zwölf Jahre jüngere Graf Axel zurück, – zwei Menschen, bei denen die Folgen der verschiedenen Blutmischung von Mutterseite sich nur zu sehr nicht nur in der äußeren Erscheinung, sondern auch in den feinsten Charakterregungen offenbarten. Zwischen den Stiefbrüdern hatte es nie ein rechtes Verstehen oder irgendwelche herzliche Zuneigung gegeben, und diese Entfremdung wurde noch größer, als Axel Kaisenberg immer häufiger mit Bitten um Bezahlung seiner Spielschulden an den Älteren herantrat. –
Graf Axel schien nicht gerade in rosigster Laune zu sein, wie er so mit hastigen Schritten seinen eleganten Salon durchquerte. Seine Stirn war unmutig gekraust, und die geballten Fäuste hatte er in die Taschen seines braunen Samtjacketts vergraben. Jetzt blieb er plötzlich vor seinem auf einem der steiflehnigen Polsterstühle sitzenden Besucher, einem alten kleinen Männchen in bescheidener Kleidung, stehen und sagte ärgerlich:
„Sie sind der schrecklichste Quälgeist, den ich kenne, Markert! Wie oft soll ich Ihnen denn wiederholen, daß Sie nach drei Tagen Ihre lumpigen tausend Mark bestimmt wiederbekommen. Ich will Ihnen ja für die kurze Zeit gern noch hundert Emmchen Aufschlag zahlen. Mehr kann ich doch wahrhaftig nicht!“
„Sollen Sie auch gar nicht, Herr Graf,“ meinte der Alte ernst. „Ich bin kein Wucherer, das wissen Sie recht wohl. Wenn ich mich überhaupt darauf eingelassen habe, Ihnen Geld zu leihen, so geschah dies nur aus alter Anhänglichkeit an Ihren Vater, dem ich dreißig Jahre als Rentmeister treu dienen durfte. Nun halten Sie mich aber wegen der tausend Mark schon ganze zwei Monate hin. Ich bin kein reicher Mann, Herr Graf, und habe eine Familie zu ernähren. Sonst –“
„Sonst würden Sie mir die tausend Mark schenken, – das wollten Sie doch wohl sagen, nicht wahr? – Na, so weit sind wir nun doch noch lange nicht, Markert!“
Der frühere gräfliche Rentmeister duckte sich ängstlich zusammen.
„Aber wo werde ich so unehrbietige Gedanken hegen!“ verteidigte er sich eifrig. „Ich hätte –“
„Lassen Sie nur,“ schnitt Axel ihm kurz das Wort ab. „Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun, als schöne Redensarten zu drechseln.“
Wieder begann der jüngste Kaisenberg seine lautlose Promenade durch das große Gemach. Der dicke, seidigglänzende Orientteppich verschlang jeden Laut seiner Schritte.
Dann begann er wieder, nachdem er sich das, was er sagen wollte, genau überlegt hatte.
„Ich will mit Ihnen einmal ganz offen sprechen, Markert. Sie wissen, daß der Gesundheitszustand meines Bruders mehr als bedenklich ist. Als er damals vor Jahren mit seinem Pferde beim Rennen stürzte, muß er sich ein Leiden zugezogen haben, das ihn demnächst zwingen wird, dieser schönen Erde für immer ade zu sagen.“
Markert, entsetzt über soviel brutalen Zynismus, wagte nur ein mahnendes – „Aber Herr Graf!“ – einzuwerfen.
Axel lächelte grausam. „Wozu soll man lange um die Sache herumreden. Axel ist ein Todeskandidat. Das weiß ich jetzt bestimmt. Und daher kann es nur eine Frage der Zeit sein, wann ich als sein Nachfolger Majoratsherr auf Schloß Kaisenberg werde. Unter diesen Umständen wäre es doch höchst unklug von Ihnen, wenn Sie mich wegen dieser Lappalie so drängen wollten. Nochmals – warten Sie, seien Sie verständig, Mann –“
Der Alte hatte sich erhoben. Und indem er abwehrend die Hand ausstreckte, sagte er feierlich:
„Ich würde es als eine schwere Sünde ansehen, wollte ich mit dem Tode Ihres Herrn Bruders bei unseren geschäftlichen Beziehungen rechnen. Gott gebe ihm ein langes Leben! – Gut also – ich warte noch drei Tage. Das ist aber mein letztes Wort.“
Axel hatte hämisch aufgelacht.
„Sie sind ja noch gerade so fromm, Markert, wie damals, als Sie mich durch Ihre frommen Sprüche von allerlei tollen Streichen abhalten wollten,“ meinte er, seine schlanke Gestalt hochreckend.
„Ja, das habe ich gewollt,“ erwiderte das alte Männchen fast feierlich. „Denn ich habe Sie ehrlich lieb gehabt damals als kleinen Burschen, weil Sie eben so etwas Frisches, Fröhliches an sich hatten und auch zu uns Angestellten stets freundlich waren. Schade nur, daß es mir nicht gelang, in dem heranwachsenden Jüngling all die häßlichen Keime zu ersticken. Versucht habe ich’s ehrlich.“
Axel Kaisenbergs Gesichtsausdruck hatte sich bei diesen Worten, die so manche Jugenderinnerung in ihm weckten, merkwürdig verändert. In sein rassiges, schmales Aristokratengesicht trat ein auffallender Zug von Seelenpein, daß der Rentmeister diese Veränderung mit stiller Freude beobachtete. Einem plötzlich in ihm aufwallenden Gefühl folgend trat er daher noch einen Schritt näher an seinen einstigen Schützling heran und sagte ganz leise, ganz eindringlich:
„Herr Graf, lassen Sie sich warnen! – Noch gibt es für Sie eine Umkehr. Noch weiß niemand, was ich weiß, – nein, – nur ahne –“
Axel war zurückgefahren. Ängstlich forschend ruhten jetzt seine Augen auf dem alten treuen Beschützer.
„Was – was soll das, Markert?“ stotterte er endlich.
Doch der Rentmeister stand schon an der Tür. Aber ebenso schnell hatte Axel ihn am Arm ergriffen und mitten ins Zimmer zurückgezogen. Und des jungen Edelmanns Stirn zeigte drohende Falten, als er jetzt beinahe zischend hervorstieß:
„Antwort will ich haben, Markert! Was sollte Ihre Bemerkung vorhin?“
Markert schaute traurig zu ihm auf.
„Diese Antwort gebe ich Ihnen nie, nie! Nur eines will ich Ihnen sagen, was Sie vielleicht interessieren dürfte, Herr Graf. Ich habe es selbst unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit von meinem Freunde Gruber, dem Polizeiinspektor, erfahren. Denn die ganze Sache sollte geheim bleiben. Aber mit Ihnen – mit Ihnen mache ich eine Ausnahme – der früheren Zeiten wegen.“
Seine Stimme war zu vorsichtigem Flüstern herabgesunken, als er weitersprach.
„Man hat aus Berlin einen Kriminalkommissar verschrieben, der heute eintreffen und die geheimnisvollen Diebstähle untersuchen soll. Und dieser Kommissar, der im ‚Deutschen Kaiser‘ ein Zimmer bestellt hat, nimmt unerkannt an dem Maskenball beim Landrat von Oppen teil. – Adieu, Herr Graf.“
Geräuschlos verließ der Alte das Zimmer. Eine Antwort auf seinen Abschiedsgruß hatte er nicht erhalten. Denn Axel Kaisenberg stand noch eine ganze Weile wie versteinert da, als Markert längst mit trippelnden Schritten seiner Wohnung zueilte.
Endlich ermannte er sich. Wie aus einem bösen Traum erwachend schaute er um sich. Seine wohlgepflegte Rechte mit den polierten, glänzenden Nägeln fuhr über die Stirn hin, als wollte er dort etwas fortwischen.
Und dann begann er wieder die ruhelose Wanderung durch das Zimmer. Seine Gedanken jagten sich. Und unwillkürlich formten seine Lippen immer häufiger kaum verständliche Sätze.
„Markert scheint das Richtige zu ahnen –“
Ein kurzes Auflachen.
„Mag er. Seiner bin ich sicher. Er wird schweigen.“
Dann ein Stocken in dem hastigen Auf und Ab von einer Wand zur anderen.
„Was nun – was nun –? Ich muß – ich kann’s nicht hinausschieben –“
Wie ein drohendes Zischen das Folgende:
„Dieser Kommissar – höchst unbequem. – Wenn man wenigstens wüßte, welche Maske er trägt –“
Grübelndes Vorsichhinstarren. Endlich ein befreiendes Aufblitzen in den scharf markierten Zügen.
„So muß es gehen, muß. Kalnein steigt ja immer im ‚Deutschen Kaiser‘ ab. – Wie spät haben wir’s. – Also ist’s noch Zeit –“
Eilig verschwand Graf Axel in seinem Schlafzimmer, um sich für das Fest umzukleiden. –
Eine Viertelstunde später betrat er dann die Vorhalle des Hotels ‚Deutscher Kaiser‘, stellte sich ohne weiteres vor die große Tafel, auf der die Zimmernummern mit den Namen der Gäste vermerkt waren, und wandte erst lässig den Kopf, als der Portier herbeikam und dienernd nach den Wünschen des Herrn Grafen fragte.
„Ist Baron Kalnein heute angekommen?“ fragte der sehr von oben herab.
„Bedaure, nein. Nur ein Dr. Gulling aus Königsberg, sonst niemand,“ erklärte der Portier diensteifrig.
„Ich nehme beinahe an, daß sich unter dem Namen dieses Dr. Gulling ein Bekannter von mir verbirgt,“ erklärte er kühl. „Und zwar Baron Kalnein, der vielleicht seine Person auf dem heutigen Maskenball durch diesen Scherz besser vor dem allzu früh Erkanntwerden schützen will.“
„Herr Graf irren,“ beeilte sich der Portier zu antworten. „Den Herrn Baron kenne ich –“
„– aber wohl nicht den, den ich meine,“ unterbrach ihn Axel schroff. „Nun – ich kann mich ja mal überzeugen,“ fügte er dann etwas liebenswürdiger hinzu.
Damit eilte er die Treppe empor, während der Portier sich achselzuckend wieder in seine Loge begab.
Gleich darauf klopfte der jüngste Kaisenberg recht kräftig an die Tür von Nr. 12. Drinnen rief jemand „Herein“.
Axel riß mit einem lauten „N’ abend, Kalnein, – wie geht’s?“ die Tür weit auf, trat aber sofort wieder zurück.
„Pardon, mein Herr,“ entschuldigte er sich mit gewinnendster Liebenswürdigkeit, „ich habe mich geirrt. Ich glaubte einen Bekannten überraschen zu können. – Nochmals – Verzeihung.“
Zufrieden stieg er wieder die Treppe hinab und verließ das Hotel.
Denn der Herr, den er so schlau überrascht hatte, konnte ja niemand anders sein als der für heute gemeldete Kriminalkommissar. Und daß dieser einen roten und grünen Clownanzug angehabt hatte, war ihm nicht entgangen.
Und mehr brauchte er ja nicht zu wissen.
Der mißtrauische Fehlhauser aber erkundigte sich bald darauf sehr eingehend bei dem Portier nach dem in einem langen, hellgrauen Ulster gekleideten Herrn, der vorhin das Hotel betreten haben mußte, – etwa vor fünf Minuten.
Worauf ihm der redselige Mann ganz eingehend Auskunft gab und auch die Geschichte von dem Baron Kalnein vortrug, der im ‚Deutschen Kaiser‘ einen fremden Namen angenommen haben sollte.
‚Also Graf Axel Kaisenberg. Das muß ich mir merken,‘ dachte Fehlhauser, als er wieder in sein Zimmer zurückkehrte.
Kurz vor neun Uhr begab sich der Kommissar in einer Droschke nach dem dicht vor der Stadt in einem weiten Park gelegenen Hause des Landrats und Geheimen Regierungsrats von Oppen. Fehlhauser hatte die Zeit richtig abgefaßt. Er war der erste der Gäste, der die festlich erleuchteten Räume betrat. Nachdem er dem im Vorflur postierten Diener seine Einladung flüchtig vorgezeigt und Mantel und Hut in der Herrengarderobe abgelegt hatte, ließ er sich sofort bei Herrn von Oppen zu einer kurzen Privatbesprechung melden.
Dieser empfing den angeblichen Dr. Gulling, der bei seinem Eintritt die schwarze Seidenmaske abgenommen hatte, zwar höflich, aber doch mit deutlicher Zurückhaltung.
„Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken, Herr Geheimrat, daß Sie mir hier bei sich in dienstlichem Interesse für einige Stunden Gastrecht gewähren wollen,“ begann der Kommissar mit leichter Verbeugung. „Außerdem habe ich noch eine Bitte: Würden Sie vielleicht die Freundlichkeit besitzen und mir kurz die Lage der einzelnen Zimmer hier im Hause erklären?“
Herr von Oppen, eine vornehme Erscheinung in den besten Jahren, schaute überrascht auf.
„Zuvor hätte ich selbst eine Bitte, Herr Kriminalkommissar.“
„Ich heiße hier Dr. Gulling,“ betonte Fehlhauser. „Ich möchte mein Inkognito nach Möglichkeit wahren, Herr Geheimrat.“
„Oh – pardon. Also – Herr Doktor, dürfte ich vielleicht erfahren, weshalb Sie sich die Einladung zum heutigen Maskenball ausgebeten haben.“
Der Kommissar überlegte. Die Wahrheit durfte er nicht sagen. Denn hätte er diesem offenbar recht adelsstolzen Herrn mitgeteilt, daß er den Dieb unter den Mitgliedern der Aristokratie des hiesigen Kreises zu finden hoffe, so wäre er hier sicherlich noch auf größere Einwendungen gestoßen als bei dem biederen Polizeiinspektor. Er mußte also seine wirkliche Meinung klug verhüllen und sich schon mit einer Notlüge herausreden. An diese Art von Verdrehung der Wahrheit hatte er sich ja in seinem Beruf längst gewöhnen müssen.
Daher erwiderte er mit scheinbar größter Aufrichtigkeit:
„Die Diebstähle, die ich aufklären soll, sind sämtlich im Laufe des verflossenen Sommers in den Schlössern der Umgegend und stets während einer Festlichkeit verübt worden. Durch meinen Briefwechsel mit dem Polizeiinspektor Gruber erfuhr ich dann, daß Ihr heutiger Maskenball, Herr Geheimrat, seit längerer Zeit wieder das erste größere Fest in der hiesigen Gegend ist. Mithin mußte ich mit der Möglichkeit rechnen, daß der Dieb nach dieser zweimonatigen Ruhepause sich die gute Gelegenheit nicht entgehen lassen und – Ihnen heute einen Besuch abstatten würde. Es ist dies wie gesagt, zwar nur eine ganz entfernte Möglichkeit. Aber wir Kriminalbeamten müssen eben mit allem rechnen lernen. Und bei diesem Besuch glückt es mir vielleicht, den Spitzbuben abzufassen.“
Herr von Oppen nickte zu den Eröffnungen wie zustimmend.
„Ähnliches habe ich mir auch schon gedacht, – ich meine, über Ihre Absichten vermutet, die Sie mit der Teilnahme an dem Fest hier verbinden wollen. – Sie fragten vorhin nach der Lage der Zimmer,“ fuhr er dann fort. „Hier im Parterre befinden sich die Gesellschaftsräume. Oben im ersten Stock unsere Schlafgemächer, mein Arbeitszimmer, ein Baderaum und zwei Fremdenstuben. Im zweiten Stock ist die Dienerschaft untergebracht.“
„Danke, das genügt mir. – Noch eine zweite Bitte hätte ich, Herr Geheimrat. Würden Sie Ihrem Personal Anweisung geben, daß man mich überall im Hause ungehindert durchläßt, überall. Ich bin in diesem keineswegs geschmackvollen Clownshabit ja leicht kenntlich.“
„Gut. Werde ich besorgen. Und nun viel Glück, Herr Doktor. Freilich – ich glaube nicht recht daran, daß der Spitzbube mich beehren wird. Und wenn – so werden Sie ja wohl zur rechten Zeit da sein, um ihn würdig zu empfangen.“ –
Zwei Stunden später. In den weiten Parterreräumen des Oppenschen Hauses wogte bei den Klängen einer in Zigeunertracht gekleideten Kapelle eine buntgeputzte, maskierte Menge hin und her. Die Idee, die Saison der winterlichen Vergnügungen mit einem Maskenfest zu eröffnen, hatte gerade wegen ihrer Originalität lebhaften Anklang gefunden. Der gesamte Adel der Umgegend war erschienen, alles Namen, die in der preußischen Geschichte einen guten Klang hatten.
An einem Pfeiler des zum Tanzsaal umgewandelten Wintergartens lehnte eine in einem rot grünen Clownanzug steckende Maske und schaute scheinbar melancholisch in das sie umflutende Treiben. Zwei Mal hatte der Kommissar bereits unauffällig einen Rundgang durch das Gebäude gemacht, ohne etwas Verdächtiges wahrzunehmen. Eine unbestimmte innere Unruhe wollte ihn eben zum dritten Mal aus der übermütigen Menge in die stillen Korridore der ersten Etage entführen, als neben ihm plötzlich ein schwarzer Domino auftauchte, der ihn durch Gesten aufforderte ihm zu folgen. Der Domino war so sorgfältig in das weite Seidengewand gehüllt, daß Fehlhauser zuerst kaum erkennen konnte, ob er eine Dame oder einen Herrn vor sich hatte. Trotzdem zögerte er keinen Augenblick, das Begehren der Maske zu erfüllen.
In einer Ecke des Wintergartens, die durch große Blattpflanzen in eine Laube umgewandelt war, blieb der Domino stehen und flüsterte Fehlhauser mit seltsam rauher Stimme zu:
„Gehen Sie unauffällig in einiger Entfernung hinter mir her, Kommissar.“ Das Weitere verstand Fehlhauser nicht. Nichtsdestoweniger nickte er zum Zeichen der Bejahung und wartete dann, bis der Unbekannte – denn daß er es mit einer männlichen Person zu tun hatte, darüber war sich Fehlhauser nun doch ins Klare gekommen – durch eine Seitentür verschwunden war. Diese führte auf einen schmalen Korridor hinaus, der, in mehrfachen Biegungen verlaufend, die im Seitenflügel liegenden Wirtschaftsräume mit den Empfangsgemächern verband.
Ungesehen gelangten die beiden so bis an eine durch einen Vorhang verdeckte Wendeltreppe, die bis in den zweiten Stock hinauflief und von dem Geheimrat eigens zur Bequemlichkeit des Personals angelegt war, damit dieses nicht den Vorderaufgang zu benutzen brauchte. Eilig schlüpfte der Domino die steile Eisenstiege aufwärts. Und ihm folgte auf dem Fuße der arglose Kommissar.
Im zweiten Stock ging es dann über einen langen, matterleuchteten Flur zu einer Zimmertür, die halb offen stand. Abwartend blieb Fehlhauser draußen stehen, bis der Unbekannte in dem dunklen Raum ein auf einem Nachttischchen neben einem Bett stehendes Licht angezündet hatte.
Der Domino winkte dem Kommissar jetzt eifrig zu und zeigte auf ein Fenster, durch dessen offenstehende Flügel deutlich das Rauschen der vom Sturm geschüttelten Bäume des Parkes hereindrang.
Fehlhauser, in dem Glauben, daß der Domino ihn auf irgend etwas Besonderes unten im Garten aufmerksam machen wolle, betrat nun das von der unruhig flackernden Kerze notdürftig erhellte kleine Gemach, – anscheinend ein Zimmer der Dienstboten, und wollte sich gerade zum Fenster hinausbeugen, als er plötzlich einen so wuchtigen Hieb über die linke Schädelseite erhielt, daß er lautlos umsank.
Geschickt fing der Attentäter jedoch den schweren Körper des Kommissars im Fallen auf, schleppte ihn auf das Bett, goß aus einem kleinen Fläschchen eine wasserklare Flüssigkeit auf eines der an der Wand hängenden Handtücher und drückte das feuchte Tuch dem regungslos Hingestreckten auf das Gesicht.
Schon nach wenigen Minuten verließ er dann das Obergeschoß wieder und gelangte über die Vordertreppe unbeobachtet in die darunter liegende Etage, wo er sich nach vorsichtigem Umherspähen an der offenbar verschlossenen Tür des Arbeitszimmers des Geheimrats zu schaffen machte.
Unten lockten inzwischen die Geigen weiter zu fröhlichem Tanz, drehten sich schlanke Frauengestalten in buntschillernden Phantasiekostümen mit mittelalterlichen Rittern, Mönchen und Troubadouren in lustigem Reigen.
Punkt zwölf Uhr nachts ein Trompetenstoß. Allgemeine Demaskierung, – die eigentlich längst hätte stattfinden können, da die einzelnen Mitglieder dieses erlesenen Kreises einander ja doch sehr bald erkannt hatten. Nur einigen wenigen war es geglückt, wirklich bis zum letzten Augenblick hinter ihrer Maske unerkannt zu bleiben. Und zu diesen Verkleidungskünstlern gehörte Axel Kaisenberg, der jetzt, umgeben von einer Schar ausgelassener Damen, mitten im Tanzsaal stand und seinen schönen Zuhörerinnen soeben einen ganz witzigen Vortrag über die Kunst, sich unkenntlich zu machen hielt.
„Wenn man zum Beispiel so berühmt schöne Hände hat wie Exzellenz sie besitzen,“ wandte er sich dabei an die jugendliche Gemahlin eines Generalleutnants der nahen Königsberger Garnison, „muß man unbedingt bis zur Demaskierung Handschuhe, und zwar Fausthandschuhe tragen. – Daß man sich die Ringe in die Tasche steckt, hilft gar nichts, – nicht wahr, gnädigste Komtesse,“ lachte er wieder die Gräfin Schauenburg an, der er zu ihrem Erstaunen sofort zu Anfang des Festes ihren Namen ins Ohr geflüstert hatte. „Dann das braune Mal auf der blendend weißen Haut Ihres rechten Handrückens ist eben zu berühmt in unseren Kreisen – stimmt’s –?!“
„Und woran haben Sie denn eigentlich mich erkannt, Graf?“ rief Marga von Alten jetzt, die heute einmal ihre sonstige Gemessenheit völlig abgestreift hatte.
Axel Kaisenberg wurde plötzlich ernst. Und der eigenartig schönen Baronesse in die dunklen Augen sehend, erwiderte er im Tone tiefster Verehrung:
„Sie würde ich aus tausenden herausfinden, selbst wenn man Sie über und über in rauhes Linnen gehüllt hätte. Es gibt eben zwischen zwei bestimmten Menschen trotz aller Proteste der Gelehrten doch ein geheimnisvolles Fluidum, durch das eines des anderen Nähe stets herausfühlen wird – stets –“
In dem munteren Kreise war’s ganz still geworden. Alle wußten ja, daß Axel Kaisenberg die Baronesse von Alten seit seiner Verabschiedung und Rückkehr nach Lanken unaufhörlich mit seinen Huldigungen verfolgte. Aber ebenso offenkundig war es auch, daß Marga von Alten einen anderen schon seit Jahren liebte, – Arthur Kaisenberg, den unglücklichen Majoratsherrn, den sein Leben seit dem tragischen Unfall fest an den traurigen Rollstuhl bannte.
Das feine Gesicht der Baronesse hatte bei des jüngsten Kaisenbergs Worten einen Ausdruck ablehnender Kälte angenommen.
„Ihre vielgeschmähten Gelehrten haben aber trotz alledem recht,“ sagte sie jetzt gleichmütig. „Denn gäbe es ein solches Fluidum zwischen uns, so hätte doch auch ich herausmerken müssen, wer hinter dem recht geschmackvollen Giegerlkostüm steckte. Ich hatte aber bis zuletzt keine Ahnung, daß Sie dieser übermoderne Jüngling waren, Graf –“
Axel Kaisenberg verbeugte sich nur leicht. Eine passende Erwiderung hatte er nicht schnell genug gefunden, um diese scharfe Zurückweisung parieren zu können.
Das kleine Intermezzo hatte den vorher so übermütigen Damen etwas die Stimmung genommen. Man zerstreute sich und schloß sich anderen Gruppen an, wo es lustiger zuging. –
Bald darauf öffnete dann auch der Diener die breiten Flügeltüren zum Speisesaal, den man, paarweise zu einer Reihe geordnet, unter den Klängen eines flotten Marsches betrat.
Man war gerade beim dritten Gang angelangt – Forelle blau, wozu es einen leichten 1900er Sesenberger gab, – als einer der Diener dem Hausherrn etwas zuflüsterte, worauf dieser eilig die Tafel verließ. Bald darauf ward auch Sanitätsrat Heiling, einer der wenigen Bürgerlichen des Oppenschen Kreises, abgerufen. Jetzt erst wurde man aufmerksam. Zuerst begann man nur flüsternd nach der Ursache des Verschwindens der beiden Herren, die noch immer nicht zurückgekehrt waren, zu fragen, bis schließlich die schwerhörige Gräfin Wernholz mit ihrer Stentorstimme über den reichgeschmückten Tisch der Geheimrätin zurief:
„Lydia, ist denn etwas passiert? Ihr macht ja alle so komische Gesichter?“
Die Dame des Hauses konnte nur versichern, daß auch sie nicht wisse, weshalb man den Sanitätsrat und ihren Gatten hinausgebeten habe.
„Graf Kaisenberg,“ wandte sie sich an diesen, der der Tür am nächsten saß, „vielleicht gehen Sie einmal nachsehen. Von den Damen läßt sich ja auch niemand mehr blicken.“
Bereitwilligst eilte Axel hinaus. Es dauerte eine geraume Weile, bis er zurückkehrte – anscheinend ganz verstört.
„Ein unerklärlicher Zwischenfall,“ berichtete er atemlos. „Man hat oben in einem der Dienstbotenzimmer einen Herrn mit einer Kopfverletzungen in schwerer Chloroformnarkose auf dem Bett liegend aufgefunden. Sanitätsrat Heiling ist eben dabei, ihn wieder ins Bewußtsein zurückzurufen.“
„Einen Herrn? – Wen denn? – Einen Fremden?“ so schwirrte es jetzt durch die Luft.
„So reden Sie doch, Kaisenberg!“ schrie die Gräfin Wernholz ganz ärgerlich, als Axel auf alle Fragen nur mit einem Achselzucken antwortete.
„Gnädigste Gräfin, – ich habe ja selbst keine Ahnung, wer der Herr ist. Er trägt einen bunten Clownanzug. Sein Gesicht ist mir gänzlich unbekannt. Der Herr Geheimrat sprach irgend etwas von einem Kriminalkommissar. Ich begreife das alles ja selbst nicht.“
Jetzt hielt es die Hausfrau, die aus Kaisenbergs wenigen Andeutungen sich sofort das Richtige zusammengereimt hatte, doch für das beste, die Gesellschaft über die Person dieses Herrn in dem schreiend bunten Clownkostüm aufzuklären. Sie war ja von ihrem Gatten in die Absichten des Kommissars eingeweiht worden und glaubte nun keine Veranlassung mehr zu haben, mit ihrem Wissen weiter zurückzuhalten.
Die Nachricht von der Anwesenheit des Kriminalkommissars rief bei den Gästen natürlich das lebhafteste Interesse hervor. Kein Wunder, daß die übrigen Gänge des reichhaltigen Menüs unter diesen Umständen fast unberührt blieben. An der ganzen Tafel drehte sich die Unterhaltung ausschließlich um den Kommissar und sein nicht ungefährliches Abenteuer. Jedenfalls war die Maskenfest Stimmung vollständig verflogen. Und sehr bald nach Aufhebung der Tafel brach man allgemein auf, – fast fluchtartig. Der Hausherr war noch immer nicht wieder erschienen. Und so mußte die Geheimrätin allein den etwas verlegen vorgebrachten Dank der Gäste für die ‚wohlgelungene Veranstaltung‘ entgegen nehmen. Daß diese Höflichkeitsphrasen heute nicht recht paßten, fühlten die meisten von selbst. –
Inzwischen war es dem Sanitätsrat gelungen, den in tiefer Narkose daliegenden Kommissar wieder zu sich zu bringen. Mit Hilfe der Diener schaffte man den sich noch recht elend Fühlenden eine Treppe tiefer in das Arbeitszimmer des Hausherrn und bettete ihn dort auf den fellbedeckten Diwan. Die Fenster des Zimmers hatte man weit geöffnet, und unter dem belebenden Einfluß der kühlen Nachtluft erholte sich Fehlhauser dank seiner kräftigen Konstitution zusehends, zumal die durch den erhaltenen Schlag entstandene Schädelverletzung harmlos war und sich äußerlich nur durch eine starke Schwellung bemerkbar machte, – alles Anzeichen dafür, daß der Attentäter den Kommissar mit einem starken Gummiknüttel niedergeschlagen hatte.
Infolge dieser augenscheinlichen Besserung im Befinden seines Gastes wagte es der Hausherr nun endlich die erste Frage an ihn zu richten, die ja dieser Situation gegenüber so natürlich war.
„Nun sagen Sie mir, Herr Kommissar, wer hat Ihnen denn den Streich gespielt? Wie ist das alles gekommen?“
Fehlhauser, dem im Kopf noch ganz wüst war und mit dem das Zimmer noch bisweilen einen wilden Rundtanz aufführte, konnte nur in langen Pausen Satz auf Satz herausbringen. Er berichtete lediglich das, was vorgefallen war, eben wie ihn der schwarze Domino nach oben gelockt hatte, ohne jedoch seine eigenen Ansichten über diesen Vorfall irgendwie zu äußern.
„Unbegreiflich, ganz unbegreiflich,“ meinte Herr von Oppen darauf kopfschüttelnd. „Schwarzer Domino. Hm, davon gab’s eine ganze Menge unter den Masken. Aber von denen kann’s doch keiner gewesen sein.“
„Geben Sie sich keine Mühe, Herr Geheimrat,“ wehrte Fehlhauser ab. „So leicht ist es doch wohl nicht, die betreffende Person zu entdecken. Morgen, wenn ich wieder ganz auf Deck bin, wollen wir weiter darüber reden.“
„Dafür bin ich auch,“ erklärte der Sanitätsrat eifrig, der sich noch immer um den Patienten bemühte. „Sie dürfen auf keinen Fall jetzt schon zu viel sprechen, Herr Kommissar, damit wir den wenig angenehmen Folgeerscheinungen der Narkose, Übelkeit und Erbrechen, vorbeugen. Ruhe ist jetzt die Hauptsache. Und wenn möglich versuchen Sie etwas zu schlafen.“
Fehlhauser lächelte schwach.
„Herzlichen Dank für Ihre Fürsorge, Herr Doktor. Aber ein paar Worte müssen Sie mir wirklich schon noch gestatten.“
„Wenn es unbedingt sein muß! Aber fassen Sie sich möglichst kurz.“
Fehlhauser wandte sich darauf dem Hausherrn zu, der an seinen Schreibtisch gelehnt dastand und eben beschlossen hatte, dem Kommissar eines der Fremdenzimmer für diese Nacht anzubieten.
„Herr Geheimrat, würden Sie mir einen Gefallen tun? – Mich peinigt ein Gedanke. Und bevor ich mir nicht darüber Klarheit verschafft habe, werde ich wohl kaum den mir so nötigen Schlaf finden.“
„Aber gern. Was haben Sie denn auf dem Herzen?“
Herrn von Oppens kühle Zurückhaltung war jetzt einer wohltuenden, zwanglosen Liebenswürdigkeit gewichen.
„Wollen Sie sich nicht einmal überzeugen, Herr Geheimrat, ob vielleicht Ihnen oder Ihrer Gemahlin am heutigen Abend aus den Zimmern dieser Etage irgendwelche Wertobjekte verschwunden sind? – Mir sagt eine innere Stimme, daß der, der mich so hinterrücks unschädlich machte, dies nur in der Absicht getan haben kann, um nachher hier einen Diebstahl zu begehen, bei dessen Ausführung ich ihm eben hinderlich gewesen wäre.“
Der Landrat lächelte ungläubig.
„Sie machen sich unnötige Sorgen, Herr Kommissar. Ich habe denselben Verdacht auch schon gehabt und daher überall flüchtig nachgesehen. Nirgends fand ich irgend etwas Verdächtiges. Alle Schubladen und Fächer sind verschlossen, die in Betracht kommen. –
Außerdem – mein bares Geld, soweit man solches im Hause haben muß, und die wertvollsten Schmucksachen meiner Frau bewahre ich an einem Orte auf, den auch der schlauste Spitzbube nicht entdecken würde. Nur deshalb blieb ich auch so ruhig, als Sie vor Beginn des heutigen Festes die Möglichkeit erwähnten, daß mir eventuell der berüchtigte Gauner unserer Gegend einen Besuch abstatten könnte.“
„In diesen Ihren Geheimtresor haben Sie wohl nicht hineingeschaut, ob noch alles in Ordnung ist?“ forschte Fehlhauser trotzdem hartnäckig weiter.
„Nein. Wenn es aber zu Ihrer Beruhigung dient – die Herren werden ja nichts verraten!“
Damit schritt der Landrat auf ein an der Wand hängendes mittelgroßes Bild, einen französischen Kupferstich, der eine Waldlichtung darstellte, zu und nahm es von seinem Haken herunter. In der braun gewürfelten Tapete zeigten sich nun, allerdings nur bei genauem Hinsehen bemerkbar, vier feine, ein Quadrat bildende Striche. Es waren dies die Umrisse der beweglichen Vorderwand einer in die Wand eingemauerten Stahlkasette, die der Geheimrat nun mühelos mit Hilfe eines sehr dünnen, langen Schlüssels ohne Bart öffnete. Kaum aber hatte er einen Blick in dieses Geheimfach geworfen, als er auch schon erschreckt zurückprallte. Ebenso schnell gewann er aber auch seine Fassung zurück, nahm mit etwas unsicheren Händen alle noch in dem Tresor befindlichen Gegenstände hervor und breitete sie auf dem Mitteltisch aus.
Der Kommissar, der die Bewegungen Herrn von Oppens genau beobachtet hatte, richtete sich gespannt auf seinem Diwan zu sitzender Stellung auf. Da ertönte auch schon des Landrats erregte Stimme:
„Wahrhaftig, meine Herren, – ich bin bestohlen worden. Alle Banknoten, achttausend Mark, und der gesamte Schmuck meiner Frau sind verschwunden.“
Fehlhauser hatte plötzlich die ganze Mattigkeit abgeschüttelt. Mit einem Ruck erhob er sich und trat wenn auch noch recht unsicheren Schrittes, auf den Tisch zu. Auch der Sanitätsrat war näher gekommen und schaute mit bestürztem Gesicht auf den Hausherrn, der wieder seinerseits den Kommissar ratlos anblickte.
„Meine Ahnung – meine Ahnung,“ murmelte Fehlhauser ingrimmig vor sich hin.
Jetzt hatte auch der Geheimrat die Sprache wiedergefunden.
„Das ist ja geradezu unglaublich, wirklich unglaublich,“ preßte er hervor. „Und sogar meine Juchtentasche, in der die Geldscheine verwahrt waren, hat der Dieb mitgehen heißen. Und – wo soll man nur den Täter suchen? Wie hat er denn Kenntnis von der Existenz dieses Geheimfaches erhalten, wie ist er ins Haus eingedrungen – Wie? – Wahrhaftig, da drängen sich einem ja so unzählige Fragen auf einmal auf, daß man ganz wirr im Kopf wird. – Eine nette Überraschung! Meine Frau wird auch ein schönes Gesicht machen. Einige zwanzigtausend Mark war ihr Schmuck gut wert. Und das ärgerlichste, – ich bin nicht gegen Einbruchsdiebstahl versichert, obwohl mich die rätselhaften Ausplünderungen unserer Bekannten im verflossenen Sommer hätten warnen sollen.“
„Vorläufig läßt sich in der Sache auch gar nichts tun, Herr Geheimrat,“ bemerkte Fehlhauser höflich. „Ich kann Ihnen jetzt nur mein Bedauern über den Verlust ausdrücken. Morgen früh gehe ich dann sofort an die Untersuchung dieses neuen Falles, des fünften also, heran. Bitte, sorgen Sie nur dafür, daß niemand weiter das Zimmer betritt, bevor ich mich darin genauer umgesehen habe. –
Und jetzt, Herr Geheimrat, müssen Sie mich schon entschuldigen. Ich will in mein Hotel zurückkehren. Es ist recht spät, besser früh, geworden, und morgen muß ich rechtzeitig auf dem Posten sein.“
Endlich einmal hatte auch Lanken seine Sensation und gleich was für eine! – Ein veritabler Berliner Kriminalbeamter wohnte seit vier Tagen im ‚Deutschen Kaiser‘ und spürte dem Verbrecher nach, der unter so unglaublichen Begleitumständen den Tresor des Herrn Landrats ausgeraubt hatte, während sich eine Etage tiefer die Maskenpaare im Tanze drehten. Die braven Lankener kamen aus der Aufregung gar nicht heraus. Die ungeheuerlichsten Gerüchte schwirrten umher. Wo der arme Fehlhauser sich zeigte, wurde er angestarrt wie ein Wundertier. Leute, die den Polizeiinspektor Gruber bisher kaum gekannt hatten, drängten sich jetzt förmlich an ihn heran, um ihm irgend eine Neuigkeit zu entlocken. Dabei wußte Gruber so gut wie nichts, trotzdem er sich den Anschein gab, als ob ‚der Berliner‘ Hand in Hand mit ihm arbeitete. Das gerade Gegenteil war der Fall. Fehlhauser weihte niemanden in das bisherige Resultat oder in seine weiteren Absichten und Pläne ein. Stumm, leidenschaftslos und kühl berechnend sammelte er seine Beweise gegen den Schuldigen. Eine harte Arbeit war’s für ihn, der in der Stadt völlig unbekannt war und sich daher oft nach Kleinigkeiten erkundigen mußte, die jeder Gassenjunge wußte. Trotzdem war er unermüdlich tätig. Seine Berufsehre stand ja auf dem Spiel. Arglos, zu arglos war er dem gewalttätigen Verbrecher in die Falle gegangen. Durch seine Schuld – denn diese Unvorsichtigkeit war ein grober Fehler gewesen, den er sich selbst nicht verzieh – hatte der Gauner Banknoten und Juwelen im Werte von beinahe dreißigtausend Mark erbeutet. Diese Rechnung mußte er mit dem gewiegten Spitzbuben ausgleichen, koste es, was es wolle. Es war also nicht niedriges Rachegelüst, was des Kommissars Eifer ständig frisch erhielt und ihn Tag und Nacht an diesem neuen Kriminalfall arbeiten ließ. –
Der fünfte Morgen nach jenem Maskenfest beim Geheimrat von Oppen war angebrochen. Fehlhauser saß in seinem Hotelzimmer am Schreibtisch und überflog nochmals seine Aufzeichnungen, die er heute dem Staatsanwalt vorlegen wollte. Sein Werk war getan. Mehr Belastungsmaterial, als er gegen die eine Person zusammengetragen hatte, ließ sich überhaupt nicht herbeischaffen. Davon war er überzeugt.
* * *
Das Landgerichtsgebäude in Lanken, in dem auch die Bureaus der Staatsanwaltschaft untergebracht waren, wirkte mit seiner niedrigen, unschönen Straßenfront und den vergitterten kleinen Fenstern wie ein düsteres Gefängnis. Fehlhauser wußte in dem alten Steinkasten mit den ausgetretenen Treppen bereits vollkommen Bescheid. Er suchte ja nicht zum ersten Mal den Staatsanwalt Euler zu einer dienstlichen Besprechung auf. Dieser, ein noch junger Mann mit einem sympathischen Gesicht, hatte soeben erst sein Bureau betreten, als einer der Gerichtsdiener ihm den Kommissar meldete.
Nach kurzer Begründung nahmen die beiden Herren an dem in der Mitte des Zimmers stehenden großen Tische Platz.
„Nun, Herr Kommissar,“ begann Euler sofort, „Sie machen ja heute ein so feierliches Gesicht. Ist für mich die Zeit des geduldigen Wartens vorüber und wollen Sie mir nun endlich mitteilen, auf wen sich Ihr Verdacht gelenkt hat?“ – Das sollte scherzhaft klingen, und doch lag in dem Ton etwas wie ein leiser Vorwurf.
„Haben Sie von den Gerüchten gehört, Herr Staatsanwalt, die in der Stadt im Umlauf sind?“ fragte Fehlhauser ernst, ohne eine direkte Antwort zu geben.
„Was gehen uns die Redereien an! Müßiges Geschwätz, – weiter nichts!“ meinte Euler wegwerfend.
„Die allgemeine Meinung, – die sogenannte Stimme des Volkes, hat oft genug schon das Richtige getroffen,“ entgegnete der Kommissar mit Nachdruck.
Der Staatsanwalt schaute sein Gegenüber fast erschreckt an.
„Soll das etwa heißen, daß an diesen Gerüchten, die als den Täter einen Angehörigen der ersten Kreise hinstellen, etwas Wahres ist?“ fragte er dann erregt.
Fehlhauser nickte. „Leider, Herr Staatsanwalt, leider. – Ich möchte Ihnen jedoch, bevor ich auf den Hauptpunkt unserer heutigen Unterredung eingehe, einige Aufklärungen geben. Sie scheinen es mir etwas verargt zu haben, daß ich mich auch Ihnen gegenüber hinsichtlich meiner Ermittlungen so gänzlich ausgeschwiegen habe. Aber ich mußte gerade in diesem Falle mit größter Vorsicht zu Werke gehen. Niemand von all den Personen, die ich bisher vernommen habe, durfte ahnen, was ich mit meinen Fragen bezweckte. Doppelt wunderbar ist es daher, daß trotzdem so zutreffende Gerüchte laut werden konnten. Vielleicht ist der Täter hierdurch gewarnt worden, – vielleicht, wenn ich’s auch nicht glaube. Ich jedenfalls durfte ihm auch nicht die geringste Veranlassung zu der Annahme geben, daß die Behörde sich mit seiner Person näher beschäftigte. Und um dies ausführen zu können, mußte ich auch Ihnen gegenüber mich in Schweigen hüllen.“
Fehlhauser machte eine kleine Pause.
„Nehmen wir einmal an, Herr Staatsanwalt,“ fuhr er dann fort, „ich hätte Ihnen z.B. gleich bei unserer ersten Besprechung vor vier Tagen gesagt, daß ich den Grafen Axel Kaisenberg für den seit einem halben Jahr so eifrig gesuchten Spitzbuben halte.“
Euler fuhr auf.
„Axel Kaisenberg? Habe ich richtig gehört?“
„Allerdings. – Doch erledigen wir zuerst das begonnene Thema. – Wenn Sie nun also gewußt hätten, welche Verdachtsgründe gegen den jungen Grafen vorliegen, wäre es Ihnen dann möglich gewesen, ihm wie bisher freundschaftlich die Hand zu schütteln und völlig harmlos zu tun? – Sie sind doch in den letzten Tagen mit Axel Kaisenberg mehrmals in den Müllerschen Weinstuben zusammengetroffen. Hätten Sie da wohl so tadellos den gänzlich Ahnungslosen spielen können, wenn ich Sie vorher eingeweiht haben würde?“
„Hm. So unrecht haben Sie nicht,“ mußte Euler zugeben. „Schauspielern ist immer meine schwache Seite gewesen.“
„Nun also! Wie gut, daß ich schwieg. Gerade aus Ihrem unveränderten Benehmen wird der junge Graf schließen, daß auf ihn noch keinerlei Verdacht gefallen ist. Vielleicht läßt er sich daher jetzt desto leichter überrumpeln.“
„Aber so sagen Sie mir doch nur endlich, wie Sie gerade auf den Kaisenberg gekommen sind!“ rief Euler kopfschüttelnd. „Mein Verstand will das gar nicht recht fassen. Und doch, wenn Sie so etwas behaupten, werden Sie ja wohl Ihre Gründe haben.“
Fehlhauser hatte jetzt seine Aufzeichnungen hervorgeholt und reichte sie dem Staatsanwalt über den Tisch hin.
„Hier finden Sie die sämtlichen Verdachtsmomente zusammengestellt,“ erklärte er. „Lesen Sie sich alles in Ruhe durch. Ich werde inzwischen diesen anscheinend ganz neuen Kommentar zum Strafgesetz durchblättern.“
Euler hatte den ersten Bogen entfaltet. Als Überschrift stand darauf:
Untersuchungssache gegen den Grafen Axel Kaisenberg wegen fünf Einbruchsdiebstählen und einem Fall von gefährlicher Körperverletzung.
Dann reihten sich Punkt für Punkt folgende Ausführungen an.
1. An den Abenden, an denen die fünf Einbruchsdiebstähle verübt wurden, war regelmäßig der Angeschuldigte als Gast in dem betreffenden Hause anwesend. –
2. Die Art der Ausführung der Diebstähle zeigt, daß der Täter einmal eine so genaue Kenntnis von den örtlichen Verhältnissen in den betreffenden Häusern besaß, wie sich ein gewöhnlicher Einbrecher eine solche nie hätte verschaffen können, dann aber auch, daß er ebenso genau wußte, wo er Geld und Geldeswert zu suchen hatte. Mithin kommt nur eine Person in Betracht, die die betreffenden Familien seit längerer Zeit genau kannte. – Dies trifft bei dem Angeschuldigten zu.
3. Graf Axel Kaisenberg ist ein leidenschaftlicher Spieler. Er hat fast regelmäßig mit Verlust gespielt und Summen verloren, die seine Gesamteinkünfte weit übersteigen. Dies wurde mir durch Geheimrat von Oppen bestätigt. Der ältere Graf Kaisenberg ist nie in der Lage gewesen, die Spielschulden seines Stiefbruders begleichen zu können, sondern hat ihm nur gelegentlich mit kleineren Summen ausgeholfen. Trotzdem hat Graf Axel seine Verpflichtungen regelmäßig innerhalb von drei Tagen beglichen. Durch vorsichtiges Ausforschen des Geheimrats von Oppen ist nun festgestellt worden, daß zwei der Einbrüche, die beim Baron von Alten und bei Herrn von Redern, ausgeführt wurden, nachdem der Angeschuldigte zwei Tage vorher größere Summen im Spiel verloren hatte. Axel Kaisenberg hat des weiteren im verflossenen Sommer vier Reisen nach Berlin unternommen, von denen er stets innerhalb weniger Tage zurückkehrte. Der Zeitpunkt dieser Reisen, die nur den Zweck gehabt haben dürften, die erbeuteten Juwelen in der Hauptstadt zu veräußern, fällt regelmäßig immer auf die nächste Woche nach den rätselhaften Einbruchsdiebstählen.
4. Der Verdacht des Angeschuldigten erfährt eine besondere Verstärkung durch die Ereignisse, die mit dem letzten, beim Geheimrat von Oppen verübten Diebstahl in Zusammenhang stehen. – Kurz vor Beginn des Maskenfestes betrat Graf Axel unter einem Vorwand, der sich jetzt als erfunden herausgestellt hat, mein Hotelzimmer, und dies nur in der Absicht, um in Erfahrung zu bringen, in welchem Kostüm ich auf dem Ball erscheinen würde. Woher er diese Kenntnis erhielt, vermochte ich nicht herauszubringen. Gerade dieses Interesse für meine Person ist überaus verdächtig.
5. Der Angeschuldigte hat, wie Geheimrat von Oppen mir gestern zugeben mußte, von dem Geheimfach in der Wand Kenntnis gehabt. Vor etwa vierzehn Tagen kam nämlich Graf Axel zu Herrn von Oppen und fragte diesen, ob sie sich nicht zusammen ein Safe in der in Lanken neu eingerichteten Filiale der Ostpreußischen Bank mieten wollten. Oppen lehnte ab. Er habe einen sicheren Aufbewahrungsort für seine Wertsachen. Worauf Axel Kaisenberg erwiderte, sicher seien einzig und allein die Gewölbe einer Bank. Der arglose Geheimrat wiedersprach und zeigte zum Beweise für seine Behauptung dem Angeschuldigten das durch das Bild so tadellos verdeckte Geheimfach, ja öffnete diesen sogar, wobei Axel Kaisenberg den fein gearbeiteten Schlüssel bewunderte und auch einige Minuten in der Hand behielt. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß der Angeschuldigte dabei heimlich einen Wachsabdruck von dem Schlüssel nahm und sich danach irgendwo einen Nachschlüssel hat anfertigen lassen. Wo, konnte nicht ermittelt werden.
6. Der Angeschuldigte hat hierauf offenbar den Entschluß gefaßt, die nächste Gelegenheit zu benutzen, um das Geheimfach auszuräumen. Als er nun, wie schon zu 4 erwähnt, erfuhr, daß ich den Maskenball, den er sich seiner bisherigen Methode getreu für die Ausführung ausersehen hatte, mitmachen würde, fürchtete er durch mich gestört zu werden und suchte sich daher meiner zu entledigen.
7. Den schwarzen Domino, unter dem Axel Kaisenberg seinen GigerlAnzug verbarg, als er mich aufforderte ihm zu folgen, hatte er sich heimlich aus der Herrengarderobe geholt, wo der sorgliche Gastgeber für die älteren Herrschaften, die nicht in Kostüm erscheinen wollten, fünf verschiedenfarbige Dominos hatte bereit legen lassen.
8. Axel Kaisenberg hat an dem Festabend gegen halb zwölf Uhr nachts, das Haus des Herrn von Oppen verlassen, wie einer der Diener anzugeben wußte. Er dürfte dies getan haben, um seinen Raub irgendwo zu verbergen. Bei seiner Rückkehr ist er jedoch nicht beobachtet worden.
9. Axel Kaisenberg hat sich vor einem halben Jahre von dem hiesigen Kreistierarzt Weber Chloroform verschreiben lassen, um seinen Foxterrier damit zu vergiften, den er ein möglichst schmerzloses Ende bereiten wollte. Mit Chloroform wurde ich damals für Stunden unschädlich gemacht. Sonst ist an Privatpersonen der hiesigen Gegend kein Chloroform abgegeben worden, wie der Apotheker festzustellen in der Lage war.“ –
* * *
Staatsanwalt Euler hatte die Lektüre dieses eingehenden Berichtes beendet. Mehrere Punkte waren von ihm des öfteren mit anderen verglichen worden, um einen recht genauen Überblick zu gewinnen.
Als er jetzt aufschaute, lag seine Stirn in nachdenklichen Falten.
„Sie haben da in wenigen Tagen wirklich eine unglaubliche Menge Material zusammengetragen, Herr Kommissar,“ erklärte er anerkennend. „Schade nur, daß in dieser Ihrer schriftlichen Zusammenstellung sich nicht ein einziger tatsächlicher Beweis befindet. Der Indizienbeweis gegen den Grafen Kaisenberg ist ja fast lückenlos, – aber es bleiben doch immer Indizien. Und Sie werden ja selbst aus Ihrer Praxis wissen, wie schwer sich darauf eine Anklage aufbauen läßt, besonders da wir hier, wo es sich um eine bisher völlig unbescholtene Person handelt, überaus vorsichtig sein müssen. Der gute Ruf eines Menschen ist leicht für immer zerstört. Darum – ganz allein übernehme ich die Verantwortung nicht, irgendwie gegen den Grafen vorzugehen, obwohl Ihr Beweismaterial ja entschieden auf ihn als den Täter hindeutet. Denn das Ineinandergreifen so vieler Ereignisse kann unmöglich ein zufälliges sein. – Ich werde daher meinem Vorgesetzten, dem Herrn Staatsanwalt am hiesigen Landgericht, noch heute Ihre schriftlichen Aufzeichnungen unterbreiten und seiner Entscheidung alles anheimstellen. – Sie haben doch für jede Ihrer Behauptungen die notwendigen Zeugen, nicht wahr?“
„So weit es sich um die zu meinen Kombinationen verwendeten Punkte handelt – natürlich.“
Euler nickte zufrieden. „Noch eins, Herr Kommissar. – Wie haben Sie es denn nur fertig gebracht, diese vielleicht später sehr wertvollen Zeugen so auszuforschen, daß sie nicht merkten, auf wessen Person Sie es bei Ihren Ermittlungen besonders abgesehen hatten? Ich denke z.B. hauptsächlich an Herrn von Oppen. Sollte der wirklich noch nicht ahnen?“
Fehlhauser zuckte die Achseln. „Möglich, daß der Geheimrat nicht mehr ganz harmlos ist. Gezeigt hat er’s nicht. Sie müssen bedenken, Herr Staatsanwalt, daß wir Kriminalbeamten so unsere eigene Art haben die Menschen auszufragen. Das, worauf es uns ankommt, hüllen wir sozusagen durch unzählige überflüssige Fragen in einen undurchdringlichen Schleier. Außerdem habe ich auch überall betont, sobald der Name Axel Kaisenberg bei meinen Gesprächen mit den verschiedenen Leuten auftauchte, daß der Graf natürlich nicht als Täter in Frage kommen könnte und daß ich einen alten gewiegten Berliner Einbrecher für den Dieb halte, der hier hin und wieder in der Provinz Gastrollen gibt.“
Euler wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.
„Wie dann nur dieses Gerücht, von dem wir vorhin sprachen, entstanden sein kann?“ meinte er sinnend. „Ich fürchte, ich fürchte, Sie rechnen zu bestimmt darauf, daß Sie Ihre wahre Meinung vor jedermann verborgen haben. Was nun, wenn der Graf sich z.B. plötzlich heimlich aus dem Staube machte? Dann hätten wir das Nachsehen!“
Der Kommissar lächelte still vor sich hin.
„Das dürfte ihm schwer fallen. Seit zwei Tagen wird Axel Kaisenberg von einem meiner Unterbeamten, den ich mir nachkommen ließ, unauffällig verfolgt – ich bin jederzeit derart über seinen Aufenthalt orientiert, daß seine Verhaftung noch in dieser Stunde erfolgen kann.“ –
Axel Kaisenberg stand auf dem Bahnsteig des Elbinger Bahnhofs und wartete auf den DZug EydtkuhnenBerlin. Vorsichtig hielt er sich ganz am Ende des Perrons auf, da er eine hier sehr leicht mögliche Begegnung mit Bekannten vermeiden wollte. Aber er hatte Glück. Niemand war da, der später hätte berichten können, wie der einst so beliebte jüngste Kaisenberg scheu die alte Heimat, voraussichtlich für immer, verließ.
Der Zug donnerte heran. Bald hatte Axel ein Raucherabteil 1. Klasse gefunden, in dem nur ein einzelner Herr saß. Nachdem er seine Reisetasche im Gepäcknetz untergebracht, nahm er den zweiten Fensterplatz dem Fremden gegenüber ein, entfaltete eine eben auf dem Bahnsteig gekaufte Zeitung und vertiefte sich anscheinend eifrig in den politischen Teil auf der ersten Seite.
In Wahrheit las er keine Zeile. Seine Gedanken irrten unablässig zurück in die jüngste Vergangenheit, wo er vor den Schranken des Gerichts gestanden und dann als ein Ausgestoßener, Geächteter das düstere Gebäude verlassen hatte. Nicht Reue quälte ihn, nein, eine wilde Wut, ein Durst nach Rache, der so mächtig in ihm war, daß er unwillkürlich das Zeitungsblatt achtlos zusammenknüllte. Er warf es beiseite und schloß die Augen. In seinem Hirn kreiste immer nur das eine: Freigesprochen aus Mangel an Beweisen. – Hahaha! Das war überhaupt kein Freispruch! –
Was aber nun? Sollte er nach Amerika gehen und dort vielleicht als Kellner sein Glück versuchen? Unsinn! Er hatte die Abenteurerlaufbahn nun schon einmal betreten, also wollte er auch dabei bleiben. Denn die dreitausend Mark, die sein Stiefbruder ihm mitgegeben hatte, würden ja doch nicht lange reichen. Und den letzten Raub, den er bei Oppens gemacht hatte, durfte er vorläufig nicht aus dem Versteck hervorholen, wo er ihn vergraben hatte. Also! Was blieb ihm übrig? – Arbeiten? Nie – nie!
Unwillkürlich begann er Pläne zu schmieden. Seine vielseitigen Sprachkenntnisse, seine tadellosen Umgangsformen mußten ihm den Hochstaplerberuf notwendig erleichtern. Zunächst galt es aber, jede Spur hinter sich zu verwischen. Denn fraglos behielt ihn dieser schlaue Berliner Kriminalkommissar doch auch weiterhin noch im Auge. Er mußte also spurlos zu verschwinden suchen. – Eigentlich unter diesen Umständen ein Unsinn, daß er mit seinem Stiefbruder verabredet hatte, dieser solle ihm eventuell Nachrichten hauptpostlagernd nach New York schicken. Er würde vorläufig ja doch nicht über den großen Teich gehen. Etwas anderes schwebte ihm als Reiseziel vor Augen: Monte Carlo, dieses Eldorado der Spieler und Glücksritter. Er kannte es nur zu genau. Kannte auch Paris, das leichtlebige Paris. Das war ebenfalls so ein Pflaster für ihn –
Der Zug fuhr mit verminderter Geschwindigkeit über die gewaltige Dirschauer Eisenbahnbrücke. Unten auf dem Flusse schleppte ein kleiner Dampfer keuchend und pustend drei hochbeladene Frachtkähne stromauf.
„Wie tadellos hier die Ufer der Weichsel befestigt sind,“ sagte da plötzlich Axels bisher recht schweigsamer Reisegefährte und wies auf die in den Fluß hineinragenden gemauerten Bunen hin. „Bei uns in Rußland ist das anders – leider!“ Der Fremde sprach ein tadelloses, doch etwas scharf akzentuiertes Deutsch. Bald waren die beiden in eifriger Unterhaltung begriffen. Und als der Zug dann den Dirschauer Bahnhof verließ, nahm Axels Mitreisender Veranlassung, sich vorzustellen.
„Graf Viktor Elbendorf aus Kurland.“
Blitzschnell schoß Axel ein Gedanke durch den Kopf. Graf Kaisenberg – den Namen durfte er nicht angeben. Man mußte für alle Fälle vorsichtig sein.
„Baron von Wrangel,“ taufte er sich daher kurz entschlossen um.
Graf Elbendorf, der im gleichen Alter wie Axel stand, schien an dem ebenbürtigen Reisegefährten schnell Gefallen zu finden. Man freundete sich während der Fahrt schließlich derart an, daß die beiden Herren nachher in Berlin in demselben Hotel abstiegen, wo man die Lebewelt der Hauptstadt antrifft und wo das Geld so gut wie keinen Wert zu haben scheint. –
* * *
Einer der vornehmsten Klubs der französischen Hauptstadt ist unzweifelhaft der NobiliteKlub, dessen inmitten eines uralten Parks gelegenes Haus zu den eigenartigsten Bauwerken von Paris gehört.
In dem von der mächtigen Haupttreppe überwölbten Festsaal tagte an einem Dezemberabend die satzungsgemäße Monatsversammlung. Der große, ganz in Hellblau und Gold gehaltene Raum war durch die unter farbigen Glocken aufleuchtenden Glühbirnen in ein gedämpftes Licht getaucht, das sich in matten Reflexen auf den breiten Goldrahmen der an den Wänden hängenden alten Gemälde widerspiegele und den Gesichtern der Anwesenden den warmen Fleischton der Tizianschen Engelsköpfe verlieh. Ungefähr dreißig Herren saßen um die hufeisenförmig gestellten schweren Eichentische in bequemen Polsterstühlen und folgten meist etwas gelangweilt den geschäftlichen Erörterungen. Soeben hatte der Schatzmeister Graf d’Auberville für das verflossene Jahr Rechnung gelegt und bei dieser Gelegenheit mitgeteilt, daß das Klubvermögen nunmehr durch verschiedene Zuwendungen bis auf rund zwei Millionen gestiegen sei. Vor ihm auf dem grünen Bezug des Tisches stand eine offene Kasette, die mit Geldrollen und Banknotenpäckchen bis oben gefüllt war. Nachdem dann der Präsident Vikomte de Tisserant die darin enthaltenen Beträge durchgezählt hatte, ließ er seine Glocke ertönen und die Verhandlungen nahmen ihren Fortgang. Sein Antrag, die bereit gestellte Summe von fünfzigtausend Francs zur Tilgung einer noch auf dem Gebäude lastenden Hypothekenschuld zu verwenden, wurde einstimmig angenommen und darauf zum letzten Punkt der Tagesordnung, der Aufnahme eines neuen Mitglieds, übergegangen. –
Als sich der Vikomte jetzt nach Gegenzeichnung der Kassenbücher von seinem Platze erhob, richteten sich einzelne Herren doch etwas interessierter auf. Man hatte schon manches von diesem russischen Krösus gehört, dessen Aufnahmegesuch heute erledigt werden sollte, und war daher gespannt, wie die Auskunft über ihn lauten würde.
„Graf Viktor Elbendorf,“ begann er, nachdem er einer Mappe mehrere Papiere entnommen und zur Durchsicht weitergereicht hatte, „entstammt einem der ältesten und reichsten Adelsgeschlechter Kurlands und ist uns von Petersburg aus aufs beste empfohlen worden. Der Graf hat sich schon vor mehreren Wochen schriftlich an mich gewendet, den Tag seiner Ankunft angemeldet und um Einführung in unseren Kreis gebeten. Vor drei Wochen erhielt ich dann ein Telegramm aus Berlin, das seine Reise sich infolge einer plötzlichen Erkrankung verzögert habe und er mir daher erst später als angekündigt seinen Besuch abstatten könne. Trotz dieser Nachricht ließ er sich bereits gestern vormittag bei mir melden. Ich hatte nach dem Inhalt der Depesche erst in einer Woche auf seine Ankunft gerechnet, freue mich aber aufrichtig, daß seine Indisposition sich so schnell gebessert und ihm die Weiterfahrt gestattet hat, da man selten die Bekanntschaft eines so liebenswürdigen und trotz seines gemessenen Auftretens durchaus bescheidenen jungen Aristokraten machen kann. Graf Elbendorf steht jetzt im 26. Lebensjahr und ist, wie die Herren sich bald selbst überzeugen werden, ein ebenso feingebildeter wie geistreicher Gesellschafter, der mit seinen grauen, lebhaften Augen wahrscheinlich noch manches Unheil bei unserem schönen Geschlecht anrichten wird. Ich selbst kann sein Aufnahmegesuch nur unterstützen, nicht nur auf Grund seiner Empfehlungen, sondern auch infolge des vorzüglichen Eindrucks, den er als mein vorläufiger Gast schon während unseres kurzen Beisammenseins auf mich gemacht hat. Er besitzt hier in Paris keine Bekannten und hat mich daher ersucht, seine Aufnahme in den Klub möglichst zu beschleunigen. Da irgendwelche Bedenken kaum vorzubringen sind, bitte ich sofort zur Abstimmung zu schreiten. Und ich hoffe dem jungen Kurländer, den ich für den heutigen Abend eingeladen habe und der mich wahrscheinlich schon unten im Lesezimmer erwartet, bald mitteilen zu können, daß er der Ehre der Mitgliedschaft für würdig befunden ist.“
Der Vikomte schloß diese kurze Rede mit einer Verbeugung und ließ dann, da sich niemand weiter zum Wort meldete, an jeden der Herren eine weiße und eine schwarze kleine Elfenbeinkugel verteilen und die silberne Urne zu Abstimmung herumgehen. Mit klingendem Ton fielen die Kugeln hinein. Und nicht eine schwarze fand sich darunter. –
Wenige Minuten später öffnete ein alter Diener, der die zur Zeit Ludwig des Vierzehnten übliche reichgestickte Livree mit Wadenstrümpfen und Schnallenschuhen trug, die Flügeltüren des Saales und ließ den jungen Grafen eintreten. Der Präsident ging Elbendorf höflich entgegen, stellte ihn den einzelnen Herren vor und vereidigte ihn dann nach kurzer Ansprache durch Handschlag auf die Statuten. Inzwischen hatte man Zeit, den neuen Klubgenossen prüfend zu mustern. Der Kurländer war von schlanker, mittelgroßer Figur, die in dem tadellos sitzenden Frackanzug noch vorteilhafter zur Geltung kam. Seine geschmeidigen Bewegungen und das frische Gesicht mit dem kleinen Schnurrbärtchen wirkten sehr jugendlich, während das sichere Auftreten und die vornehme Ruhe und Gewandtheit, mit der er jetzt in fließendem Französisch seinen Dank für die Aufnahme in den Klub ausdrückte, eine erprobte gesellschaftliche Schulung verriet. Als er in herzlichem Tone von der aufrichtigen Freude sprach, die er bereits gestern infolge der liebenswürdigen Gastfreundschaft des Vikomte de Tisserant empfunden hatte, und dann weiter betonte, wie wohltuend er, der Fremdling durch das Entgegenkommen seiner Standesgenossen berührt sei, das ihm hier in Paris eine zweite Heimat erschlossen habe, da hatte er sich schnell die vollsten Sympathien dieses auserlesenen Kreises erworben, in dem der Wert des einzelnen nur zu sehr nach dem oberflächlichsten äußeren Eindruck bemessen wurde. Niemanden war es aufgefallen, daß die halb verschleierten Blicke des Kurländers ganz unauffällig immer wieder die Anwesenden prüfend überflogen und jetzt nur einen Moment auf der Kasette haften blieben, deren Deckel d’Auberville soeben über den fünfzigtausend Francs zuklappte.
Als der Präsident darauf die Sitzung aufhob und die Herren sich in die unteren Klubräume zerstreuten, um den Rest des Abends je nach Neigung am Spieltisch, in der reichhaltigen Bibliothek oder einem der mit raffiniertestem orientalischen Luxus ausgestatteten Salons zuzubringen, schloß Elbendorf sich dem Vikomte an, der zunächst noch mit dem Schatzmeister die Geschäftsbücher und die Kasette in dem Geldschrank des Vorzimmers verwahren und einige notwendige Anordnungen treffen wollte.
„Lieber Graf, Sie müssen mich einen Augenblick entschuldigen,“ meinte Tisserant, als sie die mit dicken Läufern belegten Marmortreppen hinabstiegen und das neben der Bibliothek liegende Vorstandszimmer betraten. „Nehmen Sie bitte Platz. – Ich möchte Sie nachher gern einmal durch unseren Besitz führen, Ihnen auch die in der oberen Galerie untergebrachte Gemälde- und Waffensammlung zeigen. Falls Sie irgend eine Erfrischung wünschen, brauchen Sie nur zu läuten.“
Elbendorf begnüge sich mit einer Zigarette, die er auf dem Rauchtischchen vorfand, setzte sich in einen der breiten rotledernen Klubsessel und begann in einer Zeitung zu blättern, während Graf d’Auberville sich an dem großen, halb in die Wand eingelassenen Panzerschrank zu schaffen machte und der Vikomte an seinem Schreibtisch mehrere Briefsachen durchsah. Als das Kunstschloß jetzt mit klingendem Ton aufschnappte und die schwere Tür des Geldspindes sich geräuschlos öffnete, ließ der Kurländer die Zeitung sinken, erhob sich langsam und schien nach einem Zündholz für seine ausgegangene Zigarette zu suchen. Dabei entging ihm aber keine Bewegung d’Aubervilles, der gerade die Kasette in eines der oberen Fächer des Schrankes hineinstellte.
Tisserant schaute jetzt von seinen Papieren auf, bot Elbendorf Feuer an und sagte lächelnd:
„Sie langweilen sich, Graf, nicht wahr? – Diese Kontorumgebung soll Sie aber nicht länger festhalten. Ich bin sofort mit meiner kaufmännischen Tätigkeit fertig und kann mich Ihnen dann vollständig widmen.“
„Langweilen? – Nicht im geringsten,“ meinte Elbendorf verbindlich und kehrte auf seinen Platz zurück. Er vertiefte sich wieder in die Lektüre des ‚Matin‘, ohne sich anscheinend weiter um die beiden Vorstandsmitglieder zu kümmern, die jetzt leise einige Klubangelegenheiten besprachen. Als dann aber Graf d’Auberville den Kassenschrank schließen wollte und auch der Vikomte mit einem Seufzer der Erleichterung das Tintenfaß zuklappte und die auf dem Schreibtisch stehende elektrische Lampe ausdrehte, rollte Elbendorf die Zeitung schnell zusammen und sagte aufstehend:
„Die Herren würden mich sehr verbinden, wenn Sie mir gestatten wollten, einen Teil des Inhalts meiner Brieftasche hier zu deponieren. Ich trage eine ziemlich bedeutende Summe bei mir und habe bisher noch nicht Gelegenheit gehabt, meinen Bankier aufzusuchen.“
Damit zog er aus der innersten Tasche seiner Frackweste eine Brieftasche heraus und entnahm ihr mehrere Banknoten, die er nachlässig durchzählte und dann zusammenfaltete.
Tisserant hatte nur mit einem kurzen: „Aber bitte, lieber Graf!“ geantwortet und reichte ihm jetzt einen einfachen gelben Umschlag, in den der junge Kurländer die Scheine hineinschob. Dann wollte Elbendorf mit dem Bleistift, den er an einer dünnen goldenen Kette zusammen mit Zigarrenabschneider, Messerchen und einer runden Geldkapsel trug, seinen Namen auf das Kuvert schreiben, ohne es vorher irgendwie zu schließen. Aber d’Auberville erhob wie abwehrend seine wohlgepflegte weiße Hand und meinte lächelnd: „Verzeihung – auch hierbei müssen wir uns an die Klubsitte halten, Graf Elbendorf. Es kommt bei uns häufiger vor, besonders nach etwas lebhaften Spielabenden, daß unsere Herren für kurze Zeit größere Beträge hier aufbewahren. Dies geschieht aber nur gegen Empfangsbescheinigung und Übergabe eines versiegelten Umschlags, auf dem die Summe und der Name vermerkt sind.“
„Wozu die Umstände,“ lachte der Kurländer ohne jede Spur von übertriebener Sorglosigkeit. „Aber – wenn’s nicht anders geht!“ – Und bereitwillig verschloß er den Umschlag und fügte die gewünschte Aufschrift hinzu. –
Inzwischen stellte ihm der Schatzmeister eine kurze Empfangsbestätigung aus und warf dann nachdem er das Kuvert in das unteren Fach gelegt hatte, die schwere Panzertür zu. Mit hellem Klang schnappte der Riegel ein.
Elbendorf war vor dem mächtigen Geldspind stehen geblieben und schaute ihn sich nachdenklich an. Dann sagte er kopfschüttelnd, wobei über sein jugendliches Gesicht ein Ausdruck naiver Verwunderung flog:
„Ich habe mir schon manchmal überlegt, wie die Herren Einbrecher es nur fertig bekommen, dieses Gefüge aus härtestem Stahl zu sprengen. Bei mir daheim steht in unserem Verwaltungsgebäude auch so ein eisernes Ungetüm, allerdings eine andere Konstruktion, und daran hatten einmal ein paar Spitzbuben – es müssen die reinsten Dilettanten gewesen sein – in einer Nacht ihre Kunst ganz erfolglos versucht, wie wir an den Spuren der angesetzten Stemmeisen nachher sehen konnten. Sie erreichten nichts weiter – als einige Jahre Einzelhaft in dem Zuchthaus zu Riga, da sie beim Herausklettern aus dem vorher eingedrückten Fenster von unserem Wächter und seinen großen Doggen gestellt wurden.“
Graf d’Auberville tauschte mit dem Vikomte einen schnellen Blick, der nur der ehrlichen Harmlosigkeit des jungen Kurländers galt. Dann meinte der letztere, in dem er mit dem Zeigefinger gegen die Wand des Schrankes klopfte:
„Lieber Graf, in diesem Behälter sind Ihre Banknoten mehr wie gut verwahrt! Wer nicht im Besitze des passenden Schlüssels ist, dürfte tagelang arbeiten, um diese aus Eisen, Kupfer und Stahl zusammengeschweißten Platten ‚aufzuknacken‘. Und bekanntlich liefern die Fabrikanten nur immer zwei Schlüssel dem Käufer eines Geldschrankes aus, während ein dritter unter besonderen Vorsichtsmaßregeln in den Händen des Fabrikanten verbleibt und nur bei gehörigem Ausweis zu erlangen ist, so ist dieser jedenfalls vollkommen sicher. Ich wüßte nicht, wie man mir mein Schlüsselbund, das ich stets bei mir trage und das nachts unter meinem Kopfkissen liegt, so leicht rauben sollte.“
Elbendorf lächelte etwas verlegen.
„Herr Vikomte, ich habe dieses Thema wahrhaftig nicht angeschnitten, weil ich um mein Geld irgendwie besorgt bin, wirklich nicht! Ich interessiere mich nur im allgemeinen für Kriminalistik, besonders eben für diesen ewigen Krieg zwischen den besitzenden Klassen und jenen genialen Bösewichtern, die diesen Kampf mit Ausnutzung der besten technischen Erfindungen immer aufs neue beginnen. –
Es steckt doch eine ganze Menge Romantik in dem modernen Verbrechertum. Das ist nicht abzuleugnen,“ fügte er sinnend hinzu. Aber die beiden französischen Aristokraten merkten nichts von dem überlegenen Spott, der so fein durch die letzten Worte klang. –
„Eine Romantik, die meist hinter Kerkermauern in traurigste Wirklichkeit umschlägt,“ spann Tisserant den Gedanken weiter aus. – „Aber wir wollen uns doch nicht mit den Schattenseiten des Daseins beschäftigen, meine Herren,“ fuhr der schnell ablehnend fort. „Vielmehr können wir jetzt endlich den für Sie sicherlich recht interessanten Rundgang durch unser Haus beginnen, Graf Elbendorf. Der mit geschäftlichen Sorgen überladene Präsident des NobiliteKlubs bleibt stets in diesem vergitterten Raume zurück. Da draußen bin ich nur der ‚tolle Vikomte‘, wie mich die Pariser Skandalblätter zu titulieren pflegen. Und der wird Sie jetzt in die wenigen Geheimnisse dieser Räume einweihen, auf deren Kenntnis Sie als Mitglied ja ein statutenmäßiges Recht besitzen.“ –
d’Auberville schloß sich den beiden nicht an, sondern blieb in einem der Spielzimmer zurück, wo seine WhistPartner ihn schon sehnsüchtig erwarteten. Nachdem der Vikomte dann den jungen Kurländer durch die Zimmerfluchten der beiden Etagen geführt und ihn auch auf manches seltene Stück der Einrichtung aufmerksam gemacht hatte, wobei Elbendorf eine ungewöhnliche Kenntnis des antiken Kunstgewerbes verriet, betraten sie wieder die Bibliothek, in der sich zur Zeit niemand aufhielt. Tisserant drehte das Licht der beiden Kronleuchter an, verschloß die Türen und wandte sich darauf seinem Begleiter zu, der diesem Beginnen erstaunt zugesehen hatte.
„Ich muß Ihnen jetzt lieber Graf,“ begann der Vikomte mit unterdrückter Stimme, „einiges aus der Geschichte unseres Klubs erzählen, damit Sie begreifen, aus welchen Gründen die Erbauer dieses Hauses auf die etwas romantisch anmutende Idee gekommen sind, außer den eigentlichen Klubräumen noch andere Gemächer herstellen zu lassen, die von Unkundigen kaum aufgefunden werden können. Unsere Vereinigung wurde, wie Ihnen wohl bekannt ist, im Jahre 1848 gegründet und war seinerzeit ein Sammelpunkt für jene altadligen Familien Frankreichs, die sich mit der Neugestaltung der Verhältnisse ihres Vaterlandes nicht einverstanden erklären wollten. Da man nun bei der Unsicherheit in unserem politischen Leben mit der Wiederkehr ähnlicher Schreckenszeiten, wie sie die große Revolution schuf, rechnen zu müssen glaubte, so sollten die Angehörigen des Klubs für Tage der Not in diesem Gebäude eine sichere Zufluchtsstätte finden. Und das Vorhandensein der zu diesem Zweck geschaffenen Räume ist bis heute ein sorgfältig bewahrtes Geheimnis geblieben. Nur unseren Mitglieder, die sich ja durch Abgabe ihres Ehrenwortes gemäß Absatz 5 unseres Statuts zum Stillschweigen über alle internen Angelegenheiten verpflichtet haben, werden die unterirdischen Gemächer, in die ich auch Sie jetzt führen will, gezeigt.“
Der Vikomte trat darauf an den breiten, fast ein Drittel der Rückwand des Zimmers einnehmenden Kamin heran und drehte eine der starken Flügelschrauben, mit denen die eiserne Gittertür und ihre Umrahmung an die normale Vorderseite befestigt zu sein schien, zwei Mal langsam nach rechts und ein Mal nach links herum, worauf sich der ganze eiserne Türteil geräuschlos zurückbewegte und gleichzeitig der Boden des Kamins versank, so daß man, wenn auch in gebückter Haltung, die jetzt sichtbare Wendeltreppe erreichen konnte. Nachdem Tisserant noch schnell ein Licht angezündet hatte, ging er voraus. Nach vielleicht zwanzig Stufen hörte die Treppe auf, und soviel sich Elbendorf auch bei dem ungewissen Kerzenschein nach einer verborgenen Tür umsah, – er erblickte nichts als die gleichmäßig aneinander gefügten Mauersteine der Wände und den mit achteckigen Fliesen ausgelegten Boden des engen Schachtes. Doch der Vikomte hob schon ohne Anstrengung das unteren Ende der Treppe, die sich wie eine Schiebeleiter nach oben übereinanderlegte, und damit zugleich eine der Fliesen in die Höhe, wodurch die Fortsetzung der Treppe sichtbar wurde, die er darauf wortlos hinabstieg. Eine dumpfe, feuchte Grabesluft erfüllte das weite Gemach, in dem die beiden jetzt standen. Das flackernde Licht ließ lange, gespenstische Schatten über die verschossenen, geschweiften Möbel und verschimmelten Tapeten dieses Raumes hinlaufen, an den sich noch zwei ebenso eingerichtete Zimmer anreihten.
„Wir befinden uns hier,“ sagte Tisserant erklärend, „drei Meter unter dem hinteren Teil des Parkes. Über diesem Gemach stehen zum Beispiel die beiden alten Kastanienbäume, von denen unser Gartenpavillon beschattet ist. – Doch das wichtigste dieses sinnreich angelegten Verstecks sind die beiden weiteren Ausgänge von denen der eine in den Pavillion, der andere in die Grabgewölbe der nahen Kirche St. Merry einmündet. Sehen Sie, Graf, hier diese Rosette an dem Wandspiegel braucht man nur zu drehen, und er läßt sich wie eine Tür nach außen öffnen.“
Mit leisem Knirschen funktionierte der Mechanismus. Der Vikomte hielt den Leuchter in die Höhe, so daß Elbendorf den Anfang des gemauerten Ganges und eine in der Ausbuchtung stehende eiserne Leiter übersehen konnte.
„Dieser Gang,“ fuhr Tisserant hastig fort, als ob ihm daran läge, diese Räume möglichst schnell zu verlassen, „endet unter einem Sarkophag, der einst die Gebeine des Großvaters des Begründers unseres Klubs enthielt, jenes Grafen Hugo d’Auvergne, mit dessen Namen die glänzende Periode der Geschichte meines Vaterlandes verknüpft ist. Der Boden dieses aus kararischem Mamor gefertigten Sarges, dessen Deckel leider als eine der besten Arbeiten des berühmten Bildhauers Babtiste Pigalle den Sammlungen des Louvre einverleibt ist, läßt sich in derselben Weise wie dieser Spiegel zurückschieben. Auch dort finden sich ähnliche Rosetten, und ebenso gelangt man von jener Leiter aus durch eine Promenade nach den Gewölben der Kirche, die der verdorbenen Luft wegen – der Gang ist seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt worden – nicht einmal ganz ungefährlich sein dürfte, Aber die können wir uns wohl schenken. – –
Mir fällt schon dieser Modergeruch recht unangenehm auf die Nerven,“ fügte Tisserant leicht zusammenschauernd hinzu und ließ den Wandspiegel wieder vor die Maueröffnung gleiten.
Der junge Kurländer starrte gedankenvoll vor sich hin und schien die letzten Worte ganz überhört zu haben. Und ebenso nachdenklich folgte er dann seinem Begleiter zurück in die Bibliothek.
Gegen drei Uhr morgens verließen der Vikomte und sein Gast so ziemlich als letzte den Klub, bestiegen einen Wagen und fuhren dem in der Rue Berger gelegenen Junggesellenheim Tisserants zu. –
Der Vikomte hatte dem Wein, ganz besonders aber zum Schluß der von Elbendorf angesetzten Bowle recht stark zugesprochen und war kaum mehr fähig, auf die Fragen des Kurländers zu antworten. Während das Gefährt, eine gewöhnliche, mit zwei Pferden bespannte Taxameterdroschke in mäßiger Schnelle über den Asphalt des Boulevards de Sebastopol dahinrollte, meinte Elbendorf, indem er die Worte seinem schon halb schlummernden Begleiter fast in die Ohren schrie:
„Sagen Sie, Herr Vikomte, wird das Klubhaus eigentlich nachts noch durch einen besonderen Wächter gesichert? – Es wäre doch möglich, daß man einen Einbruch versuchte!“
Tisserant schüttelte nur leisem lallend den Kopf. Endlich bekam der eine Antwort heraus:
„Wächter? – Wozu wohl, lieber – Elbendorf? Zwecklos – zwecklos! Die Dienerschaft schläft ja im Souterrain!“
Ein Lächeln der Befriedigung huschte über des Kurländers Gesicht, das jetzt bei dem flackernden Laternenschein seinen weichen, jugendlichen Ausdruck vollkommen verloren hatte. Ein anderer war’s, der mit dem halbtrunkenen Präsidenten des vornehmsten Pariser Klubs heimfuhr und dabei mit fest zusammengekniffen Lippen und kaum merklichem Mienenspiel zunächst in Gedanken sein gefährliches Werk vollendete. Einer, der jetzt um Jahre gealtert schien, wenn es bisweilen in seinen vorher so harmlosen Augen aufflammte wie dämonische Energie und die über den etwas vorstehenden Backenknochen so fest gestraffte Haut von einem rücksichtslosen, vor nichts zurückschreckendem Wollen sprach. Der aber, der neben ihm saß, fühlte nicht die spöttisch überlegenen Blicke, mit denen er gemustert wurde, ahnte nicht, daß sich noch in dieser Nacht Ereignisse abspielen sollten, die ihn nachher zwangen, sein Amt als Vorsitzender der feudalsten Vereinigung der französischen Hauptstadt niederzulegen.
Während der Vikomte unter der seidenen Steppdecke im tiefsten Schlaf lag, jagte ein Wagen in schnellster Gangart durch die Rue Berger, bog in den Boulevard de Sebastopol ein und machte unweit des Hauses des NobiliteKlubs halt. Ein Herr sprang heraus, bezahlte den Kutscher und wartete, bis das Gefährt wieder verschwunden war. Nachdem er sich dann forschend umgeschaut hatte, ging er ganz unbefangen bis zu der Pforte des hohen eisernen Zaunes, der den Park des Klubs gegen die Straße hin abschloß, öffnete sie und schritt die Pappelallee entlang auf das Gebäude zu. Kaum hatte ihn aber die hier unter den Bäumen lagernde Dunkelheit aufgenommen, als er stehen blieb, sich mit verschränkten Armen an einen der dicken Stämme lehnte und wohl fünf Minuten in dieser Stellung verharrte, wobei nur seine Augen immer wieder prüfend über die Fenster des hohen Kuppelbaues und auch über die nahe Straße hinglitten, wo jetzt eine Kolonne der Straßenreinigung gerade bei der Arbeit war. Doch das Haus lag wie ausgestorben da, und auch auf dem Boulevard zeigte sich nichts Verdächtiges. –
Dann kam wieder Leben in die Gestalt. Ein Schatten huschte blitzschnell von Baum zu Baum, von Gebüsch zu Gebüsch, bis er den im hinteren Teil des Gartens gelegenen Pavillion erreicht hatte, dessen achteckiger, mit farbigem Schiefer bekleideter Bau sich zwischen zwei uralten Kastanienbäumen erhob. Nur wenige Sekunden dauerte es, bis die Tür sich dem geschickt gehandhabten Dietrich öffnete und der Fremde in dem Gartenhause verschwand. Dann flammte in dem dunklen Raum ein weißer Lichtstreifen auf, lief wie suchend über den mit einem Teppich belegten Boden hin und erlosch sofort wieder. Als der Lichtstrahl abermals aufblitzte, kniete der geheimnisvolle Eindringling auf der Erde, hatte den Teppich zusammengerollt und prüfte mit tastenden Fingern die rosettenförmigen Messingknöpfe, mit denen die großen achteckigen Fliesen des Fußbodens verschraubt waren. Bald war der eine gefunden, der dem Druck nachgab und sich drehen ließ, worauf die mittelste der Platten nach unten umklappte und eine schmale eiserne Leiter sichtbar wurde, die in den geheimnisvollen Gang hinabführte. –
Nichts regte sich in den mit so verschwenderischem Luxus ausgestatteten Räumen des moscheeähnlichen Gebäudes. Doch plötzlich schien aus dem großen Kamin in der Bibliothek ein leises Schnurren und Schleifen wie von aneinandergeriebenem Metall herauszudringen. Und dann entstieg diesem Kamin lautlos die Gestalt eines schlanken Mannes, der jetzt, nachdem er leise die beiden Türen des Zimmers verriegelt hatte, mit dem Schlüssel die dritte in das Vorstandszimmer führende aufschloß. Und dieser Schlüssel war an einem Ringe zusammen mit mehreren anderen befestigt, unter denen sich auch der zu dem mächtigen Panzerschrank des NobiliteKlubs befand. Als der Unbekannte darauf geräuschlos die schwere Tür des Geldspindes aufzog und den leuchtenden Kegel seiner elektrischen Taschenlampe auf die darin liegenden Gegenstände fallen ließ, traf der von dem polierten Stahl zurückgeworfene helle Schimmer sein Gesicht, in dem jeder Muskel vor Erregung gespannt schien. Ein bleiches Antlitz war’s, das sich jetzt tief in den Schrank hineinbeugte. Und niemand hätte in diesem einfach gekleideten Manne mit der ungeschickten Brille vor den flimmernden Augen den eleganten Grafen Elbendorf wiedererkannt, der noch vor wenigen Stunden hier in demselben Raume den Grafen d’Auberville mit so nachlässiger Ruhe seine Banknoten zur Aufbewahrung übergeben hatte.
Nach kurzer Zeit war das in dem Schrank enthaltene Bargeld in den Taschen des Herrn Grafen verschwunden, der dann ohne Übereilung das Geldspind und das Vorstandszimmer wieder verschloß, die Riegel von den Türen der Bibliothek zurückschob und durch den Kamin seinen Rückweg antrat, ohne irgend eine Spur seiner Tätigkeit zu hinablassen. Ungesehen gelangte er auf die Straße zurück und verschwand in der Richtung nach dem Karussel Platz, während die ersten Schimmer des anbrechenden Morgens über dem Häusermeer der Millionenstadt aufzuckten. –
* * *
Graf d’Auberville kehrte gerade von einem Ausflug nach der kleinen, idyllisch gelegenen Seineinsel Marante zurück und fuhr in gemäßigtem Tempo in seinem ‚Mercedes‘ die Champs Elysees entlang, als er von dem Vikomte de Tisserant, der auf einem zierlich gebauten Apfelschimmel den Reitweg heruntertrabte, mehrmals angerufen und durch heftiges Winken zum Halten veranlaßt wurde.
Der Graf, der seinen Wagen selbst führte, lenkte vorsichtig an die begrenzende Baumreihe heran und stellte dann den Motor ab.
„Endlich finde ich dich – endlich,“ begann der Vikomte, ohne sich Zeit zu lassen, den Freund zu begrüßen. „Ich habe dich überall gesucht. Daß du auch gerade heute ausfahren mußtest – gerade heute, wo ich dich so nötig brauchte!“
„Der schöne Nachmittag lockte mich, und die frische Luft und der Kaffee in dem reizenden Schweizerhäuschen auf Marante haben mir nach der gestrigen schweren Sitzung sehr gut getan. – Aber, was hast du nur, Leon,“ fuhr d’Auberville ganz erschreckt fort, als er jetzt erst daß verstörte Gesicht des Freundes bemerkte.
Da beugte sich Tisserant ganz tief über den Hals seines Pferdes herab und flüsterte d’Auberville leise einige Worte zu, die der Chauffeur nicht hören sollte. Der Graf fuhr zusammen und schaute den Vikomte zweifelnd an, als ob er gar nicht begreifen konnte, was ihm da soeben erzählt wurde.
„Unmöglich,“ brachte der schließlich immer noch ungläubig hervor. „Elbendorf sollte – –?! Das fasse ich nicht!“
Aber ein warnender Blick Tisserants ließ ihm seine weiteren Bedenken verschweigen.
„In einer Viertelstunde bei mir!“ rief der Vikomte ihm noch zu, der diese Unterredung auf offener Straße schnell abzubrechen wünschte, und sprengte dann in gestrecktem Galopp davon, während der ‚Mercedes‘ sich ebenfalls wieder nach dem TuilerienGarten zu in Bewegung setzte.
Als d’Auberville nach kurzer Zeit, wie verabredet, den Freund aufsuchte, fand er dort einen ihm fremden Herrn vor, der ihm als Kriminalinspektor Restant vorgestellt wurde. Wenn der Graf bisher noch gehofft hatte, daß die peinliche Angelegenheit eine friedliche Lösung finden würde, so gab er diese Hoffnung in demselben Augenblick auf, als der Vikomte ihm den Amtstitel des Fremden nannte. –
d’Auberville hatte noch nie etwas mit den Sicherheitsbehörden zu tun gehabt und betrachtete daher jetzt mit unverhohlenem Interesse das Gesicht des Kriminalbeamten, der sich ihm gegenüber in einem der Sessel niedergelassen hatte. Aber Restants kleine, schmächtige Figur und sein schmales Gesicht mit den wasserblauen Augen und dem ungepflegten dünnen Schnurrbart boten so gar nichts Anziehendes. Außerdem ließ ihm auch Tisserant keine Zeit, den Inspektor noch weiter zu mustern. Denn nachdem er die nach dem Salon führende Tür des Arbeitszimmers vorsichtig ins Schloß gedrückt hatte, sagte er mit einer Stimme, die vor Erregung leise vibrierte:
„d’Auberville, ich deutete dir bereits an, mit welch unerhörtem Raffinement wir bestohlen worden sind. Es ist kein Zweifel mehr: Wir haben gestern nicht den Grafen Viktor Elbendorf, sondern einen ganz abgefeimten Hochstapler in den Klub aufgenommen, und ich bin es, der ihm Gelegenheit gegeben hat, unseren Kassenschrank bis auf den letzten Centime zu berauben.“
„Aber das ist ja ganz undenkbar,“ rief der Graf erschreckt. „Dieser junge Mensch mit den vollendeten Manieren eines reichen verwöhnten Aristokraten soll ein gemeiner Dieb sein? – Und wie hat er es nur fertig gebracht, diesen Schrank, den wir für so sicher hielten, aufzubrechen? – Ich begreife das alles nicht!“
„Mag der Herr Inspektor dir die notwendigen Erklärungen geben,“ meinte Tisserant verstört. „Sie werden wahrscheinlich übersichtlicher ausfallen, als wenn ich dir Bericht erstatte. Denn mein Kopf schwirrt mir noch von all den Aufregungen der letzten Stunden, und selbst der kurze Spazierritt hat mir nicht viel Ablenkung gebracht. – Wenn Sie also so liebenswürdig sein wollen, Herr Restant,“ wandte er sich an das semmelblonde Männchen, das bisher anscheinend teilnahmslos durch das Fenster auf die gegenüberliegende Seitenfront des Börsengebäudes geschaut hatte. „Ich nehme auch an, daß Sie inzwischen bereits irgendwelche Nachrichten aus Berlin erhalten haben, die den Fall wenigstens etwas aufklären. Graf d’Auberville hat, wie ich Ihnen bereits sagte, gerade als Schatzmeister unseres Klubs das lebhafteste Interesse an dieser mysteriösen Geschichte.“
Der Kriminalinspektor verbeugte sich zustimmend gegen Tisserant und begann dann mit langsamer, nachdenklicher Stimme:
„Nachdem Sie mich heute nachmittag gegen ein Uhr auf meinem Büro aufgesucht und mir den Diebstahl gemeldet hatten, ist von mir zunächst, wie immer in solchen Fällen, die genaue Überwachung der Pariser Bahnhöfe und eine Nachfrage in sämtlichen Hotels und Pensionen angeordnet worden. Außerdem habe ich auch telegraphisch den Hafenstädten und unseren Grenzstationen das Signalement des Täters zukommen lassen. In dieser Hinsicht ist also alles getan, um den Flüchtling abzufangen. Meine zweite Aufgabe bestand darin, Erkundigungen in Berlin einzuziehen, ob dort vielleicht über den jetzigen Aufenthalt des wirklichen Grafen Elbendorf etwas bekannt war. Denn nachdem Sie mir die Empfehlungsbriefe über den Grafen vorgelegt hatten, war ich sicher, daß der kurländische Edelmann tatsächlich existiert und daß nur ein Hochstapler hier seine Rolle mit ebensoviel Gewandtheit wie Frechheit gespielt hat. Da der letzte, an Sie gerichtete Brief des Grafen Elbendorf aus dem Hotel Bristol in Berlin abgeschickt war, so ließ ich mich zunächst mit dem Berliner Polizeipräsidium durch Vermittlung der Straßburger telephonisch verbinden und erfuhr so, daß Graf Viktor Elbendorf sich noch in der Klinik des Professors Friedmann in Berlin einer schweren Halsentzündung wegen in Behandlung befindet. Auf meine Bitte wurde einer der Berliner Beamten zu dem Kranken geschickt, der zum Glück schon vernehmungsfähig war. Graf Elbendorf hat dann angegeben, daß er im DZug CydtkuhnenBerlin allerdings die Bekanntschaft eines Herrn gemacht habe, der sich Baron von Wrangel nannte, mit den Pariser Verhältnissen sehr vertraut zu sein schien und dem er daher ohne Argwohn mitteilte, daß er sich längere Zeit in Frankreich aufzuhalten gedenke und bereits als Mitglied für den NobiliteKlub gemeldet und empfohlen sei. Der Baron hat sich dem Grafen dann in Berlin angeschlossen, ihn auch während seiner Erkrankung einmal in der Klinik aufgesucht, ist dann aber plötzlich ausgeblieben. Jedenfalls traut der Kurländer aber diesem Herrn, den er als einen überaus liebenswürdigen und gebildeten Gesellschafter schätzen gelernt hat, ein derartiges Verbrechen niemals zu. Das hob er nochmals besonders hervor. –
Leider stimmt aber schon die oberflächliche Personalbeschreibung, wie ich sie nach Berlin berichten konnte, recht genau mit der dieses Herrn von Wrangel überein, und für mich besteht kein Zweifel mehr, daß der Baron und unser Gauner ein und dieselbe Person sind. Und mit dieser Feststellung, meine Herren, verliert unser Fall auch ein gut Teil des Unerlärlichen. Der Betrüger hat eben dem etwas sehr vertrauensseligen Grafen alles für ihn Wissenswerte ausgefragt, – zuerst wahrscheinlich nur in der Absicht, sich mit dessen Hilfe in Ihre Kreise Eingang zu verschaffen und dann im Trüben zu fischen. Als Elbendorf bald darauf erkrankte, da erst mag ihm wohl eine andere Idee gekommen sein, – eben die, hier selbst als Viktor Elbendorf aufzutreten, der ja von niemandem, nicht einmal von den Herren der russischen Gesandtschaft persönlich gekannt wurde. Und da er wußte, daß der kurländische Edelmann durch seine Krankheit längere Zeit in Berlin gefesselt war, brauchte er eine Entdeckung kaum zu fürchten, die ihm ja auch nur durch einen weiteren Brief Elbendorfs ein Sie, Herr Vikomte, gedroht hätte. Und diese Gefahr suchte er dadurch nach Möglichkeit abzuschwächen, daß er Sie gleich nach seiner Ankunft in Paris sehr geschickt bewog, ihn als Gast in Ihre Wohnung aufzunehmen. Zweifellos würde er auch Mittel und Wege gefunden haben, Ihre Korrespondenz zu überwachen, und wäre dann bei den ersten ihm ungünstigen Anzeichen schleunigst von dem Schauplatz seiner Tätigkeit verschwunden. Außerdem bin ich fest davon überzeugt, daß der Pseudograf hier gar nicht lange den Viktor Elbendorf spielen wollte, sondern es ursprünglich wohl nur auf Ihre Privatkasse, Herr Vikomte, abgesehen hatte, vielleicht auch auf die Börsen der anderen Mitglieder des Klubs, die er beim Spiel mit einigen Tricks zu erleichtern gedachte. Erst später, nachdem er herausgefunden hatte, auf wie einfache Art er einen einträglicheren Fischzug abhalten konnte, änderte er seine Pläne. Und die Art, wie er sie durchführte, zwingt selbst mir als altem Kriminalbeamten etwas wie Anerkennung ab.“
d’Auberville hüstelte verlegen und warf dem Freunde, der diesen Betrüger in ihren Kreis eingeführt hatte, einen keineswegs freundlichen Blick zu.
Damit erhob sich Tisserant, der bisher wie schuldbewußt die Augen zu Boden geschlagen und das Muster des bunten Perserteppichs studiert hatte, trat auf Restant zu und fragte zaghaft:
„Und haben Sie Hoffnung, den Dieb abzufassen, Herr Inspektor?“
Das schmächtige Männchen zog zweifelnd die Schultern hoch.
„Ich muß den Herren ehrlich eingestehen,“ meinte er zögernd, „daß selbst mir in meiner langjährigen Praxis noch kein Kriminalfall vorgekommen ist, der mit so viel Geschick durchgeführt wurde. Und gerade diese – diese glänzende Genialität, die der Dieb in jeder Kleinigkeit entwickelt hat, läßt mich – hm, ja,“ – er hüstelte verlegen – „läßt mich bei ganz nüchternem Abwägen unserer Chancen nur – auf einen glücklichen Zufall rechnen. Besser, daß ich dies den Herren gleich heute sage, als nach Wochen. So vermeidet man wenigstens etwaige zu herbe Enttäuschungen. Denn wir haben für die Person des Verbrechers nicht die geringsten Anhaltspunkte. In seinem Gepäck hat sich nichts weiter vorgefunden, als sehr elegante Anzüge und Wäschestücke, aus denen aber die Firmenzeichen der Lieferanten vorsichtig herausgetrennt sind. Außerdem einige Nachschlüssel, die uns auch nichts sagen. –
Ich fürchte, es wird eine ergebnislose Jagd werden. Der Fuchs ist nicht so leicht zu fangen! Denn ich möchte fast wetten, daß er auch sein Äußeres bereits vollkommen verwandelt hat. Wenn Sie, meine Herren, ihm jetzt auf der Straße begegnen sollten – glauben Sie mir, Sie würden ihn gar nicht wiedererkennen. Derartige Talente der Verbrecherzunft wissen ihre Gesichtszüge durch Schminke und falsche Bärte besser zu verändern, als der routinierteste Schauspieler. – Doch ehe ich’s vergesse, Herr Vikomte, vielleicht bemühen Sie sich noch heute auf das Kriminalamt. Ich möchte Ihnen das Verbrecheralbum vorlegen lassen. Möglich, daß Sie Ihren Herrn Gastfreund dort herausfinden. Wir wollen jedenfalls nichts unversucht lassen.“
Nach diesen Worten verabschiedete sich der Kriminalinspektor mit einer kurzen Verbeugung und wurde von dem Vikomte zuvorkommend bis an die Flurtür begleitet. –
Als die beiden Freunde allein waren, begann d’Auberville zunächst eine hastige Promenade durch das Zimmer, wobei er unverständliche Worte vor sich hin murmelte. Tisserant saß ganz zusammengesunken in seinem Schreibtischstuhl. Schließlich machte der Graf in dem tigernden Auf und Ab vor dem Freunde Halt.
„Sag nur, Leon, wie konntest du nur wegen dieser verflixten Geschichte gleich auf die Polizei laufen? – Wie konntest du nur! – Du hast uns ja vor aller Welt bloßgestellt! Selbst wenn die Kriminalbeamten noch so sehr die löbliche Absicht haben, uns zu schonen – die Pariser Reporter sind findige Leute, und morgen pfeifen es sicher die Spatzen von allen Dächern, daß der feudale NobiliteKlub einem gemeinen Hochstapler Zutritt in seine ängstlich behüteten Räume gewährt hat! – Was hätte uns der Verlust dieser Summe geschadet? – Nichts, nichts! Aber jetzt ist das Geld hin und – was wir dafür erhalten: Eine ungeheure Blamage!“
Der Vikomte knickte noch mehr zusammen.
„Du hast gut reden,“ meinte er mit einem Versuch, sich zu entschuldigen. „Aber als ich heute gegen zwölf Uhr mittags vor dem völlig ausgeräumten Geldschrank stand und schnell ausrechnete, daß wir um nicht weniger als siebenhundertdreiundzwanzigtausend Francs bestohlen waren, da – da verlor ich doch den Kopf, hoffte durch eine schnelle Anzeige diesem elenden Betrüger, den ich noch gestern in aufrichtiger Zuneigung die Hand gedrückt habe, seine Beute wieder abjagen zu können! – Ich hätte einmal sehen mögen, ob du in meiner Lage imstande gewesen wärest, alle Eventualitäten so kaltblütig gegeneinander abzuwägen. Bedenke nur meine Stellung als Präsident, der dem Pseudografen höchst eigenhändig dieses Gaunerstückchen erleichtert, ihn bei sich beherbergt und sogar noch selbst zur Aufnahme empfohlen hat! – Das stürmte alles zusammen auf mich ein. Ich wollte auch erst mit dir die Sache besprechen, aber natürlich – du mustest ja zu derselben Zeit in Marante deinen Mokka schlürfen!“
„Ich glaub’s ja, Leon, daß einem unter diesen Umständen die richtige Überlegung verloren gehen konnte, aber höchst unangenehm bleibt die Affäre für uns immer! Und wenn sich vielleicht noch die Pariser Skandalblätter derselben bemächtigen, dann können wir alle getrost auf einige Zeit nach der Riviera verduften, bis Gras über diese siebenhundertunddreiundzwanzgtausend Francs – notabene ein ganz nettes Sümmchen! – gewachsen ist!“ –
Die Befürchtungen des Grafen d’Auberville waren nur zu sehr gerechtfertigt. Noch nie bildete ein Kriminalfall derart das allgemeine Tagesgespräch, als dieser so raffiniert ausgeführte Diebstahl. Die Pariser Polizei tat natürlich ihr Bestes, um des geriebenen Hochstaplers habhaft zu werden. Sämtlichen Polizeiämtern der großen Weltstädte wurde eine genaue Personalbeschreibung des angeblichen Baron von Wrangel eingerichtet. Leider fiel dieser Steckbrief aber derart aus, daß er auf Hunderte von eleganten jüngeren Herren von schlanker Figur gepaßt hätte. ‚Baron von Wrangel‘ besaß eben leider kein einziges auffallendes Kennzeichen, und mit einem Steckbrief, in dem die meisten Rubriken mit dem nichtssagenden ‚gewöhnlich‘ ausgefüllt sind, läßt sich nicht viel anfangen. Jedenfalls vergingen Wochen und Wochen, ohne daß man auch nur die geringste Spur von dem Gauner entdeckt hätte. Der echte Graf Elbendorf war inzwischen längst in Paris eingetroffen und in den NobiliteKlub aufgenommen worden, wo er jedoch lange nicht mit soviel Begeisterung begrüßt wurde wie seiner Zeit sein ‚Doppelgänger‘. An den Namen Elbendorf knüpften sich eben für den blamierten Klub zu viele peinliche Erinnerungen.
* * *
Auch in Kommissar Fehlhausers Hände geriet das Rundschreiben der Pariser Polizei, freilich erst nach zwei Monaten, da er fast ein Vierteljahr lang bei der Verfolgung eines MillionenDefraudanten im Auslande herumgereist war. Aufmerksam las er die Personalbeschreibung des Hochstaplers durch. Und dabei durchzuckte ihn plötzlich ein Gedanke, daß dieser Baron von Wrangel vielleicht mit Axel Kaisenberg identisch sein könne. Sofort leitete er eingehende Ermittlungen ein, die sehr bald zu einem bestimmten Resultat führten. So stellte Fehlhauser fest, daß der angebliche Baron in Elbing den Zug und das Abteil des Grafen Elbendorf an demselben Tage bestiegen hatte, an dem Axel Kaisenberg aus der Heimat verschwand. Und dann gelang es dem Kommissar auch noch, sich eine Photographie des jüngsten Kaisenberg zu besorgen. In dieser erkannte Graf Elbendorf sowohl wie die Herren des NobiliteKlubs ihr angebliches Mitglied mit Sicherheit wieder. So war denn das Geheimnis der Persönlichkeit des gerissenen Gauners endlich gelüftet – freilich erst drei Monate nach jenem denkwürdigen Klubabend. Sofort wurde das Bild Axel Kaisenbergs vervielfältigt und in den internationalen Fahndungsblättern, die an sämtliche Polizeibehörden der Welt verschickt werden, veröffentlicht. Aber auch dieses Mittel half nicht. ‚Baron von Wrangel‘ blieb verschwunden.
In dem schlanken Herrn mit spitzem Vollbart, langen Künstlerlocken und grauer goldener Brille, der so bescheiden unter dem Namen Eugen Müller, Schriftsteller, in Kairo lebte, hätte auch niemand den gesuchten Grafen Axel Kaisenberg vermutet.
Zwei Jahre waren seit den letzten Ereignissen verstrichen. Axel Kaisenberg hatte inzwischen, nachdem er in dem sonnigen Ägypten über sechs Monate in vorsichtiger Zurückgezogenheit gelebt hatte, unter stets wechselnden Namen die ganze Welt bereist. Ruhelos trieb ihn die Abenteuerlust von Land zu Land. Fremdes Eigentum schone er jedoch – vorläufig. Der große Schlag, der ihm in Paris gelungen war, gestattete ihm ja ein sorgloses, luxuriöses Leben. Jetzt war er, von Japan kommend, in New York eingetroffen. Und dort dachte er mit einem Mal an die seiner Zeit mit seinem Stiefbruder getroffene Verabredung, nach dem unglückseligen Ausgang seines Prozesses nach Amerika zu gehen. Auf gut Glück fragte er auf dem Hauptpostamt nach Briefen für Alexander Kaiser – der Name, den er in Amerika annehmen zu wollen dem Majoratsherrn erklärt hatte. Axel Kaisenberg sollte eben verschwinden – für immer.
Zu seinem Erstaunen reichte ihm der Postbeamte wirklich einen Brief hin. Die Neugierde trieb Axel, das Schreiben sofort zu öffnen. Denn – was konnte der Stiefbruder ihm wohl noch mitzuteilen haben? Er stellte sich in eine stille Ecke des großen Schalterraumes und riß den vielfach versiegelten Umschlag auf. Als erstes fand der eine Anweisung auf ein New Yorker Bankhaus über eintausend Mark. Des Majoratsherrn Brief enthielt nur wenige Zeilen.
Lieber A!
Wichtige Ereignisse machen eine kurze persönliche Besprechung notwendig. Anbei Reisegeld. Hoffentlich erreicht Dich dieser Brief baldigst.
Gruß
A. v. Kaisenberg
Axel stutzte. Sein erster Gedanke war, ob dies vielleicht eine Falle sein könnte. – Er überlegte. Nein, dazu würde sich sein Bruder nie hergeben, nie. – Außerdem war er auch fest überzeugt, daß niemand ahnte, wer jener Hochstapler eigentlich war, der dem NobiliteKlub den teuren Streich gespielt hatte. Axel konnte ja von der Veröffentlichung seines Bildes in den Fahndungsblättern nichts wissen, da die Behörden vorsichtig genug gewesen waren, der Presse von ihrer wichtigen Entdeckung keine Mitteilung zu machen, damit der Verbrecher nicht unnötig gewarnt würde.
Trotzdem war er nicht recht einig mit sich, ob er der Aufforderung Folge leisten sollte. Das europäische Festland hatte er seit jener Ausplünderung des berühmten Klubs ängstlich gemieden. Dann aber dachte er an die im Lankener Stadtwäldchen unter einer starken Eiche noch immer vergrabenen Wertstücke, die er damals auf dem Maskenfest beim Landrat von Oppen erbeutet hatte. Seine Barmittel waren durch das verschwenderische Leben bis auf einen Rest von fünfundzwanzigtausend Mark aufgezehrt. Er mußte also ohnehin versuchen, seine Kasse wieder aufzufüllen. –
Vielleicht stand es mit Arthurs Gesundheitszustand auch so schlecht, daß dieser ihn deshalb zu sprechen wünschte. Vielleicht – vielleicht brachte das Schicksal nun doch noch das Majorat in seine Hand. Und – war er erst Schloßherr von Kaisenberg, so würde es ihm schon gelingen, den alten Verkehr mit seinen Standesgenossen wieder aufzunehmen.
* * *
Der einfache Mietwagen hielt mit kurzem Ruck vor der breiten Freitreppe des Schlosses, und eilfertig riß der bereitstehende Lakai den Schlag auf, indem er mit tiefem Bückling, aber ohne besondere Herzlichkeit, die er sich als langjähriger vertrauter Diener des Kaisenbergschen Hauses wohl hätte erlauben dürfen, zu dem einzigen Insassen des Gefährtes sagte: „Ich gestattet mir, den Herrn Grafen in der Heimat wieder zu begrüßen.“
Die Worte klangen zu sehr wie eine bloße pflichtgemäße Redensart. Und Graf Axel Kaisenberg vermochte daher ein spöttisches Lächeln kaum zu unterdrücken. Man schien es ihm hier also wirklich trotz der zweijährigen Abwesenheit noch immer nicht vergessen zu haben, daß er damals unter so unangenehmen Umständen in die Fremde gegangen war.
Axel hatte auf die Begrüßung des alten Dieners nur hochmütig mit dem Kopf genickt. Wenn seine Gedanken für wenige Sekunden in die Vergangenheit zurückgekehrt waren, so wurden sie durch das, was sich seinen erstaunten Augen bei einem kurzen Rundblick über das prachtvolle, von zwei Türmen flankierte Gebäude und die wohlgepflegten Parkanlagen darbot, schnell wieder abgelenkt.
„Mein Bruder hat das Schloß ja mächtig herausgeputzt, Roderich!“ meinte er mit gut geheuchelter Gleichgültigkeit und sprang dann aus dem Wagen auf den gelben Kiesweg herab, ohne das Trittbrett zu benutzen.
„Wir erwarten ja auch demnächst unsere neue Herrin, Herr Graf“, erklärte der Alte bereitwillig und griff nach der Reisetasche, die auf dem Sitz stehen geblieben war. Daher entging es ihm auch, daß der jüngste Kaisenberg bei diesen Worten merklich zusammenfuhr und sein scharfgeschnittenes Gesicht um eine Schattierung blässer wurde.
Doch Graf Axel hatte auf seinen Irrfahrten so mancherlei zugelernt, darunter auch eine vollkommene Selbstbeherrschung, die ihn jeder Situation gewachsen machte.
Keine weitere Frage folgte, nichts. Langsam schritt er die Stufen der Freitreppe jetzt empor. Kein Zucken in seinem Antlitz verriet, welch wilde Flut von Gedanken diese Nachricht in ihm hervorgerufen hatte. Nur seine dünnen Lippen, um die ein halb ironisches Lächeln spielte, waren fester aufeinandergepreßt, und in dem Blick seiner kalten grauen Augen lag ein seltsames Gemisch von Mißtrauen und brutaler, drohender Härte. –
Eine halbe Stunde später saßen sich die Stiefbrüder in dem Arbeitszimmer des Majoratsherrn gegenüber. Graf Arthur lehnte zusammengesunken in einem Klubsessel dicht neben dem hohen Fenster, so daß das helle Licht des sonndurchleuchteten Augusttages seine blassen, kränklichen Züge unbarmherzig umschien. Der Jüngere dagegen hatte seinen altmodischen, geschnitzten Eichenstuhl mehr in den Schatten gerückt und beobachtete nun schon eine ganze Weile abwartend aus halbverhüllten Augen das nervöse Spiel der durchsichtig weißen Hände des anderen, der ein dolchartiges Papiermesser verlegen zwischen den Fingern drehte. Der große, dreifenstrige Raum, in dem sie sich befanden, war angefüllt mit einer Menge von Dingen, die jeden Altertumsforscher entzückt hätten. Verwitterte und beschädigte Reliefs waren an den Wänden neben alten patinierten Büsten und Ornamenten zu sehen, und in breiten Glasschränken lagen sauber geordnet antike Waffen, Bruchstücke von Marmorstatuen, halbzerfressene Bücher und Pergamentrollen. All diese Sachen hatte der Majoratsherr als eifriger Liebhaberarchäologe aus aller Herren Länder gesammelt und nach Kulturepochen eingeteilt.
Endlich brach Graf Arthur das Schweigen. Aber man merkte ihm an, welche Überwindung ihn diese Aussprache kostete.
„Axel, ich habe dich aus New York herüberkommen lassen, um mit dir mündlich eine wichtige Angelegenheit ins reine zu bringen“, begann er stockend. „Wir sind die letzten Grafen Kaisenberg, und da wollte der eine nicht ohne Wissen des anderen einen Schritt tun, der für beide weitgehende Folgen haben wird.“
Er machte eine Pause und schaute unsicher zu seinem Stiefbruder hinüber, der jedoch gleichgültig seine eleganten Lackschuhe soeben einer eingehenden Besichtigung unterzog.
„Ja, Axel, … weitgehende Folgen!“ wiederholte er jetzt mit etwas mehr Nachdruck. „Ich … ich gedenke mich nämlich in nächster Zeit zu verheiraten.“
Nun erst schaute der Jüngere auf.
„Du wirst von mir hoffentlich nicht verlangen, daß ich dir zu dieser Verlobung gratuliere, von der ich erst vor einer halben Stunde durch den glatten Goldreif, den ich an deinem Finger bemerkte, Kenntnis erhielt,“ sagte er kühl. „Ich kann es nicht, da ich diesen Heiratsplan für ein direktes Verbrechen halte, für ein Verbrechen an dem Weibe, das du, der kranke Mann, heimzuführen gedenkst.“
„Du irrst, Axel“, erwiderte der Majoratsherr, schwer atmend und zwang sich sichtlich mit aller Energie zur Ruhe. „Ich hätte, allerdings gewissenlos gehandelt, wenn ich mich Marga von Alten wieder genähert hätte, ohne mir über meinen Gesundheitszustand vorher Gewißheit zu verschaffen. Damals, vor Jahren, als ich an jenem unglücklichen Renntage mit dem Pferde vor der letzten Hürde mich überschlug, mußte ich unser heimliches Verlöbnis lösen, weil die Ärzte mir nur noch wenige Lebensjahre gaben. Doch heute liegen die Dinge Gott sei Dank anders. Ich habe mich von mehreren Spezialisten untersuchen lassen, und sie alle neigen der Ansicht zu, daß jene Rückgratverletzung nur unbedeutend gewesen sein kann, und daß die beschädigte Stelle durch die fortwährende Schonung völlig ausgeheilt ist, also jedenfalls die Befürchtung, es könne sich eine schleichende tödliche Rückenmarkerkrankung herausgebildet haben, nicht mehr besteht. Und warum sollte ich wohl unter diesen Umständen noch länger mit der Verwirklichung eines Herzenswunsches zögern, dem ich nun schon beinahe ein Jahrzehnt in stillem Entsagen wie einem unerreichbaren Glücksschimmer nachgetrauert hatte? Wir sind inzwischen alt geworden, Marga und ich, mit unseren dreißig und vierzig Jahren, aber unsere Liebe blieb jung, Axel, glaube mir. Und das Anrecht auf einen glücklichen gemeinsamen Lebensweg haben wir uns durch das treue Festhalten aneinander und die nie versiegende Hoffnung auf die endlich Besserung meines Leidens ehrlich verdient.“
Graf Arthur war aufs angenehmste überrascht, als Axel sich jetzt erhob, ihm die Hand hinstreckte und mit anscheinend ehrlichster Wärme im Ton sagte: „Allerdings – dann kann man dir ja wirklich aus vollstem Herzen nur Glück wünschen! Mag die Zukunft dir in reichstem Maße alle deine Erwartungen erfüllen, dir und deiner Braut, die ich noch so gut von früher her kenne, und die mir auch die Gewähr gibt, daß sie dir eine restlose Liebe zu schenken vermag.“ Und er drückte dabei die schlanken Finger seines Stiefbruders so fest und schaute ihn mit so strahlenden Augen an, daß dieser ganz gerührt wurde.
„Ich danke dir für diese Worte, Axel!“ erwiderte der Ältere mit vor innerer Bewegung merklich zitternder Stimme. „Du nimmst mir wirklich eine Last von der Seele. Denn ich fürchtete, daß uns diese Heirat vielleicht ganz auseinanderbringen würde, da für dich nunmehr das Majorat, das dir nach meinem Tode zugefallen wäre, wahrscheinlich für immer …“ – wieder das ängstliche Zögern – „verloren ist, sofern mir eben der Himmel einen Leibeserben schenkt.“
Der jüngste Kaisenberg war an das Fenster getreten und hatte den Kopf abgewandt, so daß der Ausdruck in seinen Zügen dem anderen verborgen blieb, er schien völlig versunken in das herrliche Landschaftsbild, das sich seinen Blicken darbot, – grünende Wiesen, schnittreife Felder, unterbrochen von aufblinkenden Seen und in der Ferne weite Forsten wie dunkle Striche, alles Kaisenbergscher Besitz, der dem stolzen Geschlecht seit Jahrhunderten gehörte.
„Diese letzte Bemerkung mag als nie ausgesprochen gelten“, sagte er dann nach einer Weile mit seltsam gepreßter Stimme. „Sie stellt meinem brüderlichen Empfinden und meiner Selbstlosigkeit gerade kein hervorragendes Zeugnis aus und paßte auch in die Gedanken, die der Anblick unserer Ländereien in mir hervorrief, recht wenig hinein. Denn diese Gedanken drehten sich nur um die Schönheit unserer engeren Heimat, die ich erst jetzt wieder zu schätzen weiß, wo ich mich zwei lange Jahre in der Fremde habe herumstoßen müssen.“
Etwas wie wehmütige Reue klang durch diese Sätze hindurch, und Graf Arthur, der stets so blind und so gern an das Gute im Menschen glaubte, nahm sie als den Ausdruck aufrichtigsten Empfindens hin. Und in der Freude über den friedlichen Ausgang dieser Zusammenkunft, bei der er eigentlich zum erstenmal eine wärmere Regung für den Stiefbruder spürte, ging er jetzt langsamen, schleppenden Schrittes auf ihn zu und legte ihm herzlich den Arm um die Schultern.
„Sei nicht traurig, Axel! Auch die Fremde wird dir zur Heimat werden, sobald du dir dort nur erst ein Feld der Tätigkeit erschlossen hast, das dir zusagt und dich voll und ganz befriedigt. Hier bei uns – das wirst du selbst einsehen – kannst du nach jener unseligen Affäre nicht mehr bleiben, schon deswegen nicht, damit du dich keinen Demütigungen aussetzt. Aber jetzt, wo mir meine Braut ein ansehnliches Vermögen mit in die Ehe bringt, bin ich auch wieder in der Lage, dir eine größere Summe zur Verfügung zu stellen, die es dir ermöglicht, dich drüben selbstständig zu machen. Es sind fünfzigtausend Mark, die ich dir zugedacht habe. Vor deiner Abreise werde ich sie dir aushändigen. Nur eins versprich mir, Axel: spiele nie wieder – nie!“
Forschend schaute Graf Arthur dem neben ihm Stehenden in das schmale aristokratische Gesicht, das durch den blonden Spitzbart und die goldene Beille so bedeutend gealtert erschien. Aber in diesem Gesicht regte sich nichts, und Axels graue Augen blickten weiter ebenso düster und verträumt in die Ferne hinaus. Endlich begann er leise:
„Ich werde keine Karte mehr anrühren, Arthur, – hier meine Hand! Das Darlehn aber – denn als solches betrache ich die fünfzigtausend Mark nur – nehme ich gern hin, hoffe es dir auch langsam zurückzahlen zu können. – Bitte, kein Wort dagegen! Du hast schon damals vor zwei Jahren alles für mich getan, was du nur tun konntest. Nie werde ich dir diese deine Güte vergessen – nie! – Aber nun möchte ich allein sein … Mein Herz hat so vieles Neues zu verarbeiten, so viel Altes ganz abzutöten, daß ich die Einsamkeit brauche. Wir sehen uns ja nachher bei Tisch wieder.“
Noch ein Händedruck und Graf Axel verließ das Gemach, stieg die läuferbelegte Treppe empor und verschwand in seinem Zimmer. Kaum aber hatte er die Tür hinter sich zugezogen, als er tief aufatmend stehen blieb. In seinem Antlitz wechselte der Ausdruck wie der Widerschein all der wilden Leidenschaften, die seine Seele erregten. Und plötzlich lachte er laut, höhnisch auf. In seinen Augen war jetzt wieder jenes drohende, grausame Flimmern, das schon vorhin in ihnen aufgeleuchtet hatte, als er bei seiner Ankunft die Freitreppe so langsam hinaufschritt.
Die Via Liguria in Rom gehört, trotzdem sie auf den Platz des Nationalmuseums mündet, zu jenen engen Gassen, in denen man neben modernen, himmelhohen Mietskasernen noch jene niedrigen Häuschen mit den bleigefaßten Fenstern vorfindet, die wohl zu derselben Zeit wie die Prunkpaläste der alten Patriziergeschlechter auf dem Corso Umberto und dem Petersplatz erbaut sind und sicherlich auf eine ebenso wechselvolle Vergangenheit zurückblicken können. In einem dieser baufälligen Häuschen, dessen altehrwürdige Front durch das Einsetzen eines großen Schaufensters mit grellgelb gestrichenem Rahmen verunziert war, befand sich einer jener Antiquitätenläden, wie man sie in Rom zu Hunderten sehen kann. Hier werden den kauflustigen Fremden angeblich wertvolle Raritäten aufgeschwatzt, hier steht das Geschäft jener Fälscher in vollster Blüte, die mit verblüffender Geschicklichkeit uralte Gemälde, Waffen, Urnen, Elfenbeinschnitzereien und Münzen herstellen und immer wieder für einen hohen Preis an den Mann bringen.
In diesen Laden der Via Liguria verirrte sich eines Vormittags Axel Kaisenberg, der bereits zwei Wochen in Rom weilte, bisher aber vergeblich nach einem passenden Hochzeitsgeschenk für seinen Stiefbruder gesucht hatte. Denn mit einer ihm sonst fremden Energie versteifte er sich darauf, dem Majoratsherrn, dessen Vorliebe für Altertümer er kannte, irgendeinen möglichst seltenen Gegenstand für seine Sammlung zu senden, wobei er allerdings auch im stillen hoffte, daß diese scheinbar so feinsinnige Aufmerksamkeit seinen Geldbeutel weniger angreifen würde als der Einkauf eines modernen Prunkstücks.
Die ihn bedienende, ärmlich gekleidete Frau des Inhabers dieses Antiquitätenladens hatte ihm bereits eine Unmenge von verstaubten Sachen vorgelegt, ohne daß er sich zu einer Auswahl entschließen konnte. Endlich fand er eine kupferne, mit eingelegter Arbeit reich verzierte Truhe, die ihm für seine Zwecke ganz geeignet schien. Nach einigem Handeln bezahlte er die Hälfte der zuerst geforderten Summe, gab seine Hoteladresse an, wohin ihm die Truhe zugeschickt werden sollte, und war auch bereits wieder auf die Straße hinausgetreten, als die Frau ihn nochmals zurückrief.
„Herr,“ flüsterte sie geheimnisvoll, „eben fiel’s mir ein, – ich habe da noch einen seltenen Ring aus dem fünfzehnten Jahrhundert, einen Wappenring. Eigentlich dürfte ich ihn ja nicht verkaufen; mein Mann, der Ernesto Bragenza, hat’s verboten, streng verboten. Aber seit Wochen ist er schon krank, Herr, schwer krank am Sumpffieber, und Arzt und Apotheker haben die wenigen Ersparnisse längst aufgezehrt, die Geschäfte gehen schlecht, und ich muß mir irgendwie weiterhelfen. Denn wer weiß, wann wieder einmal ein Fremder in die Via Liguria kommt.“
„Tut mir leid, ich habe keine Verwendung dafür!“ lehnte jedoch Axel jeden Handel ab. – Doch die Signora Bragenza ließ sich nicht so leicht abweisen.
„Nur ansehen sollt Ihr den Ring, Herr, – nur ansehen!“ bat sie flehentlich. „Wozu soll er auch noch länger in dem Fache liegen! Mag Ernesto ruhig zuerst schelten, – nachher wird er schon ein Einsehen haben. Wartet nur einen Augenblick, Herr. Er hat ihn in seinem Schreibtisch in unserem Wohnzimmer eingeschlossen. Ich muß zusehen, daß ich ihn unbemerkt herausnehmen kann.“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie durch die niedrige, in die hinteren Räumlichkeiten führende Tür, um nach einigen Minuten geräuschlos wieder einzutreten.
„Ernesto schläft, – ich habe Glück gehabt“, raunte sie Axel zu und riß dann hastig einen vielfach versiegelten Umschlag von einem kleinen Holzkästchen, in dem sich auch, wohlverpackt in Watte, das Schmuckstück vorfand.
Es schien wirklich eine Seltenheit zu sein, – das sah Graf Kaisenberg auf den ersten Blick. Ein Wappenring war’s, bei dem der tafelförmig geschliffene gelbe Topas, den ein Kranz von grünen Saphiren umgab, von zwei ineinander verschlungenen, aus Gelbgold gearbeiteten Drachen gehalten wurde. Das in den Topas eingeschnittene Wappen zeigte eine außergewöhnliche Klarheit der Zeichnung, war aber Axel gänzlich unbekannt. Die Innenseite des Ringes hatte keine Inschrift und erschien vollkommen glatt ausgefüllt. Nur unter dem Topas befanden sich zwei feine Löcher, die vielleicht fünf Millimeter auseinanderlagen.
Trotzdem ihm dieses eigenartige Erzeugnis der Goldschmiedekunst, das sicherlich mehrere Jahrhunderte alt war und für Liebhaber von hohem Wert sein mußte, sehr gut gefiel, verbarg er doch wohlweislich sein Interesse und legte den Ring wieder in das Schächtelchen hinein.
„Ich kann ihn nicht brauchen, liebe Frau, wirklich nicht … Sie werden schon einen anderen Käufer dafür finden“, sagte er mit kluger Berechnung.
„Herr, Ihr müßt ihn nehmen!“ bat die kränklich aussehende Signora Bragenza wieder. „Ihr sollt ihn auch billig haben, damit ich ihn nur loswerde; billiger, als Ernesto ihn vor einem halben Jahre der englischen –“
Sie schwieg plötzlich, und eine heiße Röte schoß ihr in das gelbliche, verhärmte Gesicht. Erstaunt, argwöhnisch schaute Axel sie daraufhin an. Aber schon hatte sie sich wieder gefaßt und fuhr mit derselben Zungenfertigkeit, wenn auch zunächst noch etwas unsicher, fort: „Ich weiß, Ernesto verlangte damals sechshundert Lire, ganz gewiß sechshundert Lire, ich besinne mich genau. Gebt dreihundertfünfzig Lire, Herr, und der Ring ist Euer –“
Er zögerte noch. Aber da der Preis ihm nicht zu hoch vorkam und die Truhe als einziges Hochzeitsgeschenk doch wohl etwas zu armselig war, so wurden sie nach einigem Feilschen doch handelseinig. Er bezahlte, schob das Kästchen mit dem Ring in die Tasche und verließ den niedrigen Laden, von der überglücklichen Signora Bragenza unter einem Schwall von Dankesworten bis auf die Straße hinaus begleitet. –
Drei Stunden später – Axel hatte sich gerade nach einem reichlichen Frühstück zu einem kleinen Nachmittagschläfchen in sein Hotelzimmer zurückgezogen – wurde ihm durch einen der Kellner der Antiquitätenhändler Ernesto Bragenza gemeldet. Sehr unzufrieden mit der Störung richtete er sich auf seinem Diwan auf und schaute mißmutig dem Besucher entgegen, der sicherlich nur des Ringes wegen zu ihm kam, da die kupferne Truhe ja bereits sorgfältig eingepackt auf dem eleganten Reisekoffer dort in der Ecke stand. –
Es war ein kleiner, nachlässig angezogener Mann, der jetzt mit allen Zeichen höchster Erregung hastig eintrat und sofort die Tür hinter sich ins Schloß drückte. Und ohne eine Anrede abzuwarten, stieß er dann fast keuchend hervor, während dicke Schweißtropfen über sein eingefallenes, bleiches Gesicht perlten:
„Herr Graf, – der heiligen Jungfrau sei Dank …! Sie leben, – Sie leben …!“ Und dabei atmete er tief auf, wie befreit von einer furchtbaren Angst.
Axel Kaisenberg konnte nur ebenso erstaunt wie belustigt über diese seltsame Begrüßung den Kopf schütteln. Dieser kleine Händler schien übergeschnappt zu sein, total übergeschnappt, oder aber er redete noch im halben Fieberdelirium.
„Gewiß, ich lebe, – warum auch nicht?!“ meinte er gemütlich und musterte nochmals verwundert die Gestalt des aufgeregten Italieners, der sich jetzt mit seinem Taschentuch die Stirn trocknete und dann mit flehendlich erhobenen Händen auf ihn zukam.
„Oh, – lachen Sie nicht, Herr Graf, – lachen Sie nicht!“ bat er beschwörenden Tones. „Und, Herr Graf, geben Sie mir den Ring wieder – geben Sie ihn mir. – Hier, – hier haben Sie Ihr Geld zurück …!“ Mit zitternden Händen legte er dabei ein kleines Beutelchen auf den nächsten Tisch.
„Ich denke gar nicht daran! Ihre Frau hat ihn mir verkauft, und wenn sie ihn zu einem zu niedrigen Preis abließ, so ist das nicht meine Schuld.“
Ernesto Bragenza knickte bei diesen Worten zusammen, als habe er einen kräftigen Faustschlag auf sein kahles Haupt bekommen. Und wieder traten ihm große Schweißtropfen auf die Stirn, während sein gelblichgrün schimmerndes Gesicht sich derart verzerrte, daß es Axel plötzlich ganz unbehaglich in der Nähe dieses so merkwürdig verstörten Menschen wurde.
„Herr Graf,“ begann da der Händler wieder, und seine Stimme überschlug sich vor Erregung zu einem schrillen Fistelton, „Herr Graf, ich flehe Sie an: Händigen Sie mir den Ring aus, – lassen Sie uns das Geschäft rückgängig machen! Ich kann Ihnen den selben nicht verkaufen, kann nicht, und meine Frau handelte ohne meine Einwilligung. Ich will Ihnen auch den Kaufpreis für die Truhe zurückgeben, – Sie sollen sie umsonst haben, ganz umsonst –“ Und etwas ruhiger werdend setzte er hinzu: „Der Wappenring ist nämlich ein altes Erbstück, ein – Amulett, das in meiner Familie heilig gehalten wird –“
Axel antwortete nicht sogleich. Hier war etwas nicht in Ordnung, das fühlte er. Aus dem vor Angst halb irren kleinen Italiener redete offenbar nicht die Habsucht, wie er zuerst angenommen hatte. Diese ganze Szene stellte keinen Versuch dar, eine größere Summe für das Schmuckstück zu erzielen. Also steckte mehr dahinter, – irgend ein Geheimnis, dessen Entdeckung jener eben zu fürchten hatte. Und dies Geheimnis glaubte jetzt Kaisenberg auch schon erraten zu haben: der Ring war sicherlich gestohlen, und zwar unter erschwerenden Umständen. Für die Richtigkeit dieser seiner Vermutung sprach ja nur zu sehr das Benehmen der Signora Bragenza, die so nachdrücklich hervorgehoben hatte, daß ihr Mann ihr untersagt habe, den Ring zu verkaufen. Sehr zufrieden mit dieser anscheinend so logischen Denkleistung pfiff Axel jetzt leise durch die Zähne und lächelte den vor ihm Stehenden überlegen an.
„Mein lieber Herr – richtig – Bragenza,“, meinte er ironisch, „Sie müssen schon gestatten, daß ich Ihnen die Geschichte mit dem alten Erbstück und dem Amulett nicht glaube, ganz und gar nicht! Und in Ihrem eigensten Interesse dürfte es liegen, wenn Sie mir gestehen, was es mit dem Ring auf sich hat. Keine weiteren Ausflüchte! Und Ihre Hände brauchen Sie auch nicht mehr so beschwörend gen Himmel zu recken! Geben Sie es nur ruhig zu: der Ring ist mal seinerzeit gestohlen worden, nicht wahr?“
Die geistigen Fähigkeiten des kleinen Italieners waren offensichtlich nicht weit her. Er unterschätzte seinen hartnäckigen Quälgeist ganz bedeutend. Sonst hätte er nicht mit einer Eilfertigkeit, die Axel stutzig machen mußte, diese Bemerkung aufgefangen und sich auch nicht so urplötzlich zu einem angeblichen Geständnis bequemt.
„Ja, Herr Graf, er ist gestohlen, wirklich gestohlen“, nickte er eifrig und offenbar hocherfreut, so leicht davonzukommen. „Aber nun erhalte ich ihn doch auch zurück“, fragte er dann schnell mit einem lauernden Blick.
„Schade, ich hätte gern die Polizei aus dem Spiel gelassen! Aber Sie wollen es ja nicht, belügen mich und hoffen, daß ich dumm genug sein werde, Ihr sogenanntes Geständnis für Ernst zu nehmen. Nun, die Polizei dürfte mir dann wohl am besten darüber Aufschluß geben können, warum Sie ein so auffallendes Interesse an der Wiedererlangung des Ringes haben!“
Kaum hatte der unglückliche Bragenza das Wort Polizei vernommen, als er sich mit einem nur halb unterdrückten Angstschrei seinem Peiniger zu Füßen warf und winselnd flehte:
„Gnade, Herr Graf, Gnade! Ich will ja alles gestehen! Nur nicht die Polizei, nur das nicht! Und Sie werden auch Erbarmen haben mit einem armen Manne, Herr Graf, der unter einem furchtbaren Verhängnis leidet und unschuldig sein Gewissen schwer belastet hat. Verraten Sie mich nicht, Herr Graf, – bringen Sie mich und meine Familie nicht ins Elend!“
Axel sah, daß der Italiener jetzt wirklich mürbe geworden war. Er hatte seinen Zweck erreicht und sagte daher beruhigend: „Ich gebe Ihnen mein Wort, kein Mensch soll je etwas von dem erfahren, was Sie mir erzählen werden. Fürchten Sie nichts. Und all die Aufregung hätten Sie sich ersparen können, wenn Sie gleich ehrlich gewesen wären.“ Nachdem er dann noch eigenhändig ein Glas Wein eingeschenkt hatte, das der noch immer an allen Gliedern zitternde Händler dankbar mit einem Zuge hinuntergoß, schob er ihm einen Sessel neben den Diwan hin und forderte ihn auf, Platz zu nehmen.
„Vor einem halben Jahrzehnt“, begann der Italiener dann, „erstand ich bei einer Auktion von alten Möbeln im Palazzo Orsani einen von Holzwürmern stark beschädigten Damenschreibtisch, der seiner Bauart nach aus den ersten Anfängen der Renaissancezeit stammen konnte. Ein schlechtes Geschäft, wie sich’s nachher herausstellte. Denn ich wurde den Schreibtisch nicht los, trotzdem ich schon einen recht geringen Preis verlangte. Vier Jahre stand er unbeachtet in einem Winkel meines Ladens, und ich hatte bereits alle Hoffnung aufgegeben, wenigstens das seinerzeit für ihn angelegte Geld zurückzuerhalten, als eines Tages ein ebenso reicher wie wortkarger Amerikaner zu mir kam und sich unter anderem auch den alten Damenschreibtisch mit den gewundenen wackligen Füßen zeigen ließ. Der Herr verstand etwas von Antiquitäten, das merkte ich sofort. Er zog alle Fächer des Aufbaues heraus, beklopfte die Wände, prüfte die Schnitzereien und die Beschläge und wandte sich dann nach einer Weile mit der Frage an mich, ob ich denn auch wisse, daß der Schreibtisch ein Geheimfach habe. Als ich verneinte, zeigte er mir durch ein paar einfache Abmessungen, daß die Schubladen und das Mittelschränkchen nicht den ganzen Raum des Aufsatzes ausfüllten, daß also irgendwo noch ein verborgenes Fach vorhanden sein mußte.
Und nach einigem Suchen fanden wir es auch. Es war sehr geschickt an der Rückwand verborgen und ließ sich nur durch das Hochschieben einer kleinen, ganz unauffälligen Holzleiste öffnen. Zu unserer Überraschung bemerkten wir darin zwischen einem Haufen gänzlich zerfressener Pergamentblätter ein kleines Holzkästchen, dasselbe Holzkästchen, das sich jetzt in Ihrem Besitz befindet. Und in diesem Kästchen lag ein Ring, derselbe Ring, den Sie heute von meiner Frau kauften.
Der Amerikaner – er hieß Sounderton, ich werde den Namen nie vergessen – schien sofort die wertvolle Eigenart und das Alter des Ringes erkannt zu haben, trat an das Fenster und besichtigte ihn mit Kennermiene, offenbar schon entschlossen, ihn zu erwerben. Ich stand neben ihm, und ahnungslos ließ ich es geschehen, daß er ihn über den Ringfinger seiner linken Hand streifte, was nicht ganz leicht gehen wollte, da Sounderton ziemlich dicke Gelenke hatte. Mit einemmal zuckte er leicht wie unter einer plötzlichen Schmerzempfindung zusammen und führte schnell die Linke an die Augen, indem er den Ring forschend hin und her drehte. Dann zog er ihn jedoch ruhig wieder ab und reichte ihn mir hin. ‚Ich möchte beides kaufen, den Schreibtisch und diesen Wappenring. Nennen Sie mir den Preis,‘ sagte er dabei in seiner kurzen Art und ging dann der Mitte des Ladens zu, als ob er sich das alte Möbelstück nochmals ansehen wollte. Kaum aber hatte er zwei Schritte vorwärts getan, da begann er zu taumeln und sank auch schon, ehe ich noch zuspringen und ihn auffangen konnte, zu Boden und schlug hart mit dem Kopf auf. Sie können sich unser Entsetzen denken, Herr Graf – ich hatte in meiner Ratlosigkeit und Angst schnell meine Frau herbeigerufen, als es uns trotz Anwendung aller nur möglichen Belebungsmittel nicht gelingen wollte, den anscheinend Ohnmächtigen wieder zum Bewußtsein zu bringen. Schließlich lief ich zum nächsten Arzt, aber dieser konnte nur den bereits eingetretenen Tod feststellen.
Dann erschien die Polizei, es wurde das übliche Protokoll aufgenommen und darin als Todesursache ‚Gehirnschlag‘ vermerkt, obwohl das Gesicht der Leiche auch nicht im geringsten außergewöhnlich gerötet oder verzerrt war. Niemand schöpfte also irgendeinen Verdacht, ich selbst am allerwenigsten. Auch für mich war der Amerikaner eines natürlichen Todes gestorben. Wie sollte ich auch auf die Vermutung kommen, daß es sich anders verhielt, daß – Doch ich will nicht vorgreifen.
Der alte Schreibtisch aus dem Palazzo Orsani stand nun wieder in der Ecke meines Ladens, und auch das Kästchen mit dem Wappenring bewahrte ich weiter in seinem Geheimfach auf. Doch einen neuen Käufer fand ich für die Sachen nicht. So vergingen ungefähr acht Monate, und ich hatte den Tod Soundertons inzwischen fast vergessen, als an einem Nachmittag in diesem Frühjahr ein junger Engländer – Lord James Warngate, wie ich später erfuhr – mit seiner Gemahlin vor meinem Hause vorfuhr und mein Geschäft betrat.
Die Herrschaften kauften wir auch bald ein elfenbeingeschnitztes Schachspiel ohne langes Handeln ab und besichtigten dann weiter die wertvollsten Stücke meiner Sammlung, die ich teilweise sogar vom Bodenraum heruntertrug. Während meine Frau dem Lord die große Wanduhr mit den beweglichen Figuren und dem Spielwerk erklärte und den Mechanismus in Gang setzte – Sie werden das dunkelgebeitzte Kunstwerk wohl an der Rückwand des Ladens bemerkt haben, Herr Graf – und ich vor seiner Gattin am Fenster einige echt venetianische Spitzen ausbreitete, fiel mir plötzlich der Wappenring ein, an den ich in meinem Eifer, möglichst viel Sachen loszuwerden, noch gar nicht gedacht hatte. Ich nahm ihn aus dem Geheimfach des alten Schreibtisches heraus und reichte ihn der Dame, die sofort ein lebhaftes Gefallen an ihm zu finden schien. Langsam streifte sie den linken Handschuh ab, und indem sie ganz nebenbei nach dem Preise fragte, schob sie den Ring wie spielend über den Finger. Ich forderte sechshundert Lire. Sie nickte nur und schaute sich fragend nach Lord Warngate um, der sich aber um unser Gespräch gar nicht gekümmert hatte und noch immer neben meiner Frau vor der alten Wanduhr stand, deren Spielwerk jetzt eben ein getragenes Kirchenlied begann.
‚Sechshundert Lire – gut; James wird den Ring kaufen,‘ sagte sie nachlässig und wandte ihre ganze Aufmerksamkeit wieder dem Schmuckstück zu, das noch immer an ihrer Hand glänzte. ‚Schade, daß die Gravierung des Wappens so verstaubt ist‘, sagte sie darauf bedauernd. Und schon zog sie ein feines Batisttüchlein hervor und begann den gelben Topas eifrig zu reiben.
Ich sehe sie noch vor mir, die schlanke Engländerin mit dem zarten, vornehmen Gesichtchen, wie sie den Reif an ihrem Finger immer wieder anhauchte und den Wappenstein zu reinigen suchte, höre noch ihren leisen Aufschrei, sehe sie noch den Ring hastig vom Finger reißen und auf den Stuhl zwischen die kostbaren venezianischen Spitzen schleudern. Ja, ich werde die Einzelheiten dieser Szene wohl nie, nie vergessen! Und dann wies sie auf ihren Ringfinger hin, auf dessen durchsichtig weißer Haut jetzt zwei rote Pünktchen zu bemerken waren, Pünktchen so fein wie Nadelstiche. ‚Ich habe mich an dem Ringe geritzt, er muß eine scharfe Kante haben‘, meinte sie verwirrt, als ob sie sich bei mir entschuldigen wollte, daß sie mit meinem Eigentum so unvorsichtig umgegangen war.
Nur ich hörte diese Worte, ich ganz allein, Herr Graf – zum Glück! Der Klang ihrer weichen Stimme liegt mir noch heute im Ohr, als wäre alles erst gestern geschehen. Und dazu spielte im Hintergrund des Ladens die Wanduhr ihr trauriges Lied.
Dann, Herr Graf, dann wiederholte sich genau derselbe Vorfall wie damals mit dem Amerikaner. Auch Lady Warngate machte noch einige Schritte zu ihrem Gatten hin, taumelte plötzlich, schrie noch einmal laut ‚James!‘ und sank ihrem Manne bewußtlos in die Arme. Wir brachten die Ohnmächtige, die sich gar nicht erholen wollte, auf mein Anraten in den draußen wartenden Wagen, und der Lord fuhr in rasendem Tempo mit ihr zum nächsten Arzt. Ich sage: die Ohnmächtige! Und doch fürchtete ich, daß die Dame nicht mehr zu retten war, daß wir bereits einen Leichnam in das Gefährt getragen hatten, – ahnte es, da die Worte: ‚Ich habe mich an dem Ringe geritzt‘ einen furchtbaren Verdacht in mir entstehen ließen, der durch die näheren Umstände dieses Ohnmachtsanfalls nur noch verstärkt wurde. Denn beide, sowohl Sounderton wie Lady Warngate, waren umgesunken, nachdem sie den Wappenring nur für wenige Minuten getragen hatten, und bei beiden hatte ich auch vorher dasselbe schmerzliche Zusammenzucken bemerkt.“
Atemlos, weit vorgebeugt, war Axel Kaisenberg den Worten des Händlers gefolgt. Jetzt begriff er alles. Und die Gedanken, die jetzt blitzschnell sein Hirn durchkreuzten, waren auch für seine stählernen Nerven zu viel. Jetzt wußte er, welcher entsetzlichen Lebensgefahr er entronnen war. Mehrmals wechselte er die Farbe, stierte den Italiener aus weit aufgerissenen Augen an und preßte endlich heiser hervor:
„Der Ring ist vergiftet?! – So antworten Sie doch!“
Bragenza nickte scheu. Da erhob sich Axel fast taumelnd, ging zum Tische und stürzte mehrere Gläser von dem feurigen Wein hinunter. Aber beim Einschenken zitterte seine Hand derart, daß ein großer Teil auf die Decke floß. Dann ließ er sich wieder schwer auf den Diwan fallen.
„Erzählen Sie weiter!“ sagte er mühsam. „Ist Lady Warngate gestorben?“
„Ja, Herr Graf, – meine Ahnung bestätigte sich leider. Die Dame ist nicht wieder zu sich gekommen. Ein Herzschlag, hat der Arzt gemeint, zu dem sie hingebracht worden war. Und alle Welt hat an diesen Herzschlag geglaubt, – alle Welt, nur ich nicht! Denn ich hatte inzwischen den Wappenring vorsichtig untersucht und dabei festgestellt, daß mein Verdacht richtig gewesen. Geben Sie mir den Ring, Herr Graf, und ich will Ihnen die teuflische Einrichtung zeigen, mit der man morden kann, ohne je eine Entdeckung fürchten zu müssen.“
Als Axel ihm mit äußerster Vorsicht das gefährliche Instrument gezeigt hatte, fuhr Bragenza erklärend fort:
„Sie sehen hier unter dem Wappenstein in dem Golde zwei feine Löcher, Herr Graf. Wenn ich nun auf den Topas, der für gewöhnlich durch eine kleine, unsichtbare Feder gegen die Fassung gepreßt wird, leicht drücke, so dringen aus dieser Öffnung zwei dünne Nadeln hervor, – da, gegen das Licht können Sie dieselben deutlich bemerken. Hört der auf den Stein ausgeübte Druck auf, so gleiten auch die Nadeln wieder zurück, die mit einem beinahe augenblicklich wirkenden Gifte umgeben sein müssen. –
Das ist das furchtbare Geheimnis, Herr Graf! Und jeder, der den Ring überstreift und dann den Topas berührt oder mit ihm irgendwo anstößt, wird ahnungslos ein Opfer dieser unheimlichen Mordwaffe, indem sich die vergifteten Spitzen in seinen Finger bohren. Niemand kennt dieses Geheimnis, niemand! Selbst meiner Frau habe ich es verschwiegen. Und nun werden Sie auch begreifen, weshalb ich in solcher Angst zu Ihnen geeilt kam, weshalb ich so flehentlich den Wappenring zurückbat! Zwei blühende Menschenleben hat er bereits vernichtet. Ich konnte es nicht verhindern! Aber Sie wollte ich retten um jeden Preis! Denn kaum war ich erwacht, und kaum hatte meine Frau mir erzählt, daß der Ring Ihr Eigentum geworden, da habe ich mich trotz meiner Schwäche selbst aufgemacht, um weiteres Unheil zu verhüten. Und wenn ich zuerst noch Ausflüchte vorbrachte und Sie zu belügen versuchte, so tat ich es nur aus Furcht, daß Sie mich den Behörden, der Polizei verraten könnten. Die Strafgesetze sind so dehnbar, Herr Graf, und vielleicht hätte man mich trotz meines völlig reinen Gewissens unter Anklage wegen fahrlässiger Tötung gestellt! Es handelte sich ja um eine vornehme Engländerin und einen reichen Amerikaner, und da ist man schneller bereit, eine lange Untersuchung anzustellen, die, wenn ich nachher freigesprochen wäre, mein Geschäft vernichtet und meine Familie in die bitterste Not gesetzt hätte.
Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe, Herr Graf. Zu meiner Verteidigung will ich nur noch erwähnen, daß ich damals nach dem zweiten Todesfall in meinem Laden zuerst die Absicht hatte, den Ring in den Tiber zu werfen oder irgendwo zu vergraben. Wenn ich es nicht tat, so hinderte mich – ich gestehe es unumwunden ein – nur die Gewinnsucht, besser die Hoffnung auf einen Verdienst daran. Ich wollte den Ring einige Jahre liegen lassen und ihn dann, wenn niemand mehr an die beiden Unfälle in meinem Geschäft dachte, einem Goldschmied anvertrauen, der die vergifteten Spitzen herausnehmen sollte. So hätte ich ihn ja mit ruhigem Gewissen veräußern können. Daß meine Frau ihn jetzt, wo es uns so schlecht geht, trotz meines strengen Verbots vorsuchte, Herr Graf, werden Sie mir nicht zum Vorwurf machen! Glauben Sie mir, die Angst, die ich soeben auf dem Wege zu Ihnen und hier in diesem Zimmer ausgestanden habe, ist Strafe genug für die Unvorsichtigkeit, den Teufelsring nicht vernichtet zu haben. – Und jetzt, Herr Graf, werden Sie wohl selbst in den Rückkauf willigen, nicht wahr?“
„Nehmen Sie Ihr Geld nur wieder mit. Ich werde den gefährlichen Mechanismus aus dem Ringe entfernen lassen, sobald ich in meine Heimat zurückgekehrt bin. Er soll niemanden mehr schaden, glauben Sie mir! Und auf diese Weise sind Sie den Wappenring auch für immer los.“
Der Händler wollte noch Einwendungen machen, aber Axel schob ihn einfach zur Tür hinaus, nachdem er ihm den Geldbeutel wieder in die Hand gedrückt hatte. –
Schloß Waldburg, das dem Baron von Alten, dem Schwiegervater des Grafen Arthur Kaisenberg gehörte und von Kaisenberg kaum zwei Meilen entfernt war, hatte der Urahne des jetzigen Besitzers aus einer trotzigen Raubburg zu einem bequemen Wohnsitz umbauen lassen, dessen hohe Fenster die weiten Räume jetzt mit einer Flut von Licht versahen und dem Bauwerk alles Unfreundliche, Düstere nahmen. Dabei war aber der Charakter der frühen Ritterfeste nach Möglichkeit gewahrt worden. So hatte man an der Ostseite den Burggraben nicht abgelassen, ihn vielmehr zu einem Weiher verbreitert, der mit seinem von Seerosen und Schilf halbverdeckten Wasserspiegel die dicken Grundmauern bespülte.
Es war wenige Tage vor der Hochzeit. Auf Schloß Waldburg hatten sich bereits die ersten Gäste eingefunden, darunter auch Professor Heinz Hagen, der an der Universität in Königsberg den Lehrstuhl für Archäologie innehatte und seit Jahren mit Graf Arthur eng befreundet war.
Den beiden ungefähr gleichaltrigen Männern, die zunächst nur dieselbe Vorliebe für das Studium der bildenden Künste und des Kunstgewerbes früherer Epochen zusammengeführt hatte, war bald bei den häufigen Begegnungen in der Gesellschaft für Archäologie, der sie als Mitglieder angehörten, und dem steten Gedankenaustausch über fachwissenschaftliche Fragen auch die volle Schätzung für die gegenseitigen Herzenseigenschaften aufgegangen und hatte zu einer wirklich selten innigen Freundschaft geführt. Professor Hagen gereichte aber auch mit seiner eleganten Figur, dem sicheren, weltmännischen Auftreten und dem durchgeistigten, von einem blonden Spitzbart umrahmten Gesicht jedem Salon zur Zierde. Er war eine jener glücklichen Naturen, die sich spielend leicht in die verschiedensten Lebensverhältnisse einzufinden verstehen und sich überall nützlich zu machen wissen, ohne dabei aufdringlich zu erscheinen. So hatte er denn auch einen großen Teil der mannigfachen Vorbereitungen für die Hochzeit des Freundes übernommen, hatte mit der Baronin von Alten lange geheime Konferenzen gehabt und war in der letzten Zeit beinahe Spezialist für den Verkehr mit allerhand Lieferanten geworden. Und da er während der großen UniversitätsSommerferien diesen neuartigen Vertrauensposten auch alle seine Kräfte widmen konnte, so hatte er seine Aufträge zur vollsten Zufriedenheit der Baronin erledigt, die sich ebenso ganz nebenbei und ganz im geheimen die größte Mühe gab, den für die Ehe wunderbar talentierten, aber leider so hartgesottenen Junggesellen mit einer passenden Lebensgefährtin zu versehen. Was ihr jedoch schwerlich gelingen sollte, weil Heinz Hagen für seine goldene Freiheit nur zu sehr fürchtete und sich jungen Damen gegenüber daher stets als verschrobenes Gelehrtenoriginal aufspielte, während er doch in Wirklichkeit der liebenswürdigste und genußfreudigste Mensch von der Welt war.
Jetzt verlebte er auf Schloß Waldburg einige Ruhetage, bevor die Hochzeit wieder mit ihren mannigfachen Anforderungen an sein Festordnertalent herantrat. Aber zu einer rechten Erholung sollten die Tage für ihn nicht werden. Man brauchte ihn eben überall, überall. Bald mußte er Gutachten über die Neudekoration des Speisesaales abgeben, bald jagte ihn Baron von Alten mit der Bitte auf, doch einmal die Anordnung der Palmen um den Altar in der kleinen Schloßkapelle auszuprobieren.
Soeben hatte er nun an diesem so wunderbar klaren Septembervormittag einen weiten Spaziergang durch die sich bereits herbstlich färbenden Wälder unternehmen wollen, als er in der Ahnengalerie gerade vor dem Bilde des Herrn Melchior von Alten der Braut des Freundes begegnete, die sich sofort in seinen Arm hing.
„Lieber guter Professor,“ bat sie mit einem flehenden Blick, „Sie müssen uns helfen. Arthur ist vor wenigen Minuten mit dem Jagdwagen angekommen, und wir wollen nun zusammen auf Mamas Wunsch die Hochzeitsgeschenke auspacken. Und ohne Ihren Beistand geht das wirklich nicht. Sie haben zu allem eine so geschickte Hand!“
Hagen wurde der Verzicht auf den beabsichtigten Ausflug recht schwer. Aber dennoch begleitete er die Baronesse – mit feierlichem Seufzer allerdings – in das große Bibliothekszimmer, in dem eine Unmenge von Kisten und Paketen in allen Größen aufgespeichert war. Das Bibliothekszimmer lag im Ostflügel des Schlosses, und seine drei Fenster gingen auf den alten, jetzt zu einem Weiher umgestalteten Burggraben hinaus. Sie standen weit offen und ein leichter Wind trug den kräftigen Erdgeruch von dem nahen Park bis in das weite Gemach hinein.
Mit Lachen und Scherzen wurde die Arbeit des Auspackens begonnen, bei der allerdings Graf Kaisenberg nur den vergnügten Zuschauer machte, indem er erklärte, daß sich unter seinen Fingern gerade die teuersten Kaffee- und Teeservice und ähnliche leicht zu verbiegende Sachen unfehlbar in Scherben verwandeln würden. Man ließ ihn daher auch unbelästigt in der Ecke des hohen Paneelsofas sitzen und gab sich mit seinen kritischen, meist recht humorvollen Bemerkungen über die einzelnen Geschenke zufrieden. Baronesse Marga, der man ihre dreißig Jahre kaum ansah, wickelte dafür aber mit desto größerem Eifer und freudig geröteten Wangen all die kostbaren Tafelaufsätze, Bilder usw. aus den vielfachen Hüllen und stellte sie auf den breiten Mitteltisch in die richtige Beleuchtung, während Hagen, der geschickt mit Hammer und Zange die Deckel von den Kisten löste, ihr die Gegenstände aus ihren Lagern von weicher Holzwolle zureichte.
Soeben hatte der Professor ein neues Paket in Angriff genommen und wandte sich jetzt, während ein besonders widerspenstiger Nagel sich quietschend gegen die Zange wehrte, an den Majoratsherrn: „Arthur, hier haben wir sogar etwas aus dem schönen Italien, aus Verona! Vorhin war auch schon Spanien vertreten, – da wird dann wohl das nächste Geschenk von einem schwarzen Fürsten aus Afrika sein –!“
„Aus Verona?“ meinte Graf Kaisenberg erstaunt. „Ich wüßte nicht, daß ich dort Verwandte oder Bekannte habe. Aber vielleicht lebt dort ein Mitglied deiner Familie, Schatz?“ fragte er seine Braut, die neugierig zu Hagen an den Tisch getreten war. Doch auch Komtesse Marga verneinte. Inzwischen hatte der Professor die schwere Holzkiste glücklich geöffnet und reichte jetzt dem Freunde einen Brief hin, der obenauf gelegen hatte und in steilen, großen Schriftzügen des Majoratsherrn Adresse trug. Kaum erblickte dieser die auffallenden Buchstaben, als sich sein bisher so frohes Gesicht plötzlich verdüsterte und er mit leicht gereizter Stimme, wie zu sich selber sprechend sagte:
„So so, – in Verona hält sich mein Herr Stiefbruder auf! Deshalb also erhielt ich bisher auch nicht eine Zeile von ihm, seitdem er Schloß Kaisenberg verlassen hat. Ich bin nur neugierig, wie er diese Verzögerung seiner Abreise nach Amerika wieder entschuldigt.“
Hagen und Komtesse Marga tauschten heimlich einen schnellen Blick aus. Sie verstanden sich. Beide kannten Axels Vergangenheit nur zu gut und bedauerten es von Herzen, daß Graf Arthurs heitere Stimmung durch diese Erinnerung an den Stiefbruder getrübt wurde.
Sie waren jedoch zartfühlend genug, ihre Gedanken zu verschweigen und hoben jetzt mit vereinten Kräften den recht schweren Gegenstand aus der Kiste heraus. Nachdem dann die vielfache Packpapierumhüllung entfernt war, kam eine altertümliche kupferne Truhe zum Vorschein, die sofort des Professors ganzes Interesse in Anspruch nahm.
Er besichtigte sie von allen Seiten, prüfte die eingelegte Arbeit und nickte dazu sehr anerkennend mit dem Kopf. Nur einen Moment stutzte er, als er auf dem Boden der Truhe ein kleines Papierschildchen fand, auf dem merkwürdigerweise ‚Ernesto Bragenza, Antiquitätenhändler, Rom, Via Liguria‘ stand. Danach schien sie also nicht in Verona, von wo sie abgeschickt war, sondern in Rom gekauft zu sein. Doch er maß dieser Entdeckung weiter keine Bedeutung bei und hielt sie auch kaum für erwähnenswert.
Inzwischen hatte Graf Arthur schnell das Schreiben überflogen. Als er jetzt die Hand mit dem Brief sinken ließ, waren seine Züge wieder weich geworden und um seinen Mund spielte ein freudiges Lächeln.
„Armer Axel!“ sagte er ganz gerührt und erhob sich langsam. „Er ist doch ein guter Junge trotz seines Leichtsinns. Hört, was er mir schreibt:
‚Du wirst es mir nicht verargen, lieber Bruder, daß ich den Rest meines mir selbst bewilligten Urlaubs noch zu einem kleinen Abstecher nach Italien benutzt habe. Ich bin billig gereist, sehr billig und – wenig standesgemäß. Doch – wie kann ich von Standesbewußtsein sprechen, da ich mir ja die bevorzugte Lebensstellung durch eigene Schuld verscherzt habe. – Genug davon. Ich will Dich nicht mit den Ergüssen meines reuigen Herzens langweilen, will nur noch zu Deiner Beruhigung erwähnen, daß ich jedes Glücksspiel ängstlich gemieden habe. Wenn Du diesen Brief erhältst, schwimme ich schon wieder auf dem Ozean, traurig, daß ich der Heimat den Rücken kehren muß und wiederum auch beseelt von neuen Hoffnungen, neuem Unternehmungsgeist, die Dein großmütiges Darlehn in mir geweckt hat. Um Dir nun ein wenig meine aufrichtige Dankbarkeit zu beweisen, sende ich Dir eine Truhe, die ich zufällig hier in Verona bei einem Händler entdeckte. In der Truhe findest Du in einem Holzkästchen einen alten Wappenring, den ich in demselben Antiquitätenladen erstanden. Ich bitte Dich herzlich: Trage ihn zum Andenken an Deinen Bruder, der an Deinem Hochzeitstage Deiner in stiller Wehmut gedenken wird und Dir und Marga von Alten nochmals alles, alles Gute für die Zukunft wünscht.
Dein Axel.‘
Professor Hagen war kein Wort entgangen. Der Brief erschien ihm zu süßlich, zu unaufrichtig. Und plötzlich fiel ihm noch ein, daß er vor wenigen Tagen in der Hauptstadt einen Kollegen gesprochen hatte, der die Familie Kaisenberg ebenfalls sehr gut kannte. Und dieser wußte ihm von Axel Dinge zu erzählen, die sich mit den Angaben in dem Brief durchaus nicht deckten. Geheimrat Wilmers hatte den jüngeren Kaisenberg nämlich in Monte Carlo am Spieltisch beobachtet und gesehen, wie dieser in kurzer Zeit Unsummen verlor. –
Dies schoß Hagen plötzlich durch den Kopf. Und zugleich bemächtigte sich seiner ein Gefühl des Mißtrauens, eine argwöhnische Regung, von deren Grundlosigkeit er überzeugt war und die er doch nicht loswerden konnte. Während diese Gedanken ihn beschäftigten, hatte er den Deckel der Truhe aufgeklappt und das Holzkästchen, in dem sich der Wappenring befinden sollte, herausgenommen. Er öffnete es und reichte es nach einem flüchtigen Blick auf das Schmuckstück dem Majoratsherrn hin. Neugierig nahm dieser den Ring heraus und betrachtete aufmerksam das Wappen, dessen Zeichnung sich von dem gelben Topas so deutlich abhob. Dann rief er freudig erstaunt aus und hielt dabei Hagen den Ring entgegen:
„Heinz, wahrhaftig, – das ist das Wappen der Borgia! Damit hat mir Axel wirklich eine große Freude gemacht. Wir haben hier fraglos eine bedeutende Seltenheit vor uns.“
Der Professor war bei diesen Worten anscheinend erschreckt aufgefahren, nahm sich aber schnell zusammen und trat nun, indem er den Ring vorsichtig mit den Fingerspitzen anfaßte, an das offene Fenster, als ob er ihn in dem hellen Licht genauer untersuchen wollte. Plötzlich stieß er einen leisen Schrei aus und beugte sich weit über die Fensterbrüstung vor. Als er sich dann wieder umwandte, malte sich in seinem Gesicht deutlich eine tödliche Verlegenheit.
„Arthur – bitte, sei mir nicht böse,“ meinte er verwirrt. „Ich bin ungeschickt gewesen. Der Ring ist mir entglitten und unten in den Weiher gefallen. Wir werden ihn sicherlich mit einem großen, engmaschigen Netz wieder herausfischen können. Ich habe mir die Stelle genau gemerkt, wo er verschwand. Nochmals – verzeih! Du kannst dir denken, wie unangenehm mir die Sache ist –“
Doch der Majoratsherr wußte mit seiner lieben Art den Freund bald zu beruhigen. Nur Baronesse Marga blieb sichtlich verstimmt, und während man dann schnell die letzten Kisten öffnete, traf ihr prüfender Blick mehr wie einmal des Professors ernstes Gesicht. Ziemlich bedrückter Laune wurde die Arbeit vollendet, und nachher begaben sich die Herren sofort in die Wohnung des Schloßgärtners, damit die Suche nach dem Ringe ungesäumt aufgenommen werden sollte. Aber trotz stundenlanger, sehr sorgfältiger Bemühungen konnte man den Wappenring der Borgia nicht finden. Der Grund des Weihers war moderig, und auch die dichten Schlingpflanzen hinderten den Gebrauch des großen Rahmennetzes, mit dem man unter dem Fenster des Bibliothekzimmers den einstigen Burggraben durchwühlte. Endlich gab man die Hoffnung auf, das seltene Schmuckstück zurückzuerlangen.
Als aber Baronesse Marga an demselben Tage dem Professor allein auf der Terasse begegnete, trat sie dicht an ihn heran und sagte schneidend:
„Ich glaube, Herr Professor, den Ring müßte man anderswo suchen! Es soll Gelehrte geben, die als leidenschaftliche Sammler von Altertümern sich nicht scheuen, ihnen wertvoll erscheinende und auf andere Art unerreichbare Gegenstände durch ein geschicktes Manöver an sich zu bringen.“
Damit ließ sie ihn stehen und schritt stolz erhobenen Hauptes die Treppe zum Park hinab.
Axels Besuch auf Schloß Kaisenberg war trotz seiner kurzen Dauer doch in der Umgegend bekannt geworden. Kaum hatte Polizeiinspektor Gruber davon erfahren, als er auch schon einen Brief an den Kriminalkommissar Fehlhauser nach Berlin schickte und ihm mitteilte, daß der adlige Hochstapler über dessen Pariser Gaunerstückchen Gruber ebenfalls unterrichtet war, plötzlich wieder aufgetaucht sei. Ungesäumt nahm Fehlhauser die Verfolgung auf. Über Monte Carlo, Rom und Verona wies die Spur nach Nizza, und hier ereilte den Betrüger endlich im Savoy Hotel, wo er als Dr. Herbert Meißner abgestiegen war, das Schicksal.
Axel war gerade von einem Motorbootsausflug zurückgekehrt, als ein Kellner ihm einen Agenten Malvosio meldete. Fehlhauser hatte absichtlich diesen harmlos klingenden Namen gewählt.
Wenige Minuten später stand der Kommissar in dem eleganten Hotelzimmer dem vornehmen Verbrecher gegenüber. Dieser wurde blaß wie der Tod, als er den Beamten erkannte, dessen Züge sich seinem Gedächtnis nur zu gut eingeprägt hatten.
„Auf dieses Wiedersehen hatten Sie wohl kaum gehofft, Graf Axel Kaisenberg?“ sagte Fehlhauser ernst, um dann sogleich fortzufahren: „Hier der Haftbefehl gegen Sie wegen des Diebstahls im NobiliteKlub.“
Axel sah, das alles verloren war. Bevor noch der Kommissar es verhindern konnte, war er mit einem Satz hinter der Tür seines Schlafzimmers verschwunden, die er ebenso schnell verriegelte. Vergebens suchte Fehlhauser das Schloß zu sprengen, vergebens warf er sich mit seinem ganzen Körpergewicht gegen die weißlackierte Tür.
Zu spät. – Drinnen der Knall eines Schusses, der schwere Fall eines Körpers –
Das Ende – –
* * *
Das junge Paar weilte gerade auf der Hochzeitsreise in Venedig – als Graf Arthur Kaisenberg vom deutschen Konsulat in Nizza die Nachricht erhielt, daß sich sein Stiefbruder Axel dort erschossen habe, um sich seiner drohenden Verhaftung zu entziehen. Die amtliche Mitteilung war erst auf verschiedenen Umwegen in des Majoratsherrn Hände gelangt, und inzwischen mußten die Überreste des jüngsten Kaisenberg längst in der Ecke irgendeines Friedhofs bestattet worden sein. –
Graf Arthur war von dieser Kunde völlig niedergeschmettert. Erst langsam begriff er, daß Axel, von dem er seit jenem Briefe zu seiner Hochzeit nichts mehr gehört hatte, ihn in der schändlichsten Weise in dem anscheinend so tiefempfundenen Schreiben aus Verona belogen haben mußte. Vergebens bot die junge Frau ihre ganze Zärtlichkeit auf, um ihn zu trösten. Der Majoratsherr vermochte den demütigenden Gedanken, daß ein Kaisenberg zum Verbrecher herabgesunken war, nicht so schnell zu überwinden. –
Während die beiden Gatten noch traurig und in bedrücktem Schweigen auf dem Balkon ihres Hauses saßen, wurde Graf Arthur von dem Kellner eine Karte überreicht, bei deren Anblick über des Majoratsherrn verstörtes Gesicht ein heller Freudenschimmer flog.
„Denk dir, Marga, wer sich hier eben anmeldet!“ sagte er froh erstaunt. „Heinz Hagen ist’s, mein alter Heinz. Wir werden ihn doch annehmen, nicht wahr?“ setzte er schnell hinzu, als er bemerkte, daß sich ihre Stirn ärgerlich zusammenzog. Die junge Frau bedeutete dem Kellner, erst in dem Salon auf Antwort zu warten, bevor sie sehr ernst erwiderte:
„Es tut mir leid, Arthur, daß ich der schmerzlichen Nachricht über Axels Ende noch eine neue Enttäuschung hinzufügen muß. Der Professor ist jedoch deiner Freundschaft nicht wert. Damals, als ihm angeblich der Wappenring der Borgia aus dem Fenster des Bibliothekzimmers in den Weiher fiel, stand ich so hinter ihm, daß ich sein Profil in dem weit offenen Fensterflügel wie in einem Spiegel ganz deutlich sehen und alles beobachten konnte, was er tat. Und da habe ich leider bemerkt, daß er den Ring mit einer hastigen Bewegung in die Westentasche steckte, bevor er sich mit so gut geheuchelter Verlegenheit uns wieder zuwandte. Hagen ist eben einer jener leidenschaftlichen Sammler von Altertümern, die gegebenen Falles selbst vor einem Diebstahl nicht zurückschrecken.
Nun wirst du dir auch mein verändertes Benehmen ihm gegenüber erklären können. Und wenn ich bisher geschwiegen habe, so geschah es nur aus Rücksicht auf dein leicht empfindliches Herz. Ich wollte uns eben die Seligkeit der Hochzeit und der Flitterwochen nicht trüben. Hiernach wirst du selbst es wohl für am richtigsten halten, wenn wir auf Hagens Besuch unter irgendeinem Vorwand verzichten. Denn daß meine Augen sich damals in dem Bibliothekzimmer auf Schloß Waldburg getäuscht haben, ist – –“
„ – ausgeschlossen, vollkommen ausgeschlossen!“ vollendete plötzlich eine tiefe Männerstimme. Zwischen den Portieren der Balkontür stand der Professor, und um seinen Mund spielte ein leises Lächeln. Mit tiefer Verbeugung näherte er sich dann der Gräfin und streckte ihr freimütig die Hand hin.
„Gnädigste Gräfin, schlagen Sie ein! Es ist wirklich nicht die Hand eines Diebes, in die Sie Ihre zarten Finger legen sollen. Gewiß – Sie haben damals richtig gesehen – ich verbarg den Ring in meiner Westentasche. Aber ich hatte meine bestimmten Gründe dazu, sehr schwerwiegende Gründe, die mich und mein Verhalten rechtfertigen werden. Verzeihen Sie auch mein formloses Eindringen hier. Doch ich ahnte, daß Sie mich nicht vorlassen würden, da ich Ihre Worte auf der Terasse von Waldburg mir sehr gut zu deuten wußte. Und ich war es meiner alten Freundschaft mit Arthur schuldig, endlich einen Vorfall aufzuklären, der in ihm berechtigte Zweifel über meine Ehrenhaftigkeit hätte hervorrufen können.“
Das alles klang so ungekünstelt wahr und herzlich, daß Marga Kaisenberg ihm jetzt ebenfalls ihre schmale Hand hinreichte und leicht verwirrt den alten Bekannten mit einigen freundlichen Worten begrüßte. Am erfreutesten über diese glückliche Wendung war jedoch Graf Arthur, der in seinem Innern auch nicht einen Augenblick an dem Freunde irre geworden war und sofort irgendein Mißverständnis vermutet hatte. Und um dem Professor sofort zu beweisen, daß er noch das frühere Vertrauen in ihn setze, erzählte er ihm, nachdem sie kaum wieder Platz genommen hatte, das wenige, was er von seines Stiefbruders Tod wußte.
„Ich habe schon immer gefürchtet,“ meinte Hagen dann ernst, „daß es mit Axel ein trauriges Ende nehmen würde. Aber glaube mir, Arthur, er ist es nicht wert, auch nur einen Gedanken des Bedauerns seinem verfehlten Leben zu widmen. Denn das, was ich deiner Frau und dir jetzt berichten will, hängt leider ebenfalls nur zu sehr mit deines Stiefbruders Person zusammen, liefert einen weiteren Beweis, daß er ein gänzlich verderbter Charakter war.“ –
Er wandte sich zu Frau v. Kaisenberg. „Ich will noch einige Bemerkungen vorausschicken, damit Ihr das Weitere in seiner ganzen Tragweite verstehen könnt. – Wie Sie vielleicht wissen, habe ich mich hauptsächlich mit dem Studium des fünfzehnten Jahrhunderts der Geschichte Italiens beschäftigt, jener Epoche, in der trotz der politischen Zersplitterung auf der Apeninnenhalbinsel Gewerbe und Kunstfleiß sich entfalteten und mitten unter den Wirren und Kämpfen sich die Kultur der Renaissance zu herrlicher Blüte geistigen Lebens und Schaffens entwickelte, in der aber auch die gegenseitige Eifersucht der Machthaber, Geldgier und Herrschsucht Charaktere bildeten, die mit Gift und Dolch ihren Zielen nachstrebten, Charaktere wie z.B. Cesare Borgia, Herzog von Valencia, der unter anderen Freveltaten auch seinen eigenen Bruder und seinen Schwager, den Gatten der ebenso berüchtigten Lucretia Borgia, ermordete und für seine Zwecke die teuflischst ersonnenen Mittel und Instrumente benutzte. In meinem umfangreichen Werk über die Familie Borgia finden Sie nun auch einen Ring erwähnt, den Cesare Borgia nach den Aufzeichnungen des Abtes Feriora, des besten Kenners jenes Abschnittes italienischen Kulturlebens, bei einem Goldschmied in Rom nach eigenen Angaben fertigen ließ und der mit einem Mechanismus versehen war, durch den der Träger des Ringes unfehlbar vergiftet wurde.
Welche Schandtaten mit Hilfe dieses von dem Abte Feriora genau beschriebenen tückischen Mordwerkzeugs begannen sind, hat die Geschichtsforschung nicht mehr nachweisen können. Der Ring, welcher das in einen Topas eingeschnittene Wappen der Familie Borgia zeigte, blieb dann mehrere Jahrhunderte lang verschwunden. Ich selbst sollte ihn zum erstenmal an jenem Tage sehen, als wir auf Schloß Waldburg die Hochzeitsgeschenke auspackten, erkannte ihn aber nach Ferioras Beschreibung sofort an der eigenartigen Form und Fassung der Steine wieder. Ich hätte jedoch wohl kaum irgendeinen Argwohn gehegt, wenn mich nicht schon vorher verschiedene auffällige Umstände stutzig gemacht haben würden. Zunächst enthielt nämlich Axels für meinen Geschmack viel zu gekünstelter und auf bloßes Stimmungsmachen berechneter Brief eine bewußte Lüge. Denn von Geheimrat Willmers hatte ich erfahren, daß Dein Stiefbruder, lieber Arthur, in Monte Carlo wie ein Unnsinniger gespielt und stets verloren hatte. Und damals schrieb er Dir doch mit größter Aufrichtigkeit, daß er keine Karte angerührt habe. Weiter wollte er dann die Truhe und den Ring in Verona gekauft haben, was aber garnicht zu dem kleinen Firmenschildchen stimmte, das ich am Boden der Truhe aufgeklebt fand und das von Axel sicherlich übersehen worden war. Dieses trug nicht die Adresse eines Veronesers, sondern die eines Antiquitätenhändlers aus Rom. Durch diese Beobachtungen war bereits ein unbestimmtes Mißtrauen in mir rege geworden. Als ich dann am Fenster des Bibliothekzimmers stand und sah, daß ich tatsächlich den berüchtigten Giftring der Borgia in der Hand hielt, reihte sich blitzschnell in meinem Hirn eine lange Kette von Kombinationen aneinander. Du hattest mir erzählt, daß Axel die Nachricht von deiner bevorstehenden Heirat mit auffallendem Gleichmut entgegennahm, trotzdem für ihn dadurch jede Hoffnung auf den einstigen Erwerb des Majorats erlosch, zu der er durch deine anfänglich so schwere Erkrankung einigermaßen berechtigt war. Diese Gelassenheit wollte mir nie ganz echt erscheinen, besonders da ich seine Charakterveranlagung genau kannte, jedenfalls genauer als du selbst, der von niemandem so leicht etwas Schlechtes annehmen mag. Hieran erinnerte ich mich plötzlich, und notwendig sprangen meine Gedanken dann zu jenen Unwahrheiten über, die deines Stiefbruders Brief mir offenbart hatte. Jetzt glaubte ich an seine angebliche Besserung, seine reuevolle Einkehr nicht weiter. Und dem gewissenlosen Lügner, dem, der sein Ehrenwort, nicht mehr zu spielen, so leichtsinnig brach, besonders aber dem federgewandten Heuchler, der dein Mitleid durch tönende Phrasen wecken wollte, durfte ich auch eine noch größere Schurkerei zutrauen – eben den Versuch, dich durch den Giftring noch vor der Hochzeit zu beseitigen und dadurch in den Besitz der Kaisenbergschen Güter zu gelangen.“
Aus des Majoratsherrn Gesicht war jeder Blutstropfen gewichen.
Schwer atmend lehnte er jetzt in dem bequemen Korbstuhl, während seine junge Frau, die neben ihm saß, ihn wie schützend umfangen hielt.
„Unmöglich, Heinz – unmöglich!“ stöhnte er auf. „Du mußt dich irren! Denn das – – das wäre ja gar nicht auszudenken – der einzige Bruder – derartige Absichten –“
„Und doch ist es so!“ fuhr Hagen traurig fort. „Wir, die wir stets aufrechten Hauptes in dem Bewußtsein unserer untadeligen Gesinnung durch das Leben gegangen sind, ahnen nicht, welche Abgründe sich in der Seele eines Menschen auftun können, der einmal erst von dem geraden Wege abgewichen ist. Vom Spieler zum Mörder ist nur ein kurzer Schritt, das lehrt uns die Kriminalstatistik aller Länder. Und so war’s auch mit Axel. Ein Zufall spielte ihm den Giftring in die Hände, und schon erstand in ihm der ungeheuerliche Plan, diesen Zufall für seine Zwecke auszunutzen.
Er schickte dir den Ring als Hochzeitsgeschenk, bat dich, denselben zum Andenken zu tragen, schrieb kaltblütig diese Worte nieder, die in Wahrheit dein Todesurteil werden sollten! Daß es nicht geschah, hat eine höhere Macht verhindert. Gerade ich, einer der wenigen, die das Geheimnis des Wappenringes kannten, mußte ihn zu Gesicht bekommen, mußte sofort den eigentlichen Zweck dieses Geschenkes durchschauen. Und schnell entschlossen ließ ich ihn in meiner Westentasche verschwinden, erfand ebenso glücklich die Ausrede, daß er in den Weiher gefallen sei. Du glaubtest an dieses Märchen, ahntest den wahren Sachverhalt nicht. Doch deine Gemahlin hatte mich beobachtet.
Und damals, gnädigste Gräfin, als Sie so erzürnt auf der Terasse in Waldburg vor mir standen, da fehlte nicht viel, und ich hätte mein Geheimnis preisgegeben. Das ich schwieg und ruhig Ihre Verachtung weitertrug, geschah aus denselben Gründen, die mich schon vorher dazu bestimmt hatten, den Ring heimlich an mich zu nehmen. Denn sage selbst, Arthur – wäre dir nicht jeder Frohsinn, jede freudige Erwartung für deinen Hochzeitstag genommen worden, wenn ich dir damals sofort in der Bibliothek meinen Verdacht mitgeteilt, dir auch bewiesen hätte, daß das Gift in dem Ringe noch seine volle Wirksamkeit besaß? –
Der Gedanke, von einem Menschen, der deinen Namen trägt und dem du nur Gutes getan hast, mit so schnödem Undank behandelt zu sein, wärest du so bald nicht losgeworden. Er hätte die erste Zeit deines Eheglücks mit dunklen Schatten verdüstert, hätte dir sicherlich die jetzt reine, selige Erinnerung an deinen Vermählungstag getrübt. Und das durfte ich als dein Freund nicht zulassen. Ich habe es verhindert, nahm mir jedoch zugleich vor, dich später in alles einzuweihen, einmal um dir über deinen Stiefbruder die Augen zu öffnen und dann auch, um mich von dem Verdacht zu reinigen, daß ich den Ring – stehlen wollte. –
Gnädigste Gräfin, Sie brauchen mich nicht so unter Tränen um Verzeihung bittend anzusehen. Ich habe Ihnen diesen Verdacht auch nicht einen Augenblick verargt. Wie sollten Sie auch die Motive meines Handels begreifen, da der Wappenring für Sie nichts anderes war, als eine wertvolle Antiquität? Sie konnten sich aus Ihrer Beobachtung nur eine Meinung bilden, eben die, bei der ich am schlechtesten wegkam. –
Doch ich muß zu Ende kommen, will mich kurz fassen, um endlich dieses unerquickliche Thema zu erledigen. Nach deiner Hochzeit, Arthur, reiste ich sofort nach Rom, um dieser mysteriösen Ringgeschichte auf die Spur zu kommen. Ich wollte versuchten, festzustellen, wo Axel den BorgiaRing aufgestöbert hatte, wollte nebenbei auch zusehen, ob ich nicht herausbringen könnte, in wessen Händen das gefährliche Schmuckstück sich die letzten Jahrhunderte über befunden hatte. Das wäre jedenfalls eine wertvolle Bereicherung für mein Werk über die Familie Borgia gewesen. Ich sage: wäre! Denn diese meine Erwartungen wurden nicht erfüllt. Dafür erfuhr ich aber von jenem Händler in Rom, dessen Adresse ich unten auf dem Boden der Truhe gefunden hatte und den ich natürlich zuerst aufsuchte, so mancherlei, was mir nur zu sehr bewies, wie so begründet mein Verdacht gegen den Axel gewesen war. Der Händler wollte zunächst nicht recht mit der Sprache herausrücken, leugnete sogar, jemals eine Truhe, wie ich sie ihm beschrieb, besessen zu haben. Ich merkte sofort, daß der Mann, der auffällig ängstlich und verschüchtert war, mich belügen wollte. Und um mich nicht lange mit dem aalglatten Italiener aufzuhalten, wandte ich ein Mittel an, das seine Wirkung nicht verfehlte. Ich zeigte dem Antiquitätenhändler einfach den Ring und beobachtete dabei sein Mienenspiel. Der Erfolg war überraschend: er erbleichte, begann zu zittern. Das genügte mir. Er kannte also den Ring, und nun brauchte ich auch nicht länger zu bitten. Freiwillig erzählte er mir, daß Axel den Ring von ihm gekauft und ihm später dann auch das Geheimnis desselben abgepreßt habe.“
Hierauf berichtete der Professor dem entsetzt aufhorchenden Ehepaar, auf welche unheimliche Art der reiche Amerikaner und Lady Warngate in Ernesto Bragenzas Laden den Tod gefunden hatten.
„Axel wußte demnach,“ fuhr er sodann fort, „daß das Gift des Wappenringes durch die inzwischen verflossene Zeit nichts von seiner verderblichen Wirkung verloren hatte, wußte es und schickte dir, Arthur, trotzdem das furchtbare Mordinstrument mit der heuchlerischen Bitte, es zum Andenken an ihn zu tragen, wollte dich also beseitigen, beseitigen auf die heimtückischste Weise, die je das verbrecherische Hirn eines Menschen ersann. Nun, das Schicksal hat ihn inzwischen ereilt. Er hat sich selbst gerichtet, nachdem er wahrscheinlich vergeblich von Tag zu Tag auf die Nachricht deines Todes gewartet und damit auf die Reichtümer gehofft hatte, die ihm die Fortsetzung seines Spielerdaseins ermöglichen sollten.
Nach alledem, Arthur, mußt du Axels Namen aus deinem Gedächtnis auslöschen, als ob er nie gelebt hätte. Ich tue es gewiß. Nie wieder wird der entartete jüngste Kaisenberg von mir erwähnt werden.“
Anmerkungen:
1) Ab Kapitel 5 (zweiter Abschnitt) arbeitete Walther Kabel hier Auszüge aus der Zeitungs-Novelle Der König von Wara aus 1908 ein, ohne jedoch die Novelle in Gänze einzuarbeiten.
2) Beginnend ab dem letzten Abschnitt Kapitel 7 wurde, mit textlichen Anpassungen, von Walther Kabel vollständig die Novelle Der Ring der Bogia von 1910 eingearbeitet.