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Das Herz der Welt

 

 

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Das Herz der Welt

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 9 –

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1929 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Die Wolfsgrube.

Wenn der Sturm von Südost über den Pazifik fegt und Neptuns weißbemähnte Rosse brüllend gegen den Strand anrennen, als wollten sie unsere feste Steinhütte stürmen und vernichten, verschwindet mein Gefährte Gowin regelmäßig aus dem wohnlichen Gemach und sitzt stundenlang auf der Spitze des Vorgebirges und starrt den anrollenden Wogen entgegen.

Ich kann mich dann niemals des Gedankens erwehren, daß der Mischling Gowin, von dem ich nichts weiß und nie etwas wissen werde, von dem raubgierigen Meere irgend etwas erhofft, das als stiller Wunsch in seiner verschlossenen Seele schlummert und erst durch das Brüllen der Brandung geweckt wird.

Gowin ist stumm. Er hat nur eine halbe Zunge. Gowin kann weder lesen noch schreiben, und selbst Chi Api wußte über ihn nichts zu sagen, als daß er ein tüchtiger Seemann und vorzüglicher Reiter und Schütze sei. –

Gowins Lallen, als er an diesem Morgen nach dem Höllenlärm einer Sturmnacht mir die frischen Fährten des Fremden ins Gedächtnis zurückrief, ist wie das Heulen der Wölfe und das Kläffen der Füchse, wie das Schreien eines kranken Kindes und wie der dumpfe Laut des brünstigen Pumas. Mir geht dieses Lallen durch Mark und Bein, und ich beeile mich, das Frühstück zu beenden und … vielleicht den Mann abzufassen, der uns seit Wochen durch seine Spuren in Aufregung hält.

Es sind Spuren derber Stiefel mit Hufeisen unter den Absätzen. Ich habe dreimal diese Fährte im feuchten Lehm von Bachufern genau studiert, und ich weiß, daß der Unbekannte, der nie zu erwischen ist, trotz der plumpen Stiefel einen leichten, federnden Gang hat und nach der Schrittlänge etwas kleiner als ich sein muß.

Um diesen Fremden haben die langen Wochen, die wir ihm nachspüren, dichte Schleier des Geheimnisses gewoben. Der Mann flieht uns, und seine Schlauheit ist erfolgreicher als Gowins primitive List.

Gowin steht mit der Büchse im Arm vor mir. Er erinnert mich in seinem Robbenfellanzug ein wenig an Coy Cala, aber er ist massiger, derber und doch von günstigem Ebenmaß. Sein braunes Gesicht mit den schief gestellten dunklen Augen, den vorspringenden Backenknochen und den dünnen, grausamen Lippen unter der flachen Nase entbehrt durchaus nicht eines gewissen brutalen Reizes. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, daß Frauen von besonderem Einschlag ihn besinnungslos lieben würden.

Wir brechen auf. Heute in aller Frühe fand ich die frischen Fährten des Fremden hinter dem Waldstück, das unsere Bucht gegen das Innere der Insel Sachalin gleichsam begrenzt. Wir schreiten rüstig aus, die Sonne brennt warm hernieder, und Scharen von Rabenvögeln umkreisen drüben wie schwarze Punkte eine bestimmte Stelle.

Ich wundere mich, daß Gowin, als wir die Spur wie stets bisher im steinigen Bett eines Baches verlieren, ohne Umweg auf den Hügel zuhält, über dem die Vögel ein Aas zu wittern scheinen.

Und dann fällt mir ein, daß mein Gefährte, den ich nicht Freund nennen kann, obwohl Monate uns einander hätten innerlich näher bringen können, drüben eine Anzahl Wolfsgruben angelegt hat, in deren Herstellung er ein Meister ist.

Ich ahne, daß seine neuen Gruben wohl mehr dem Fremden galten. Gowin kennt tausend Schliche und Kniffe und überrascht mich jeden Tag durch seine Vielseitigkeit.

Meine Ahnung trügt nicht.

Wir steigen in ein kahles weites Tal mit verstreuten Buschinseln hinab, die von Dornen, Disteln und riesigen Brombeerranken zu stachligen Hügeln umgeformt sind.

Der Boden ist hart und steinig. Das Gras wächst nur in Büscheln, und es bedarf schon Gowins Kräfte, hier eine Grube auszuheben.

Ich gehe voran, bis seine Faust mich packt und zurückreißt. Er stößt ein paar gräßliche Töne aus, deutet auf die Erde und verzieht den Mund zu einem hochmütig-höhnischen Grinsen.

Gowins Fallen sind unsichtbar. Nur er versteht es, den Boden wieder so zu glätten, daß nur ein sehr scharfes Auge vielleicht wahrnehmen könnte, daß unter diesen trügerischen Steinen, Steinchen und Grasbüscheln, die anscheinend jahrelang nicht berührt worden sind, ein tiefes Loch gähnt mit einem schweren Balkendeckel, der, sobald ein Wolf, Fuchs oder gar ein Bär dort hinabgesaust ist, kunstvoll zuschlägt und ein Entkommen unmöglich macht.

Gowins Lachen hat mich schon häufig gereizt. Es liegt eine so abgrundtiefe Verachtung westlicher Kulturmängel darin. Mein Gefährte ist Asiate, und hinter seiner Stirn schlummert der dumpfe Haß gegen den Europäer, den all die Intellektuellen des fernen Ostens gegen uns hegen. Gowin ist vielleicht noch klüger als jene Männer, die heute die Geschicke Japans und Chinas leiten, wenn er auch weder lesen noch schreiben kann.

Jetzt übernimmt er die Führung. Er hat einen eigentümlich beschwingten Gang, er hat nichts von dem trippelnden oder schwerfälligen Schritt der Mongolen, und er hält den Kopf stets etwas zurückgeworfen, wie jemand, der auf ferne unklare Geräusche lauscht.

Hinter einer der stachligen Buschinseln ist der Boden in quadratischer Form, etwa dreimal drei Meter, eingesunken. Ich habe nicht gewußt, daß Gowin so große Gruben angelegt hatte.

An den Rändern sieht man noch Teile des feinen Flechtwerks aus Zweigen, das die dünne Erddecke trug.

In der Grube sieht man nichts, denn die aus Wrackplanken gezimmerte doppelte Klapptür, besser zweiflügelige Falltür, ist zugeschlagen und obendrauf liegen all die verschiedenen Teile des mit Erde bedeckt gewesenen Flechtwerks, dazu Grasbüschel, Steine und seltsamerweise ein zerknitterter, verwitterter Filzhut, der einen Kinnriemen aus weich gegerbtem Renntierleder hat.

Gowin weidet sich förmlich an meinem Erstaunen über diese Menschenfalle, denn Wolfsgrube wäre eine zu bescheidene Bezeichnung.

Er legt den Zeigefinger auf die Lippen. Ich soll mich still verhalten. Seine Zeichensprache ist mir längst geläufig geworden, und seine Handbewegungen und sein ausdrucksvolles Mienenspiel erklären mir, daß der Fremde gerade diese Stelle hier in letzter Zeit häufiger passiert habe.

Er fischt den Hut mit einem Stock von dem Plankendeckel, und wir betrachten den altgedienten Filz mit der Neugier von Menschen, die endlich von dem Unbekannten ein sichtbares Etwas erwischt haben. Der Hut besagt nichts. Es ist ein sehr feiner, weicher Filz von unbestimmtem Grau mit ein paar dunklen Flecken, die ich für Öl halte.

Gowin legt sich lang an den Grubenrand und schiebt den Holzriegel zur Seite, der die beiden Flügel der Falltür selbsttätig versperrt hat. Der Fremde muß in der Grube stecken, und ich entsichere für alle Fälle die Büchse und rufe hinab:

„Jeder Widerstand wäre zwecklos! Wer sind Sie?“

Gowin nickt zufrieden. – Ich rufe nochmals.

Die Antwort kommt von anderer Stelle. –

Die Insel Sachalin im Ochotskischen Meer ist noch heute zum Teil unerforscht. Bis zum Jahre 1800 wußte man noch nicht einmal mit Sicherheit, ob sie nicht lediglich eine langgestreckte Halbinsel wäre. Russen und Japaner teilten sich ihren Besitz, dann wieder tauschte Japan seine Südhälfte gegen die Inselgruppe der Kurilen ein, der russisch-japanische Krieg brachte abermals eine Verschiebung der Besitzverhältnisse, und heute hat Rußlands Interesse an dem immerhin entlegenen Inselgebiet erheblich nachgelassen, da die dortige Deportiertenkolonie durch die Sowjetregierung aufgehoben worden ist. Viel ausländisches Kapital steckt in den großen industriellen Unternehmungen, Kohlenbergbau, Petroleumquellen, Fischerei, Pelztierjagd sind durch amerikanisches Kapital verseucht. Was sonst noch über Sachalin zu sagen wäre, flechte ich wohl am besten in den Gang unserer Erlebnisse ein. Unendliche Strecken der Insel, besonders die weit rauhere Ostküste, sind völlig unbesiedelt. In den fast fünf Monaten unseres Aufenthaltes an unserer Nordostbucht hatten Gowin und ich vielleicht alle drei Wochen ein paar giljakische Fallensteller mit ihren Hundegespannen angetroffen, im übrigen keine menschliche Seele, bis – – auf die klaren Anzeichen des Vorhandenseins des „Fremden“. Unter diesen Giljaken, die man als Ureinwohner Sachalins zu betrachten hat (sie sind als rein arktischer Volksstamm anzusprechen und mit den Ainos aus Nordjapan eng verwandt) hatten wir einen einzigen näheren Bekannten, der immer wieder um Tabak betteln kam, einen älteren Mann, der, obwohl er fertig englisch sprach, von verdächtiger Zurückhaltung blieb und zweifellos als Eigenbrödler eine etwas dunkle Vergangenheit zu verheimlichen hatte. Er nannte sich Chedee, und das war kein Name, sondern nur eine Bezeichnung für sein eigenes Volk, die sich auch Manguni, Flußmenschen, nennen. –

Die Antwort auf meinen zweiten Anruf in die Grube hinab kam von rückwärts. Eine eigentümlich metallisch klingende Stimme sagte nicht einmal mit besonderem Kraftaufwand: „Lassen Sie Ihre Büchsen fallen!“

In dieser Stimme lag trotzdem etwas Zwingendes, etwas nicht näher zu Bezeichnendes, das unbedingt Gehorsam forderte.

Ich drehte langsam den Kopf, Gowin, temperamentvoller, suchte in der Grube auf dem Plankendeckel durch einen kühnen Sprung sicheren Schutz.

Armer Gowin! Der Mann war flinker. Irgend etwas, das ich erst später als eine höchst primitive Waffe erkannte, flog Gowin gegen den Hinterkopf. Sein Sprung wurde ein Sturz, und unter dem Gewicht seines muskelstrotzenden Körpers brach die Falltür nach unten ein, und die durch biegsame, federnde Weidenstöcke gestützten Klappen schnellten wieder empor. Zuletzt sah ich Gowins Stiefel auf diese Weise verschwinden, – die Sohlen hatten mehr Flicken, als ein anständiger Stiefel haben darf. Dann erst wandte ich mich dem Fremden wieder zu, der zehn Schritt hinter uns in aller Stille auf einem Steine Platz genommen hatte und nunmehr, da ich meine Büchse preisgegeben, freundlich winkte …

„Setzen Sie sich zu mir, Mr. Abelsen … Ich glaube, daß ohne Ihren Gowin die Unterhaltung zwischen uns in kultivierteren Formen sich abspielen wird. Er hat sich in seiner eigenen Wolfsgrube gefangen, – meine Schuld ist es nicht, der Mensch begann mir lästig zu werden. Wenn man auf Schritt und Tritt den Boden prüfen muß, ob nicht vielleicht darunter ein Loch sich befindet, hört jede Freude an meinem Beruf auf.“

Es gibt Augenblicke im Leben, in denen selbst die besten Nerven und die erprobteste Schlagfertigkeit versagen.

Ich hatte mir von dem Unbekannten längst ein Bild in meiner Phantasie entworfen, gestützt auf das Wenige, was von ihm bisher als unumstößliche Eigenschaften aus seinem Verhalten festzustehen schien. Noch niemals hatte ich mich so gründlich geirrt.

Der Mann war klein, breitschultrig, hatte lange Affenarme, kurze Beinchen, einen runden, vergnügten, glatt rasierten Kürbiskopf und war in einen Sportanzug aus braunem Manchester gekleidet, trug sogar Kragen und sauber gebundene Krawatte mit einer Perle als Nadel, hatte tadellos saubere Hände, machte überhaupt einen sehr gepflegten Eindruck bis auf sein braunrotes borstiges Haupthaar, das zur Zeit trotz reichlicher Pomade die Scheitellinie nicht ganz einhielt.

Ein Paar blaßgraue, eigentlich nichtssagende Augen musterten mich mit gutmütigem Spott, und die vorher so metallische Stimme fügte in zartestem Piano hinzu:

„Mein Beruf ist nämlich Massieren, Pediküren, Maniküren, und ich kann wohl sagen, daß ich hier auf Sachalin glänzende Erfolge aufzuweisen habe. Setzen Sie sich doch.“

Gowin in seiner Grube meldete sich durch einige schreckliche Töne, die entschieden dem Gebrüll kämpfender Kamelhengste glichen.

Ich zögerte. Ein Blick nach dem Kleinen hin, und ich bückte mich … Ich wollte mich vor diesem Zwerg doch nicht allzusehr blamieren und griff nach meiner Büchse. Im selben Moment flog mir etwas mit unfehlbarer Sicherheit gegen den rechten gesenkten Arm, und ich konnte froh sein, daß ich nur mit einer blaugrünen Stelle davonkam.

Das Etwas, das auch schon Gowin erledigt hatte, war eine Robbenkeule, also eine Holzkeule mit einem dicken Eisenring dicht unter dem Schlagende.

„Lassen Sie das doch, Mr. Abelsen,“ meinte der Manchestermann ein wenig nachdrücklicher. „Ich habe noch vier von diesen Dingern vor mir liegen, und ich verachte geradezu jede Schußwaffe, die nur unnötigen Lärm macht. Verzeihen Sie, – tut der Arm sehr weh?“

Ich mußte lachen, ob ich wollte oder nicht. Der Kleine war ein besserer Komiker, als ich ihn je auf der Bühne gesehen habe. Sein Gesicht besaß eine unglaubliche Fähigkeit, sich den Worten anzupassen. Es hatte die Beweglichkeit und Dehnbarkeit von Kautschuk, und seine Miene, tief betrübt und mitleidig, gab dem kleinen Mund die Form eines abwärts gekehrten Halbkreises.

Dann lachte auch er vergnügt und streckte mir die Hand hin. „Nichts für ungut, Mr. Abelsen …! Jeder ist sich selbst der Nächste, und eine Büchsenkugel als Visitenkarte schätze ich durchaus daneben.“

Der Händedruck war meinerseits etwas flau.

„Ich glaube, Sie sind Jongleur,“ sagte ich nur und ließ mich auf einen Grasbüschel nieder. „Nur Jongleure schleudern eine Keule mit solcher Sicherheit – oder auch einige Indianerstämme der Pampas …“

„Ich bin Jongleur,“ meinte er durchaus ernst. „Ich bin alles … Als ich noch in Cambridge Medizin studierte, war ich der beste Golfspieler, als ich im Zuchthaus von Battersea saß, rühmte man meine Kunst als Ausbrecher. – Mein Name ist Howard Steenpool.“

Er zog ein schwergoldenes Zigarettenetui und hielt es mir hin. „Bitte, echte Ägypter, direkt von Frafer u. Co. aus Kairo, ein Geschenk des Herzogs von Morgarde. Bedienen Sie sich …“

Der Mann beunruhigte mich allmählich.

Er reichte mir Feuer. Sein Feuerzeug war entschieden ebenfalls Gold, und an seinem linken Finger blitzte ein Brillant in Platinfassung von anderthalb Karat.

Er rauchte drei Züge und schaute seitwärts nach dem Rabenschwarm hinüber.

„Dort liegt ein totes Renn,“ erklärte er. „Es war ein altes Stück, und es starb schmerzlos und lockte Sie beide hierher. Gowin ist ein Anfänger.“

Was sollte ich sagen?!

Ich schwieg. Die Zigarette war gut. Gowin meldete sich immer lebhafter.

„… Trotzdem bin ich ihm zu Dank verpflichtet, Mr. Abelsen. Seine Falle fing mir ein kostbares Wild. Kennen Sie die Fürstin Zubanoff, Wera Zubanoff, geborene Baronin Ginnström aus Stockholm? – Nicht!? Sehr schade … Es lohnt. Sie ist blendend schön, nur etwas gefährlich. Ich kenne keine gebürtige Schwedin außer Selma Lagerlöff, die ein so umfassendes Wissen besitzt. Kluge Weiber werden entweder Schriftstellerinnen oder Abgeordnete oder Hochstaplerinnen mit einem Beigeschmack von Blut …“

Er legte sein goldenes Etui auf seinen braunen großen Filzhut.

„Wera Zubanoffs Hut war das zweite Lockmittel, Mr. Abelsen.“

„Es scheint so,“ – mehr wußte ich wirklich nicht zu erwidern.

„Sie hat mir viel Mühe gemacht, Mr. Abelsen … Ich bin nun genau drei Monate hier, und Sie wissen, noch der April war verteufelt kühl. Überhaupt ein scheußliches Land, dieses Sachalin. So viel Nebel wie hier haben wir nicht mal in London.“

Ich raffte mich zu einer entscheidenden Frage auf.

„Sind Sie etwa Polizeibeamter, Mr. Steenpool?“

Er lächelte erfreut. „Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen, Mr. Abelsen. Ich bin Oberinspektor bei der Abteilung D des Auswärtigen Amts und jage nur Edelwild. Die Zubanoff ist Edelwild. Es hätte keinen Zweck gehabt, etwa meinen Kollegen Emmerson auf ihre Spur zu setzen, denn Isaak Emmerson ist ein Mann mit zu viel Gefühl, und die Zubanoff weckt sehr leicht Gefühle. Bisher hat sie drei Kollegen in den Ruhestand wegen grober Pflichtverletzung verholfen. Liebe, sagen die Dichter. Blödsinn, sage ich. Ich habe nie geliebt. – Weiß der Teufel, weshalb die Zubanoff ausgerechnet hier nach Sachalin flüchtete!“

Ich blickte ihn an. „Mr. Steenpool, so interessant Ihr Geplauder auch ist, – entschuldigen Sie schon: Wollen wir nicht klar und offen miteinander reden?“

Seine verwaschenen Augen blinzelten ironisch.

„Dann müßte ich Sie jetzt verhaften, denn der Steckbrief gegen Sie ist immer noch gültig, Mr. Abelsen.“

Das wußte ich am besten.

Howard Steenpool hatte plötzlich etwas Kühles, Metallisches im Genick, und eine süße, weiche Stimme nahm mir jede Sorge hinsichtlich des Steckbriefes ab.

„Wenn Sie sich rühren, schieße ich,“ sagte Wera Zubanoff … „Mr. Abelsen, binden Sie ihn … Er ist ein großer Schwindler.“

Gowins schreckliches Geheul in der Wolfsgrube übertönte Weras schrillen Schrei. Steenpool hatte ihr durch einen Fausthieb nach rückwärts die Waffe aus der Hand geschlagen.

Als vierter mischte sich jetzt der alte Giljake Chedee ein.

 

2. Kapitel.

Die Fürstin Zubanoff.

… Der Bruder Athanasius bringt mir das Frühstück, und sein braunes gutmütiges Gesicht drückt wie immer tiefstes Staunen aus, weil ich jeden Morgen in meiner Zelle so und so viele Bogen von dem schönen gelblichen Papier vollschreibe.

Wenn ich den Blick hebe, sehe ich rechts die schroffen Felswände mit ein paar armseligen Palmen, links den Klostergarten mit uralter Steinmauer. Noch weiter links den Friedhof dieses ältesten Klosters der Welt, von dem die Überlieferung besagt, an dieser Stelle habe sich einst der Garten Eden, das Paradies befunden:

Das Herz der Welt!

Es ist ein weiter Weg von Sachalin zu den kahlen, hellen Gebirgsmassen am Roten Meer – bis zum Kloster St. Antonius, dem ältesten der Christenheit. Es war ein Weg so sehr abseits der Heerstraße des Alltäglichen, daß ich nicht weiß, wo ich dieses Stück meiner jüngsten Vergangenheit beginnen, wie ich es für mich in Worte kleiden soll. Es ist zu viel des Romantischen, zu viel rein Menschliches dabei. Wo Leidenschaften aufeinanderprallen, wird das Alltägliche zum Abenteuer und das Bedeutungslose zu wilden Szenen.

Hier inmitten dieser tausendjährigen Mauern in einem Raum, der nur dem Schemel Platz bietet, ruhe ich aus von den vielen Wochen der Seelennot und der Sorgen um andere.

Bruder Athanasius erzählt mir von der reichen Rosinenernte dieses Jahres, und er berechnet, wie viel Kirchenwein man gewinnen würde, und – er raucht dabei, er raucht immer, seine Pfeife geht nur aus, wenn die Glocke zu den Andachten ruft.

Zuweilen, wenn ich nachts schlaflos daliege und dem fernen Krächzen der zahllosen Raben lausche, die in den Klüften der weißen Abhänge nisten, erscheint mir alles wie ein wirrer Traum. Ich habe die Weltstadt Kairo, Metropole Ägyptens, Sammelpunkt reicher Nichtstuer, so nahe – – und doch so fern. Was besagen einhundertvierzig Kilometer?! Aber die Wälle und Klüften des ödesten aller Gebirge liegt zwischen St. Antonius und Kairo, keine gebahnte Straße, kein Schienenstrang sind in der Nähe, Touristen kommen selten hierher, und die Einsamkeit dieses weiten Hochtales hat mich wieder gesund gemacht.

Auch die, mit denen ich hierher kam, sind entschwunden, ausgelöscht aus meinem Dasein. Ich bin abermals ganz auf mich selbst gestellt, und das Gefühl war mir stets Quelle der Kraft, unversiegter wie die Klosterquelle dort drüben, die den Garten und die Felder bewässert und vielleicht dazu beitrug, die Mär vom Garten Eden hierher zu verlegen.

– Athanasius, einer der jüngeren der coptischen[1] Mönche, ist gegangen, hat die Holztür leise zugedrückt und mich meinen Gedanken und Erinnerungen überlassen.

Ich überlese die letzten Sätze und finde da den Namen Chedee.

Ja, der Giljake Chedee mit seiner verrosteten doppelläufigen Vorderladerflinte kam Howard Steenpool zu Hilfe, obwohl dies gar nicht mehr nötig gewesen wäre. Steenpool stand schon allein seinen Mann, und Wera Zubanoff blieb schließlich nur ein Weib, mochte sie auch noch so sehr Tigerin spielen.

Chedee ist ein mittelgroßer Kerl mit mächtigem Brustkorb und schmierigem, bräunlichem, faltigem, fast bartlosem Gesicht. Alles an ihm ist schmierig, und er trägt das graue Haar nach Giljakenart zum Zopf geflochten und verachtet im Sommer jede Kopfbedeckung.

Es ist Juni und die schönste Jahreszeit für Nordostsachalin. Im August setzen schon die Fröste ein, die Nebel kommen früher, eigentlich bleiben sie nie aus.

Chedee bevorzugt Robbenfelle als Stoff für seinen praktischen Anzug. Er hat sogar ein Hemd unter dem Jagdrock, und unter dem Hemd sieht man die behaarte Brust. Niemals sieht man ihn ohne seine Hunde. Bisweilen hat er fünf, bisweilen acht oder sieben, je nach dem die Bärenjagd seine vierbeinigen Helfer verminderte.

Ob Chedee oder Gowin der Stärkere ist, die Frage bleibt offen. Jedenfalls hat Chedees brutaler Griff die Lage entschieden, und Wera schrie zum zweiten Male auf.

Wera, geborene Baronin Ginnström, kann sich rühmen, daß ich sie sprachlos anstarrte, nachdem ich hochgeschnellt war und mich umgedreht hatte. Chedee fesselte ihr bereits die Hände auf dem Rücken und Steenpool sagte mißbilligend: „Sie sollten mich doch kennen, Fürstin …!! Mich erschreckt man nicht durch ein solches Spielzeug!“ Und er versetzte der Pistole einen Fußtritt.

Meine Landsmännin Wera war vielleicht die bestgewachsene Frau, die ich je sah. Alles an ihr war Ebenmaß und selbstbewußte, kraftvolle Schönheit.

Ihr vor Ingrimm gerötetes, sonngebräuntes Gesicht erinnerte mich entfernt an eine berühmte spanische Tänzerin. Eine so kühne, scharfe Nase, so merkwürdig klare, leuchtende Augen in einem schmalen Antlitz mußten jeden Mann fesseln, und der Mund glich einer Rosenknospe, die von Dornen gehütet wird.

Weras Blick ruhte voller Verachtung auf Steenpool, angeblich Oberinspektor, also Detektiv. Hatte Steenpool nicht eingestreut, daß er das Zuchthaus von Battersea in den Vereinigten Staaten kenne?! Ein merkwürdiger Beamter.

Merkwürdig wie Chedee, der so trefflich Englisch spricht, merkwürdig wie der lallende Gowin mit der halben Zunge.

Die Fürstin Zubanoff sagte mit beispiellosem Hochmut: „Sie sind ein armseliger Wicht, Steenpool, Sie sind eine feige schleichende Ratte!“

„Nein,“ sagte er nachsichtig, „ich war nur zu sehr Kavalier, Fürstin. Ich hätte getrost die Handschellen nehmen sollen. Stricke und Riemen sind nichts für Sie. Eisen, Stahl ist sicherer.“

Ich stehe dabei, wie ein braver Bürger, der nachts plötzlich in eine wilde Diebesjagd verwickelt wird.

Chedees Mund öffnet sich, und der braune Tabaksaft fliegt zwischen den Zahnlücken hindurch vor Weras Füße. Ein nicht wiederzugebender Ausdruck begleitet diese häßliche Geste der Geringschätzung.

Steenpool betrachtet den Giljaken lange Zeit und fragt schließlich:

„Du bist mir eine Neuerscheinung. Wer bist du?“

Das wundert mich. Steenpool streift hier seit Monaten umher, sonderbar, daß er Chedee nie begegnet ist.

Gowin heult wieder in seiner Grube, und Steenpool lacht.

Chedee antwortet mit dem selbstverständlichen Selbstbewußtsein des freien Jägers:

„Ich bin Chedee, der Giljake.“

Der Oberinspektor (?) schmunzelt gutmütig. Seine verwaschenen Augen aber strafen das Schmunzeln Lügen.

„Vielleicht bist du noch mehr, Chedee … Es ist hier ein feiner Vierklee beisammen … Gowin, Abelsen …“

Er bricht ab, denn Wera Zubanoff hat einen seltsam pfeifenden Ton ausgestoßen und ist gelbgrau geworden und hat große irre Augen.

Wir sehen sie an, und Steenpool kneift die Lider klein und zieht die Mundwinkel hoch.

„Aha – Gowin!! Wohl eine Bekanntschaft von Charbin her, Fürstin … War Gowin damals noch [in][2] dem Besitz einer vollständigen Zunge?!“

Die Röte steigt ihr jäh bis zu den Schläfen, und Chedee hustet eigentümlich.

Wera blickt auf Steenpools Stiefel und sagt nur: „Ihre lächerlichen Trugschlüsse langweilen mich gründlich …“

Allmählich langweilt auch mich dies zwecklose Hin und Her von Andeutungen. Im Grunde gehen mich weder Howard Steenpool noch Wera Zubanoff etwas an. Ich will meine Ruhe haben, und diese Kinoszenen sind gegen meinen Geschmack.

Aber diese Frau wendet sich jetzt mir zu, und ihre ersten Worte schon ändern die Dinge nur zu gründlich.

„Denken Sie an Margrit, Mr. Abelsen … Sie haben noch nie einem Weibe Ihre Hilfe versagt. Ich bin ein zu Unrecht gehetztes Wild. Steenpool ist Beamter, und für ihn existiert nur die Fülle trockener Paragraphen. Ich habe nichts getan, was diese monatelange Verfolgung rechtfertigen könnte.“

Der kleine Howard raucht eine neue Zigarette. Sein Kautschukgesicht ist nur trostlose Betroffenheit.

„Ach nein, – man könnte staunen!! Nicht rechtfertigen – – schau schau!! Und Edward Bix?! Starb er nicht durch Ihre Kugel?! Und Lord Fattmoore, – wer stürzte ihn in den Amur?! – Fürstin, Ihr Gedächtnis ist beklagenswert löcherig, ein Sieb ist eine Panzerplatte dagegen.“

Die Sonne scheint so wunderschön warm, das Tal mit seinen grünen Rändern und Buschinseln und den fernen Tannenkulissen ist so poetisch in seiner friedvollen Einsamkeit. Nur der Mensch mit seiner Niedertracht entweiht es.

Wera blickt mir fest in die Augen.

In ihren Augen ist mehr als Sonne …

Ich sage entschieden: „Wenn Sie an den Gentleman appellieren, Fürstin, so ist das leider verfehlt. Mr. Steenpool hielt mir soeben einen Steckbrief vor. Ich bin nichts als Abenteurer, Flüchtling, Totschläger aus Notwehr. Dennoch, Mr. Steenpool, ich möchte klar sehen.“

Gowin muß die Frauenstimme vernommen haben, Er tobt für mich in seinem Erdloch, und Wera Zubanoff wechselt die Farbe und schaut sich ratlos um, als ob sie die Möglichkeit eines Entweichens prüfen wollte.

Der alte Giljake – ich möchte die Läuse in seinem Zopf nicht zählen – deutet vielsagend auf sein Hundegespann, das hundert Meter weiter halb im Gestrüpp steht. Es ist ein langer Schlitten mit plumpen Kufen, unter denen jetzt sechs kleine plumpe Räder für die Sommerzeit angebracht sind. Sieben zottige Hunde sitzen abgeschirrt mit gespitzten Ohren da und beobachten uns. Der achte liegt auf der Seite und leckt den Hinterschenkel. Er muß verwundet sein.

„Die Hunde zerreißen jeden,“ meinte Chedee warnend.

Steenpool hat sich gebückt und eine seiner Keulen und meine Büchse aufgehoben, läßt den Patronenrahmen herausschnellen, gibt ihn mir und … schüttet Sand in den Lauf.

„Es ist besser so, Mr. Abelsen … Wir werden uns trennen. Sollten Sie uns folgen, werde ich Sie verhaften.“

Ich habe nur noch die Pistole im Lederfutteral, und Steenpool belächelt Pistolen.

„… Wenn wir eine halbe Stunde fort sind, dürfen Sie Gowin herauslassen, früher nicht. Versprechen Sie es mir, – es ist besser so.“

Die Keule in seiner Hand schwingt hin und her.

„Ich verspreche es …“

Die Fürstin dreht mir den Rücken zu, und Chedee schreitet zu seinem Schlitten und hält seine verrostete Flinte halb im Anschlag.

Der verletzte Hund ahnt wohl sein Schicksal und kriecht mit schleppendem linken Hinterbein eilend davon. Es ist ein rostbraunes kräftiges Tier mit starker Halskrause, größer als die anderen. Aber Hunde sind auf Sachalin nichts wert, und verwilderte Hunde treiben sich in ganzen Rudeln umher.

Mich dauert der Hund. Ich rufe Chedee ein paar Worte zu, und er dreht den Kopf und nickt.

Als der Schlitten, Chedee, die Fürstin und der affenarmige Keulenwerfer verschwunden sind, habe ich den Hund zu meinen Füßen und streichele ihn und besichtige die frische Wunde, die bis auf den Knochen geht.

So bin ich zu Wrangel gekommen. Ich habe ihn Wrangel getauft, es war eine Eingebung des Augenblicks. Das Geschlecht der Wrangel ist in Schweden ziemlich verbreitet, und einer meiner Freunde von einst hatte genau so runde treue Augen wie dieses Tier. –

Eine halbe Stunde …

Mag Gowin nur toben. Ich pflege mein Wort zu halten. Ich melde mich nicht. Ich kann ihm alles nachher erklären.

Drüben fließt das Flüßchen zwischen dichtem Weidengestrüpp dahin. Ich trage den Hund an eine freie Uferstelle, wasche die Wunde und streue von dem fein pulverisierten übermangansaurem Kali, jenen lila Kristallen, ein wenig hinein und schlinge mein Taschentuch um die böse, klaffende Verletzung. Wrangel leckt mir die Hand. Ich wünschte, die Menschen wären so dankbar wie Hunde.

Die Zeit ist um, und ich öffne die Falltür, und ein stiller Gowin steigt heraus und blinzelt in das Sonnenlicht, befühlt seinen Hinterkopf, blickt ringsum, prüft die Fährten und versucht mich durch Zeichen auszufragen.

Ich erzähle, aber ich rede nur von einer Frau und nenne keinen Namen.

Gowins Zurückhaltung, was weitere Einzelheiten betrifft, setzt mich in Erstaunen. Er begnügt sich damit, nochmals all die Spuren zu betrachten und tut recht gleichgültig.

Dann stellt er sich vor mich hin – ich reinige gerade meine Büchse – und will mir irgend etwas klar machen. Seine Erregung wächst, sein Gesicht verzerrt sich, und endlich begreife ich: Er möchte den dreien folgen!

„Nein, Gowin, – ich kehre zu unserer Steinhütte zurück. Sie haben eine halbe Stunde Vorsprung, und wenn sie mit Chedees Bootsschlitten den Fluß hinaufgerudert sind, finden wir sie nie.“

Das sieht er ein.

Er bringt die Falle in Ordnung, wir machen noch einen Gang zu den anderen Gruben, und drei Füchse werden abgehäutet.

Es ist mittag, als wir daheim anlangen.

Wrangel bekommt einen ordentlichen Verband, Gowin bereitet das Essen auf dem offenen Herd und ich sitze dann an dem plumpen Tisch und mache mir Notizen und schaue zuweilen durch das Fenster über die Bucht hin.

Hinter den Riffen, die eine kleine Mulde bilden, schaukelt der Schoner Sakramento, den Chi Api uns gespendet hat. Auf der Reling sitzen Möwen dicht bei dicht. Ich liebe sie nicht, sie beschmutzen das Deck.

Meine Notizen sind kurz. Ich unterstreiche die Namen, schreibe möglichst wörtlich Steenpools Bemerkungen nieder und vergesse nicht Weras klassische Schönheit. Während ich so Wera Zubanoff fixiere, wird mir warm ums Herz, und nebenbei beschleicht mich Beschämung …

Sie verachtet mich. Ich bin kein Gentleman. Ich hätte sie niemals Steenpool und Chedee überlassen dürfen. Gowin steht hoch über mir. Er wollte die drei verfolgen, ich ließ es nicht zu, und mögen seine Motive auch anderer Art gewesen sein, – ich habe diesmal wider mich selbst gesündigt, und es wird viele Tage dauern, bevor ich darüber hinweg kommen werde.

Es gibt zu Mittag Renntiersuppe mit allerlei Wurzelwerk, Reis und geschmorte Pflaumen als Nachspeise. Gowin als Koch ist unübertrefflich. Er wäscht sich vor dem Kochen sogar die Hände.

Die Mahlzeit verläuft diesmal nicht so stumm wie sonst. Im allgemeinen beschränkt sich der Meinungsaustausch zwischen uns auf den eng begrenzten Kreis unseres stillen Daseins. Dieser Kreis ist heute gesprengt worden. Unser Erleben hat keinerlei Anlaß zu großen inneren Krisen, selbst die Spuren des Fremden hatten immer nur eine Nebenrolle gespielt. Dies ist nun anders geworden. Taucht eine Frau auf, und diese Erfahrung machte ich nicht zum ersten Male, ändert sich vieles in einem weltabgekehrten Eremitendasein, ist die Frau jung und schön, beansprucht sie unweigerlich Beachtung, wenn wir uns auch dagegen sträuben.

Gowin, der trotz seiner zwanglosen Manieren niemals irgendwie bei Tisch Anstoß erregte, verlangt Auskunft über die Frau, zupft an seinem Haar, und müht sich ab, mir klar zu machen, ob die Frau jung oder alt, hübsch oder häßlich gewesen.

Es ist eine peinliche Frage für mich. Ich weiche aus. Gowin muß irgendwie Verdacht geschöpft haben, daß ich ihm so manches verschwieg. Er kennt Wera Zubanoff, – er glaubt mir nicht, daß die Frau, die Steenpool mit sich nahm, nicht einmal ihren Namen nannte. Seine dunklen Augen ruhen mit finsterer Beharrlichkeit auf meinem braunen Gesicht. Es ist sehr peinlich, und ich lüge ungern. Diesmal lüge ich mit kalter Entschlossenheit, denn, erfährt Gowin den Namen, so wird er unfehlbar seine Büchse nehmen und verschwinden und vielleicht tagelang wegbleiben. Sein Name hat Wera einen tödlichen Schreck eingejagt. Sie kennen sich, und Gowins Kugeln sitzen locker. Daß er in die Wolfsgrube sprang, war ja nicht Feigheit. Er wollte nur Deckung suchen vor Steenpool, und Howard Steenpool läge jetzt wahrscheinlich mit zerschossenem Arm dort auf meinem Bett, wenn Gowin zum Schuß gekommen wäre.

„Sie war häßlich und verblüht,“ sage ich nochmals. „Es muß irgendeine Verbrecherin gewesen sein, Steenpool erklärte sich nicht näher … Mehr kann ich dir nicht mitteilen, Gowin. Die Sache ist ja auch durchaus gleichgültig.“

Ein Zug höhnischer Überlegenheit erscheint auf seinem Gesicht, das so sehr den Abbildungen des Golem gleicht, jenen aus schöpferischer Phantasie geborenen Bildern eines Rätselwesens, um das sich die Handlung eines der tiefsten deutschen Romane rankt, gegen den selbst der berühmte Saure Zwerg des wandelfähigsten aller Romanfabrikanten nur Literatenkaffeegewäsch bleibt.

Er schiebt den Teller mit einem Ruck von sich, er steht plötzlich auf, in seinen Zügen verdichtet sich der ungläubige Hohn zu offener Feindseligkeit. Seine Handbewegung ist unmißverständlich, sie besagt: Du lügst!

Es ist das erste Mal, daß zwischen uns ein ernsterer Zwist das Behagen stört. Gowin ist ärgerlich, er zeigt es mir, Heucheln widerstrebt ihm, könnte er sprechen, würde er mir sicherlich Dinge sagen, die mich erröten lassen.

Ich beginne meinen üblichen Verdauungsgang, während Gowin das Geschirr säubert. Nachher wird er die drei Fuchsbälge auf Bretter spannen und mit dem Schabemesser bearbeiten. Ich wandere nach links herum um die weite Bucht zum Vorgebirge. Das Meer hat sich völlig beruhigt, es ist Ebbezeit, und auf dem nun trockenen Strandstreifen liegen Seetangbänke, Muscheln, Riesenquallen, tote Fische, sogar ein riesiger Lachs, und Krebstiere in allen Formen eilen krabbelnd wieder ihrem zurückgewichenen heimatlichen Element zu. Die Krähen, Raben, Dohlen, Möwen und Albatrosse finden reiche Beute. Ein Tier frißt das andere, – es ist genau wie im Daseinskampf der Menschen, nur daß das Ebenbild Gottes die brutalste Bestie bleibt.

Ich fühle nach der Innentasche der Jacke, aber meine Zigarren habe ich neben meiner Schreiberei liegen lassen, und ohne Zigarre wäre dieser Gang im Mittagssonnenschein eine halbe Erholung. Ich kehre um, und ich komme am Fenster vorüber. Das Gras hier macht meine Schritte unhörbar. Ich stutze …

Gowin sitzt an dem selbstgezimmerten Schreibtisch und liest meine Notizen, die ich flüchtig mit Bleistift auf das Papier warf.

Ich trete schnell zurück. Er hat mich nicht gesehen, er glaubt mich längst weit weg.

Gowin ahnt nicht, daß ich erst in dieser Stunde erfahre, daß er lesen kann. Er hat mich bisher getäuscht, – ich sehe es an der Veränderung seiner Züge, daß er jetzt den Namen Zubanoff gefunden hat. Seine rechte Faust ballt sich, sein Gesicht wird zur drohenden Maske besinnungslosen Hasses, und die Faust trifft den Zettel, als ob das Papier der Kopf der schönen Wera wäre.

Ich schleiche wieder davon, aber nur bis zu den Büschen, verberge mich und warte.

Ich wußte: Eine Frau, und schon ist es vorüber mit der Kameradschaft, schon beginnen die Heimlichkeiten … Als Gott die erste Eva schuf, hätte er sie unbedingt nicht als Trägerin des Prinzips des großen Triebes in die Welt setzen sollen. Bei den Tieren sind zumeist die Männchen die schöneren Exemplare. Weshalb mußte das Weib in der Mehrzahl so begehrenswert gestaltet werden?!

Ich warte, und was ich erwarte, geschieht. Gowin erscheint bewaffnet um die Hausecke, auf dem Rücken den Tragsack aus Seehundsfell, – er äugt mit verkniffenen Lidern zum Vorgebirge, und dann schlägt er flüchtigen Schrittes die Richtung nach jenem Tale ein, in dem ich Wera sah und Wera nicht half.

Mein Entschluß steht fest. Ich gönne Gowin einen Vorsprung, dann rüste ich mich aus wie er, nehme Lebensmittel, Rauchfleisch, Büchsen, Hartzwieback und eine halbe Flasche Whisky und Zigarren, fünfzig Patronen …

Weiß ich, wie lange ich wegbleibe?

Weiß ich, ob ich diese Bucht je wiedersehe?!

Und der Hund?

Er liegt auf weichem Fellager und beobachtet mich. Die Haarzotteln hängen ihm über die Augen, und er scheint traurig zu sein. Das Auge des Hundes ist so ausdrucksfähig.

Dann erhebt er sich, hinkt zu mir, reibt seinen Kopf an meinem Knie und winselt leise.

Einen Moment nur kam mir der Gedanke, daß es unter diesen Umständen besser gewesen wäre, Chedee hätte ihn erschossen.

Ich schämte mich. Wrangel wird auch auf drei Beinen neben mir her humpeln. Vorhin hat er so gierig seine Mahlzeit verschlungen, krank ist er nicht, und eine solche Wunde wird ihn kaum weiter behelligen, diese halbwilden Giljakenhunde, dem Eskimohund halb verwandt, sind keine verzärtelten Salonhündchen. – Ich streichele ihn, und er … leckt mir die Hand … – –

… Er hat mir damals die Hand geleckt, und heute, jetzt schiebt er sich unter dem Tische meiner Mönchszelle hervor und sitzt neben mir und mahnt, daß auch er sein Frühstück gewöhnt sei. Er hat noch nie umsonst gemahnt. Er ist mir die einzige Erinnerung an die Frau geblieben, die ich so heiß begehrte und die mir doch entglitt …

Ich habe meinen Wrangel lieb. Sein gesträubter Schnurrbart, den ich ihm zurechtgestutzt habe, erinnert an die berühmte Fliege Papa Wrangels. – –

… Wrangel und ich werden jetzt Gowin folgen.

 

3. Kapitel.

Nacht im Urwald.

Wenn mir einmal irgendwie Zeitungen in die Hände geraten – hier auf Sachalin habe ich seit fünf Monaten nichts neu Gedrucktes gesehen, –, lese ich stets mit vielem Vergnügen gerade die Berichte jener Tintenfische, die heutzutage mit Flugzeug, Zeppelin, Auto und Luxuszug und Schnelldampfer ferne Gegenden abgrasen. Schade nur, daß die Herren zumeist jene Gebiete meiden, in denen nicht viel zu holen ist. Wer kennt Sachalin?! Es sind ein paar ausführliche Werke über diese langgestreckte Insel geschrieben worden. Der eine Autor bestreitet entschieden, daß auf Sachalin Tiger vorkommen. Der andere hält es für möglich. Keiner erwähnt die Wolfsmeuten, die Scharen verwilderter Hunde und die heißen Quellen mit ihrem überreichen Natrongehalt. In einem dieser siedenden Brunnen, die oben mit einer Salzkruste, Sand und Steinen bedeckt sind, versanken Margrit Jossis Gegner. Nie wieder hatte ich jene Stelle besucht.

Ich folgte Gowin, und das war nicht ganz leicht bei der Unübersichtlichkeit des Geländes und bei Gowins Fertigkeit, jede Spur hinter sich zu verwischen. Ich durfte mich nicht darauf verlassen, daß er nun wirklich als Ziel jenes Tal wählte. Gowins Heimlichkeiten vor mir konnten sich nicht nur auf die Anlage dieser Menschenfalle beschränken, nein, er mochte noch weit mehr auf einsamen Jagdzügen erspäht oder vorbereitet haben. Er hatte mich bisher so grob hintergangen, er hatte zweifellos all meine Notizen gelesen, und die bezogen sich zum Teil auch auf ihn. Ich zweifelte nicht, daß er auch schreiben konnte, vielleicht gar sprechen. Leute mit verstümmelten Zungen lernen es mit der Zeit sehr gut, Worte zu bilden, wenn es ihnen auch natürlich schwer fällt. Und das Schlimmste: Meine Notizen über ihn waren nicht eben schmeichelhaft für seinen Charakter, wiederholt hatte ich betont, daß Gowin mir innerlich niemals näherkommen würde, daß ich vieles an ihm fast abstoßend fand. Er war nicht gerade roh, aber als Jäger besaß er jene Kaltherzigkeit gegenüber wehrlosen Geschöpfen, die vielleicht dem Naturmenschen eigen sein mag, die man jedoch bei Halbgebildeten in gemilderter Form eines Fünkchens von Mitleid fordert. Nicht einmal Coy Cala hatte es fertig gebracht, ein angeschossenes Stück Wild sich selbst zu überlassen, damit es nicht elend unter Qualen verrecke. Oft hatten wir einen vollen Tag gebraucht, das waidwunde Stück zu finden, und nie werde ich vergessen, wie Coy, diese urwüchsige Kraftnatur, das Junge eines von einem Puma gerissenen weiblichen Pampashirsches vor sich in den Sattel nahm und es nachher daheim auf der Gallegos-Bucht mit der Flasche großzog und nachher laufen ließ. Er hatte ein Herz, er war vornehm trotz seines Trangestanks und seiner beispiellosen Tollkühnheit.

Gowin aber?! – Und doch: Tat ich Gowin nicht vielleicht unrecht, war er nicht vielleicht doch ganz anders geartet, als er sich mir gegenüber zeigte?! Was wußte ich von ihm?! Nichts!! Matrose war er gewesen, ein Zufall schien uns zusammengeführt zu haben – – schien!

Es waren widerstreitende Empfindungen, die mich beengten, als ich so, den hinkenden Hund neben mir, Gowins Fährte mühsam im Auge behaltend, jenen fernen Wäldern zuschritt, an deren Ostgrenze der namenlose kleine Fluß aus dem Innern Sachalins sich dem Meere zuschlängelte.

Es waren Stunden tiefsten Grübelns über die Zusammenhänge dessen, was der Vormittag gebracht hatte. Wie ein Phantom schwebte Weras Antlitz vor mir, und ich erkannte letzten Endes, daß ich wohl auch ohne Gowins heimlichen Aufbruch aus mir selbst heraus Howard Steenpool und seine Gefangene gesucht haben würde.

Wrangel und ich erreichten das Tal mit der Menschenfalle. Hier war die Spur von Chedees Schlittenwagen leicht zu erkennen, und da der Hund immer munterer trabte, schlugen wir ein flotteres Tempo ein. Gowins deutliche Fährte, er ging stark einwärts und machte sehr lange Schritte, war unschwer aus den Spuren der drei anderen herauszufinden.

So gelangten wir, was ich stets vermutet hatte, an das Flüßchen. Es war immerhin zehn Meter breit, sein Wasser war klar, der Grund voller Steine und Kiesel und Felsbrocken, zwischen denen oft genug fette Lachse unseren Stoßspeeren zum Opfer gefallen waren. Hier am Ufer hatten die drei sich eingeschifft, – Gowin hatte hier eine Weile gestanden und war wohl mit sich zu Rate gegangen, welche Richtung er wählen sollte. Dann war er westeinwärts am Ufer weitergewandert, zum Teil im Wasser, und sehr bald bemerkte auch ich die Fährten von Chedees Zughunden, die ebenfalls zumeist im flachen Wasser sich neben dem Bootsschlitten gehalten hatten.

Es dunkelte bereits, als ich so ein Gebiet betrat, das wir nur selten aufgesucht hatten. Der Fluß wand sich hier durch eine Ecke des großen Urwaldes hindurch, und die letzten Strahlen der Sonne entschwanden mir, als ich in dieses Halbdunkel uralter Fichten und Tannen, Eichen, Erlen und Dornen zögernd eindrang. Das Flußufer war nun völlig verschwunden, das Wasser hatte Wurzeln freigelegt, und dicke Moospolster, die an den krummen Erlen hingen, kennzeichneten die höchsten Wasserstände der Frühjahrsschmelze. Meine Füße waren längst bis zu den Knien durchweicht und aufgequollen, die Stiefel schwer wie Blei, und die Kühle dieser sibirischen Wildnis machte mich frösteln. Die Urwälder von Sachalin gleichen durchaus denen Sibiriens. Vielleicht sind sie noch dichter, noch unwegsamer, da die warmen Luftströmungen des Pazifik die Vegetation begünstigen.

Hier die Fährte nicht zu verlieren, war ein Kunststück. Ich allein hätte es nie fertig gebracht. Wrangel half. Dem Hunde war das Waten im Wasser gut bekommen, und gerade an einer Stelle, wo eine Riesenfichte quer über das Wasser gestürzt war, so daß ich mich tief bücken mußte, um zwischen den bis ins Wasser hinabhängenden Zweigen hindurchzukommen, schwamm Wrangel plötzlich quer gegen die Strömung zur anderen Seite hinüber und bellte leise: Eine Aufforderung für mich, ihm zu folgen.

Wir betraten den Wald. Eine schmale Lichtung, bewachsen mit jenen fast mannshohen Grasbüscheln, die den Giljaken das Heu für die Wintermonate für ihre wenigen Kühe liefern, begünstigte zunächst das Vordringen. Ich erkannte hier noch die Fährte, doch hundert Meter weiter war wieder der Urwald mit seinen düsteren Mauern vor uns und mit seiner beklemmenden Kälte. Wrangel hinkte voran. Wir wanden uns durch Dickicht und Gestrüpp, wir trafen Windbrüche, die wie Berge waren, wir trafen Schneehalden im Schatten der Fichten, die keinen Sonnenstrahl durchließen. Und es wurde immer dunkler. An alles hatte ich gedacht. An eine Laterne nicht. Ich mußte Wrangel an die Leine nehmen und mich auf seine Augen verlassen. Mit gekrümmtem hochgereckten linken Arm schützte ich mich vor den Ästen, – ich war wie ein Blinder, denn hier in diesen Nadelholzdomen gab es kein freundliches Sternenlicht, nur Finsternis: Eulen und Käuzchen hausten hier, ihre Schreie klangen dumpf oder schrill, und das Konzert der großen Wasserfrösche in kleinen Tümpeln bildete die Dauerbegleitung zu dem widerlichen Geschrei der Nachtvögel.

Wrangel zog und zerrte an der Leine … Ihn hatte der Eifer gepackt, vielleicht war es auch die Sehnsucht nach den Artgefährten.

Und wieder verstrichen Stunden.

Meine Hände, mein Gesicht waren zerkratzt, die Füße hatten ich mir in den nassen Stiefeln wund gelaufen, aber in mir pulste derselbe Ehrgeiz wie in dem klugen Tiere, das mich, den Herrn, hier sicher und rasch vorwärtsbrachte.

Wie Gowin sich hier zurechtgefunden haben konnte, begriff ich nicht. Er mußte längst, längst die Spur verloren haben. Wahrscheinlich hatte er sich irgendwo zum Schlafen niedergelegt, denn er konnte schlafen, wann er wollte.

Stunden so …

Stunden in der bedrückenden Finsternis dieser Wildnis, die mich in vielem an die Wälder meiner schwedischen Heimat erinnerte. In Nordland droben hatten auch wir diese endlosen Forsten mit einsamen Sägewerken und einsamen Schmalspurbahnen. Die fehlten hier.

Aber schließlich mußte auch dieser Wald ein Ende haben, und ich wollte Wera Zubanoff wiedersehen, und Howard Steenpool wollte ich so manches fragen … Wie ein Beamter in das Zuchthaus Battersea gelangt sein könnte, und ob es wirklich erwiesen, daß Wera an dem Tode zweier Männer schuld sei …

Das würden nur zwei Fragen von vielen sein.

Dann – vor uns ein heller Fleck … Ein Blick empor: Sterne, die Mondsichel!

Eine Lichtung, mitten darin ein glühender Punkt wie ein Glühwürmchen.

Der Hund knurrt ganz leise und drängt sich an meine Knie.

Meine Augen zertrennen das Dunkel. Ich sehe die Umrisse einer Blockhütte, daneben eine zweite, und ich unterscheide ein erleuchtetes Fenster.

Hier ein Haus?!

Das war keine Giljakenwohnung aus dünnen Tannenstämmen mit Lehm und Steinen als Zwischenschicht, das war ein großes Blockhaus mit Schornstein, Glasfenstern, einem Stall und ein paar urbar gemachten Feldern.

Eine Hand legt sich schwer auf meine Schulter.

Wrangels Knurren habe ich falsch gedeutet. Es galt nicht der entlegenen Siedlung im Urwald und ihren Bewohnern, sondern meinem Gefährten Gowin.

Gowin steht neben mir.

In seiner Kopfhaltung allein spüre ich den hochmütigen Spott. Seine Gesichtszüge sind verschwommen.

Er … spricht …

Schwer nur kommen ihm die Worte über die halbe Zunge …

„Mr. Abelsen, ich sah Sie am Fenster … Und Sie sahen mich lesen. Wir wollen gemeinsam das Haus beschleichen, das ich ohne Sie und den Hund nie gefunden hätte.“

Nichts kam mir ungelegener als dieses Wiedersehen.

Verärgert, gereizt klang meine Frage:

„Wer bist du eigentlich, Gowin?“

Und er – im besten Englisch, nur etwas lallend, und doch mit dem Unterton gutmütigen Spottes:

„Ich bin Wasseli Gowin, und mir gehören drei Viertel der Goldwäschereien am Amur, und tausende von Mongolen lauschen meiner Stimme und gehorchen mir. Man nennt mich auch Wassili Charbinow, und vielleicht kennen Sie den Namen besser.“

Ich kannte ihn. Auf dem Schoner Sakramento hatten Pakete von fremden Zeitungen mir über die Kälte und Dunkelheit des Winters hinweggeholfen.

Wassili Charbinow war der reichste Spekulant des nördlichen Küstengebiets des fernen Ostens.

Er lachte jetzt lautlos in sich hinein.

„Abelsen, da du mich stets mit dem vertrauten Du angeredet hast, – bleiben wir dabei … – Wer war die Frau? Wirklich die Fürstin Zubanoff?“

Einer Antwort wurde ich überhoben, denn Chedee und fünf stämmige Giljaken warfen uns von hinten nieder, und ihre langen schmalen Jagdmesser kitzelten unseren Nacken, bis wir mit Renntierriemen gebunden waren.

Chedee riß mich hoch und stieß dann mit dem Messer nach dem Tiere, das mir bereits ans Herz gewachsen war.

Wrangel rettete sich durch einen Sprung rückwärts, und erst nach heftigem Hin und Her gab Chedee seinen Mordplan auf und sagte versöhnlicher: „Er mag leben bleiben, gut … Ob ihr beide leben bleibt, wird sich sehr bald herausstellen. Diese Nacht im Urwald kann eure letzte sein.“

Man schob uns vorwärts, und als wir in die helle Stube eintraten, saß da in einer Art Lehnsessel auf Wurzeln und Fellen Mr. Howard Steenpool gebunden und geknebelt und lächelte uns sanft entgegen.

 

4. Kapitel.

Im lila Salon.

… Die Fürstin Wera Zubanoff lag auf einem Diwan, der mit drei Bärenfellen belegt war, und rauchte eine Zigarette. Vor ihr stand ein Tischchen mit einer einfachen Teemaschine, einer Schale Gebäck und einem Aschbecher. Sie trug einen schwarzseidenen Kimono und zierliche japanische Pantoffeln über den nackten Füßen.

„Ich danke dir, Chedee,“ sagte sie zu dem verschmitzten Alten, der uns zwei Schemel hinschob und die Tür geschlossen hatte. Wrangel war mit hineingeschlüpft.

Ich beobachtete Gowin. Seine Augen ruhten voll tödlichen Hasses auf Wera Zubanoff, sein Gesicht war aschgrau geworden, die Haut über den Backenknochen spannte sich in Falten und verzog auch den Mund. Gowin erinnerte mich an eine tückische Bulldogge. Aber Wera nahm von ihm keinerlei Notiz. Sie blickte mich flüchtig an und betrachtete meine durchweichten Schuhe.

„Ihr nächtlicher Ausflug, Mr. Abelsen, kann drei Meter unter der Erde enden,“ sagte sie kalt.

Ich spürte unklar, daß all die Frauen, die bisher meinen Lebensweg gekreuzt hatten, im Vergleich zu der Fürstin Zubanoff harmlose Backfische gewesen waren.

Und – Wera war dazu die schönste von allen! Noch nie hatte ich ein Antlitz von so berückendem Charme gesehen, noch nie hatten eine hohe Stirn, ein festes Kinn und ein leicht sinnlicher Mund so viel Geist und Energie verraten. Diese Frau, Zierde jedes Salons, erschien hier in den Urwäldern Sachalins wie ein Märchenwesen. – Märchenhaft war auch die Ausstattung des Zimmers, das ich vorhin allzu bescheiden als Stube bezeichnet habe. Hellila Seide bespannte die Wände, die Decke war mit blaßgrüner, sternförmig geraffter Seide verhüllt, aus einer Rosette in der Mitte hing eine wertvolle antike japanische Messinglampe herab. An den Wänden zwischen modernen Salonmöbeln aus dunklem tiefrotem Kirschbaum spendeten Messingblaker mit dicken Kerzen ein mildes Licht. Der Bodenbelag bestand aus einem einzigen großen farbenfrohen Perserteppich von wundervollem Seidenglanz, über den noch ebenso prächtige Perserbrücken gelegt waren. Nur der Armsessel aus knorrigen Wurzeln, in dem Howard Steenpool keine günstige Figur abgab, und die beiden für uns bestimmten Schemel waren echte Giljakenarbeit. –

Der Fürstin versteckte Drohung berührte mich sehr wenig. Ich war nicht hierhergekommen, sie irgendwie zu belästigen. Sie machte sich eine völlig falsche Vorstellung von meinen Absichten.

„Mein nächtlicher Ausflug,“ erwiderte ich ebenso kühl, „hatte nicht den Zweck, Ihnen zu schaden, Fürstin. Nachdem ich mein Heim am Buchtstrand erreicht hatte, bedauerte ich bereits, nicht energischer eine restlose Klärung dieser immerhin seltsamen Vorgänge gefordert zu haben. Ich ließ mich durch Steenpool überrumpeln – leider! Ich will Ihnen restlose Offenheit schenken, verlange jedoch auch das gleiche von Ihnen. Wie ich sehe, hat Chedee es verstanden, Steenpool bei der Menschenfalle zu täuschen. Chedee gehört zu Ihnen, Fürstin, und ich – –, nun ich betrachte mich als neutral, bis erwiesen ist, daß Ihnen Unrecht geschieht.“

Weras klare Augen wurden milder.

„Sie sprechen als Mann. Ich habe von Ihnen auch nichts anderes erwartet, Mr. Abelsen. Ich habe zufällig Ihre im Druck erschienenen Erlebnisse in die Hände bekommen, ich spreche und lese auch leidlich deutsch, dazu sind wir Landsleute … Ich liebe Schweden über alles.“

Sie winkte mir einladend zu, ich nahm Platz, und Chedee entfernte unaufgefordert meine Fesseln.

Gowin oder Wassili Charbinow, Herr über Millionen, lachte schrill. Es lag unbändiger Haß auch in diesem Lachen.

„Ein glattes Weibergesicht, und der Eber wird zahm!“ spie er mir die Worte stolpernd ins Gesicht. „Schämen Sie sich, Abelsen, – Sie verdienen das vertraute Du nicht mehr!“

„Was Sie verdienen, Gowin, weiß ich noch nicht … Ich urteile nur auf Grund untrüglicher Beweise über eine Person.“

Das brachte ihn doch zur Besinnung. Er stieß seinen Schemel mit dem Fuß mehr in eine Ecke und setzte sich. In seinem Gesicht zeigte sich eine gewisse Verlegenheit.

Wera Zubanoff warf Steenpool einen merkwürdigen Blick zu. „Mr. Steenpool, ich glaube, Sie werden die Partie verlieren.“

Der kleine Herr mit dem beweglichen Gesicht zuckte die Achseln und bewegte den durch den Knebel verschlossenen Mund in recht komischer Weise.

Ich trat für ihn ein. „Lassen Sie ihm den Knebel abnehmen, Fürstin. Jeder soll hier frei und offen reden können.“

Chedee wartete Weras Befehl nicht ab, Steenpool holte tief Luft, beleckte sich die Lippen und verneigte sich. „Ich danke Ihnen …!“ Das galt Wera und mir.

Ich begann zu sprechen. Ich schonte Gowin nicht, mich erst recht nicht. Ich erzählte von meinen Notizen, von meiner inneren Unausgeglichenheit, erwähnte meine Bedenken gegen meine allzu schlaffe Handlungsweise und schilderte Wrangels und meinen Marsch durch den nächtlichen Wald.

„… Daß ich den Zusammenhang dieser verworrenen Dinge nicht überschaue, Fürstin, ist erklärlich. Ich weiß nur wenig: Sie müssen hier schon lange Zeit in der Verborgenheit gelebt haben, Chedee und seine Giljaken waren Ihre Freunde und Beschützer, und Steenpool suchte wohl ebenso lange umsonst nach Ihnen, bis Sie heute früh durch einen unglücklichen Zufall in Gowins Menschenfalle versanken, aus der Steenpool Sie wehrlos herausholte, fesselte und wegschaffte. Während Steenpool uns beide, Gowin und mich, überraschte und dann mit mir sprach, hat Chedee sie befreit …“

„… Ich befreite mich selbst,“ verbesserte sie. „Im übrigen trifft das alles zu.“

Steenpool nickte. „Es ist sehr bedauerlich, daß alles zutrifft, denn – es traf mich letzten Endes am schwersten. Es war kein Vergnügen, monatelang in einer Buschinsel in einer primitiven Hütte zu hausen und Tag für Tag die Schönheit zu suchen, die ich hier im koketten Sportanzug vermutete, nämlich Sie, Fürstin Zubanoff! – Mein Kompliment, – Ihre kleinen Morde und sonstigen Schurkereien haben Ihnen äußerlich keinen Abbruch getan, innerlich war ja an Ihnen nichts mehr zu verderben.“

„Sie sind ein Narr,“ meinte Wera ohne jede Gereiztheit. „Ihr Herren aus London mögt geniale Spitzel sein, Menschenkenner seid ihr nicht.“

Aus Gowins Ecke kam ein schamlos gehässiges Kichern. „Bravo, Mr. Steenpool! – Ein Jammer, daß Sie sich mir nicht früher offenbarten! Wir hätten die Herrschaften, die nun hier die Sieger spielen, dorthin gebracht, wo sie nicht mehr schaden können – auch Abelsen, der vor jedem Unterrock kapituliert.“

Ich verzichtete auf eine Erwiderung, ich sagte nur im allgemeinen: „Ich werde hören … Wir werden Gericht halten, und jeder soll zu Worte kommen.“

Die Fürstin reichte mir ihr Zigarettenetui. Ich erkannte es, es war dasselbe, das ich bei Steenpool gesehen hatte.

„Bitte … Es gehört mir nämlich. Steenpool beschlagnahmte es bei einer günstigen Gelegenheit,“ meinte Sie sarkastisch. „Er hat eine Vorliebe für echt goldene Dinge … Vielleicht saß er deshalb auch im Zuchthaus von Battersea, Staat Neuyork, Nordamerika.“

Der angebliche Oberinspektor schüttelte mißbilligend den Kürbis. „Wir werden hier doch ohne alle unnötigen Ausfälle verhandeln, Fürstin. Entschuldigen Sie, daß ich die kleinen Morde erwähnte, es war verfrüht, jedes zu seiner Zeit.“

Chedee gab mir ein Zündholz, und in Steenpools Augen erwachte die Gier des Nikotinverseuchten, seine Augen hingen verlangend an dem Etui.

„Binde ihn los, Chedee,“ befahl Wera gleichmütig.

Der kleine, äußerlich so gepflegte Londoner rieb sich die Handgelenke, strich seine Jacke glatt und griff in die Brusttasche und brachte ein Päckchen Zigaretten zum Vorschein. „Sie sind als Gegnerin fast zu vornehm, Fürstin,“ sagte er merklich verlegen. „Unsereiner muß anderen Grundsätzen huldigen. Der Zweck heiligt die Mittel, und die Mittel sind zuweilen nicht gerade einwandfrei. Man tut sich außerdem auf seine Schlauheit viel zugute, und sieht doch zuweilen ein, daß sogar ein Giljake wie Chedee der bessere Komödiant ist.“

Diese immerhin für die einzelnen Personen kennzeichnenden kleinen Abweichungen vom Thema konnte ich getrost dulden, obwohl ich vor Neugier förmlich brannte, endlich einmal zu erfahren, was der Kern all dieser Verwicklungen sein mochte. Es war jene Neugier, die zugleich regste Anteilnahme für eine einzelne Persönlichkeit in sich schließt, und ich machte kein Hehl daraus, daß mir Weras Bericht am allermeisten am Herzen läge.

„Fürstin, wenn Sie nun beginnen wollten.“

Es war zweifellos die eigenartigste Gerichtssitzung, der ich je beigewohnt hatte. Dieser Ausdruck „Gerichtssitzung“ erscheint vielleicht übertrieben. Und doch paßt er vollkommen für diese Aussprache zwischen Leuten, die der Wind des Schicksals und menschliche Niedertracht hier zusammengeführt hatte.

Chedee hatte sich bescheiden in eine andere Ecke gesetzt. Er hielt im Schoße seines ledernen Jagdrockes eine langläufige Coldrepetierpistole, eine jener Waffen, die in sicherer Hand einem Karabiner durchaus gleichwertig sind. Chedees verrostete Flinte war also auch nur Maskeradestück gewesen, und ich nahm im stillen meine arge Vermutung, sein grauer Haarzopf enthalte genügend Läuse für eine ganze Familie, mit Bedauern zurück. Chedee hatte ja auch mich und Gowin durch seine Besuche und seine harmlose Bettelei um Tabak gründlich eingewickelt. Er war als Spion für Wera Zubanoff zu uns gekommen, und jetzt erst fiel mir ein, daß seine Besuche in unserem Steinhaus zeitlich stets mit dem Auffinden der Spuren des Fremden durch uns übereinstimmten: Chedee hatte also Steenpool auf Schritt und Tritt überwacht!

Die Fürstin, die jetzt den Kopf in die linke Hand gestützt hatte, eine Stellung, die nichts von theatralischer Pose an sich halte, sprach in kurzen, klaren Sätzen, ohne jeden Seitenhieb gegen ihre Feinde.

„… Ich bin älter, als es scheint, Mr. Abelsen. Im Grunde bin ich bereits eine sehr alte Frau, denn die Jahre seit meiner Ehe mit Iwan Zubanoff zählen dreifach, und ich heiratete ihn im September 1923. Ich war Waise, ohne Vermögen, war zu stolz, bei reichen Verwandten Unterschlupf zu suchen und nahm eine Stellung als Erzieherin bei einem englischen Konsularbeamten in Angora, in der neuen Türkei an. – Schönheit ist ein Fluch – zuweilen. Alle Männer fanden mich schön, ich habe viele Anträge zurückgewiesen, denn ich war so unmodern, nicht nur Geld, sondern auch Liebe auf beiden Seiten zu verlangen. Jener Konsulatssekretär hieß Edward Bix.“

Steenpool hüstelte und wehte den Rauch seiner Zigarette beiseite. „Und er ist tot …“ sagte er leise.

Die Fürstin beachtete den Einwurf nicht. „Mr. Bix und seine Familie nahmen mich sehr freundlich auf. Sie waren offenbar recht vermögend, denn allein die Reise bis Angora hatte viel Geld gekostet. Daß Mr. Bix mich lediglich als Lockvogel dorthin geholt hatte, erkannte ich zu spät. Er war nicht sehr beliebt in der Europäerkolonie, seine eigenen Landsleute gingen diesem Menschen mit dem eingefrorenen kriecherischen Lächeln aus dem Wege. Er hatte so gar nichts von einem Engländer an sich, und sein Freund und Schwager Fattmoore, Lord Douglas Fattmoore, erst recht nicht.“

„Auch er starb,“ seufzte Steenpool und betrachtete seine Zigarette, die etwas schief brannte.

„Das weiß Mr. Abelsen bereits,“ – und Wera Zubanoff wurde ein wenig ungeduldig. „Bix und Fattmoore brachten mich dann mit meinem späteren Gatten zusammen, der in Angora als armer Emigrant einen kleinen Laden für sogenannte echte antike Gegenstände besaß. – Iwan Zubanoff war der erste Mann, dem mein Herz sofort zuflog. Ich will ihn nicht weiter beschreiben, – er war Aristokrat durch und durch und dazu eine Erscheinung, die sonst nur in Romanen vorkommt. Er war Mann, ein Mann von dem Typ jener stillen, harten Melancholiker, in deren Augen das Leid eines Volkes schlummert. Was die beiden unedlen Genossen vorausgesehen hatten, traf ein: Iwan und ich verliebten uns ineinander, und sehr bald waren wir heimlich verlobt. Ich habe meinen späteren Gatten nie mit seinem Vornamen angeredet. Iwan der Schreckliche als Zar von Rußland war mir zu geläufig, und ich erfand den Kosenamen Witscha. – Er war arm, ich war arm, – unsere Liebe erschien aussichtslos. Hiermit hatten Bix und Fattmoore ebenfalls gerechnet. Nicht umsonst hatten sie sich vorher meine Photographien genau angesehen, die in einem internationalen Sportblatt erschienen waren. Zu Lebzeiten meines Vaters war ich als Siebzehnjährige die beste Reiterin auf allen Tournieren. – Witscha vertraute mir eines Tages an, daß Bix ihm einen besonderen Vorschlag zur Hebung unserer pekuniären Schwierigkeiten unterbreitet habe. Die fürstliche Familie Zubanoff hatte am Nordufer des Amur weite Ländereien besessen, zu denen auch einige wenig ertragreiche Goldgruben gehörten. Die Sowjetregierung hatte sie beschlagnahmt, und die einzige Aussicht, daraus noch Gewinn zu erzielen – so sagte Mr. Bix –, sei ein zurückdatierter Verkaufsvertrag.“

Wera hätte kaum noch Einzelheiten zu erzählen brauchen. Ich war bereits im Bilde. Als Ingenieur, der den größten industriellen Unternehmungen gedient hatte, war ich auch in den Machenschaften von Finanzoperationen und Ähnlichem kein Fremder.

„… Witscha war nur schwer zu überreden, zu einem betrügerischen Schritt sich herzugeben. Aber er selbst betrachtete sich als Bestohlener, die Zubanoffs waren ungeheuer reich gewesen, die Revolution hatte seinen Eltern und Schwestern unter gräßlichen Umständen das Leben gekostet, er selbst entkam wie durch ein Wunder, – jedenfalls: Mr. Bix und der in London längst unmöglich gewordene Lord Fattmoore überredeten ihn, einen Kaufvertrag zu fälschen, nach dessen Inhalt Mr. Bix bereits 1915 den gesamten Zubanoffbesitz am Amur erworben hätte. – Auch dies Geschäft blieb fragwürdig, da Bix betonte, er hätte nur geringe Aussicht, von der russischen Regierung die Ländereien zurückzuerhalten. Das, was Bix meinem Verlobten zahlte, war daher geradezu armselig. – Wir heirateten. Die Hochzeit fand in aller Stille statt, gleich nach der amtlichen Trauung wollten wir Angora verlassen. Mein Gatte begab sich nochmals in seine bisherige Wohnung, – – und … ich … sah ihn niemals wieder, ich war seine Frau und war es nicht, – er blieb verschwunden. Bix und Fattmoore gaben sich scheinbar die größte Mühe, sein Verschwinden aufzuklären. Damals schöpfte ich den ersten Verdacht gegen die beiden. Ich wurde aus einem bisher vertrauensvollen Weibe eine schlaue Heuchlerin und Intrigantin, ich mußte es werden, ich hatte keinen Freund, keinen Helfer, ich war ganz auf mich allein angewiesen, ich spionierte, ich benutzte meine Schönheit, verschlossene Lippen zu öffnen, ich narrte Männer, ich wurde fast Dirne, ich – – erreichte nach drei Jahren entsetzlicher Demütigungen das Unmögliche: Ich hatte mir die Beweise verschafft, daß Bix und der Lord meinen Gatten nach Rußland hinein verschleppt und ausgeliefert hatten.“

Sie schwieg erschöpft, die letzten Sätze waren ihr nur wie ein einziger Schrei über die Lippen gekommen.

Steenpool beobachtete sie mit halb zugekniffenen Lidern. Seine Mundwinkel waren tief herabgezogen, er sagte nur:

„Ihnen sind da einige Irrtümer unterlaufen, Fürstin … Ganz so verhält sich die Sache doch nicht …“

Aus Gowins Ecke kam ein hartes Lachen …

„Oh nein, – sie verhält sich ganz anders, denn die Zubanoff-Ländereien hatte ich bereits 1915 gekauft, ich, damals schon Wassili Charbinow genannt und reicher, als es die Zubanoffs je gewesen! Und mein Vertrag war rechtsgültig, und Ihr Gatte, dieser Betrüger, wußte das! Ein feiner Aristokrat!!“

Wera flog empor. Ihre bleichen Wangen, ihre sprühenden Augen, das Zucken ihrer Lippen, – ihr Griff unter das Kissen des Diwans … – aber sie hatte sich in der Gewalt, sie schob die Pistole zurück …

„Vielleicht wird die Stunde kommen, Wassili Gowin, in der Sie vor meinem Gatten auf den Knien liegen … Sie armer Betrogener!“ – und die vorgestreckte Hand, der fast überirdische Ausdruck ihrer wieder entspannten Züge verscheuchten selbst Gowins häßliches Grinsen.

Steenpool sagte vermittelnd: „Beenden wir besser diese Aussprache, bei der ja doch nur Überzeugung gegen Überzeugung prallt … – Ich werde reden, Mr. Abelsen …“

Und ich, hier Richter zwischen Parteien, denen Haß und … Geldgier und dumpfes Rachegefühl die Augen blendete und den Verstand behexte, beugte mich zu meinem Hunde herab, streichelte ihm den struppigen Kopf und sehnte mich nach der Einsamkeit der stillen Bucht und nach der Steinhütte und nach völligem Alleinsein.

Menschen?!

Hyänen, Tiger, Schlangen …

Und ich dachte an Peter-Maugli, den kleinen Affen, der mir so oft zärtlich die Ärmchen um den Hals gelegt hatte und der nun längst mit Margrit in der fernen neuen Heimat weilte.

Ich – – Richter?!

Ich war selbst ein Gerichteter, die Welt hatte mich verstoßen, ich war heimatlos …

Weshalb mischte ich mich hier abermals in Dinge, die mich nichts, nichts angingen?! Hatte ich noch nicht genügend Lehrgeld gezahlt?! Ich verlangte vom Leben nichts mehr als inneren Frieden.

Wirklich nichts mehr?!

Und mein Blick begegnete dem der Fürstin, und wir beide erröteten flüchtig … –

Steenpool begann …

 

5. Kapitel.

Hand aufs Herz!

… Wie war das doch damals, als Howard Steenpool sein Wissen preisgab?!

… Ich habe die Feder weggelegt, und ich schaue über den Klostergarten mit seinen Palmen, Büschen, grünen Feldern, ich sehe die jüngeren Mönche in der dunklen Tracht mit den eigenartigen Turbanen mit Spaten und Hacken hantieren und die farbigen Laienbrüder große Körbe davonschleppen.

Ich sehe die hohe Mauer, auf deren Krone man bequem entlangschreiten kann, – ich sehe die innere, ältere Mauer, die auf Jahrtausende zurückblickt, und mir kommt der Gedanke, daß auch wir Menschen in unseren Herzen zwei solche Mauern haben, die uns von der Außenwelt trennen, – die eine, die ältere, ererbte ist die schamlose Selbstsucht, Erbgut der Väter, – die zweite unsere eigene Unzulänglichkeit, Unausgeglichenheit, das Sich-Selbst-Belügen.

Es gab eine Zeit, in der die wilde Kraft wilder Reiter, Jäger und Fischer diese Mauern niederriß. Ich höre das Grollen der Brandung, das Heulen des Sturmes, – und damals war er bei mir, Quelle urwüchsigen Mannestums …

Heute?!

Eine Klosterzelle … Ein Glöckchen bimmelt, und eilig legen die frommen Pater ihre nie erlöschenden Tschibuks weg und hasten zur Kirche mit den drei Kuppeln, die man neben St. Antonius’ erster Kapelle errichtet hat.

Das Leben ist bunt, – bunter noch das Erleben dessen, der diesem Leben den Rücken zugekehrt hatte und den der blinde Zufall immer wieder hineinriß in die Strudel quellenden Geschehens.

Wie war das doch mit Steenpool damals?!

… Sein rundes Gesicht, man mußte immer an einen holländischen Käsehändler denken, war der Fürstin zugewandt. Dieser Detektiv, der so geziert tat, der so gern mit seinem Brillantring kokettierte und seine Zigarette wie ein Backfisch rauchte, mochte ein ganz gescheiter Kerl sein, aber daneben war er zweifellos ein ebenso eitler Fant und Pousseur.

Er schaute Wera Zubanoff mitleidig an, legte seine Zigarette auf die Aschenschale und drückte die glimmende Spitze mit dem angefeuchteten Zeigefinger aus …

„… Es war drei Monate nach meiner Flucht aus dem Zuchthaus Battersea …“ sagte er einleitend, und er war sich sehr wohl bewußt, daß dieser Satz wirksam sein dürfte. „Die Sache ist nun ja auf diplomatischem Wege erledigt. Wir vom Auswärtigen Amt geraten zuweilen in eigentümliche Lagen. Ich hatte in den Staaten in aller Stille einen Mann festzunehmen, der auf keinen Fall der dortigen Polizei in die Hände geraten durfte. Ich war ein schlichter Privatmann, und als ich meinen raren Vogel in einer dunklen Gasse in die Enge trieb, schoß er zuerst. Ich schieße nie – oder doch höchst selten. Damals genügte ein Ziegelstein. Daß der Ärmste eine Schädeldecke so dünn wie eine Eierschale besaß, bedauerte ich aufrichtig. Er war tot … Und ich kam als Wilson nach Battersea … Eines Tages, als wir Sträflinge eine neue Autostraße glatt walzten, tauchte ein Eindecker ohne jede Nummer oder Zeichen auf, flog sehr niedrig, ein Tau hing vom Fahrgestell herab, und das Tau schlang sich mir um die Brust, – andere behaupten, ich hätte mich daran festgehalten. Was auch möglich ist. Das Endergebnis blieb dasselbe, ich war frei, auf dem Meere hatte mich ein Dampfer aufgenommen, und nach zweijähriger Abwesenheit schlief ich dann wieder mal im eigenen Bett in London. Nicht lange, da meine Vorgesetzten mir eine Aufgabe zuwiesen, die nur Howard Steenpool erledigen könnte, sagte mein Chef. Folgendes war geschehen: Zwei Landsleute, von denen Sie, Fürstin, eine wenig gute Meinung haben, hatten von Angora aus gewisse Rechte auf ein Gebiet am Amur geltend gemacht und waren in aller Stille dorthin gereist. Wieviel Schmiergelder sie bezahlt haben, entzieht sich meiner Kenntnis. Da Rußland damals allen Grund hatte, sich mit England gutzustellen, war der Kaufvertrag anerkannt worden, obwohl ein gewisser Wassili Gowin sich bereits als Herrn besagter Ländereien betrachtete. Eines Tages fand man dann Mr. Edward Bix, auf den ich als Engländer durchaus nicht stolz bin, mit einem Loch im Schädel unweit des Uferdorfes Zubanowo am Amur mausetot auf, und leider war auch Lord Fattmoore so tot, wie ein Mensch es nur sein konnte, seine Leiche lag im Schlamm einer kleinen Flußinsel, und der Kopf zeigte Spuren einer wenig sachgemäßen chirurgischen Behandlung. – Fattmoore war auch keine Zierde Oldenglands, aber sein Onkel war Staatssekretär, und ich war nur Oberinspektor und sollte nun die beiden Morde so in aller Stille – vergleiche Amerika – aufklären. – Man reist im Expreß recht bequem, aber von Charbin bis zum Dorfe Zubanowo bekam ich von Ostasien so ziemlich genug zu kosten. In diesem jämmerlichen Nest begann ich mit meinen Nachforschungen. Howard Steenpool hat noch immer ermittelt, was er herausbringen wollte. Ich erfuhr, daß eine als Mongolin verkleidete Händlerin zur Zeit der beiden Morde in Zubanowo geweilt hatte. Ich wußte, daß die Fürstin Zubanoff seit Monaten aus Angora verschwunden war, ich konnte einen alten Chinesen auftreiben, der die Mongolin mit Mr. Bix an jenem Abend am Flusse beobachtet hatte, und …“

Wera fragte scharf: „Sah der Chinese, daß ich geschossen habe?“

Steenpool verneinte. „Das nicht, aber Sie hatten eine Pistole, und Ihr Begleiter, der sich ebenfalls als Mongole ausgab, besaß auch so ein überflüssiges Schießeisen …“

„Sind das Ihre ganzen Beweise?!“ – und ich hatte meine Gleichgültigkeit längst wieder über die äußere Mauer in meinem Herzen geworfen und war hinterdrein gesprungen und stand – bildlich – Wera recht dicht zur Seite.

Steenpool erwiderte und legte die Fingerspitzen aneinander: „Mr. Abelsen, ich blicke auf eine fünfzehnjährige Erfahrung als Detektiv zurück, und die einfache Tatsache, daß die Leichen nicht beraubt waren, genügt mir.“

„Dann sind Sie sehr bescheiden …?!“ – und meine Ironie war bösartiger Hohn. „Ich denke, es gibt noch jemand, der ein Interesse daran hatte, Bix und Fattmoore auszutilgen …! Dort sitzt er!“

Gowins düsteres Golemgesicht hatte sich unter dieser Anklage nicht die Spur verändert. Er hielt den Kopf etwas schief und schien nach draußen zu horchen. Er hatte Ohren wie ein Luchs, und als Steenpool nun ohne jede Veranlassung überlaut ihm zurief:

„So verteidigen Sie sich doch, zum Teufel! Sie werden doch eine solche Verdächtigung …“

… Da fuhr Gowin ihn heiser an: „Schweigen Sie!! – Chedee, binde ihn, knebele ihn, oder wir erleben hier eine Überraschung, die uns warmes Blut kostet!“

Auch der alte Giljake mußte irgend etwas gehört haben …

Wie ein Blitz war er neben Steenpool, – nie hätte ich ihm diese Fixigkeit zugetraut, und er bohrte dem Detektiv den Lauf der Pistole grob in die Rippen …

Seine Linke – sauber war sie nicht – preßte sich auf Steenpools Mund …

„Den Knebel her, Mr. Abelsen …! Die Hunde im Stall sind so unruhig, und meine Giljaken liegen sicherlich betrunken im Heu …!!“

Ich zauderte …

Wera Zubanoff war flinker … Im Nu hatte sie Steenpool jede Möglichkeit genommen, nach draußen ein Signal zu geben …

Dann knallte ein Schuß … Chedee hatte die Deckenlampe tadellos getroffen, – Chedee flog zu den Wandleuchtern, – es wurde dunkel … dann hörte auch ich in der Ferne ein merkwürdiges Geräusch … Ich konnte es nicht deuten … Ich hörte eine Tür zufallen, ich verspürte einen kalten Luftzug, dann drückte mir jemand meine Büchse in die Hand … Wrangel begann zu knurren, und plötzlich blitzte eine Karbidlaterne auf …

In der offenen Tür standen mehrere kleine Kerle mit flachen gelben Mützen … Der eine – ich kannte ihn, es war der Polizeimeister der nächsten japanischen Ortschaft, – drohte in stolperndem Englisch mit allerhand barbarischen Zwangsmitteln, wenn wir uns nicht still verhielten …

Was ganz überflüssig war, denn ich hatte nicht die geringste Lust, mich auf einen Kampf mit diesen gelben Knirpsen einzulassen, die nun einmal hier in diesem Grenzgebiet die gesetzliche Macht darstellten.

Ich setzte mich wieder, legte die Büchse auf den schönen Teppich und blinzelte geblendet in den Lichtkegel, während Steenpool verzweifelte Anstrengungen verschwendete, sich aus seinem Sessel zu erheben.

Im ganzen waren es acht Japaner, die nun erst vorsichtig eintraten und den Salon vollends ableuchteten.

Chedee und die Fürstin waren nicht mehr da. Gowin lächelte unmerklich, und Steenpool, den die Kleinen losschnitten, schnellte wie ein Blitz hoch und brüllte wie ein Nußknacker, dem er auch auffallend glich.

Er schien die Japs sehr gut zu kennen, und der zappelige Polizeimeister fuhr wie ein Flederwisch in alle Ecken …

Aber Wera, Chedee, die anderen fünf Giljaken und die Hunde hatten sich derweil gänzlich verdrückt.

Steenpool tobte. Seine lächerliche Wut entlud sich über mein Haupt, und erst Gowins derber Zwischenruf, der den Oberinspektor so etwa mit einem Hammel auf gleiche Stufe stellte, brachte den Vertreter Oldenglands zur Vernunft.

Es zeigte sich, daß unter dem Diwan dicht an der Wand zwischen den Fenstern in den rohen Bretterdielen sich ein viereckiger Ausschnitt nebst Deckel befand, – daß unter dem Salon ein Kellerraum lag, der sich bis zum Stall hinzog, und daß die Flüchtlinge samt den Hunden auf einem Boot in die Sumpfwildnis westlich der Lichtung eingedrungen waren.

Eine Verfolgung dorthin war ausgeschlossen.

Als Howard Steenpool schweißtriefend und atemlos wieder eintrat und uns dies Ergebnis mitteilte, hatte ich Gowin schon losgebunden, wir saßen auf dem Diwan nebeneinander, und die beiden uns bewachenden Japs hatten nichts dagegen einzuwenden gehabt, daß wir uns jeder eine Zigarette ansteckten.

Steenpool schämte sich seiner sinnlosen Unbeherrschtheit wegen, rückte den Sessel näher und nahm umständlich Platz.

„Entschuldigen Sie,“ sagte er kleinlaut … „Wenn einem aber ein so lange gehetztes Wild abermals durch die Lappen geht, verliert man …“

Gowin unterbrach ihn.

„Sie sind uns noch den Rest Ihrer Geschichte schuldig … Ich möchte alles wissen. Mir scheint, ich habe Wera Zubanoff bitter unrecht getan …“

„Und mir scheint,“ sagte Steenpool schadenfroh, „daß Sie vielleicht sehr unrecht taten, als Sie Bix und Fattmoore beseitigten, Sie … ostasiatischer Oberschacherer, Sie!“ Er regte sich dabei nicht weiter auf, denn er und die Japs waren in der Übermacht. Seine Höflichkeit mir gegenüber hatte dem Europäer gegolten, in Gowin sah er nur den Farbigen.

Dann schüttelte er leicht den Kopf und sprach zu dem in der offenen Tür lehnenden Polizeimeister drei Worte – nur drei Worte, – es konnte Japanisch sein, ich verstand sie nicht.

Nur drei Worte …

Der Japaner stutzte …

Ich sah, daß Gowin nun die linke Hand mit dem Ballen an das Herz drückte und den kleinen und den Mittelfinger stark krümmte.

Der Polizeimeister von Sadagito sagte da zu Steenpool:

„Ich werde sofort wieder aufbrechen, Mr. Steenpool. Diese Lichtung liegt bereits auf russischem Gebiet, und ich würde mir nur schwere Unannehmlichkeiten zuziehen, wollte ich hier Ihnen weiter zu Diensten sein.“

Steenpools Gesicht wurde erheblich lang.

„Ich komme mit,“ sagte er schnell.

„Sie bleiben!“ – und Wassili Gowin drückte ihn in den Sessel zurück.

Die Japaner verschwanden ohne Abschied …

 

6. Kapitel.

Das Haus des Dreizehnten.

… Die Vorliebe der Chinesen und Japaner für Geheimgesellschaften ist bekannt. Im allgemeinen wußte ich bisher nicht viel über diese asiatischen „Logen“ und „Brüderschaften“. Nur Chi Api hatte mir in einsamen Stunden in unserer Urwaldhütte im borneanischen Tropenwald einiges darüber mitgeteilt, hatte mir dann auch hier auf Sachalin bei besonderer Gelegenheit erklärt, er hielte Gowin für eines der unbekannten Häupter des sogenannten Wang-Bundes, der als Endziel seiner Bestrebungen die Errichtung eines gemeinsamen ungeheuren Reiches, Japan, China, Mandschurei und Mongolei umfassend, planen soll … soll, betonte Chi Api, genaues wüßte er nicht, denn gerade der Wang-Bund sei außerordentlich vorsichtig und nur die zwölf Oberhäupter seien in die Pläne jenes Doktor Wang Ho eingeweiht, den die Machthaber in Peking letztens hatten erschießen lassen, weil er ihnen unbequem wurde. – Wang war Arzt gewesen, hatte in Paris, Berlin und Genf studiert und galt für einen Mann von außerordentlichen Fähigkeiten. Nach seiner Hinrichtung hatte man seine Leiche, damit keinerlei besonderer Kult mit ihr getrieben würde, verbrannt, und die Asche ins Wasser gestreut.

Gowin trug nun – und das war Chi Api aufgefallen – am linken Unterarm einen schmalen, mit Muscheln benähten Schnallriemen, – ein Armband, könnte man sagen. Zwischen diesen Muscheln befand sich, umgeben von ganz kleinen Muscheln, der braun verfärbte Backenzahn eines Menschen. Chi hatte mir geraten, Gowin nie nach der Bedeutung dieses Zahnes zu fragen. „… Freund Olaf, es geht das Gerücht, daß Wangs Zähne, sogar sein Kopf, dem Scheiterhaufen entgingen und daß jeder der zwölf Ober-Wangs einen Zahn bei sich trüge.“

Dinge, die die Vergangenheit längst ausgelöscht hatte, wurden so in mir wieder lebendig.

Ich zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß Gowins Bemerkung, ihm stände die Hilfe tausender von Mongolen zur Verfügung, sich nur auf den Wang-Bund beziehen könnte. Der Polizeimeister war auch ein „Wang“ gewesen, Gowin hatte dies irgendwie erkannt, und die Folge war, daß Howard Steenpool notgedrungen bei uns bleiben mußte.

„Abelsen,“ sagte Gowin zu mir, „ich möchte jetzt erst einmal feststellen, ob die Japaner wirklich abgezogen sind. Leisten Sie Steenpool Gesellschaft und legen Sie Ihre Büchse über Ihre Knie … Steenpool hat hier zwar keine Robbenschlägerkeulen zur Verfügung, aber … “

Und dann ging er rasch hinaus.

Natürlich wollte er den Polizeimeister noch sprechen.

Steenpools Laune spiegelte sich auf seinem Kürbisgesicht wieder. Er gab sich gar keine Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen, und ich gab mir erst recht keine Mühe, ihm zu seiner Niederlage nicht zu kondolieren.

„Sie haben Pech …!“ meinte ich gemütlich. „Howard Steenpool scheint doch nicht immer zu siegen … Jeder Feldherr muß mal eine Schlappe hinnehmen. Ihrer Miene nach wünschen Sie jetzt wieder ein Flugzeug herbei …“

Sein eigentümlich ernster Blick ruhte still auf meinen Händen, die die Büchse bereithielten.

„Ich fürchte, Mr. Abelsen, wir alle werden noch an diese Nacht denken – noch nach Jahren,“ sagte er gedämpft. „Ich hätte nie vermutet, daß Gowin ein Tschu-Wang ist.“ Dabei bekam sein Blick etwas Fragendes. „Wissen Sie, was Wang ist?“ fügte er nach einigen Sekunden hinzu, da ich es doch für richtiger hielt, mit meiner Antwort vorsichtig zu sein. Es ist ein Geheimbund, Mr. Abelsen, und die hier im fernen Osten interessierten Großmächte haben bei Gott alle Ursache, diese panasiatischen Bestrebungen scharf zu überwachen. Würde die Idee eines Gesamtreiches dieser ungeheuren Volksmassen Wirklichkeit, dann hätten wir Engländer selbst in Honkong ausgespielt, dann würde Amerika die Philippinen verlieren, Frankreich seine hinterindischen Besitzungen, – ein neuer Weltkrieg würde entbrennen, die weiße Rasse stände der gelben gegenüber, und Asien würde bis zum Ural eine geschlossene Macht, die Zeiten der Hunnenzüge kehrten zurück, und die europäische Kultur ginge in Scherben …“

„… Was nicht schade wäre,“ sagte ich schroff. „Diese „Kultur“ ist bis ins innerste Mark verlogen, Mr. Steenpool. Europa hat sich zum größten Schwindler und Schwindel aller Zeiten ausgewachsen, – Ihre Regierung predigt den Weltfrieden und unterhält Riesenlager von Giftgasen, baut Riesenpanzer, Riesengeschütze, Riesentanks … Hören Sie mir auf von Kultur, Zivilisation und modernen Schlagworten, die barer Unsinn sind. Ich bin Schwede, aber meine Mutter war eine Deutsche, und wenn ich daran denke, daß man Deutschland mit der Friedensschere beschnitt, damit angeblich jedes Volk frei würde, wenn ich dann an die wahren Methoden der bis zum äußersten gerüsteten Mächte denke, und an die Zustände in Asien, – – es ist fast zu albern für einen vernünftigen Menschen, sich darüber zu erregen …!“

Steenpool schaute zur Decke empor, deutete ein Achselzucken an. „Alles ist Schwindel, Mr. Abelsen. Wahrheit ist nur der Satz: Macht geht vor Recht! – Das wird immer so bleiben, und alle Friedensschalmeien werden daran nichts ändern.“

Das Thema war ihm unangenehm, und er bog mit der Bemerkung ab: „Der Wang-Bund hat zwölf Häupter, und diese nennt man Tschu-Wang, ein Ausdruck, der etwa mit „Oberster Wang“ übersetzt werden kann. Wassili Gowin ist vielleicht noch mehr als ein Tschu-Wang, denn der dreizehnte Tschu-Wang, das war der alte Doktor Wang, vereinigt in seiner Person die ganze erschreckende Macht dieser Geheimorganisation, und dieser Großmeister, Mr. Abelsen …“ – er beugte sich zu mir hin und legte mir die Hand auf die Schulter – „dieser Großmeister könnte uns alle so spurlos verschwinden lassen, daß …“

Er hatte seine Hand wieder zurückgezogen, – er hatte mich glänzend genarrt, seine gepflegte Hand war als Faust wie ein Hammer …

Ich höre noch, daß Wrangel bösartig aufheulte, dann schwanden mir die Sinne. Als ich erwachte, lag ich auf dem Diwan, eine fahle Helle erfüllte den Salon, es war Tag geworden, aber draußen über der Lichtung hing der berüchtigte Sachalinnebel in grauen festen Schleiern.

Das dumpfe Stöhnen des Hundes brachte mich vollkommen zur Besinnung. Ich taumelte, als ich mich erhob und die Wandleuchter anzündete. Wrangel hatte eine böse Stirnwunde, und der arme Kerl, der den hinterlistigen Steenpool angesprungen hatte, war nahe dem Verrecken. Der mit Blut besudelte kostbare Teppich und die umgeworfenen Stühle bewiesen, daß es einen harten Kampf gegeben hatte. Mein eigener Kopf brummte wie ein Bienenhaus, und niemals habe ich mich so gedemütigt gefühlt wie damals, als ich der kalten Berechnung des kleinen Steenpool zum Opfer gefallen war.

Was ich für Wrangel irgend tun konnte, tat ich. Ich war allein in dem großen Blockhause, von dem ich bisher nur den Flur und den Salon Weras kannte. Ich versorgte den Hund, ich fand in einem Zimmer, das durchaus dem Arbeitsgemach eines Gelehrten glich, eine Reiseapotheke. Wrangel erholte sich, nachdem ich ihm eine Kampferspritze gegeben hatte, er mußte nur allzu viel Blut verloren haben.

Meine Armbanduhr zeigte zehn Uhr – vormittags. Ich war allein, weder Gowin noch Wera noch sonst jemand war hierher zurückgekehrt. Die Einsamkeit tat mir wohl, ich besichtigte die Räume in aller Ruhe, und ich wunderte mich, wie man all diese zum Teil kostbaren Möbel hier mitten in den Urwald geschafft hatte.

Die Küche mit einem guten Eisenherd und einem Petroleumkocher, sowie viel Geschirr hatte eine Falltür, die in den Keller führte. Er war trocken und gut ventiliert, auf Regalen standen hunderte von Konservenbüchsen, Weinflaschen, Whisky, Kisten mit Zinkeinsatz mit Zigarren, Zigaretten, Kautabak, photographischen Artikeln und Chemikalien.

Die merkwürdigste Entdeckung machte ich dann draußen. Zwischen zwei einzelnen Bäumen der Lichtung, riesigen Eichen, war eine tadellose Eindrahtantenne gespannt, die Ableitung lief nach einer Bodenkammer, in der nicht nur ein Fünfröhrenempfänger, sondern auch ein Sender von etwa ein Kilowatt Energie standen.

Wer hatte dieses Blockhaus erbaut, wer hatte hier gelebt?!

Flüchtig dachte ich an Iwan Zubanoff. Ich verwarf den Gedanken wieder. Fürst Zubanoff war aller Wahrscheinlichkeit nach tot. Bix und Fattmoore hatten ihn nach Rußland geschafft, und ein Standgericht würde mit dem ehemaligen zaristischen Aristokraten wohl kurzen Prozeß gemacht haben.

Ich stand sinnend da und betrachtete den Empfänger. Er war deutsches Fabrikat, auch der Sender. Ein winziger Motor, eine Dynamomaschine, ein Gleichrichter, – hier in dieser Kammer feierte die Radiotechnik Triumphe. Nichts fehlte. Da waren zwei Lautsprecher, ein halbes Dutzend Kopfhörer, sogar ein Diktaphon, das Signale selbsttätig aufnahm.

Tief in Gedanken stieg ich die Treppe hinab und betrat das reich ausgestattete Arbeitszimmer neben dem Salon. Zwischen breiten Bücherregalen hingen große Karten von Asien und Europa und dem Pazifik. Ich durchsuchte den Schreibtisch. Er war leer bis auf Vorräte von Papier und Tinte, Federn und so weiter. Daneben stand eine neue Schreibmaschine. Auch die Bücher besagten nichts. Es waren Werke aus allen Ländern jeder Art, – Sven Hedin war vollzählig vertreten, ebenso Joe Chamberlains politische Broschüren, dazu manches Buch, das mir, dem Weltenbummler, noch gänzlich fremd, so ein Buch über Amanullah, Exkönig von Afghanistan, geschrieben von einem Engländer E. Gidwul Nohc, – schon das Vorwort von scheinheiliger Gehässigkeit.

Wer baute dieses Haus, wer wohnte hier? – In dem Schlafzimmer stand nur ein schlichtes Feldbett, in einem Raum neben der Küche schienen zwei Diener untergebracht gewesen zu sein.

Wer?!

Ich trat vor die Karte Asiens, und ich sah, daß in diese Karte feine farbige punktierte Linien, Kreuze, Doppelkreuze und andere Zeichen unauffällig eingezeichnet waren.

Mit einem Schlage kam mir die Erleuchtung.

Dies Haus war Doktor Wangs verborgenes Hauptquartier gewesen, von hier aus hatte er zeitweise die Riesenorganisation geleitet …!

Und anderes noch durchschaute ich jetzt.

Gowin war absichtlich als Matrose auf dem Wege nach Sachalin gewesen, als ich ihn kennen lernte. Gowin hatte wohl gewußt, daß Doktor Wangs Schlupfwinkel sich auf Sachalin befände, jedoch den Platz selbst nicht gekannt. Deshalb seine Jagdausflüge, deshalb seine Wolfsgruben, die er stets allein anlegte. Er wollte Zeit finden, dieses Haus zu suchen!

Mehr noch – und meine Gedanken spielten frei und leicht, angeregt durch diese ersten zweifellos richtigen Schlußfolgerungen: Gowin konnte nicht der Tschu-Wang, der dreizehnte Tschu-Wang, der Großmeister, sein. Sonst würde er dieses Haus gekannt haben. Der geköpfte Doktor Wang würde doch schon bei Lebzeiten als weitblickender Politiker seinen Nachfolger bestimmt haben!

Wer war es?!

Und dann Steenpools Mission! Galt sie nur zwei ermordeten englischen Schiebern?! – Ausgeschlossen! Steenpool war vom Auswärtigen Amt, und der Wang-Bund bedrohte auch England.

Und Wera?! Wie war sie nach Sachalin gekommen, wie war sie in dieses Haus geraten, das doch durch den mehr als eleganten Salon, ein wahres Liebesnest, auch für eine Frau hergerichtet war?!

Hier versagten meine Schlußfolgerungen. Hier begann die Wand, die mir den Blick versperrte.

Wenn Wera vorhin in der Nacht alles berichtet hätte, wäre ich jetzt klüger gewesen.

Ich schritt hinüber in das Liebesnest. Ich war wie benommen von all dem Geheimnisvollen, das mir diese Stunden aufgebürdet hatten. Als ich die Tür geöffnet und den schwerseidenen Vorhang zurückgeschlagen hatte, prallte ich zurück.

In dem Schreibsessel saß Wera Zubanoff in ihrem jetzt schlammbespritzten Kimono.

 

7. Kapitel.

Weshalb?!

Sie sah gänzlich erschöpft aus, sie hatte dunkle Ränder unter den Augen, ihr Blick war matt und verzweifelt.

„Sie noch hier?!“ sagte sie müde und lächelte ganz wenig.

„Und Sie wieder hier, Fürstin?!“ – meine Stimme klang froh und lebhaft.

Ihre Augen senkten sich vor dem beglückten Leuchten meiner Züge.

Eilfertig holte ich Wein, ein Glas, – sie trank gierig …

„Ich danke Ihnen, Mr. Abelsen …“

„Legen Sie sich nieder, Fürstin … Ich werde Ihnen das Bett drüben frisch beziehen …“

„Nein! Zum Schlafen habe ich keine Zeit … Wie sollte ich Schlaf finden?! Ich war dem Ziel so nahe, ich hätte es greifen können, es zerrann wie Nebel, den ein Windstoß wegfegt.“

In ihren langen Wimpern glänzten warme Tropfen … Sie hielt die Hände ineinander verschlungen, und ihr köstlicher Mund ward durch gramvolle Linien verzerrt.

Sie tat mir unendlich leid. Sie war Frau und war es nicht. Sie hatte den Gatten verloren, bevor noch der Liebe letzte Erfüllung ihr Weibestum gekrönt hatte. – Und dennoch, – eine Frau wie sie, jahrelang den Gatten suchend, jahrelang mit zähester Ausdauer sich durchkämpfend bis an die Grenze der kultivierten Welt, – ob ein Wesen wie sie, fast mehr Mann geworden in diesem harten Ringen um ein fernes Märchenglück, das nur noch in ihrer Phantasie in leuchtenden Farben lockendes Ziel sein mochte, – ob gerade sie noch hingebungsvolle Geliebte sein konnte?!

„… Wenn es das nur wäre!“ sprach sie in kaum noch beherrschtem Schmerze weiter, „Aber die Ungewißheit, diese entsetzliche Ungewißheit …!“

Ihr trüber Blick schweifte durch den vornehmen Raum mit seinen weichen Farbtönen …

„Ob – Ihr Gatte noch lebt?!“ sagte ich scheu.

Sie hob den Kopf und schaute mich an. „Er lebt … Aber – wie lebte er hier?! Weshalb, weshalb kam nie eine Nachricht von ihm, und – für wen dieses Zimmer, in dem der Rausch von Flitterwochenseligkeit wohl jeden umfängt?! Für wen?!“

Sie seufzte und krallte die Hände fester ineinander.

Ich stand vor ihr, und selbst Wrangels leises Winseln erreichte kaum mein Ohr … Meine Gedanken kreisten um die große Enthüllung …:

Also Iwan Zubanoffs Haus, und Fürst Zubanoff war der dreizehnte Tschu-Wang, war Doktor Wangs Nachfolger!

Wußte Wera das?! Durfte ich diesen Punkt überhaupt berühren?! War nicht alles, alles hier noch viel zu ungeklärt?!

Frage auf Frage gebar mein Hirn, und keine fand den Weg über die Lippen, nur die eine, die nicht viel bedeutete:

„Wo ist denn Ihr Gatte jetzt, Fürstin?!“

Sie empfand mit dem geschärften Gehör des klugen Weibes den unausgesprochenen Vorwurf, der in diesem Satze lag.

Sie preßte die Lippen wie in jähem Schmerz zusammen. Ihr Kopf sank auf die schwer atmende Brust … „Wenn ich das wüßte!!“

Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und duckte sich noch mehr zusammen. „Ich glaubte, ich dürfte Chedee blindlings vertrauen,“ flüsterte sie wie im Selbstgespräch. „Auch er hat mich enttäuscht … – Aber wie sollen Sie das alles verstehen, Mr. Abelsen?! Ich selbst tappe im Dunkeln … Ich muß meine Seele befreien von diesem furchtbaren Druck, – mir springen sonst die Schläfen …! Soll ich all die Jahre geopfert haben, nur um zu erfahren, daß mein Gatte hier in der Wildnis mich betrog?!“

Ihr Temperament riß sie hoch, sie trat dicht vor mich hin, faßte meine Schultern …

„Abelsen, wir sind Landsleute … Ich kenne Sie … Sie werden treu sein … Sie werden mich begreifen … – Abelsen, ich will Ihnen auch den Rest meiner Leiden mitteilen …“

Sie zog mich neben sich auf den Diwan und behielt meine Hände in den ihrigen, – es war die erste kameradschaftliche Annäherung zwischen uns, aber mich überlief es heiß, als ihre Schulter sich an meine Brust lehnte, und unter Tränen ihr Geständnis erklang:

„Gleich als ich Sie sah, war es mir, als hätte das Schicksal mir einen Bruder beschert.“

„Ich bin treu,“ – selbst diese banale Redensart fiel mir schwer, denn neben mir saß das entzückendste Weib, das je in meiner Einsamkeit mir den Herzschlag beschleunigt hatte.

Der Hund in seiner Ecke auf seinem Fellager hatte sich halb aufgerichtet. Es mißfiel ihm sichtlich, daß sein neuer Herr mit Wera Zubanoff so vertraut tat. Hunde sind eifersüchtig, und Wrangels Liebe zu mir war auf dem bei Menschen so seltenen Boden der Dankbarkeit gewachsen. Ich hatte ihm das Leben gerettet, ich hatte ihm zwei böse Verletzungen verbunden, ich war vielleicht der erste Mensch gewesen, der ihm weiche, warme Worte geschenkt hatte: Das vergißt ein Hund nie, – – ein Mensch sehr schnell.

Draußen war der Nebel, der vom Meere herüberzog, immer dichter geworden. Vorhin hatte ich noch den Antennendraht erkannt, jetzt sah ich durch das Fenster nicht einmal mehr die knorrigen Eichen. Graue düstere Schleier hingen bis zum Boden herab. Im Urwald ringsum würden die Blätter und Nadeln und Zweigspitzen vor Nässe tröpfeln. Es war Nacht geworden … Und es war kaum elf Uhr vormittags.

„… Das Dorf Zubanowo am Amur bildet etwa den Mittelpunkt der ehemaligen fürstlichen Ländereien …“ Wera hatte sich ganz fest an mich gelehnt, und ihre Stimme klang voller und zuversichtlicher als vorhin. „Wie ich dorthin gelangte, nachdem ich endlich erfahren hatte, daß Bix und Fattmoore heimlich dorthin gereist waren, – ach, Abelsen, es war ein Weg der Demütigungen, ein Bettelweg … Verkleidet, mit falschen Papieren, mit wenig Geld, – – ersparen Sie mir Einzelheiten. Oft genug war ich nahe daran, meinen Plan aufzugeben. Aber eine innere Stimme – und Sie wissen, Abelsen, wie viel wir Nordländer von diesen inneren Eingebungen halten! – trieb mich weiter. Witscha hatte mir nun oft genug von einem alten treuen Diener seiner Familie erzählt, einem Giljaken namens Chedee-Pona, der am Amur den Wildhüter gespielt hatte und nachher als Fellhändler, Jäger und Karawanenführer sich schlecht und recht ernährte. Er sollte in Charbin eine Hütte besitzen, – ich fand ihn dort auch, und es fiel mir bei der Begrüßung sofort auf, daß er offenbar von meiner Existenz bereits unterrichtet war. Er leugnete dies zwar, doch die Bereitwilligkeit, mit der er mir seine Hilfe anbot, war genau so verfänglich. – Wir reisten nach Zubanowo. Ich mußte mich jetzt noch mehr vorsehen als bisher. Chedee hatte bereits davon Kenntnis erhalten, daß ein englisches Konsortium auf Grund eines früheren Kaufvertrages das große Zubanoff’sche Gebiet am Amur dem reichen Wassili Gowin streitig machte und daß Rußland den größeren Teil den Engländern zugesprochen habe. Über Witscha selbst wollte er nichts gehört haben. In Zubanowo kam es denn eines Abends zwischen Edward Bix und mir am Flusse zu einer erregten Aussprache. Bix schamloser Charakter zeigte sich mir in all seiner abgrundtiefen Verworfenheit, – er verhöhnte mich, er gab sich nicht einmal die Mühe, seine Gemeinheiten irgendwie abzuleugnen. Ich wäre ihm nur Mittel zum Zweck gewesen, Witscha habe sich schon in mein Bild verliebt gehabt, und nur die Liebe, so hatte der Schurke Bix kalkuliert, würde Witscha zu der Kaufvertragsfälschung bewegen, damit er für mich Geld in die Hände bekäme. Zum Schluß drohte er mir, mich den Behörden zu verraten, ich eilte zu Chedee, wir flüchteten in einem Nachen, und Chedee überredete mich, ihn zunächst nach seiner Heimat Sachalin zu begleiten, wo ich vor allen Nachstellungen sicher sein würde. – So gelangten wir hierher, nicht in dieses Haus, Abelsen, nein, Chedees Hütte befindet sich auf einer Insel des Flüßchens mitten im Dickicht und gar nicht weit weg von jenem Tale, in dem ich Sie neben der Menschenfalle zum ersten Male sah. Es waren trostlose Wintermonate, die ich hier durchmachte, es waren beständige Aufregungen, denn inzwischen war Howard Steenpool erschienen und hatte gleichfalls ein verborgenes Quartier weiter westwärts bezogen. Chedee, zumeist schweigsam und in sich gekehrt, war kein angenehmer Gefährte. Seine Verschlossenheit wurde freilich durch seine rührende Fürsorge für mich aufgewogen, – er spionierte sehr bald Steenpool bis zum Dorfe Sadapito nach und stellte fest, daß Steenpool englischer Beamter war. Dann kam das Frühjahr, und mit den wärmeren Tagen erwachte auch meine alte Energie. Ich begleitete Chedee häufig auf seinen nächtlichen Ausflügen, oft genug waren wir dicht vor Ihrer Hütte, Abelsen … Unsere Spuren konnten Sie nicht erkennen, denn Chedee hatte uns Robbenhautschuhe genäht, die mit den Klauen von Renntieren unter der Sohle versehen waren … Es wurden Renntierfährten, und selbst Gowin achtete nicht darauf. – Ich komme nun zu den letzten Ereignissen …“

Sie atmete hastiger, ihre Hände wurden kalt vor Erregung …

„… Gestern, Abelsen, war Chedee mit seinem Nachen und seinem Hundegespann wieder einmal über Nacht weggeblieben. Das geschah häufiger. Er behauptete stets, die nächtlichen Bärenjagden wären für mich zu gefährlich … Der Morgen war so köstlich, die Sonne schien so warm, und ich hielt es auf der winzigen Insel nicht länger aus …“

Sie blickte mich an, und ein schwaches Lächeln umspielte ihren Mund. „Auch wir Frauen geraten einmal in Männerfallen, meist soll es ja umgekehrt sein. Ich war gewiß sehr vorsichtig, denn Steenpool spürte uns dauernd nach, war jedoch auch seinerseits sehr mißtrauisch. Ich kam in das weite Tal mit den Buschinseln, plötzlich brach der Boden unter mir zusammen, ich fiel in die Grube, der Plankendeckel schloß sich, und ich war gefangen …“

Ihr Lächeln erstarb schon wieder.

„… Ich war zum Glück ohne Verletzungen davongekommen … Ich versuchte mich zu befreien, ich grub mit dem Messer Stufen in die Erdwände, aber die Falltür regte sich nicht, wenn ich meine Hände dagegenstemmte, gab die Erde stets nach, ich verlor den Halt und glitt wieder hinab. Dann – – erschien Steenpool …“

Sie schwieg …

„Was halten Sie von ihm, Abelsen?“ fragte sie scharfen Tones.

„Ein gefährlicher Gegner, aber – vielleicht doch Gentleman, Fürstin. Es will nichts besagen, daß er mich niederschlug und entfloh … Ich hätte in gleicher Lage genau so gehandelt. Ich habe sogar vielleicht noch brutalere Mittel angewandt, um meine Freiheit zurückzugewinnen. Ich habe vielleicht in meinem Leben schon mehr Menschenblut vergossen wie er, wenn auch stets in offenem Kampf, in Notwehr …“ Bitterkeit quoll in mir hoch … „Ich war ein harmloser, fleißiger Staatsbürger … Und was bin ich heute?!“

„Ein … Mann!“ sagte Wera ganz laut.

„Ein Mann, Olaf Karl Abelsen, und das besagt mehr als das weichliche Gentleman! – Was Steenpool betrifft, Sie mögen da recht haben … Er ist Beamter, er hat seinen Pflichtenkreis, – nun gut, – ich kann auch nicht klagen, er war wohl mir gegenüber etwas sehr rücksichtslos, er fesselte mich, er schleppte mich in ein fernes Gebüsch, und seine zum Teil bissigen, zum Teil humorvollen Bemerkungen hatten doch nie etwas Gehässiges. Er erklärte mir nur, daß ich Bix und Fattmoore getötet hätte … Dann ließ er mich allein. – Alles weitere ist Ihnen bekannt … Steenpool wurde dann von uns, Chedee und mir, in den Nachen verladen, Chedee fuhr jedoch an unserem Inselchen vorüber, und wir drangen in den Urwald ein … Es war die romantischste Fahrt, die mir je beschert wurde. Ich habe diese düsteren Wälder lieben gelernt, ich habe den Fluß mit meinen Händen geliebkost, in meiner Seele war das große heilige Hoffen, denn Chedee hatte mir in seiner wortkargen Art angedeutet, daß mir eine frohe Überraschung bevorstände. – Wir verbargen den Nachen, wir setzten den Weg zu Fuß fort, – es war kein Weg, es war nicht einmal ein Pfad … Wie Chedee sich in dieser Wildnis zurechtfand, blieb mir ein Rätsel … So gelangten wir zu dieser Lichtung. Ich sah das große Blockhaus, ich sah fünf mir fremde Giljaken vor der Tür, – Chedee sagte ehrerbietig: „Gehen Sie hinein, Fürstin, öffnen Sie die erste Tür links …“

Wieder schwieg sie …

„… Abelsen, mein Herz jagte … Abelsen, so viele Jahre war ich bemüht gewesen, meinen Gatten zu finden … Ich will mich nicht rühmen, Abelsen: Wohl keine Frau hat das ertragen, was ich auf mich genommen habe! – Ich ahnte, daß ich hier den Mann meiner Liebe finden würde … Meine Füße trugen mich kaum … Ich stieß die Tür dieses Gemaches auf … Es war leer …“

Ihre Stimme bebte, ihre Hände wurden noch eisiger …

„… Es … war … leer … Und … ich rief, rief seinen Namen … Ich rief mit all der Sehnsucht unbefriedigter Liebe …“

Sie schluchzte auf …

„Und … es blieb still … totenstill … Staunend schweifte mein Blick über diese seidene Pracht, über dieses lauschige Nestchen …“

Sie weinte …

„… Abelsen, dann trat Chedee neben mich. Sein von Falten durchkerbtes Gesicht war wie ein altes versiegeltes Buch … – „Chedee, du versprachst mir, daß ich hier etwas finden würde …?!“ – Er nickte … „Ja, Fürstin, – ein Heim, das Ihrer würdig ist, – das meinte ich!“ – „Du lügst!! Es ist irgend etwas geschehen … Mein Gatte war hier … Sei ehrlich, Chedee!!“ – Ich hatte seinen Arm gepackt, ich rüttelte ihn, – und er erwiderte kopfschüttelnd: „Der Fürst, – nein, ich weiß nicht, wo er ist, aber er lebt …“ – Das war alles, Abelsen, was ich ihm förmlich abbettelte.“

Sie hatte jetzt die Hände vor das Gesicht gepreßt … Und ich – – trösten?! Wie?!

Ich legte nur den Arm um sie, und in dem Moment war ich nur ihr Kamerad, ihr Bruder.

Sie hatte sich trotz allem in der Gewalt, – sie trocknete die feuchten Augen, ihr Mund wurde wieder hart …

„Abelsen, der Tag verstrich … Es kam die Nacht, und dann kamen Sie … Sie und Gowin, und … neue Rätsel türmten sich vor mir auf … Wir flohen, Chedee, die Giljaken, die Hunde, – wir verschwanden drüben im Urwaldsumpf … Unser Baumkanu war überfüllt, wir legten an einer Insel an, Chedee stieg aus, kehrte nach einer Stunde zurück, man bereitete mir ein Lager in einem Zelt aus Fellen, ich schlief vor Erschöpfung ein, als ich erwachte, hing der Nebel über dem Sumpfe … Ich … war allein. Der Nachen war noch da, und …“

Die Stimme versagte ihr …

„… Abelsen, in … in dem Nachen lag ein Zettel … Es war meines Gatten Schrift … Da – lesen Sie …!“

Sie drückte mir ein zerknittertes Papier in die Hand …

 

8. Kapitel.

Der Tiger.

Wera schläft …

Ich sitze vor Chedees Hütte auf einem dick bemoosten Stein und rauche nachdenklich eine Zigarette … Es ist Abend geworden, wir haben die Flußfahrt hinter uns, denn in dem Blockhause konnten wir nicht bleiben. Wußte ich, was Steenpool plante, kannte ich Gowins Absichten?! Das Blockhaus war kein passender Aufenthaltsort für Wera und mich.

Ein kräftiger Wind streicht über die Hügel und das Wasser, die Weiden und Büsche bewegen sich nickend und raunen und wispern ihre alten Sagen. Wrangel liegt zu meinen Füßen auf einem prächtigen Bärenfell …

Wera schläft. Ich grübele vor mich hin … – Wo sind alle die, die die Ereignisse der verflossenen Nacht mit erlebten?! Keiner ist zurückgekehrt, nur Wera kam … Und ob es für meinen inneren Frieden günstig ist, daß gerade sie sich wieder einfand …?!

In meinem Blut ist eine Unruhe, die mich peinigt. Dort hinter mir ruht die Fürstin Zubanoff auf einem Bett, das kaum diesen Namen verdient, und als sie sich niederlegte, nahm sie meine beiden Hände und preßte Sie gegen ihre Brust … „Olaf, wenn ich Sie nicht hätte …!!“

Kameradschaft …!

Wie blind Frauen doch zuweilen sind!! Schöne Frauen spielen mit dem Feuer, und die Verbrannten sind wir … wir, die Herren der Schöpfung. Herren?! Doch nur immer Sklaven, über denen ein fremder Wille die Peitsche schwingt. Wir ducken uns, wir gehorchen, und wissen es selbst kaum, daß es so ist … Wir sind gefügige Werkzeuge seit jeher, unsere Leidenschaften sind unsere Herren, welchen Namen jene auch tragen mögen: Liebe, Haß, Ehrgeiz, Habgier, Genialität, Abenteuerlust – viele andere … –

Nun bin ich auch wieder gehorsamer Diener eines Weibes mit glatten, freien Zügen, mit einer Gestalt, als hätte man eine marmorne antike Juno in ein modernes Sportkostüm gesteckt. Das tut dem Ebenmaß der Fürstin keinen Abbruch.

Ich werde denselben Dank ernten wie stets: Der Kavalier macht dem Liebhaber Platz, und – alles versinkt in das Meer der Vergangenheit! –

Ich grübele … Ich habe Wera nichts von dem Geheimbund des Doktor Wang Ho mitgeteilt, nichts von dem dreizehnten Tschu-Wang, dem Großmeister.

Es ist Iwan Zubanoff. Ich weiß es nun mit aller Bestimmtheit. Seine Zeilen beweisen es, ich habe den Zettel Wera zurückgegeben, sie trägt ihn auf dem Herzen, aber auch ich kann jedes Wort auswendig:

Weruschka, was auch geschehen ist und geschehen möge, zweifele niemals an mir und meiner Liebe. Umstände, die stärker sind als meine Sehnsucht nach Dir, haben mich auch jetzt gezwungen, Dir fernzubleiben. Benutze den Kahn, kehre zum Blockhaus zurück, der Wasserweg ist durch Beilhiebe an den Erlen markiert, und vertraue Deinem Landsmann. – In Treue – – Dein Witscha.

… Umstände, die stärker sind …

Dafür eine Erklärung?! – Ach, Wera fand sie so schnell … Eifersucht – alles war vergessen … Das seidenschillernde Nestchen war für sie hergerichtet gewesen, aber ihr Gatte, so glaubte sie, hatte im letzten Augenblick wieder fliehen müssen.

Das war ihre Erklärung.

Die meine?! – Sie lautete anders. Der dreizehnte Tschu-Wang, das war Fürst Zubanoff, hatte eine Radiodepesche aufgefangen … Er hatte es dann mit dem Aufbruch so eilig gehabt, daß er die Wachswalze des Diktaphons zu entfernen vergaß. Ich fand sie noch eingespannt, ich notierte mir die Punkte und Striche, ich entzifferte die primitive Geheimschrift. Die Depesche hatte gelautet:

Sofort Charbin 13 Sendung eilt. Tschu-Wang 11.

Aus dem Text war nicht viel zu entnehmen. Wichtig das eine: Sofort Charbin!

Und das hatte Zubanoff davongetrieben … Ob sein Weib in der Nähe, war ihm gleichgültig. Die Angelegenheiten des Bundes gingen allem voran …

Mit einiger Phantasie konnte man nun auch das Verschwinden Gowins, Chedees und der Giljaken deuten. Wassili Gowin und Chedee gehörten mit zum großen „Wang“, hatten dem dreizehnten Tschu zu gehorchen, begleiteten ihn nun wahrscheinlich zur Westküste Sachalins, wo ein Schiff ihrer wartete. Charbin war ihr weites Ziel.

Vielleicht verhielten sich die Dinge so, vielleicht! – Und Howard Steenpool?! – Bei seiner Person bremsten meine tastenden Gedanken. Wo steckte der Engländer?! Die Japaner, die er nachts als Hilfe bereit gehabt, hatten ihm fernerhin die Gefolgschaft verweigert, der Polizeimeister mit den zappeligen Bewegungen war selbst ein Wang.

Steenpool war Gegenstand unserer Sorgen. Drüben im Nordwesten lagen russische Ölfelder mit hunderten von farbigen Arbeitern und einem Dutzend Russen als Aufseher, Ingenieure und Maschinenmeister. Es kostete Steenpool nur ein Wort, und diese ganze wilde Rotte, die da in der Einsamkeit der Bergtäler hauste, setzte sich in Marsch hierher. Deshalb auch hatte ich es vorgezogen, unser Steinhaus an der Bucht zu meiden. Die Insel hier war sicherer. Chedee hatte hier ein Versteck geschaffen, das nicht einmal vierbeinige Spürhunde finden würden. Zu beiden Seiten der Insel schoß der Fluß in starker Strömung dahin, die Ufer waren eine stachelige Wildnis, an der Spitze der Insel hatte sich eine Barre von Treibholz gebildet, dort lag unser Nachen zwischen dichtestem Astgewirr, von dort führte nur ein Pfad durch das Gestrüpp: Ein angetriebener Baum, eine mächtige Buche, die ihre Krone in die Büsche gedrängt und wieder Wurzel geschlagen hatte.

Steenpool fürchtete ich. Deshalb schlief Wera in dieser elenden Hütte, deshalb hielt ich hier Wache, die Büchse neben mir, den Hund zu meinen Füßen. – Wrangel hatte den Kopf auf die vorgestreckten Pfoten gelegt … Er war wach … Vorhin hatte er eine Schüssel Reis und Fleisch gefressen, die ein krankes Tier nie geschafft hätte. Seine buschigen kleinen Ohren spielten andauernd, wenn der Wind im Gesträuch knisterte, sträubte sich sein Rückenhaar. Auf ihn konnte ich mich verlassen.

Der Himmel im Westen schimmerte wie der Wiederschein eines ungeheuren Brandes, der Nebel war verweht, die Sonne versunken, in kurzem würde es dunkel werden.

Ich erhob mich. Die Glieder waren mir steif geworden, und die Müdigkeit schlich herbei wie eine arge Verführerin, einmal die Augen zu schließen. Ich durfte nicht einschlafen.

Ich gehe auf und ab in dem niedergetretenen Grase der kleinen Lichtung. Ich rauche, um mich wach zu halten. Es sind nun fast vierunddreißig Stunden vergangen, seit ich andauernd auf den Beinen bin. Mein Körper streikt …

Ich taumelte fast.

Und dann fahre ich zusammen …

Lausche …

Hundegebell in der Ferne …

Wütendes Kläffen …

Ich weiß, die dort auf den Petroleumfeldern haben Hunde übergenug … Mit Hunden bespannen sie die kleinen Loren der Feldbahn, die bis zur Küste läuft … So wird das Rohöl zum Dampfer geschafft. Zumeist arbeiten dort chinesische Kulis. Für Geld tun die alles.

Ich bin munter wie nie. Ich horche, – Wrangel hinkt zu mir, knurrt leise, und ich überlege, ob ich Wera wecken soll.

Ich schleiche zur Buche, klettere durch die Äste, klettere auf dem Stamm entlang, krieche das letzte Stück und halte Umschau.

Über den grünen Hügeln und Waldstücken ruht das ungewisse Licht des scheidenden Tages.

Am Westufer bricht plötzlich ein Tier durch die Weiden, ein braungelber, gestreifter Leib windet sich zu einer kleinen Sandbank …

Es ist der erste Tiger, dem ich hier begegne – der erste Tiger in Freiheit, den ich sehe …

Er ist angeschweißt. Von Seiner Lende rinnt dunkles Blut in den Sand, er schleppt das Hinterteil etwas nach, die Pendelbewegungen des Schweifes sind unregelmäßig und matt. Diese sibirischen Tiger, weit dunkler gezeichnet und wolliger im Haar als die indischen, erreichen nie die Größe ihrer südlicheren Vettern. Trotzdem sind sie für Nordostasien die gefährlichsten Raubtiere.

Der Tiger dreht den Kopf zurück und verhofft, horcht … Die Meute hinter ihm rückt näher, und jetzt erscheinen auch über einem Hügelrand die Köpfe dreier Chinesen mit flachen Basthüten.

Ich kenne die Jagdmethoden dieser Aasjäger. Sie feilen von den Nickelmantelgeschossen die Spitzen ab, und der Einschuß einer solchen Dum-Dum-Kugel ist bereits ein gräßliches Loch, der Ausschuß meist faustgroß. Gowin hat sich nie zu feigen Mitteln verstanden, ich erst recht nicht, ohne Rücksicht darauf, daß jedes Fell durch derartige Löcher wertlos wird.

Die Petroleumkulis sind vorsichtig. Sie haben die Hunde an langen Riemen, und ich zähle sehr bald ein Dutzend Köpfe.

Die Dämmerung wird stärker, und der Tiger steht noch immer unschlüssig auf der Sandbank.

Gellende Rufe, die einer zweiten Abteilung Kulis galten, wenden meine Aufmerksamkeit dann dem anderen Ufer zu. Auch dort Hunde und Menschen.

Wenn es dem Tiger einfällt, zur Insel hinüberzuwaten und hier bei uns Schutz zu suchen, sind Wera und ich verloren, – – denn weit hinten erblicke ich drei Reiter, darunter den kleinen Steenpool. Es stimmte also: Steenpool ist zu den Russen geflüchtet.

Meine Nerven schwingen leicht. Ich habe Situationen wie diese genügend durchlebt … Wera und ich auf der Insel sind bequeme Zielscheiben von den hügeligen Flußufern aus.

Die einzige Hoffnung bleibt, daß der Tiger auf der Sandbank zusammenbricht und daß wir nicht entdeckt werden. Macht er den Versuch, zu uns hinüberzukommen, so muß ich feuern, und dann sind wir verraten.

Die beiden Trupps an den Ufern rücken vor. Der Tiger setzt sich schwerfällig auf die Hinterhand und leckt seine Wunde. Zwei Hunde brechen durch die Weiden, sehen ihn, und ihr langgezogenes Heulen treibt mir ein kaltes Rieseln über den Rücken – nicht meinetwegen. Aber daß ein Weib wie Wera Zubanoff hier elend niedergeknallt werden soll – niemals würde sie sich denen da ausliefern –, spannt meine hastenden Gedanken bis zum äußersten an …

Der Tiger fletscht das gelbliche Gebiß und jault drohend, erhebt sich, und die Hunde verschwinden eiligst.

Ich schmiege mich enger an den Stamm der Buche … Ich liege hier im dichtesten Grün, und die Dunkelheit naht …

Minuten wie diese sind Nervenprobe. Mein Herz hat ein paar schnellere Schläge, nun werden es wieder siebzig, fünfundsiebzig sein, und kein Arzt hätte an meinem Puls etwas auszusetzen.

Der Tiger hat mich jetzt gewittert, fünf Meter sind keine Entfernung, und der Wind steht für ihn günstig. Er windet zu mir hinüber, der buschige Schweif pendelt nicht mehr, und nach Katzenart duckt er sich vorn etwas zusammen.

Arme Kreatur! Das Blut aus der gräßlichen Wunde spritzt jetzt wie angeschlagene Arterie, und der Sand ist schwarz geworden. Ein Gnadenschuß wäre für ihn eine Erlösung. Mit der Wunde gibt es keine Genesung. Der Tiger – und Wera und ich, wir befinden uns in der gleichen Lage. Die Chinesenhorde und die drei Reiter und die jagdwütige Meute sind uns gleich gefährlich, und wer weiß, vielleicht haben auch Wera und ich in kurzem eine Dum-Dum im Leibe …

Die Köter kläffen jetzt in Mengen in den dichten Weiden. Dann knallt ein Schuß, der Tiger ist mit einem einzigen Satz über die schmale Flußrinne geschnellt, und sein Sprung ist so tadellos berechnet, daß er die Vorderpranken neben mir in die Rinde der Buche schlägt und mir dabei die Büchse aus den Händen reißt, – sie fällt von Ast zu Ast und liegt tief unter mir auf einer Wurzel.

Aus den Weiden zwei neue Schüsse, – trotz der schlechten Beleuchtung sehe ich die Strohhüte der Kuli-Schützen, und der Tiger sinkt mit einem gurgelnden Stöhnen zurück, Äste brechen, – er rollt ins Wasser, will wieder auf die Beine, – ein kurzer Todeskampf, und er liegt still.

Wohl ihm. Er hat alles überstanden. Und ich?!

Die beiden Chinesen springen schon von der Uferböschung in den Fluß, – sie müssen mich sehen, wenn ich auf dem Stamm rückwärts krieche … Es ist zu spät.

Sie sind schon vor mir, – der eine, ein alter, schrumpeliger Bursche mit verschlagenen Zügen, glotzt mir gerade ins Gesicht … Seine Lippen öffnen sich schon … Sein Schrei wird die ganze Bande herbeilocken, und …

Wie eine Vision sehe ich da die Szene im Blockhaus, in dem lilaseidenen Zimmer, sehe Wassili Gowin die Hand auf das Herz drücken, – – das Geheimzeichen der Wangs …

Eingebung des Augenblicks: Ein allerletzter Versuch …!

Ich richte mich etwas auf, ich presse den Handballen genau wie Gowin auf die Stelle des Herzens, flüstere dazu:

„Tschu-Wang!!“ … und lege den Zeigefinger auf die Lippen und schiebe mich eilends der Insel zu. Mag werden, was will, – es ist das Letzte, das ich zu unserer Rettung tun konnte …

Die beiden Chinesen?!

Ich könnte jubeln …: Sie nehmen keinerlei Notiz mehr von mir, sie packen den Tiger bei den Hinterbeinen, schleppen ihn ans Ufer, versetzen den andrängenden Hunden Fußtritte … Man zieht die Beute dann mit Riemen durch die Weiden, – es ist so dunkel, daß ich kaum mehr die einzelnen Gestalten unterscheide, nur den Lärm höre ich, … er entfernt sich … Und dann ist die Nacht da und die Stille, der Fluß plätschert und wispert, der Wind singt in den schlanken Weiden, jedes Blättchen scheint mir lustig zitternd Glück zu wünschen.

Ich hole meine Büchse. Und als ich dann festen Boden erreiche, stehen Wera und Wrangel vor mir, Wera tief gebückt, sie hält dem Hunde das Maul zu, und in ihr leises, frohes Lachen klingt das dumpfe Knurren Wrangels wie der mürrische Baß eines enttäuschten Jagdeifrigen hinein.

„Er hätte uns verraten …“ sagt sie hastig … „Die Schüsse weckten mich … Wie haben Sie es nur fertiggebracht, Olaf, daß die beiden Chinesen Sie nicht mehr beachteten und so eilends abzogen?!“

Es ist dunkel, sie kann mein Gesicht nicht erkennen. Der Schreck über diese Frage wäre mir sicherlich an meiner bestürzten Miene abzulesen gewesen.

Ich will Zeit gewinnen.

„Gehen wir in die Hütte, Fürstin …“

Mein Ton macht sie stutzig.

„Kannten Sie die Leute?“

Mißtrauen spüre ich …

„Nein, wirklich nicht … Ich kannte sie nicht, aber es gab ein Mittel, sie für mich zu gewinnen.“

„Geld?!“ Und das ist feiner Spott. „Ach Olaf, Sie schleppen sich doch mit Geld niemals herum … Denken Sie an die Flußfahrt im Nebel … Sie erzählten mir so vieles, zu viel oder … zu wenig, Olaf! Sie haben Macht über diese Kulis von den Ölfeldern – woher?!“

Sie hat sich aufgerichtet, und ihre Linke drückt meine Schulter.

„Woher?!“

Ich bin in die Enge getrieben. Mein Zögern macht sie noch argwöhnischer. Sie ist klug, eine Wera Zubanoff läßt sich nicht so leicht täuschen.

„Kommen Sie, Fürstin …“

Einmal muß sie ja doch die Wahrheit erfahren.

 

9. Kapitel.

Tschanli, der Wang.

Chedees Hütte verträgt keinen Vergleich mit dem großen Blockhause. Chedee-Ponas Hütte ist ein nachlässiges Bauwerk nach Giljakenart: Doppelte Wände aus dünnen Tannenstämmen, die Ritzen mit Lehm verschmiert, der Zwischenraum mit Moos, Sand, Laub ausgefüllt, dazu ein flaches Dach aus demselben Material, bespannt mit rohen Robbenhäuten, eine Tür aus Flechtwerk, beiderseits mit Fellen abgedichtet, und zwei Fensteröffnungen unter der Decke, von denen die eine auch dem Rauch des Steinherdes Abzug gewähren soll.

Innen nur das Allernotdürftigste, Tannenstämme als Fußboden, darüber Lehm, der rissig und bröckelig ist, – ein altes Segel teilt Weras Kemenate ab … Zwei Petroleumlaternen sind fast Luxus. –

Wera verhängt die Fensterlöcher, ich zünde die beiden Laternen an, und zwei Schemel aus Wurzelknorren bilden unsere Sitze neben dem Herde, auf dem die Flammen langsam höher lecken und den eisernen Kessel umspielen.

Wera wird uns nachher Reis kochen …

Nachher.

„Fürstin, ich hätte Ihnen gern gerade dies verschwiegen,“ beginne ich wenig diplomatisch.

„Gerade dies?!“ Sie wird bitter. „Es gibt nichts, das meine Seele noch mehr zermürben könnte, – höchstens das Gefühl, daß auch Sie nicht aufrichtig sind!“

In diesem Vorwurf klingt etwas mit, das mir geradezu wohltut. Wera ist mir im Verlauf von anderthalb Tagen mehr geworden als nur Kameradin. Was mich zu ihr hinzieht, ist nicht lediglich das vergröberte Gefühl des Augenblicksbegehrens. Zwischen uns schwingen feinere Saiten. Und daß auch sie dies empfindet, zeigte mir ihre letzte Bemerkung.

Wir sitzen uns gegenüber, das Herdfeuer beleuchtet ihr rassiges Antlitz … Kein Künstler könnte die Feinheiten dieses einseitig von rosigem Licht bestrahlten Gesichtes wiedergeben. Ich strecke ihr die Hand hin, und Hand in Hand erzähle ich ihr von meiner Vermutung, daß ihr Gatte der dreizehnte Tschu-Wang, der Großmeister, sein müsse und die beiden Chinesen vorhin gleichfalls zum Bunde gehören.

Ihre Züge zeigen keinerlei Veränderung. Sie denkt scheinbar angestrengt nach, schweigt und sagt schließlich mit unmerklichem Kopfschütteln:

„Fürst Zubanoff ist Europäer, europäischer Russe … Wie könnte er den phantastischen Ideen des Doktor Wang Ho, eines Chinesen, dienen?!“

Auch die Frage habe ich mir längst überlegt.

„Bedenken Sie, Fürstin: Er muß die neuen Machthaber Rußlands hassen! Oder die Zubanoffs waren, wie Sie mir selbst mitteilten, Tscherkessenfürsten … Sollte in dieser Familie nicht irgendwie auch Asien vertreten sein?“

Sie nickt widerwillig. „Ja … Sie haben recht, Olaf … Witschas Mutter war die Tochter des Baschkirenschans Umir Dabar, der zu den modernsten asiatischen Steppenfürsten zählt …“ Sie nickt energischer. „Ja … – nicht Haß, Olaf, nein, – mein Gatte war wohl immer ein wenig Schwärmer, redete oft von Dingen, die mir gänzlich fernlagen.“ Ihre Hand zuckt in der meinen, und sie fügt bitter hinzu: „So hat er also seine politischen Phantastereien mir vorgezogen!! Eine herbe Erkenntnis für eine Frau, die all diese Jahre ihn gesucht hat, während er doch zweifellos mit Doktor Wang Ho bis zu dessen Hinrichtung in engster Verbindung stand.“

Sie starrt in die Flammen. „Eine sehr herbe Erkenntnis!! Und dennoch, – irgend etwas bei alledem stimmt nicht, Olaf … kann nicht stimmen! Tatsache ist doch, daß er nach Rußland von den beiden Schurken, deren Tod ich wahrlich nicht bedauere, ausgeliefert wurde. Wie entfloh er? Weshalb erhielt ich nie Nachricht von ihm?! Weshalb und wie erwählte Doktor Wang gerade ihn zu seinem Nachfolger?! – Olaf, wir tappen noch immer im Dunkeln, – Olaf, wir dürfen nicht urteilen, erst recht nicht verurteilen, bevor wir nicht vollkommen Klarheit gewonnen haben!“ Sie drückt meine Hand, steht auf und wendet sich dem Herde zu. „Olaf, es ist besser, wir lassen diese Dinge vorläufig ruhen … Etwas wird geschehen. Hier bleiben wir nicht. Ich bin nicht die Frau, die abwartet. Mir wird schon irgendein Weg einfallen, der für uns gangbar ist …“ Sie dreht mir jetzt den Rücken zu, aber an ihrer Körperhaltung erkenne ich, daß sie diesen Weg bereits undeutlich vor sich sieht.

Ich weiß, es wird wieder ein Weg abseits der großen breiten Heerstraße der Erdenpilger sein.

Ich prüfe Wrangels Verbände, und die Fürstin spielt Köchin. Wir reden über gleichgültige Dinge.

Dann unser gemeinsames Mahl, – Wera mit einem zerkratzten Blechteller im Schoße, mit einem Holzlöffel, den Chedee geschnitzt hat …

Auch der Hund erhält sein Teil, und gerade als die Reste der einfachen Konservensuppe ausgelöffelt sind, spitzt Wrangel die Ohren, knurrt und schleicht zur Tür.

„Licht aus!“

Ich werfe eine Decke über die Laternen, Wera gießt eine Kelle Wasser in die Herdglut, und ich hebe die Büchse halb zur Schulter.

Draußen eine hastige Stimme: „He, Missu Abelsen, – – hier sein alte Tschanli …“ Und dann das Kennwort. „Tschu-Wang – – Wang Ho …“

Es kann nur der greise Kuli mit dem vertrockneten Gesicht sein. – Ich schiebe die beiden Holzriegel zurück, und der Chinese schlüpft herein, Wera zieht die Decke von den Laternen, und unser Gast verbeugt sich tief.

„Missu Abelsen, ich nur wollen fragen, ob ich euch irgendwie helfen können …“

Ich verriegele die Tür.

„Bist du allein, Tschanli?“

„Nein, Missu, am Ufer sein noch drei Wangs.“

„Woher kennst du meinen Namen?“

„Missu Steenpool …“ – er spukt kräftig aus – „Missu Steenpool kommen zu Ölfelder und reden mit Oberingenieur … Dann er mit Hunden und zehn Kulis eilen nach Süden in großen Urwald …“

Er grinst plötzlich …

„Unter zehn Kulis ich sein, und ich finden Blockhaus von Tschu-Wang dreizehn früher, und als Engländer kommen, alles schon in Flammen …“

„Recht so, Tschanli!“

„Dann wir treffen Tiger, lange Jagd, Missu, – wir verfolgen Tiger, wir sehen dich, Missu. Du Wang sein wie wir … – Engländer nannte deinen Namen, ich gute Ohren …“

„Setz dich, Tschanli …“

Er bleibt bescheiden stehen. „Nicht viel Zeit, Missu … Heimlich wir weg von Jagdtrupp.“

Auf gut Glück fragte ich: „Wo ist Fürst Zubanoff?“

Tschanlis Schlitzaugen ruhen auf Wera. Er zaudert …

Wera tritt dicht vor ihn hin.

„Sprich die Wahrheit, – was es auch sei!“ Aber in ihrer Stimme bebt die ungewisse Angst.

Der alte Tschanli flüstert scheu: „Ich Chedee treffen … Chedee immer mit uns in Verbindung. Er sagen, Fürst Zubanoff nicht mehr großer Tschu-Wang, sondern nur noch Gowin großer Tschu-Wang … Fürst Zubanoff …“ – wieder zögert er – „… sein … tot …“

Wera erbleicht, aber sofort ruft sie auch:

„Dann hat Gowin ihn ermordet.“

Tschanlis verkniffenes Gesicht verzieht sich zu einer unklaren Grimasse.

„Er nicht so tot sein,“ sagt er leise. „Anders tot … Chedee mir nicht alles mitteilen, aber Gowin kein Mörder …“

Wera rüttelt den Alten. „Rede!! Rede!! Was deutete Chedee an? Wenn mein Mann nicht tot ist, weshalb ist dann nun Gowin dreizehnter Tschu-Wang?! Rede!“

Tschanli blickte sie hilflos an. „Ich nicht mehr wissen … nichts mehr … Chedee nur sagen, er sehr weite Reise vorhaben …“

„Nach Charbin?“ fragte ich mit einigem Recht.

„Vielleicht,“ nickt der Alte grübelnd.

Ich bin zu einem Entschluß gelangt.

„Tschanli, hat der Engländer etwa Leute nach unserem Steinhaus an der Küste geschickt?“

„Nein, Missu …“

„Dann werdet ihr vier uns dorthin begleiten. Es soll euer Schade nicht sein.“

Er verbeugte sich nur. „Wir gehorchen, Missu. Du kennen Zeichen von Tschu-Wangs, du sein Tschu-Wang, wir nur Wangs.“

Die Organisation dieses Bundes ist musterhaft. Ich habe nie einem geheimen Orden angehört, nun habe ich mich selbst zu einem der zwölf Tschu-Wangs befördert. Es ist Betrug, aber – in diesem Falle muß jedes Mittel mir recht sein. Es gilt Wera zu helfen, und Fürst Zubanoff hat mir Wera gleichsam anvertraut.

Wir werden mit dem Schoner Sakramento in See stechen, und ich werde Charbin kennenlernen.

 

10. Kapitel.

Die Spur im Sande.

Uns beschwert keinerlei Gepäck. Was Wera mit nach Sachalin genommen hatte, ist ein kleiner Koffer und ein gewöhnlicher Rucksack. Die Chinesen tragen sie, und Wera und ich schreiten voran, neben uns der hinkende Wrangel, hinter uns die vier schweigsamen Wangs, von denen der eine ein Mongole von ungewöhnlicher Länge ist.

Die Nacht ist sternenklar, der Mond steht hoch, und wir meiden den kürzesten Weg zur Bucht und halten uns stets in buschreichen Tälern. Meine Begleiterin zeigt keine Neigung, Tschanlis Mitteilungen kritisch zu erörtern, aber ich habe das Gefühl, daß Wera bereits wieder bei dem häßlichen Verdacht, ihr Gatte könnte mit einem anderen Weibe in dem Blockhaus zusammengelebt haben, angelangt ist, und sich scheut, diese Gedanken vor mir zu entblößen.

Wir schreiten mächtig aus, obwohl es mir zuweilen vor Übermüdung und Abspannung heiß über den Leib rinnt. Mein Kopf ist benommen, und es ist mir im Grunde nur lieb, daß Wera so stumm neben mir hergeht. Die kurzen Bemerkungen, die wir austauschen, beziehen sich nur auf Dinge, die dieser Nachtmarsch uns aufdrängt: Über die einzuschlagende Richtung, über das nächtliche Getier, dem wir begegnen, und auf die Möglichkeit einer Verfolgung durch Steenpool.

Wera spricht über Steenpool nie in gehässigem Tone. Sie ist einsichtsvoll genug: Der Engländer tut nur seine Pflicht, und ein anderer an seiner Stelle wäre wohl weit rücksichtsloser vorgegangen.

Auf den weiten Wiesen mit ihren kniehohen Grasbüscheln und dicken Moospolstern stoßen wir auf kleinere Renntiertrupps. Vielbegehrte Zobel, hier auf Sachalin mit das häufigste Wild, flitzen wie Blitze in ihre unterirdischen Baue, – ein paar Füchse traben mißmutig von einem stinkenden Aas ins Gestrüpp, und das langgezogene Geheul eines jagenden Wolfsrudels bleibt merkwürdigerweise beständig in der Nähe.

Wrangel wird unruhig. Mitunter macht er Miene, einem flüchtenden Renn zu folgen, – auch die Wölfe stören ihn, und als gar in einem schmalen Waldstück ein brauner Bär in komischen Sätzen davoneilt und wiederholt stehen bleibt und vorsichtig zurückblickt, kann ich ihn kaum am Riemen zurückreißen.

Nach zwei Stunden spüren wir den Salzhauch des Meeres. Der eigentümlich aromatische Duft, den die Täler Sachalins aushauchen, verschwindet und der lauere Wind des Pazifik fächelt unsere müden Gesichter.

Die Hütte an der Bucht liegt vor uns. Wir halten im Gebüsch, und Wrangel und ich ziehen erst einmal allein auf Kundschaft aus. Über der Bucht liegt der Mondschein als silberner Streifen, und drüben das Vorgebirge grüßt mich mit vertrauten Zacken und Spitzen. Dort hatte Wassili Gowin seinen Lieblingsplatz, dort habe ich ebenso oft gesessen und über das Meer geschaut und unbestimmte Wünsche in die Ferne geschickt.

Wrangels feine Nase ist mir auf diesem Gange bester Schutz. Im Bogen nähern wir uns der Balkentür. Der Wind hat wieder ganz feinen Seesand in langem Strich hier zur Tür aufgehäuft, Sand so fein wie Puder, Milliarden winzigster Körnchen, denen niemand es mehr ansieht, daß sie einst Felsbrocken des Urgesteins gewesen sind und nur durch die Schleifwirkung des unruhigen Meeres oder durch die gleiche des Windes zu Sand gerieben sind.

Ich umkreise das Steinhaus. An der Rückseite hängen noch die ausgespannten Fuchsfelle. Nichts hat sich geändert. Ich kehre zur Tür zurück, und ich stutze. Dicht vor der Schwelle in der Sandwehe erblicke ich einen kleinen gebogenen Eindruck: Der Absatz eines Stiefels, mit Hufeisen benagelt, hat sich hier durch die Unachtsamkeit dessen, der die unverschlossene Hütte betrat, deutlich eingeprägt.

Steenpool! – Und Howard Steenpool muß vor kurzem hier gewesen sein. Die Spur ist frisch. Ich kenne mich mit Spuren aus.

Mein mißtrauischer Blick überfliegt die nahen Stöße Klobenholz … Nein, wäre der Engländer noch in der Nähe, würde Wrangel ihn gewittert haben. Gerade Steenpools persönlicher Geruch würde dem Hunde niemals entgehen. Steenpools gepflegte Erscheinung hat das hier fremde Odeur der Kultur.

Ich rufe Tschanli und den riesigen Mongolen Gupa herbei. Sie umkreisen einzeln das Haus, während wir anderen in aller Eile das am Strande liegende Boot des Schoners flott machen und aus unserem Heim alles an Bord des Sakramento schaffen, was irgend mitnehmenswert wäre. Da sind Felle aller Art, tadellos eingesalzen, sie stellen ein Vermögen dar. Da sind Renntiergeweihe, andere Jagdtrophäen, an denen ich hänge. Sechsmal fährt das Boot hin und her. Wera ist an Bord geblieben und richtet die Heckkammer für sich her.

Als das fahle Gran der ersten Dämmerung im Osten erscheint, wirft Gupa, der in den Ölfeldern Maschinist war, den Motor an.

Ich habe von dem Steinhause, das mich ein halbes Jahr zusammen mit Gowin beherbergte, allein Abschied genommen. Dieses Haus auf Sachalin war wieder ein Markstein auf meinem ziellosen Lebenswege. Es war mir vorübergehende Heimat, und der Abschied wird mir schwer.

Der Schoner gleitet hinter der Riffbarriere hervor in offenes Wasser. Wera und ich stehen an der Reling und sehen still das Land entschwinden. Tschanli hat das Steuer übernommen. Der Alte, scheint mir, ist vielseitiger wie all diese Kulis, die alles versuchen, die nur sparen, sparen und deren Sehnsucht eine eigene Scholle an einem der großen Flüsse ihrer endlosen Heimat ist.

Es flimmert mir vor den Augen. Die Müdigkeit nimmt überhand, und nachdem ich noch Tschanli Bescheid gegeben, daß wir außer Sicht der Küste nordwärts steuern wollen, drücke ich Wera die Hand und gehe in meine kleine Kajüte. Ich wollte sie ihr einräumen, sie hat es abgelehnt. Ich werfe mich in Kleidern auf das Bett, schlafe im Nu ein und erwache am Spätnachmittag. Kap Elisabet, Sachalins Nordspitze, liegt bereits hinter uns, wir durchkreuzen den Sachalin-Golf und befinden uns zwischen dem asiatischen Festland und Sachalin, also in einer Wasserstraße von durchschnittlich hundert Kilometer Breite.

Tschanli lehnt am Steuer, raucht und blinzelt mich an. „Wir besser nachts in Amurmündung einlaufen, Missu …“

„Allerdings, Tschanli, – ohne Pässe, Papiere. Es wird ein ewiges Versteckspiel werden …“

Die Rauchfahnen mehrerer Dampfer beweisen die Nähe bewohnter Gegenden.

Tschanli deutet auf die Takelage. „Ich schon sprechen mit Gupa … Besser sein, wir ändern da vieles, Missu … dies sein amerikanische Klippertakelung und fallen zu sehr auf … Wenn dunkel, wir bauen auf zum Schein vorn noch große Kajüte.“

Seine Vorschläge haben Hand und Fuß. Wenn wir unbelästigt den Amur hinab bis Chabarowsk wollen, wo die sibirische Bahn den Fluß kreuzt, muß der Schoner ein ruppiges Flußboot werden. –

Wera ist unsichtbar. Vielleicht schläft sie. Ich gehe an Deck auf und ab, und Wrangel hinkt neben mir. In der Kombüse klappert ein Chinese mit Töpfen, und der Duft, der aus dem Niedergang aufsteigt, reizt meinen Magen.

Es ist dunkel, als ich dann wieder meine Kajüte betrete. In Weras Kammer brennt Licht, aber ich mag nicht bei ihr anklopfen, ich kann es verstehen, sie hat in den letzten Tagen allzu herbe Enttäuschungen durchgemacht, ich begreife durchaus, daß Sie allein sein will.

Der Koch bringt mir das Abendessen, und dann kommt Gupa, der wie ein Seeräuber aussieht, und bespricht mit mir die Einzelheiten über den Umbau des Schoners. Wir werden im Laderaum die Zwischenwände herausbrechen, die Bretter werden genügen.

Um Mitternacht liegen wir zwischen den Sandinseln der flachen Amurmündung. Alle Lichter sind an Bord gelöscht, Wera hilft, aber sie ist still und stumm, nur die Hammerschläge dröhnen nervenaufreizend durch die mondhelle Nacht.

Gupa kennt den Amur. Gupa und Tschanli scheinen hier einmal weniger ehrlich als auf Sachalin gearbeitet zu haben. Ich kenne nichts von Sibirien, nichts von der Mandschurei, und was Gupa erzählt, – wird wohl stimmen.

Der Amur ist von der Stadt Mariinsk an total versandet. Der Warenverkehr geht über diese Stadt mit der Bahn nach Alexandrowsk, – Gupa betont, daß die meisten Orte umgetauft sind. Die neuen Namen sind ihm weniger geläufig.

Drei Stunden arbeiten wir wie gehetzt, denn wir müssen noch bei der Dunkelheit in den Fluß einlaufen der Zollboote wegen.

Dann schleicht der Schoner zwischen Sandbarren durch schmale Kanäle. Tschanli sitzt oben im Hauptmast mit dem Glase. Wieder zwei Stunden, in denen die Nerven prickeln … Aber wir kommen durch, und das bewaldete, inselreiche Westufer bietet uns überall Schutz. Fahrzeuge gleiten vorüber, Fischer starren uns nach, am Ufer flackert Feuer, brenzlicher Duft zieht über das trübe Wasser.

Die Fürstin hat sich niedergelegt, und der kleine Schoner ist nicht wiederzuerkennen. Tschanli reibt sich zufrieden die Hände. Drei verdächtige Motorboote mit der Sowjetflagge am Heck haben uns ruhig passieren lassen.

Als ich dann meine Kajüte aufsuche, als ich die Deckenlampe anzünde und Wrangel, den ich vergessen habe, an der Tür kratzt, sagt Howard Steenpool von meinem Bett her:

„Abelsen, Sie werden mich schon mitnehmen müssen.“

Ich starre ihn an wie eine böse Erscheinung.

„… Ich hatte mich an Bord geschlichen – natürlich. Ich schwamm … Ich wußte, daß Sie Sachalin verlassen würden, Abelsen … Ich steckte im Kielraum. Aber ewig konnte ich dort nicht bleiben.“

Sein Kürbisgesicht lächelt freundlich.

„… Betrachten Sie mich nicht als Gegner, Abelsen … Was ich erfahren wollte, weiß ich nun, und ich werde treu zu Ihnen stehen.“

Er sitzt bequem auf dem Bettrand, und gemächlich zündet er eine Zigarette an. „… In den Brandruinen des Blockhauses Zubanoffs fand ich den Sender und manches andere … Wenn ich Sie und die Fürstin wirklich hätte festnehmen lassen wollen, wäre dazu an der … sagen wir „Tigerinsel“ die beste Gelegenheit gewesen, denn mein Fernglas, Abelsen, ist schärfer als Chinesenaugen. Sie verstehen mich …“

„Nicht ganz …“

„Sprechen Sie doch leiser, Abelsen … Die Bretterwand nach Frau Wera hin ist dünn, und es ist für der Fürstin Seelenruhe besser, sie hört nichts, nichts. Ihr Gatte war der Ober-Tschu-Wang. Gowin ist es jetzt. Es ist eine Eigentümlichkeit von mir, stets mehr zu wissen, als man ahnt. Howard Steenpool ist ein Zwerg, aber er hat Muskeln und ein dreifaches Hirn und könnte als Keulenwerfer auftreten. Tschanli glaubte, ich wäre blind und taub … Und von der nächtlichen Unterredung zwischen Gowin und dem Fürsten schnappte ich auch einiges auf … leider nicht genug. Das eine ist sicher: Zubanoff trat an Gowin seine hohe Stellung als Dreizehnter freiwillig ab, und die beiden und Chedee sind unterwegs nach einem Dorfe westlich von Charbin in der Mongolei …“

„Möchten Sie mich nicht auch einmal zu Worte kommen lassen, Steenpool …“ Sein Redefluß machte den Eindruck, als ob er meinen Fragen ausweichen wollte.

„Bitte … Lassen Sie doch den Hund herein.“

Wrangel knurrte Steenpool an, legte sich dann nieder, und ich zog einen Schemel herbei und nahm eine Zigarre.

„Weshalb floh der Fürst vor seiner Gattin?“ fragte ich gespannt.

Steenpool hob die Schultern. „Wenn ich das wüßte, – ich weiß es nicht! Er sagte zu Gowin nur – wenigstens verstand ich so viel: „Ich muß für die Welt tot sein … Es ist eine selbstauferlegte Buße.“ – Können Sie sich daraus einen Vers machen?!“

„Nein …“ – aber ich traute ihm nicht ganz, denn, daß er mir alles enthüllen würde, war kaum anzunehmen.

Er las mir die Zweifel von der Stirn ab. Er streckte mir die Hand hin und blickte mich fest an. „Abelsen, – ehrlich Spiel! Ich habe an Wera Zubanoff kein Interesse mehr. Bix und Fattmoore starben von anderer Hand … Und über den Wang-Bund weiß ich alles. Meine Mission ist erfüllt.“

Seine Finger drückten die meinen. Ich merkte, er log nicht.

„Wer tötete die beiden?“

„Fürst Zubanoff,“ erwiderte er noch leiser.

Nicht leise genug, denn in der kleinen Verbindungstür zu Weras Kammer stand eine schlanke Gestalt im schwarzen Kimono mit ungewöhnlich bleichem Gesicht …

 

11. Kapitel.

„Arme Leute“ vom Fluß.

… Ich habe meine Schreibarbeit unterbrochen und bin mit Wrangel draußen in den weißen Bergen gewesen, ganz hoch auf den nordöstlichen Abhängen, von wo aus man das Meer sieht, das Rote Meer, – links kann man mit dem Glase auch die Dämme und Bauten des Suezkanals erkennen.

Gupa sitzt neben mir auf dem länglichen Stein, er wohnt hier in einer der zahllosen Höhlen, das Kloster meidet er, aber wir sehen uns jeden Tag, und jeden Tag bittet er mich, wir sollten doch diese Felswildnis verlassen und zurückkehren in seine Heimat.

Gupa ist mir das geworden, was mir einst Coy Cala war, – nicht ganz … Aber dieser hühnenhafte Mongole, der doppelt und dreifach sein Leben für mich wagte, ist mir doch Freund und lebendige Erinnerung an einen fernen Traum.

Gupa gleicht in vielem Wassili Gowin – äußerlich. Vielleicht ist er noch stolzer und hochmütiger. Er hat nichts von der kriecherischen Höflichkeit vieler Asiaten an sich, er spricht von seiner wilden Vergangenheit wie von den selbstverständlichsten Dingen, und wenn ihm auch Gowins überragende Intelligenz fehlt, so ist er in vielem wieder praktischer, urwüchsiger und besitzt nicht jenen anmaßenden Mut, mit dem Wassili damals verachtungsvoll in die Gewehrmündungen starrte.

Gupa und ich sprechen gern über jene Tage, als wir an einsamen Karawanenpfaden durch die Nordostecke der Wüste Gobi zogen. Vieles, was mir entfallen, frischt Gupa wieder auf. Einzelheiten schälen sich so aus dem wirren Ganzen eines heißblütigen Erlebens heraus. Gupa nahm das alles gelassen hin. Seine Nerven versagten nie.

„… Sie hat ihn nicht mehr geliebt, Olaf,“ meint er außerhalb jeglichen Zusammenhangs und stopfte seine Pfeife aus dem fettigen Lederbeutel. „Es hätte dich ein Wort gekostet, und sie wäre dein geblieben …“

„Schweig doch …!“

Er lacht sehr hart. „Schreibst du noch immer von ihr und über sie und reißt dein Herz dabei auf?! Ihr Europäer seid Frauen gegenüber zu schwach.“

Er blickt mich von der Seite an, und mein Gesichtsausdruck zwingt ihn zu einem warmen „Verzeih, – reden wir von anderen Dingen …“

Dann gehe ich wieder mit Wrangel zurück zu meiner Klosterzelle, an der äußeren Mauer lächelt mir der Bruder Türhüter zu und im Garten reicht mir ein anderer eine Handvoll Rosinen … –

Ich bin allein in dem stillen winzigen Gemach und überlese die letzten Seiten.

Wera hatte alles gehört, und Steenpool hatte sich erhoben und war zu ihr hingegangen. Sie schaute an ihm vorüber ins Leere, sie hörte wohl kaum seine gutgemeinten Worte.

„… Fürstin, von feigem Mord oder dergleichen kann hier keine Rede sein … Und – mit aller Sicherheit kann auch ich nicht behaupten, daß damals im Dorfe Zubanowo Ihr Gatte in der Nähe war, als Sie mit Mr. Bix die Auseinandersetzung am Flusse hatten und er so niederträchtig gemein zu Ihnen wurde …“

Wera machte nur eine müde Handbewegung.

„Es ist gut … Es ist alles ja so gleichgültig … Wenn er nicht gemordet hätte, weshalb floh er vor mir?!“

Und da gerade kam Gupa in die Kajüte gestürzt …

„Zwei Motorboote …!“ keuchte er … „Hinter uns … Flußpiraten …!!“

Mit einem Schlage war Fürst Zubanoff vergessen.

Aber Gupas Augen hingen an Steenpool wie an einem giftigen Gewürm.

„Wo kommt der her?!“ Seine Fratze war bedrohlich. Erst jetzt lernte ich Gupa, den Mongolen, richtig kennen. Daß er, bisher Maschinist auf den Ölfeldern, geistig weit über Tschanli stand, hatte ich schon gemerkt. Nun zeigte er sein wahres Antlitz, und das sprühte vor verächtlichem Haß gegen den englischen Beamten.

Ich mußte vermitteln. „Mr. Steenpool haben wir nicht weiter zu fürchten, Gupa,“ sagte ich scharf. „Er ist mein Gast hier an Bord. – Wie steht’s mit den Booten draußen?“

Der Riese mit den kleinen harten Augen und der klobigen Stirn ward sofort wieder bescheiden. „Dann ist alles in Ordnung, Mr. Abelsen …“ Er sprach ein recht flüssiges Englisch, wenn auch untermischt mit allerlei internationalen Hafenausdrücken.

Ich eilte an Deck. Wir fuhren in dünnem Nebel dahin, von dem Ufer war nichts zu sehen, nur hinter uns leuchteten drei matte helle Punkte und je zwei rötliche Flecke.

Gupa zog mich an die Reling.

„Ich weiß hier Bescheid … Nicht nur die Flüsse in China haben ihre Räuber, Mr. Abelsen … Der Amur ist gerade hier an der Mündung die Zuflucht von armen Leuten. Jeder will leben.“

Seine geheime Sympathie für diese „armen Leute“ war ziemlich eindeutig.

„Es können auch Zollbeamte sein,“ meinte ich etwas vorschnell.

„Die führen beiderseits Positionslaternen, rot und grün … – Sie sind einer von uns, Mr. Abelsen … Geben Sie das Zeichen … Vielleicht hilft es. Die Leute sind schneller als unser Schoner, und die armen Leute lassen hier niemals einen am Leben, wenn sie Beute machen.“

Zeichen?! – Das war eine neue Seite des Wang-Bundes, der also auch mit den Flußpiraten in Verbindung stand. – Ich durfte es Gupa nicht merken lassen, daß ich nichts von diesem „Zeichen“ wußte.

„Tu du es, Gupa … Ich habe mit der Fürstin zu reden.“

Ich blickte ihn dabei gleichgültig an. Eine der Decklaternen schien ihm gerade in das gelbbraune Gesicht.

„Du erlaubst es also, Missu?“ – und sein Flüstern und seine Anrede verrieten eine Vertraulichkeit, die mich erschreckte.

„Ja …“

Ich schritt gemächlich der nur angelehnten Kajütentür wieder zu. Steenpool lugte durch den Spalt.

„Wie steht’s?!“

Ich trat ein, drückte die Tür zu und sah Wera auf einem Klappstuhl zusammengesunken sitzen und vor sich hin starren. Sie hob den Kopf.

„Wir haben doch Waffen,“ sagte sie nur, und ihr schöner Mund zuckte leicht. „Als Chedee und ich nach Sachalin fuhren, erzählte er mir viel von den „armen Leuten“ – den Seeräubern … Es ist das kein Märchen, Olaf. Chedee aber kannte ein Signal, das …“

„Und wie war das Signal?“ fragte ich schnell.

„Drei lange, drei kurze Lichtblitze einer Laterne …“

Ich rannte wieder an Deck, wo ich Gupa, Tschanli und die beiden anderen Chinesen am Heck versammelt fand. Mein Erscheinen störte ihre hastige Beratung. Ich ahnte, was sie besprochen hatten. Gupa war mißtrauisch geworden, er glaubte nicht mehr recht an meine Eigenschaft als Tschu-Wang, mein Eintreten für Steenpool mochte ihn schon stutzig gemacht haben, und meine offenbare Unkenntnis des „Signals“ hatte den Ausschlag gegeben. Es war höchste Zeit, meine bereits halb verlorene Würde als Tschu-Wang zurückzugewinnen.

„Weshalb gibst du nicht das Zeichen, Gupa?“ fragte ich energisch. – Die beiden Motorboote waren kaum mehr zwanzig Meter hinter uns. Es mußten ganz alte Motoren sein, denn sie knatterten und knallten wie Maschinengewehre.

Ohne Gupas Antwort abzuwarten, bückte ich mich und hob die Karbidlaterne hoch, die den Kompaß unter einer Haube beleuchtet hatte.

Ich hielt sie empor, deckte meine Mütze über das Glas, zog die Mütze wieder weg und gab dann die sechs Zeichen: Dreimal lang, dreimal kurz, – und stellte die Laterne unter die Haube zurück.

Das vordere Boot erwiderte sofort das Signal, – Gupa murmelte etwas wie eine Entschuldigung, und ich verließ die vier fragwürdigen Kameraden.

Das Geknatter der Motoren verstummte, die beiden Boote verschwanden, und ich war um vieles klüger geworden.

In der Kajüte hatten Steenpool und Wera auf dem kleinen Tisch unsere Schußwaffen bereitgelegt: Meine Repetierbüchse, Steenpools beide Pistolen und Weras Liliputpistole.

„Erledigt …“ sagte ich leise. „Sie, Fürstin, haben die Situation gerettet. Gepriesen sei Chedee!!“ Ich erklärte das Nähere, und Steenpool schmunzelte. Wera blieb gleichgültig, obwohl gerade sie es gewesen, die eine energische Verteidigung vorgeschlagen hatte. Sie nahm ihre Waffe an sich und meinte müde: „Ich möchte allein sein … Gute Nacht.“ Die kleine Tür fiel hinter ihr zu, und Steenpool machte ein sehr betroffenes Gesicht.

„Abelsen, es war Pech,“ flüsterte er. „Die arme Frau tut mir von Herzen leid … daß sie auch ausgerechnet das hören mußte!!“ Er setzte sich auf den Bettrand und winkte mich neben sich. „Abelsen, ich bin ein alter schlauer Fuchs … Aber das Verhalten Zubanoffs ist mir ein Rätsel. Daß er den Russen ausgekniffen war, nachdem Bix und Fattmoore ihre Schurkerei so teuflisch durch seine Auslieferung gekrönt hatten, wußte ich längst. Wir sind über die Vorgänge in Rußland sehr gut unterrichtet, und wenn eines nachts ein Gefängnis von Unbekannten gestürmt wird und Menschenleben dabei so billig wie Sand sind, kann uns das nicht verborgen bleiben. Zubanoff wurde gewaltsam befreit. Er verschwand samt seinen Rettern spurlos, und wer diese Retter waren, – nun, seine Mutter war die Tochter des reichsten Steppenfürsten, das sagt genug. Er ist halber Asiate, und das erklärt ein Drittel, der Rest bleibt dunkel. Er heiratet aus Liebe Ihre Landsmännin, und nachher gibt er ihr keinerlei Lebenszeichen … Das wäre das Eine.“

Er hielt mir sein goldenes Etui hin.

„Rauchen wir, Abelsen … Ich bestehe nur noch aus Nikotin, und ich hoffe, daß ich nicht alt werde. Ich kann mir nun einmal Howard Steenpool als klapperigen Greis nicht vorstellen. – Hier ist Feuer … So, – – zurück zu Iwan Zubanoff. Bedenken Sie: Es sind über vier Jahre her, seit er seine Frau, die nicht seine Frau wurde, über sein Schicksal im Ungewissen ließ. Und Wera?! Hochachtung vor ihr, die mit eiserner Energie ihr Ziel verfolgte. Für mich war Bix und Fattmoores Tod nur Vorwand. Der Wang-Bund nagte an Englands asiatischen Mauern. Und England hatte allen Grund, Hongkong zu hüten. Aber von Politik werden Sie wenig verstehen. Politik ist Geschäft, Schacher. Politik soll die Güter der Nation hüten. England ist der Schuldner Amerikas geworden. Der Weltkrieg vernichtete zwar einen Konkurrenten auf dem Weltmarkt, gebar jedoch unter Strömen von Blut einen weit gefährlicheren: Amerika – – und das erwachte Nationalgefühl der Asiaten.“

Er wehte den Zigarettenrauch mit der Hand weg. „Abelsen, dieser Doktor Wang-Ho starb für keine blöde Idee, im Gegenteil: Der Tag wird kommen, an dem Japaner, Chinesen, Mongolen, Siamesen, vielleicht auch Inder jeden Europäer massakrieren. Vielleicht erleben wir beide den Tag nicht mehr … Ich weiß, daß auch meine Mission hier nur ein Bremsversuch ist. Ich tue meine Pflicht. – Daß die japanische Regierung, daß die chinesischen Machthaber – sie wechseln täglich – gegen die Wangs ebenfalls vorgehen – kein Wunder! Ein geeintes ostasiatisches Reich fegt natürlich all diese Herrschaften hinweg. Und kein Mensch verzichtet gern auf Macht und Geld. Die Wangs sind weitschauende Idealisten, daher köpft und erschießt man sie, wo man sie irgend bekommen kann. – Fürst Zubanoff ist auch Idealist. Ich sage absichtlich nicht Phantast, und wahrscheinlich hatte Doktor Wang-Ho längst auf ihn als nützliches Mitglied ein Auge geworfen. Möglich, daß Zubanoffs Retter ihn verpflichteten, seiner Frau keinerlei Nachricht zu geben, möglich, daß die Vorschriften des Bundes derart sind, daß es keinerlei Rücksichtnahme auf Familie, Frauen, Kinder geben darf. Das würde ja eine Erklärung für Zubanoffs Verhalten gegenüber seiner Frau sein – vielleicht. Aber …“ – er blickte mich fragend an – „würden Sie einem Geheimbunde so weit gehorchen, wenn Sie solch ein Weib besäßen, wenn Sie wüßten, daß Sie nach Ihnen sucht?! Und selbst gesetzt den Fall, Zubanoff tötete Bix und den anderen Betrüger und Verräter, – würden Sie deshalb vor Ihrer Frau fliehen?! – Ich nicht. Es sei denn, die Frau wäre ein Satan, aber Wera ist ein streitbarer Engel.“

Wir schwiegen … Ich hatte nichts zu erwidern. Steenpool hatte in allen Punkten recht.

Er gähnte ungeniert. „Ich bin müde, Abelsen. Ich werde nun vier Stunden schlafen. Das genügt mir. Dann löse ich Sie ab. Einer von uns muß an Deck bleiben. Wegen der Polizei hier auf dem Flusse und wegen der Pässe machen Sie sich keine Sorgen …“ Er lächelte verschmitzt. „Ich hatte unten im Kielraum meinen Gepäcksack, und ich habe vielleicht meinen Beruf verfehlt …“ Er griff in die Tasche und holte zwei Paßhefte hervor. „Da – alles tadellos … gefälscht … Es fehlen nur noch die Photos und die sind morgens schnell herzustellen. Sie sehen, Sie sind englischer Untertan, – ein netter Name: Parker Smith, die Fürstin ist Ihre Gattin – Jane Smith … Die Stempel sind glänzend, nicht wahr?! Und die Fürstin wird notgedrungen Jane Smith spielen müssen, wenn sie nicht gerade Sibirien im nördlichsten Teil kennen lernen will.“

„Sie sind wirklich ein Allerweltskerl, Steenpool!“

Er legte sich schon zum Schlafen zurecht. „Machen Sie das Licht aus, Abelsen … außer den Pässen habe ich noch ein Paket Pfundnoten bei mir, und diese Noten spielt jeder gern … Gute Nacht.“

Ich ging an Deck …

Vorn auf der Ankerwinde saß Wera Zubanoff, jetzt Jane Smith, meine Frau. Ihre Kammer hatte noch eine zweite Tür, und sie hatte sich leise hinausgestohlen und starrte in die dünnen Nebelschwaden, die über dem Amur lagerten …

„Störe ich, Fürstin?“

„Sie stören mich niemals, Olaf …“

Als ich ihr von den Pässen erzählte, sagte sie nur: „Wir sind ja ohnedies bereits gute Kameraden, Olaf … – Glauben Sie, daß wir die Gesuchten in Charbin finden werden?“

„Vielleicht …“

Und mein Herz sprach: „Hoffentlich nicht!“ – Zubanoff konnte dieses Prachtwerk niemals so lieben, wie ich es liebte …

 

12. Kapitel.

Wüste Gobi.

Es war eine jener kalten, windigen Steppennächte, in denen kein Mongole sich aus seiner stinkenden Filzjurte herauswagt. Der Himmel war dick bewölkt, und unsere müden, kleinen struppigen Gäule schleppten sich unlustig über den harten Lehmboden eines flachen Tales.

Gupa, der sonst im Dunkeln wie eine Katze sehen konnte, hatte das, was man hier zwischen Charbin und dem südlichen Chingan-Gebirge als Weg bezeichnet, schon vor zwei Stunden gänzlich verloren. Wir ritten auf gut Glück nach dem Kompaß weiter gen Westen, – wir hätten längst unser Zelt aufgebaut, aber Wera trieb uns mit ihrer Ungeduld und versteckten Angst dauernd vorwärts.

Dieser Ostteil der Wüste Gobi, an den Rändern von den Chinesen längst besiedelt, hat dennoch im Innern den Charakter der pfadlosen Wildnis völlig bewahrt. Die Bodenformation ist dieselbe wie in der eigentlichen Gobi: Zwischen wellenartigen, mit Steinschutt bedeckten Höhenzügen liegen lehmige Täler oder Kiesebenen, während größere Sandflächen selten sind. Die Sträucher und Gräser in den Niederungen schießen im Frühjahr nach der Schneeschmelze in wenigen Wochen so üppig hoch, daß das Getier der Wüste, im Winter an das Fasten gewöhnt, überreichlich Nahrung findet.

Wir hatten von diesem Getier in den verflossenen fünf Tagen freilich wenig gesehen – außer Murmeltieren, Pfeifhasen, und Spitzmäusen und den sehr zahlreichen Fasanen nur ein paar Hirsche und einen kleinen Trupp Targans, Wildpferde. Den Dörfern und Zeltlagern waren wir in weitem Bogen ausgewichen, denn wir fürchteten auf Schritt und Tritt Verrat. Wir wußten hinter uns eine Schar von Reitern, und wir waren nur unser vier, und Wrangel, der Hund, dazu vier Reitpferde. Tschanli und die beiden anderen Chinesen hatten wir schon vor der Stadt Chabarowsk abgelohnt, hatten ihnen den Schoner geschenkt und waren weiter unangefochten mit der Bahn über Wladiwostok nach Charbin gelangt. In diesem internationalen Gaunernest, das mehr Spielhöllen und Freudenhäuser beherbergt, als der harmlose Europäer ahnt, spürten wir zum ersten Male, daß wir beobachtet wurden. Wenn wir den treuen Gupa nicht gehabt hätten, würden wir wohl nie lebend aus Charbin herausgekommen sein. Gupa hatte uns weit von der Stadt bei einem Bekannten untergebracht, – noch in der Nacht mußten wir flüchten, und daß Gupa inzwischen dennoch erfahren hatte, daß der Fürst, Gowin und Chedee sich weiter westwärts gewandt hatten, war einer jener Glückszufälle, die nachher leider ihr wahres Antlitz enthüllen. –

Ich drängte jetzt meinen zottigen Gaul näher an Wera heran.

„Wir müssen rasten,“ mahnte ich energisch. „Wir treiben die Pferde zwecklos bis zur Erschöpfung vorwärts, und falls es dann hart auf hart kommt, Fürstin, versagen sie.“

Wera mochte einsehen, daß ich recht hatte. Sie hob sich im Sattel und blickte sich um. „Drüben ist Gesträuch, Olaf, – schlagen wir das Zelt auf …“ Ihre Stimme klang matt und verzagt. Seit Charbin war sie völlig verändert. Bis dahin hatten ihre Nerven noch standgehalten, jetzt streikten auch ihre Kräfte.

Wir erreichten die Büsche, es waren mannshohe Saxaulsträucher und stachelige Sulkhir-Zwergbäume, und in einer sandigen Mulde zwischen ihnen begrüßte uns das wütende Kläffen einiger Mongolenhunde. Das große Filzzelt sahen wir erst, als wir es rochen … Drei Kerle mit hohen Lammfellmützen und Kitteln und Schafwolle traten ins Freie, – der eine hielt eine eiserne Pfanne mit brennenden Zweigen empor, und die beiden anderen begrüßten uns durch eine Flut von fabelhaften Kraftworten, über die unser Gupa sich vor Lachen ausschüttete.

Er verständigte sich dann schnell mit diesen schmierigen Landsleuten – es waren reinblütige Chalcha-Nomaden –, und gegen etwas Bargeld und Tabak gestatteten sie uns, neben der Jurte das Zelt zu errichten, das gerade nur für Wera ausreichte.

Ich hatte bis dahin keine Jurte betreten, ich blieb auch nur kurze Zeit in dieser Hölle von Gestank und Qualm, ich sah zwölf Menschen in einer Ecke zusammengepfercht, den übrigen Raum nahmen ganz junge Lämmer ein, die man vor der Kälte schützen wollte. Eine der Frauen des Familienoberhauptes säuberte gerade den Kessel mit … getrocknetem Kamelmist, um für uns den Tee zu bereiten. – Ich flüchtete ins Freie zurück, Steenpool aber ließ sich zwischen den Nomaden nieder, und Gupa verhandelte mit einem der Söhne, – wahrscheinlich wollte er ihn für uns als Führer gewinnen.

Der kalte Wind strich über die Mulde hinweg, ich breitete meine Decken wie immer vor Weras Zelteingang aus und hüllte mich ein und aß ein paar Stücke Hartzwieback. Im Zelte brannte noch Licht. Wera mußte mich gehört haben und kam heraus. „Ich koche Tee für uns, Olaf …“ – Das Verhältnis zwischen uns hatte sich seit der Flucht aus Charbin etwas getrübt, da ich schon wiederholt der Fürstin unsinnige Eile bemängelt hatte.

„Gut, daß Sie es tun, Wera, denn der Ziegeltee mit Hirsebrei, den uns die Chalchadamen vorsetzen würden – aus dem Kessel, ich danke!“

Ich hatte mich aufrecht gesetzt, Wera kniete mit einem Male neben mir und legte mir den Arm um den Nacken. „Olaf, sind Sie mir böse?!“

„Das nicht … Sie sind nur sehr unvernünftig, Wera … Wenn es irgend jemand mit Ihnen gut meint, bin ich es doch. Wir haben ein bestimmtes Reiseziel vor Augen, das Dorf Choto, wo wir die Gesuchten treffen werden, die nur einen Tag Vorsprung haben – oder hatten. Ihre Schuld wäre es, wenn wir dieser Chinesenhorde, die man uns auf die Fersen gehetzt hat, vorher in die Hände fielen.“

Ihr Arm sank herab … Sie nahm neben mir Platz … „Olaf, … ich … begreife mich zuweilen selbst nicht mehr … der, den ich einst liebte, ist für mich ein verblaßtes Phantom geworden … eigentlich ein Fremder … Ich bin ja sein Weib nie gewesen, Olaf, – die Ehe ist doch nicht die papierne Bestätigung des gegenseitigen Willens zu innigster Gemeinschaft, diese Gemeinschaft muß auch hergestellt worden sein. Wäre dies geschehen, würde mir Iwan wohl seelisch noch näher gerückt sein … So aber …?! – Wenn ich an all diese Jahre zurückdenke, wenn ich ehrlich in mein Inneres schaue: Ich glaube, es war ein gut Teil Abenteurerlust bei diesem zähen Bemühen, Iwan zu finden. Zuletzt betrog ich mich wohl selbst, ich redete mir ein Gefühl ein, das längst nur ganz schwach flackerte … – Olaf, es ist eine trostlose Erkenntnis …!“

„Dazu kann ich mich wirklich nicht äußern …“ – und ich log, denn ich hätte rufen müssen: „Er ist deiner ja gar nicht wert, – wir beide gehören zusammen, Wera, nur wir beide!“

Erriet sie meine Gedanken?!

Sie lehnte sich an mich, sie tastete nach meiner Hand …

„Olaf …“

Es war nur wie ein Hauch, aber es war auch ein verzweifeltes Schluchzen …

„Olaf, – – wenn ich dich früher kennen gelernt hätte …!!“

Ich saß da und regte mich nicht. Es war ein Kampf, wie ich ihn so schwer nie ausgefochten hatte.

Und es war ein Glück, daß hinter uns im Zelte das Wasser zischend überkochte und gleichzeitig mein treuer Wrangel, der sich bereits mit den mageren Mongolenkötern angefreundet hatte, warnend knurrte. Ich war im Nu auf den Füßen, hatte die Büchse ergriffen und drängte mich hinter meinem Hunde durch die Büsche.

Ich sah nichts Verdächtiges, aber Wrangel schaute mit gesträubtem Haar nach Osten hin, wo ich undeutlich ein paar nackte Felsen erkannte.

Ich nahm ihn an die Leine, und vorsichtig schritt ich weiter. Wrangel zog und zerrte immer stärker an dem Riemen, und ich entsicherte die Büchse, duckte mich ganz tief und spähte mit halb zugekniffenen Augen in die Finsternis. Je näher wir den Felsen kamen, desto ungestümer benahm sich mein sonst so behutsamer Wrangel.

Dann – aus einer Spalte des größten Felsens ein warnendes Kreischen, und blitzschnell turnten ein Dutzend mittelgroßer Affen noch höher empor und verschwanden.

Ich hätte Wrangel das Fell gerben mögen! Deshalb diese ganze Aufregung! Affen, hier in der Nordmongolei nur in drei Arten vertreten, hatten mir bange Minuten bereitet. Ich hatte an die Chinesenhorde gedacht, ich hatte schon Kugeln pfeifen gehört, mein Herz hatte sich darauf gefreut, sein wildes Hämmern in nächtlichem Gefecht ersticken zu können, und dieses Herz pochte nur eines Weibes wegen so ruhelos.

Ich riß Wrangel zurück, er widersetzte sich, – Steenpool kam mir entgegen, lachte mich noch aus, und dann saß ich verärgert in Weras Zelt und trank Tee, und Steenpools Schilderung des Innenlebens der Jurte fand ich witzlos und unfein, denn er kratzte sich andauernd hier und dort, und Wera lächelte dazu …

Nachher lagen wir beide im Freien, den Sattel als Kopfkissen, – Gupa war in der Jurte geblieben, und Wrangel hatte ich zur Strafe bei den Pferden angebunden. Ich fror trotz der beiden Wolldecken, die Gräser waren feucht von Tau, die Blätter der Büsche tropften, am Tage hatten wir mindestens achtundzwanzig Grad Wärme gehabt. Die Nordostgobi ist kein Land für Rheumatiker.

Steenpool schnarchte wie immer; von der Jurte kam der beißende Schafgestank herüber, und der Wind pfiff und säuselte, und die Pfeifhasen pfiffen noch ärger.

Ich verfiel in einen unruhigen Halbschlaf. Die Pferde stampften und schüttelten sich, Nachtschwalben schossen blitzschnell um den Rauchfang der Jurte und fingen die durch den schwachen Lichtschein angelockten Insekten …

Ich schrecke empor …

Hatte ich geträumt?! Hatte ich nicht wirklich einen kurzen Schrei vernommen?

Da – – Wrangels schrilles Bellen machte mich völlig munter … Der Hund hatte sich losgerissen und jagte in die Büsche hinein …

Ich stand und lauschte …

Wieder ein halberstickter Schrei – – und dumpfer Hufschlag …

Ich riß den Zeltvorhang hoch.

„Wera?!“

Keine Antwort, – ich hinein, – nochmals …

„Wera?!“

Und dann zu den Pferden, – raus mit dem Pflock aus der Erde, hinauf auf den kahlen Rücken, – Hacken in die Weichen gehauen …

„Steenpool, hallo, – Wera ist entführt worden!“

Und schon sause ich durch die Sträucher, schon höre ich in der Ferne Wrangels helles, wütendes Kläffen, – ich habe nur Messer und Pistole bei mir, ich muß aus dem langen Halsriemen für den Gaul erst eine Trense knoten, – ich tue alles ganz mechanisch, ich bin dennoch der El Gento von einst, der mit Coy über die Pampas fegte, den Puma hetzte und die silbernen Häupter der Kordilleren[3] kennen lernte.

Mein Pferdchen, dem die kurze Ruhe wenigstens etwas Kraft zurückgegeben hat, scheint zu wissen, daß es hier um mehr, als nur eine Hatz auf Hirsche gilt. Dieser kleine ruppige Gaul, sehnig wie ein übertrainiertes Vollblut, streckt sich lang, weicht von selbst jedem Erdloche aus, – schön sind diese Mongolengäule nicht, sie tragen den Kopf zu tief, aber Augen haben sie wie ein Luchs, und besonders auf dem lehmigen Boden, wo Murmeltiere, Füchse und Mäuse alles unterwühlt haben, würde sich jedes andere Pferd nach drei Galoppsprüngen die Beine brechen.

Wie bitter unrecht habe ich doch vorhin meinem Hunde getan!! Wrangel hatte es gar nicht auf die Affen abgesehen, Wrangel hatte die schlitzäugigen Feinde gewittert, und ich hätte Prügel verdient, ich alter erfahrener Steppenläufer, der das Benehmen Wrangels so falsch deutete!

Hinter mir höre ich nun auch Steenpools gellenden Ruf … Und dann Gupas Donnerstimme, – weit, weit hinter mir …

Die Finsternis verschluckt mich, ich richte mich nur nach des Hundes Kläffen … Und – wenn Wrangel mit seinem noch immer lahmen Bein versagt!?

Wir fliegen über Steingeröll, über jenen Pulverstaub, den die Wüste Gobi bei Stürmen hochwirbelt und in schwarzgraue Wolken verwandelt. Sandstürme gibt es nur tief im Süden, hier in dieser Gobiecke fürchtet der Nomade den Staubsturm noch mehr, denn dieser mehlfeine Staub enthält so viel Natronteilchen, daß die Herden, die ihn längere Zeit einatmen, elend an Lungenentzündung krepieren.

Wir fliegen …

Doch die da vor mir, die die Fürstin geraubt haben, müssen frische Pferde haben …

Wrangels Kläffen erstirbt immer mehr. Angst packt mich, preßt mir das Herz zusammen, – ich kenne diese gelben Banditen, die da irgend jemand in Charbin angeworben hat, – vertierte Bestien, Söldner jener Generäle, die aus Profitgier einander bekämpfen, die vom Auslande bezahlt werden, die ihr niederträchtiges Geschäft bedroht sehen, sobald einmal die Völker Asiens sich zusammentun.

Gupa kennt sie noch besser: Diebe, Banditen, Leichenfledderer, Frauenschänder, in Uniform gesteckt, elendester Abschaum, zu faul zu ehrlicher Arbeit, zu blöde, um eines einzigen Gedankens fähig zu sein!

Und Wera in deren Händen!!

Mich überläuft es kalt …

Dann – stolpert mein Gaul …

Stolpert nochmals …

Seine Sprünge werden unsicher …

… Was habe ich doch vorhin Wera vorgeworfen?!

Und – handele ich jetzt nicht selbst wie ein Unsinniger?!

Ich zügele das keuchende Tier, es steht, zittert.

Stehen darf es nicht, und im Schritt reite ich weiter, ein Hoffnungsloser …

Um mich her nur noch die Stimmen der Wüste.

Vor mir?!

Wenn nur diese Finsternis nicht wäre, wenn nur die Wolken sich zerteilen wollten … Mond und Sterne würden mir genügend Licht geben, die Fährten im Auge zu behalten. Aber auch Mond und Sterne waren gegen mich, selbst die Natur hatte sich wider mich verschworen, und Wera Ginnström, meine Landsmännin, würde … hoffentlich noch Gelegenheit finden, die winzige Pistole zu benutzen, die sie stets bei sich trug und mit der sie so sicher zu treffen wußte.

Stolpernd quälte sich mein armer Gaul weiter. Ich überlegte … Sollte ich durch ein paar Schüsse Steenpool und Gupa herbeirufen?! – Nein, ihre Pferde mußten genau so abgehetzt sein wie mein Tier, und ob sie in derselben Richtung vorwärtsgeprescht waren wie ich, erschien zweifelhaft, da Wrangels Gebell kaum ihre Ohren erreicht haben dürfte.

Sehnsüchtig warf ich einen neuen Blick zum Firmament empor. Der steife Nordost führte immer schwarzes Gewölk aus den mandschurischen Bergen herbei, ganz selten zeigte sich ein hellerer Fleck mit glitzernden Pünktchen, ganz selten wurden die Wolkenränder vom Monde wie ein ungeheures Transparent durchleuchtet.

Hatte es Zweck, aufs geratewohl durch die Steppe zu ziehen?! Aber der eisige Wind hätte dem Pferde, für das ich keine Wolldecke hatte, den Rest gegeben. Ich selbst war wie aus dem Wasser gezogen, ich fühlte, daß meine Haut dampfte, daß ich klüger tat abzusteigen und mir Bewegung zu machen.

So wanderten dann Mann und Roß durch Finsternis und aufstiebende Staubwolken gen Südost …: In dieser Richtung war des Hundes Kläffen zuletzt erklungen.

Ich wanderte, die Trense in der Linken, den Kopf vorgebeugt, und lauschte …

Zuweilen gingen aus hohem Grase mit eigentümlichem lärmenden Surren Fasanen hoch. Daß die Mongolei das Paradies der Fasanen ist, hatte ich bisher nicht gewußt. Zuweilen heulte in der Nähe ein Wolf kurz auf … Im Winter sind diese Raubgesellen gefährlich, im Sommer finden sie übergenug Beute und zerstreuen sich paarweise über die endlosen Weiten. Auf unserem Ritt von Charbin waren wir auch einigen Hochzeitszügen dieser grauen, dickköpfigen, kurzhalsigen Bestien begegnet. Eine Wölfin, umringt von einem Dutzend bissiger Verehrer, die einer den anderen den Pelz zerzausten … Blutspuren bezeichneten den Weg dieser Brünstigen.

Vor mir tauchte wiederum eine jener kahlen Felsformationen auf, zwischen deren Blöcken und Klippen man häufig genug Muscheln findet. Bekannte Forscher haben wohl mit Recht die Theorie aufgestellt, daß die ganze ungeheure Niederung der Wüste Gobi einst ein riesiges Wasserbecken gewesen.

Die Wolken schoben sich ein wenig auseinander, und zwischen den ersten Steinen lag japsend und keuchend mein Wrangel. Er sah mich, winselte, duckte den Kopf, der schuldbewußte Ausreißer, kroch mir entgegen und umschmeichelte mich.

Hoffnung lebte neu in mir auf …

„Wrangel – – endlich!“ – und kein böses Wort bekam er zu hören, – nun wußte ich, ich würde Wera finden, auf des Hundes Nase war Verlaß.

„Such’, mein Hund, – such’ …!“ – und Wrangel heulte leise auf, beschnupperte den Boden und trabte schwer hinkend nach links um die Felsen herum.

Stunden waren vergangen.

Im Osten zeigte sich der fahle Bogen der ersten Dämmerung. Der Wind war umgesprungen, aber die Sterne verblaßten, und die Fährte der vier Räuber lief weiter, als unklarer Strich vor mir her. Sie hatten die Richtung geändert, die Spur führte genau nach Westen, und meiner Berechnung nach mußte dort unser Ziel, das Dorf Choto an den Ostausläufern des Chingan liegen. In einem lehmigen Tale mit üppigstem Graswuchs ritt ich jetzt dahin. Mein Fuchs, dessen Haar mehr ins Rötliche spielte, hatte sich wieder erholt, nachdem wir eine Stunde in tiefer Schlucht gerastet hatten. Das Tal stieg sanft an, – im Morgenlicht erkannte ich als Abschluß vor mir einen flachen Bergrücken mit ein paar Bäumen. Es waren Zwergeichen, Buchen, Tannen und stacheliges Gestrüpp.

Wrangel wurde ungestümer … Ich hatte ihn am Riemen, er zog plötzlich scharf vorwärts …

Ich nahm die Pistole heraus, blies durch den Lauf, um den Staub zu entfernen, ließ die erste Patrone des Rahmens in die Kammer schnellen und beobachtete Wrangel. Sein Haar war nur wenig gesträubt, er knurrte nicht …

Mein Herz pochte lauter: Die ersten Büsche. Links ein Abhang, ein Felsloch, mit Geröll gefüllt … Zwischen dem Geröll die Spitze eines Stiefels, der Zipfel einer Khakijacke … und eine Hand … zusammengekrampft.

Ich stieg ab, ich räumte den Steinschutt weg.

Vier der Banditen, die vier Räuber – – tot, oberflächlich bedeckt mit Steinen …

Jeder mit einem winzigen Loch im Schädel.

Zwanzig Schritt weiter zwischen den Bäumen vier angepflockte, mit Wolldecken behängte ruppige Gäule …

Daneben unter einer Buche eine schlafende, blasse Frau …

Die ersten Sonnenstrahlen schossen über die Wüste, – Wrangel bellte freudig, Wera Ginnström sprang auf …

Ihre Augen ruhten auf mir mit einem zärtlichen Leuchten, und wortlos sank sie mir in die Arme … Sie weinte an meiner Brust, aber ihre Lippen waren heiß und voll trunkener Freude.

 

13. Kapitel.

Schüsse in der Nacht.

Dunkle Glut stieg ihr in die Wangen, beschämt löste sie sich aus meinen Armen, senkte den Kopf …

„Olaf, was müssen Sie von mir denken!“

Ich hatte noch ihre Hände umklammert …

„Ich denke, daß du mich liebst, Wera …“

Sie riß sich los …

„Mein Gott, – nur das nicht …! – Olaf, vergessen Sie meine Schwäche, – ich bin nicht frei, ich …“

„… ich vergesse nichts, Wera, – nie! Wie sollte ich?!“

Sie wandte sich langsam weg.

„Sie müssen vergessen! Es darf nicht sein. – Wollen Sie mir auch das noch aufbürden?!“

Sie war so hilflos, so ganz Weib … Der Widerstreit ihrer Empfindungen rührte mich.

„Ich bin so froh, daß ich Sie gefunden habe,“ – so fanden wir uns auch in den bisherigen trügerischen kameradschaftlichen Ton zurück.

Aber – vergessen?! Wera, wie töricht bist du doch! Vergessen, wenn du mich so geküßt hast! …

… Dann saßen wir nebeneinander, Wera erzählte … Sie war erst aufgewacht, als ihr einer der Chinesen die Kehle im Zelte zudrückte und ein zweiter sie emporhob. Die Schufte hatten die Zeltbahn hinten zerschnitten, der eine hatte Wera dann vor sich in den Sattel genommen, und die Angst vor uns hatte die Banditen bis hierher getrieben. Hier machten sie halt, ahnten nicht, daß ihre Gefangene bereits die Pistole in der Hand hatte. Das Ende waren vier rasche unerwartete Schüsse gewesen …

„… Mein Gewissen ist frei,“ sagte Wera mit der alten Energie, und ihre Züge waren hart und erbarmungslos … „Aus den gemeinen Redensarten der Schurken erkannte ich, was mir drohte. Es gab keinen anderen Ausweg für mich …“

„Wer wird Ihnen Vorwürfe machen?!“ Ich blickte mich nach den Gäulen um. „Haben Sie die Satteltaschen durchsucht?! Wir sollten etwas essen …“

„Und Sie sollten schlafen, Olaf … Sie sehen miserabel aus … Übrigens weiß ich nun aus den Gesprächen der vier, daß wir im ganzen sechszehn von diesem Gesindel hinter uns haben. Man hatte unsere Spur verloren, und diese vier waren nur ausgeschickt, die Fährte zu suchen. Wo der Haupttrupp steckt, weiß ich nicht.“

Ich war müde, nein, wie zerschlagen. Nun kam erst die Abspannung. Ich erhob mich, ich taumelte, Wrangel schlief längst zusammengerollt wie ein Wollbündel, mein Gaul hatte sich in das hohe Gras gelegt, Wera hatte ihm eine Decke übergeworfen.

Ich untersuchte die Waffen der Toten, die Wera neben sich gesammelt hatte. Die Gewehre waren nicht viel wert, die unmodernen Revolver erst recht nicht. Die Läufe hatten Rostflecken, die Schlösser klapperten.

Von diesem Hügel hatte man weite Fernsicht. Die Wüste war unverdächtig. Friedlich grasten drüben Hirsche – jene Art ohne Geweih, die in der Gobi so häufig anzutreffen ist. Ich sah hier die ersten Wildkamele, es waren acht Tiere, plumper als das Zugkamel, dichter im Haar. Nirgends eine Jurte, ein Reiter oder eine Rauchsäule.

Wir sammelten dürres Holz. Die Toten hatten kleine Teekessel mit sich geführt, leider auch nur den fragwürdigen billigen Ziegeltee, der, zu Platten zusammenpreßt, so leicht alle möglichen Gerüche anzieht. Aber Hartbrotpakete und drei Büchsen Reis verhalfen uns doch zu einer stärkenden Mahlzeit.

Wir sprachen nicht viel. Eine gewisse Verlegenheit blieb zwischen uns, und Weras Augen mieden die meinen.

Kaum hatte ich mich dann im Schatten niedergelegt, als ich auch schon einschlief. Die Sonne brannte heiß, obwohl es erst sieben Uhr morgens war. Ein feiner zarter Dunst hatte die Steppe zuletzt überzogen, der reichliche Tau erzeugte die schwachen Nebel, die später wieder verschwanden.

Ich schlief. Ich hatte zwei treue Wächter, und meine Träume gaukelten mir ein Glück vor, das niemals Wirklichkeit werden konnte.

Mittags weckte Wera mich. Steenpool und Gupa mit unseren Packpferden nahten von Osten her, es gab eine lärmende, freudige Begrüßung, und Steenpool konnte sich die Frage nicht verkneifen, wie es Mr. und Mrs. Smith derweil ergangen sei, wobei er vielsagend schmunzelte.

Wera wandte sich errötend ab, ich wurde grob und meinte, wir hätten jetzt wohl an anderes zu denken, das Dutzend Banditen, das hier immer noch irgendwo umherstrolche, lasse es geraten erscheinen, schleunigst wieder aufzubrechen.

Wir brachen auf. Gupa ritt als Späher weit voraus, wir wichen wieder einigen Jurten und einem größeren Zeltlager im Bogen aus und sahen gegen Abend die bläulichen Gipfel des Chingan-Gebirges vor uns. Gupa hatte nachmittags eine kleine Karawane nach der Lage des Dorfes Choto ausgefragt, und wir hatten uns weit nördlicher halten müssen. Die Gegend war hier bereits bedeutend baumreicher, einzelne Wasserläufe, kleine Tümpel, sehr hohes Gras und kegelförmige, vollständig kahle Felshügel gaben der Landschaft das kennzeichnende Gepräge des Übergangs zum Gebirge. Die Dauersiedlungen nahmen gleichfalls zu, und Jurten mit Lehmziegelunterbau, ganze Lehmhäuser, Stallungen und eingezäunte Weiden zwangen uns nicht nur zu weiten Umwegen, sondern auch zu doppelter Vorsicht.

Choto sollte in einem Tale mit schroffen Wänden liegen, dicht daneben, hatte der Karawanenführer erklärt, gab es einen größeren See und einen alten Tempel aus der Glanzzeit des geeinten Mongolenreiches.

Wir mußten dem Ziele ziemlich nahe sein, und Gupa schlug vor, erst einmal die Sache in einem großen Gebüsch abzuwarten.

Wera war wieder sehr still geworden, Steenpool schwatzte wie immer allerlei scheinbar ungereimtes Zeug, in dem noch der scharf geschliffene Witz dieses kleinen eigenartigen Vertreters Oldenglands stets geistreich aufleuchtete. Wir saßen nebeneinander, Gupa hielt vor den Büschen Wache, und ich … wünschte mich tausend Meilen weg.

Ich zweifelte nicht daran, daß wir die Gesuchten in Choto vorfinden würden, zumindest ganz in der Nähe. Ich hatte den Gefährten längst von der Chiffredepesche Mitteilung gemacht, die ich auf der Diktaphonwalze entdeckt hatte, und wenn dort auch Charbin als Treffpunkt angegeben gewesen war, so hatte dies gegenüber Gupas Feststellungen in Charbin nichts zu bedeuten. Der Fürst, Gowin und Chedee mußten in Choto sein. Zu welchem Zweck, – die Frage blieb offen.

Wera hatte mit Dank eine von Steenpools Zigaretten angenommen. Der Oberinspektor erzählte eigene Erlebnisse, und er war ein glänzender Erzähler. Ich begriff, daß sein Beruf ihn vollkommen fesselte und befriedigte.

Plötzlich fragte die Fürstin ihn: „Glauben Sie, daß der Wang-Bund Waffen einschmuggeln läßt?“

Es war schon dunkel, aber mir entging Steenpools peinlich überraschte Miene doch nicht.

„Wie kommen Sie denn darauf, Fürstin?“

„Das ist keine Antwort,“ meinte sie etwas gereizt. „Mir fiel soeben ein, daß Iwan (sie nannte ihn nie mehr Witscha) in Angora öfters mit einem Belgier verhandelte, der, wie ich zufällig erfuhr, Vertreter einer Waffenfabrik sein sollte.“

Steenpool räusperte sich. Das Thema war ihm unangenehm. „Hm, Sie denken an das Wort „Sendung“ in der Depesche … Nun, unsere Gedanken begegnen sich, Fürstin. Ich habe längst daran gedacht, und ich vermute, daß ihr Gatte, mag er auch als dreizehnter Tschu-Wang zurückgetreten sein, doch noch für die Übernahme dieser Sendung notwendig ist.“

Wera fragte weiter: „Und wenn nun das Dutzend chinesischer Banditen hiervon Kenntnis hätte, wenn sie vor uns in Choto einträfen?!“

Steenpool lachte. „Ein Gowin hat mehr Spione, als diese chinesischen Halsabschneider, die der General Fangsoleng besoldet …“

„Wenn dem so wäre, hätte man uns wohl in Charbin rechtzeitiger gewarnt,“ sagte Wera düsteren Tones. „Ich fürchte, wir alle überschätzen die Macht der Wangs. Gowin redete da soviel von tausenden von Mongolen, die seinem Wink gehorchten, – ich merke nichts davon! Gupa ist ein Wang, und nirgends hier spürte ich etwas von dem Vorhandensein nomadisierender Wangs. Würden wir also nach Choto kommen, könnte es sehr wohl geschehen, daß wir nur das Schicksal derer teilten, die wir gern wiedersehen möchten.“

Es waren Bedenken, Befürchtungen, die ich längst gehegt hatte. „Gupa und ich werden Choto zunächst allein besuchen,“ erklärte ich. „Sie, Fürstin, und auch Steenpool sind für ein solches Unternehmen, bei dem von Ohr, Auge und Hand schnellstes Zusammenwirken verlangt wird, nicht geeignet. Ich bin Abenteurer, Gupa war noch mehr als das, nehme ich an, und mit ihm zusammen würde ich auch des Teufels Großmutter in der Hölle meine Aufwartung machen. – Wir werden sofort aufbrechen.“

Steenpool legte mir die Hand auf das Knie. „Immer gemach, Abelsen, … Sie reden wie ein Weiser oder wie Howard Steenpool, – die Banditen, falls sie in dem Neste stecken, sind schlimmer als des Teufels Großmutter, mein Lieber … Ich weiß nicht, ob sie einer chinesischen Massenhinrichtung beigewohnt haben … Ich ja … Bei solchem Volksschauspiel lernt man erst das Gesicht Asiens richtig kennen. Es ist kein schönes Gesicht nach unserem verweichlichtem Geschmack, Abelsen. – Ich werde Gupa begleiten, denn mein Paß, meine Papiere würden auch dem fanatischsten Gelben Respekt einflößen. Bisher hat man hier noch immer einige Angst vor Englands schwimmenden Bügeleisen, die so wunderbare 32-Zentimeter-Granaten spucken – pardon …“

Es war ein edler Wettstreit. Jeder wollte seine Haut zu Markte tragen, Steenpool ließ nicht locker und zum Schluß mengte sich auch noch Wera ein.

„Sie beide wollen sich für mich opfern, auch Gupa würde es tun, – ich lehne das ab.“ Sie sprach mit einem Nachdruck, der keinerlei Widerspruch duldete. „Ich werde allein reiten, dabei bleibt es … In meinem Reisesack habe ich noch die Verkleidung, die ich als Mongolin in Zubanowo trug, dazu Perücke, Schminken … Eine alte Bettlerin hält niemand an, – ein Mann fällt hier überall auf, und …“

„Sie haben recht,“ brach ich diese zwecklose Erörterung ab und stieß dabei Steenpool vielsagend mit dem Ellbogen in die Seite. „Noch ist es zu früh, Fürstin … Außerdem müssen wir erst näher an das Dorf heran …“

Mein Plan war fertig. Steenpool ahnte meine Absicht und schauspielerte wie ich.

Eine halbe Stunde darauf ritten wir weiter. Diesmal war ich Vorhut, ich hatte das beste Fernglas, und meine Pampaserfahrungen übertrafen auch Gupas vielseitige dunkle Abenteuer an lehrreichen Einzelheiten.

Diese Nacht, kühl wie die gestrige, nur fast zu hell und klar, goß mir wieder das lebendige Feuer einer hohen Verantwortung in die Adern. Es erging mir wie stets: War ich allein auf mich angewiesen, verdoppelten sich meine Instinkte, – nichts lenkte mich ab, und mein Wrangel, den ich vor mir an der Leine hatte, war mir wertvoller als ein Dutzend mit dieser Wüste vertraute Nomaden.

Ein bewaldeter Hügelrücken lag hinter mir. Im Sternenlicht erkannte ich durch das Glas große Herden, zumeist Fettschwanzschafe, einige Umzäunungen mit Pferden und Kamelen, drei Jurten, aus denen Qualm emporstieg, und ganz fern im Dämmer der ersten Berge eine Anzahl heller Pünktchen, links davon eine blanke weite Fläche. Das mußte der See von Choto sein.

Ich hatte also wirklich das Tal vor mir, ich sah auch die schroffen Abhänge der Talwände, – hinter dem Dorfe brannten ein paar gewaltige Feuer zum Schutz gegen die Wölfe, die aus den Wäldern des Gebirges nachts herabkamen.

Von hier oben merkte ich mir genau die Richtung, die ich einzuschlagen hatte, um die Herden und ihre Wächter zu meiden. Dann trabte ich weiter, ich fand ein ausgetrocknetes Bachbett, das mir genügend Deckung bot, und nach einer Viertelstunde hatte ich das Dorf erreicht. In einer leeren offenen Stallung, deren Filzwände man jetzt im Sommer entfernt hatte, lagen noch Haufen von Reisstroh und Laub, – ein besseres Versteck konnte es nicht geben, zumal gleich rechter Hand die felsige Talwand aufstieg, die zahlreiche Gestrüppgruppen, Terrassen und Geröllhalden besaß. Im Notfalle konnten wir dort nach oben, und die nahen Berge boten die beste Möglichkeit zur Flucht.

Als meine drei Gefährten mit den Packpferden eintrafen, drückte Wera mir stumm die Hand. Steenpool meinte anerkennend, daß auch er die Sache kaum besser erledigt hätte, und Gupa tat das Klügste und häufte das Stroh derart in fast geschlossenem Kreise auf, daß unsere Gäule sogar für einen zufällig Vorüberkommenden verborgen blieben.

Die ersten Häuser der langgestreckten Ortschaft waren von dem Stall etwa dreihundert Meter entfernt. Es gab da Lehmhütten, Steingebäude, Jurten, braune Leinwandzelte und allerlei Wirtschaftshäuser, Ställe, Bretterspeicher, plumpe Backöfen …

Der Ort war größer, als wir gedacht hatten. Aber zwischen den Baulichkeiten zeigte sich selten eine menschliche Gestalt. Es mochte jetzt elf Uhr sein, und die Mongolen sind Frühaufsteher und lieben die nächtliche Kühle nicht. Das Dorf schlief.

Leider aber, und das warf eigentlich alle Pläne über den Haufen, trieben sich überall die ruppigen mageren Köter herum, von denen man allerlei Unangenehmes zu erwarten hatte. Sie sind schon aus Selbsterhaltungstrieb sehr wachsam, denn das Chingan-Gebirge und dessen Randgebiete beherbergen nicht nur Wölfe, sondern auch einige Arten von Pantherkatzen, dazu Bären und Tiger.

Gupa mit seinem starren Mongolengesicht blickt über das Dorf hin und scheint zu überlegen, wie man die Hunde weglocken könnte.

„Komm, Gupa,“ sage ich. „Wir holen einen Hammel …“

Er versteht sofort.

Aber Steenpool und Wera fordern lange Erklärungen.

Wir kriechen zur nächsten Hürde, – leider ist nun auch noch der Mond erschienen –, und ein dicker Fettschwanzwidder, der sich stolz abseits hält, findet einen schnellen Tod. Gupa stößt nur einmal zu, und dann schleifen wir das tote Tier am Riemen hinter uns her, die Böschung empor, von Terrasse zu Terrasse, schleichen oben am Talrand dahin, bis wir etwa die Mitte des Dorfes hinter uns haben, und schleudern den ausgeweideten Kadaver in die Tiefe, ebenso die inneren Teile …

Der Erfolg bleibt nicht aus. Die nächsten Hunde wittern den seltenen Braten, der Blutdunst breitet sich aus, und in kurzem balgen sich etwa zwanzig gierige Köter um die leichte Beute.

Gupa kniet neben mir hinter einem Strauche. Er nimmt mein Fernglas und äugt nach den hellen großen Feuern hinüber, die ich für Hirtenfeuer gegen die Bestien der Berge hielt.

„Blicken Sie hin,“ sagt er gepreßt …

Ich höre es seiner Stimme an, daß da irgend etwas nicht stimmt.

Ich stelle das Glas ein …

Es sind vier Riesenfeuer … Und zwischen ihnen bewegen sich Menschen … Eine Menschenmauer steht außerhalb des hellen Vierecks …

Ich springe auf …

Wir laufen geduckt gen Westen, wir rennen wie die Hirsche, wir fiebern … auch Gupas Gleichmut ist dahin.

Dann sind wir auf einer Höhe mit den mächtigen flackernden Holzstößen …

Wir sehen …

Sehen alles ganz deutlich …

Vor ein paar Felsen stehen zwei Männer, die Arme über der Brust gefesselt, im Munde Knebel mit Schnüren, die im Genick enden …

Gowin …

Chedee …

Gowin, hoch aufgerichtet, ein verächtliches Lächeln auf dem Gesicht …

Chedee stumpf, den Kopf gesenkt.

Ihnen gegenüber zehn der chinesischen Banditen in Khaki, Gewehre im Anschlag … Neben diesen ein Kerl mit einem Säbel … Wohl ein Offizier des Rebellengenerals …

Und seitwärts ein dritter Mann, eine schlanke Gestalt, fast zu schlank, ein feines, weiches, zu weichliches Gesicht …

Auch gefesselt und geknebelt.

Ich hatte Fürst Iwan Zubanoff noch nie gesehen, nicht einmal ein Bild von ihm, aber eine innere Stimme sagte mir es, der ist es, und er mußte es auch wohl sein … –

Geschehnisse können sich in die winzige Zeitspanne von Sekunden zusammendrängen … Unser Hirn ist imstande, in Bruchteilen von Sekunden äußere Eindrücke zu verarbeiten. Träume sind zumeist, mag ihr Inhalt auch ganze, wirre Romane umfassen, nur Gehirnarbeit von kürzester Dauer.

Hier war es ähnlich …

Ich sah alles, ich sah auch den dichten Wall der neugierigen Dorfbewohner, – ich zergliederte nichts von dem Geschauten, ich nahm nur den Gesamteindruck in mich auf …

Und riß die Büchse hoch …

Das, was sich da Offizier schimpfte und soeben den Säbel senkte, bekam die Kugel von hinten durch den Schädel, aber zugleich auch mit Gupas Schuß war auch die doppelte Salve erklungen …

Das, was sich da Offizier schimpfte, fiel nach vorn ins Gras, aber auch Gowin und Chedee hatten des Sterbens letztes Rätsel kennen gelernt, waren umgesunken …

Wie ein Tiger sprang Gupa den Abhang hinab, wie ein Löwe brüllte er den Zuschauern ein paar Worte zu, von denen ich nur den Ausdruck Tschu-Wang verstand … Den Worten folgte ein schriller, besonderer Pfiff. Gupa hatte dazu die Mittelfinger in den Mund gesteckt, – der Pfiff gellte durch die Nacht wie das Sausen einer Schwertklinge …

Es mochten an die hundert Mongolen und Chinesen sein, die den breiten Halbkreis der Gaffer bildeten …

Es mochte die Hälfte von ihnen sein, die jetzt über die uniformierten Banditen herfiel … Ein Heulen, Kreischen, Brüllen erfüllte die Luft, als ob alle Teufel der Hölle losgelassen wären …

Ich begriff: Die Wangs nahmen blutige Rache! Die Wangs konnten nicht gewußt haben, wer hier erschossen wurde: Ihresgleichen, Brüder vom Bunde, mehr noch, der oberste Tschu-Wang …!

In diesem Augenblick war es, als ob ich aus fürchterlichem Traum erwachte …

Ich sprang gleichfalls die Böschung hinab, ich stolperte, ich zerkratzte mir die Hände, zerschlug mir die Knie, – ich hielt nur immer die Büchse hoch, damit sie unbeschädigt bliebe …

Ich sah, daß hinter dem Fürsten noch zwei der gelben Affen im Gestein hockten, daß der eine den Revolver zog …

Zum Abdrücken kam er nicht mehr, mein Zeigefinger krümmte sich flinker, krümmte sich zweimal, dann war ich vor Iwan Zubanoff, zerschnitt seine Stricke, zerschnitt die Schnur im Genick und zog ihm den Knebel aus dem Munde …

Er schaute mich nur geistesabwesend an. Er hatte die melancholische Schönheit so vieler Russen, er hatte verträumte Augen …

Und – das war Weras Gatte?!

Das?!

„Ihre Frau ist in der Nähe, Fürst Zubanoff,“ stieß ich atemlos hervor. „Weshalb fliehen Sie Ihre Gattin?! Wissen Sie nicht, daß sie in jahrelanger Treue nach Ihnen gesucht hat?!“

Er blickte mit tiefem Erschrecken um sich …

„Wera?!“

Und dann – droben vom Talrande her ihr heller Ruf …

„Iwan … Iwan …!!“

Droben stand sie, neben ihr Howard Steenpool.

In ihrer Stimme schwang nicht die Sehnsucht des liebenden Weibes, nur Überraschung, nur etwas Zaghaftes, Unsicheres.

Fürst Zubanoff winkte ihr nicht einmal zu …

Sein Gesicht war grau geworden …

„Grüßen Sie sie … auf Nimmerwiedersehen!“ – er lallte es mehr, und dann lief er hinüber zu den gesattelten Pferden der gelben Strolche, schwang sich auf das eine hinauf, galoppierte davon, als ob der Satan hinter ihm her wäre.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen, – ich hatte das Verhalten dieses Mannes nie verstanden … Und jetzt?!

… Gupa tauchte neben mir auf, in seiner Begleitung war ein kleiner, engbrüstiger Chinese mit Hornbrille, dessen verkniffenes Gesicht in eine Studierstube, nicht hier auf diesen blutgetränkten Boden paßte.

Der Bebrillte raunte mir hastig ins Ohr:

„Ich bin Tschu-Wang elf … Wenn ich nur geahnt hätte, weshalb die Soldaten niemand an die Gefangenen heranließen …!!! Auch du bist ein Tschu-Wang, Bruder … Wohin sollen die Waffen geschafft werden?“

Im Augenblick waren mir sowohl meine angemaßte Würde als Tschu-Wang als auch die Waffen und alles Übrige höchst gleichgültig.

Ich beobachtete Wera. Sie stieg mit Steenpools Hilfe den Abhang hinab …

„Laß sie, wo sie sind,“ sagte ich zu dem bebrillten Bruder …

Ich eilte der Frau entgegen, die eines erbärmlichen Schwächlings wegen so viele Jahre Mühsale und Gefahren auf sich genommen hatte.

 

14. Kapitel.

Sankt Antonius – – Mönch!

… Wir hatten die Jagd auf Iwan Zubanoff sehr bald als zwecklos aufgegeben. Er war in die Berge entkommen, wir hatten uns auch nur auf Weras Bitten hin dazu verstanden, einem Manne zu folgen, der vor seinem Weibe floh.

Langsam ritten wir drei und mein braver Hund wieder durch schäumende Bäche und finstere Täler abwärts dem Dorfe zu.

Wera sprach kein Wort, Steenpool murmelte allerhand fatale Unliebenswürdigkeiten, die sich auf Zubanoff bezogen, – und ich – – ich war Egoist genug, mit dieser Wendung der Dinge durchaus einverstanden zu sein.

Als wir an die Stätte gelangten, wo noch immer die Holzfeuer brannten, waren die Leichen der Banditen bereits verschwunden, – verschwunden waren auch all die Gaffer, die nicht zum Wang gehörten, und auf einem flachen Felsen, den man mit kostbaren Perlenstoffen behängt hatte, lagen Gowin und Chedee, die linken Arme am Leibe, die rechten Hände auf dem Herzen.

Man hatte ihnen die blutgetränkten Kleidungsstücke ausgezogen und die Leichen in gelbe Seide gehüllt. Unter den Köpfen lagen buntgestickte Kissen und so starrten Gowin und Chedee mit gebrochenen Augen zum verblassenden Nachthimmel empor.

Vor diesem provisorischen Katafalk hockten die Wangs, Chinesen und Mongolen, die Waffen im Schoße. Und vor diesem Halbkreis wieder saß mit untergeschlagenen Beinen der kleine bebrillte Tschu-Wang und brannte Räucherstäbchen zu Ehren der Toten ab.

Die stille Versammlung nahm von uns keine Notiz. Nur Gupa kam herbei und sagte leise:

„Die Wangs und Tschu-Wang elf erwarten deine Befehle, Tschu-Wang dreizehn …“

Ich glaubte nicht richtig verstanden zu haben, – ich hielt es nunmehr auch für meine Pflicht, diese Lüge zu zerstören.

„Gupa“ – ich zog ihn beiseite, „ich möchte dich nicht länger darüber im unklaren lassen, daß ich mit dem Wang-Bunde nichts zu tun habe …“

Gupa lächelt unmerklich. Seine Augen ruhten trotzdem mit gewisser Ehrfurcht auf meinem schweißigen, zerschrammten Gesicht.

„Gowin,“ und er betont jedes Wort, „Gowin, der große Wassili Charbinow, hat in seinen Kleidern eine Schrift gehabt, und die Schrift bestimmt dich zu seinem Nachfolger. Du bist der dreizehnte Tschu-Wang, du bist der Herr …“

Er verneigt sich tief und deutet auf den kleinen Gelehrten. „Tschu-Wang elf hat die Schrift … Er ist ein Doktor, wie es Wang-Ho, der Gründer, war, und er kennt alle Länder und Städte, er kennt alle Völker, und doch ist er weniger als du, Bruder Abelsen.“

„Es ist gut,“ – ich schreite zu dem Elften hinüber, der sich sofort erhebt und mir feierlich ein gefaltetes, blutiges Papier überreicht.

Die Leuchtkraft der Holzstöße genügt. Ich lese das, was Gowin mit seinem Herzblut getränkt hat.

„Freund Olaf, ich zweifele nicht daran, daß ihr uns finden werdet. Sollte mir etwas zustoßen, so bestimme ich, daß Du mein Nachfolger im Wang wirst, und ich bitte Dich, dieses mein Vermächtnis nicht auszuschlagen. Gleichzeitig hinterlasse ich Dir mein gesamtes Vermögen, das bei verschiedenen Banken deponiert ist, die angewiesen sind, auf ein bestimmtes Geheimzeichen und ein Stichwort, die Du unter diesem Text siehst, meine Depositen dem Betreffenden auszuhändigen. – Du bist ohne Heimat, Du verzettelst Deine Kräfte um nichts, – hier hast Du eine Aufgabe, die Dein Leben ausfüllen wird. Europa verstieß Dich, Asien öffnet Dir seine Arme. Dir winkt ein Ziel, das Deiner würdig ist.

Wassili Gowin.

Vor dem Elften brannte am Boden ein kleines Feuer in einer Messingschale – wohlriechende Harze, Zedernäste …

Ich hielt das Papier über die Flammen … Es lohte auf, zerfiel in Asche.

„Du bist jetzt der dreizehnte,“ sagte ich zu dem kleinen Doktor. „Dich ernenne ich zu meinem Nachfolger …“

Und ich gab ihm den unteren Teil des Papiers, den ich in der Hand vor der Glut bewahrt hatte. „Hier – verwende Gowins Millionen für den Wang-Bund …!“

In dem faltigen klugen Gesicht zuckte kein Muskel.

„Wie du befiehlst, Bruder,“ sagte er nur, nahm den Papierstreifen, setzte sich wieder, und … ich war diese Sorge los. – –

Choto ist einer der Durchgangsorte der Karawanen, die von Urga über Chana und den Gokiol-Paß nach Charbin oder Cirin unterwegs sind. Es ist nicht der gesuchteste Durchgangsort, besitzt immerhin ein öffentliches Rasthaus, das über saubere Räume, eiserne Feldbetten und manch andere Bequemlichkeit verfügt.

Zur Zeit war es leer, und Gupa belegte dort für uns die drei besten Räume, in denen sonst nur die reichen Handelsherren und Herdenbesitzer untergebracht werden.

Wera zog sich sofort in ihr Eckgemach zurück, Steenpool und ich nahmen den Nebenraum, und Gupa trug sein Sattelzeug und geringes Gepäck in den dritten. Ich war geistig und körperlich vollkommen erledigt, und auch dem doch weit weniger interessierten Steenpool ging es genau so. Wir warfen uns auf die Betten, – wenn ich die Augen schloß, drehte sich alles um mich her im tollen Wirbel, ich selbst mit, und ich schien kreisend in einen Abgrund zu versinken. Durch die nur mit Ölpapier beklebten Fenster sah ich die Tageshelle zunehmen … Was ich erlebt hatte, war wie etwas Spukhaft-Unwirkliches, die letzten Stunden waren dahingerast mit ihrer Überfülle von Geschehen wie tolle Rosse …

Und jetzt – – war Totenstille ringsum …

Diese Stille peinigte. Die überreizten Nerven verlangten nach einem allmählichen Abflauen dieser wehmütigen Szenen, die mich aufgepeitscht hatten bis zum Äußersten.

Gupa schlich herein und trug ein Teebrett mit winzigen Tassen. Es war nicht Tee, es war Teeextrakt, und vielleicht werde ich nie mehr diesen echten Kanton-Tee trinken, der mit Handschuhen gepflückt wird, den man behandelt wie das zarteste Kindlein.

Steenpool trank … Dann knipste sein Zigarettenetui. „Abelsen, ich werde wieder Mensch!“

Er stützte den Kopf in die Linke.

„Abelsen, was soll nun eigentlich werden – ich meine mit der Fürstin?“ Er rieb ein Zündholz an … „Sie ist arm, auch Sie sind arm, – ich könnte für euch beide die Passage bis Europa bezahlen, aber …“

„Ich danke verbindlichst, Steenpool … Europa sieht mich nicht wieder: Sie wissen: Der Steckbrief – – und auch sonst … – doch Wera …?!“

Ich war ratlos.

„Sie müßte nach Schweden zurück, oder ich beschaffe ihr in London eine Stellung,“ sagte Steenpool nachdenklich. „Irgend etwas muß doch geschehen …“

Gupa füllte uns wieder die Täßchen. Er meinte bescheiden: „Dein Freund Chi Api in San Franzisko ist auch ein Wang,“ – dabei schaute er mich prüfend an. „Chi Api ist reich, und …“

Ich winkte ab.

„Wir werden wohl zunächst Weras Entschlüsse hören müssen …“

Steenpool lachte ärgerlich auf. „Sie wird diesem großen Fragezeichen von Gatten doch hoffentlich nicht noch weiter nachrennen?! Das wäre ja geradezu Wahnsinn und … Herabwürdigung vor sich selbst!“

Die Verbindungstür hatte nur zwei dicke Filzvorhänge. Wir hatten leise gesprochen, aber Wera meldete sich trotzdem, drückte die beiden Decken beiseite und lehnte sich an die Türfüllung. Sie war erschreckend bleich, aber ihre Stimme klang kühl und beherrscht.

„Olaf, würden Sie auf die Lösung der Frage verzichten, weshalb Iwan Zubanoff mich so behandelt?!“

„Nein!“

„Nun also …!“

„Gestatten Sie, Wera,“ sagte ich rasch, „mein Nein hat Einschränkungen. Iwan, der zu Pferde ins Chingan-Gebirge flieht, ist nach menschlichem Ermessen nicht mehr aufzufinden. Der Fürst trug mir auf, Sie … auf Nimmerwiedersehen zu grüßen. Damit hat er sich von Ihnen losgesagt. Wenn ich nun eine Möglichkeit wüßte, ihn irgendwie zur Rede zu stellen, – ich täte es. Es gibt jedoch keine Möglichkeit, es sei denn, daß der bebrillte kleine Doktor ihn so genau kannte, daß der uns zu irgendeinem erfolgversprechenden Schritt raten könnte. Wir werden ihn fragen.“

Gupa hörte alles mit an. „Fürstin, er weiß etwas, der Doktor … Ich darf seinen Namen nicht nennen, denn auf seinen Kopf ist ein hoher Preis gesetzt, und er lebt zumeist unter den „armen Leuten“ der Wüste.“ Gupa flüsterte nur. „Wir müssen hier überhaupt sehr vorsichtig sein, denn die Bewohner von Choto sind zumeist Anhänger des Rebellengenerals und die Wangs unter ihnen haben ihre Zugehörigkeit zum Bunde bisher streng geheim gehalten. Das Dorf ist nun in zwei Parteien gespalten, und die uns feindlich Gesinnten befinden sich in der Übermacht. Ich wünschte, wir wären erst wieder in der offenen Steppe. Dieses Tal ist eine Mausefalle.“

Des riesigen Mongolen Warnung war nur zu berechtigt. – Steenpool nickte mir verstohlen zu, wir verstanden uns, wir hatten beide bereits mit Feindseligkeiten der völlig unzuverlässigen, recht gemischten Bevölkerung gerechnet.

Es gab eine Zeit, in der die Mongolen, insbesondere jene Nomadenvölker, die der große Eroberer Dschingis Chan bis tief nach Indien hineingeführt hatte, ein überaus tapferer, ehrlicher Menschenschlag waren. Jene Zeiten sind vorüber. Heute ist der durch die Zivilisation angekränkelte Nomade ein feiger, hinterlistiger, geldgieriger Schleicher geworden, – leicht bestechlich, hauptsächlich verdorben durch chinesische Einflüsse, weniger durch das Geld Rußlands, Englands und Japans, obwohl auch diese Großmächte ein Interesse daran haben, die Steppenvölker gegeneinander aufzuwiegeln und jede Einigkeit zu hintertreiben.

Die Fürstin hatte während Gupas eindringlichen Worten den Kopf gesenkt und schien noch bedrückter als vorhin. Als sie nun mich anblickte, sah ich ein steinernes, kalt-zielbewußtes Gesicht.

„Unter diesen Umständen,“ sagte sie festen Tones, „müssen meine Interessen zurücktreten. Verlassen wir das Dorf – sofort …“

Steenpool hatte durch einen der Risse des Ölpapiers der Fenster ins Freie gespäht. Das Rasthaus lag etwa in der Mitte des Dorfes, aber mehr nach der südlichen Talwand zu und dem Choto-See am nächsten. Bis zum Ufer waren es nur wenige Schritte, und als wir hierher kamen, hatte ich auf dem Wasser große Flöße von langen Fichten liegen sehen, die im Gebirge gefällt und über eine Rutschbahn ins Tal hinabgeschafft sein mußten.

Steenpool drehte sich uns langsam wieder zu.

„Es ist zu spät,“ meinte er achselzuckend und holte seine Pistole hervor. „Drüben an der Talwand erkenne ich bewaffnete Leute, und der Weg zum Dorfe ist auch besetzt. Wir sind eingekreist.“

„Und wir haben uns wie die Narren benommen!“ entfuhr es mir. „Wir hätten unbedingt mit dieser Wendung der Dinge rechnen müssen!“

In demselben Augenblick taten mir diese Sätze, die Wera nur auf sich beziehen konnte, wieder leid. Ihre Augen glitten mit einem Ausdruck peinvollen Erschreckens über mein gereiztes Gesicht.

„Ich bin schuld daran,“ sagte sie mit einer schwerfälligen Kopfbewegung nach den Fenstern hin. „Wir haben kostbare Stunden durch die nutzlose Jagd auf den Fürsten vergeudet … Ich werde Ihnen, meine Freunde, nicht länger lästig fallen. Mein Leben ist ohnedies zerbrochen … Ich werde …“

Was sie beabsichtigte, hätte ich nie geduldet, – sie sprach es nicht aus, denn das Geknatter von Schüssen und gellende Schreie trieben uns unter das Vordach des Hauses. Im Morgengrauen sahen wir den kleinen Doktor mit einer Schar Wangs – mehr als vierzehn waren es nicht mehr – über einen Hügel auf uns zustürmen.

Ich konnte gerade Wera noch hinter die Haustür zurückstoßen, als auch schon hinter der nächsten Steinhürde neue Schüsse aufblitzten. Der Doktor und vier Wangs waren die einzigen, die uns erreichten. Wir hatten draußen Deckung genommen, meine Repetierbüchse spie Kugel um Kugel, Steenpool feuerte mit seiner Pistole, und Gupa war mit der Fürstin nach der Wasserseite des Rasthauses geeilt, um dort die Angreifer abzuwehren.

Ich schmetterte dann die Holztür zu, schob den Riegel vor … Wir waren vorläufig in Sicherheit, denn die feige Bande unternahm nichts weiter, und ihre Patronenvergeudung schadete nur den Lehmwänden und dem Ölpapier der Fenster.

Wir verteilten uns kriechend über die Räume, wir stießen in das Ölpapier große Löcher, richteten die Bettgestelle vor den Fenstern auf und benutzten auch die dicken Filzvorhänge als Kugelfang.

Absichtlich gesellte ich mich Wera und unserem braven Gupa bei, – wir hatten im ganzen sieben Büchsen und fünf Pistolen zur Verfügung, leider jedoch nur wenig Munition. Wera hatte wacker geholfen, das Haus in Verteidigungszustand zu setzen, jetzt kniete sie neben mir, und die Röte ihrer Wangen und die harten Falten um den Mund mahnten mich an meine unüberlegten Äußerungen.

„Sind Sie mir sehr böse, Wera?“ – ich tastete nach ihrer Hand und sie erwiderte den Druck meiner Finger.

„Nein, Olaf … Ihnen nicht, mir selbst!“ sagte sie gedämpft. „Ich mache mir die bittersten Vorwürfe, weil ich …“

„Lassen Sie das doch …“ – meine Aufmerksamkeit galt plötzlich nur den großen Holzflößen am Seeufer.

Ich konnte von meinem Platze aus auch die Talwand überblicken, – die Gegner dort waren verschwunden … Offenbar hatte die ganze Bande sich an der Vorderseite des Hauses versammelt, denn nur dort knallte es noch zuweilen, und Steenpools frohlockende Stimme klang schrill durch die Räume – so recht der Kürbis – Steenpool war es, der uns zubrüllte:

„Die dachten, ich könnte nur mit Robbenkeulen werfen, – sie reißen aus, Abelsen! Nicht mal hinter der Hürde bleiben sie liegen, die Kerle!“

Nochmals drei – vier Schüsse …

Dann stieß Gupa mich an …

„Die Flöße . .!!“

Er hatte genau denselben Gedanken wie ich …

Was dann folgte, war Spiel ums Leben, war Wettrennen mit dem Tode …

Wir alle brachen durch die Hintertür nach dem nahen See hin eilenden Laufes durch, – Gupa zerschnitt die Weidenruten, wir wälzten ein paar Stämme des größten Floßes als Brustwehr übereinander, wir wurden aus den Häusern und Jurten mit Kugeln überschüttet, wir stießen vom Ufer ab, – der Riese Gupa allein genügte, das plumpe Floß vorwärtszutreiben … Mit einer Kaltblütigkeit, die ohnegleichen war, handhabte er die Stoßstange, – er mußte aufrecht stehen, er schrie mich grob an, als ich ihm helfen wollte …

Nach Westen zu reichte der See bis dicht an die Talwand, – das Gelände war flach, und jeder Versuch der Feinde, aus den Häusern hervorzubrechen, kostete ein paar gesunde Knochen – nicht bei uns! Steenpool war hier unvergleichlich, Wera war eine Schützin, die alle Anerkennung verdiente, und ich …?! Nun, ich hatte auf schnelleres Wild schon gefeuert, und der Doktor und die vier Wangs spielten klugerweise nur die Büchsenspanner und reichten uns die Gewehre zu …

Gupa aber – Gupa allein verdankten wir unser Leben, unser Entkommen … Keiner von uns besaß seine Bärenkräfte, keiner hätte das Floß so dirigiert wie er …

Seine linke Schulter blutete, seine Ärmel zeigten Kugellöcher, – – und dann stieß das Floß gegen das flache Ufer …

Wieder schnellten wir wie die Panther davon, hinein in die Büsche, hinein in die Felsen des Abhangs, arbeiteten uns empor …

In solchen Minuten verlieren sich die Einzelheiten des Geschehens, – erst später besinnt man sich auf dies und jenes, das als besondere Episode die Gedanken für Sekunden ablenkte.

Ich half Wera empor, neben uns klatschten Kugeln gegen das Gestein, kleinere Bienen summten unaufhörlich vorüber, zerstiebten, Bleisplitter ritzten uns die Gesichter, – ein letzter Stoß, und Wera rollte über den Rand des Abhangs ins Gras, ich kroch hinterdrein, – Gupa trug jetzt den kleinen Doktor, wir rannten … rannten … drüben war ein Zaun, dahinter an die dreißig struppige Gäule.

Hier deckte uns der Abhang. Wir konnten wenigstens etwas Atem schöpfen. Zu meinem Schreck sah ich, daß der arme bebrillte Doktor, den der tapfere Gupa in das Gras gelegt hatte, ohne Bewußtsein war. Aus dem halb geöffneten Munde rannen ihm zwei blasige Blutfäden zum Kinn herab.

„Schuß durch die Lunge,“ sagte Gupa nur. Menschenleben war hier billig. Und er begann sofort mit Hilfe der Wangs aus Riemen und Stricken für die Pferde Trensen zu knoten. Sättel hatten wir nicht. Aber in dem erbärmlichen Winterstall der Gäule hingen verrottete Filzdecken, – daraus schnitten wir Ersatzsättel zurecht. Alles ging wie im Fluge, mußte wie im Fluge gehen, denn jeden Moment konnten die Dorfbewohner auftauchen.

Die Wangs, die sich gerettet hatten, waren sämtlich Halbchinesen, Mischlinge, und nur vorübergehend hier in Choto anwesend. Sie hatten, wie sie nun offen zugaben, eine Karawane mit Waffenkisten von der Amurstadt Chailar hierher begleitet und die Kisten vorläufig drüben im Gebirge versteckt. Die anderen Wangs, die der Totenfeier für Gowin und Chedee beigewohnt hatten, waren hinterrücks zusammengeschossen worden.

Wir brachen auf. Den totwunden Doktor nahm Gupa vor sich in den Sattel. Unser Ziel waren die nahen Ausläufer des Chingan-Gebirges. Wir trabten davon, – die ersten Feinde erschienen beritten hinter uns, als wir bereits die erste Felsschlucht erreicht hatten.

Mongolengäule klettern wie die Katzen. Wir wählten einen flachen Gießbach zum Anstieg, der unsere Fährten unsichtbar machte und durch einen Hochwald sich schlängelte. Einer der Wangs machte den Führer, wir wollten das geheime Waffenlager aufsuchen und unsere Munition ergänzen. Die Gefahr für uns war vorüber, unser Vorsprung in diesem bergigen, unübersichtlichen Gelände genügte, die Verfolger abzuschütteln.

Nach einer Stunde bog der Führer in ein schmales, düsteres Hochtal ein. Die Wände waren mit riesigen Tannen bestanden, im Hintergrunde gab es verschiedene Windbrüche, riesige Haufen entwurzelter Bäume, die jedes Vordringen unmöglich zu machen schienen. Trotzdem gab es versteckte Durchschlüpfe, und in einem dritten Windbruch fanden wir unter Steingeröll die gesuchten Kisten, fanden aber auch deutliche Anzeichen, daß kurz vorher jemand zwei der Kisten geöffnet hatte. Es fehlten eine Büchse, zwei Pistolen und fünf Pakete mit Patronen. Wer dieser Mann gewesen, der sich hier bewaffnet hatte, brauchte nicht weiter erörtert zu werden. Zubanoff hatte als dreizehnter Tschu dieses oft benutzte Versteck gekannt, – er hatte für seine weitere Flucht sich mit Schußwaffen versorgt.

Der kleine Doktor, der als elfter Tschu ein Geächteter war und nun mit dem Tode rang, kam nur noch einmal halb zum Bewußtsein. Wir saßen um sein Leidenslager herum: Wera, Steenpool und ich. Wir sahen, daß er die Augen mühsam öffnete. Sein Blick suchte Wera, und dann wollte er sprechen. Ein Blutstrom schoß ihm aus dem Munde, – mit allerletzter Anstrengung stieß er die vom Sprudeln des Lebenssaftes kaum verständlich klingenden Worte hervor:

„Er … Sankt Antonius … Mönch …“

Mehr verstanden wir nicht.

Der kleine Doktor war tot.

In der Nähe begruben wir ihn. Gupa hielt mit den vier Halbchinesen die Totengebete am Grabe, verbrannte harzige Äste, – wir Europäer standen mit gefalteten Händen dabei.

Meine Gedanken waren bei des Toten letzten unklaren Äußerungen, die doch zweifellos für Wera ein Wink hatten sein sollen, was Zubanoff fernerhin beabsichtigte.

Was war dies?!

Was bedeutete Sankt Antonius, was sollte „Mönch“ besagen?!

Nachher rieten Steenpool und ich hin und her, während die anderen eine Mahlzeit am Feuer bereiteten. Wera zeigte keinerlei Teilnahme. Sie hatte Gupas Schulterstreifschuß verbunden, so gut es ging, – nun saß sie abwesenden Blickes da und ließ uns beide dem Rätsel dieses „Sankt Antonius“ nachspüren.

Ich hatte an den Eingang des Tales einen der Wangs als Wache aufgestellt. Stunden vergingen. Die Verfolger hatten unsere Fährte verloren, und wir streckten uns zum Schlafe hin.

Als ich erwachte, war es dunkel geworden. Das Lagerfeuer glühte nur noch, und die trockenen langen Moospolster, die wir anstelle von Decken benutzten, waren kein Schutz gegen die empfindliche Kälte der Berge. Ich war derart durchgefroren, daß ich die Gefährten weckte, – wir hätten uns unweigerlich eine ernste Erkrankung zugezogen, denn die Kälte würde noch zunehmen. – Steenpool erlegte durch Steinwürfe ein Bergschaf, – zu schießen wagten wir nicht, das Feuer loderte hoch, und die zweite Mahlzeit hier im Chingan-Gebirge wurde durch das Jaulen einiger Tiger begleitet, die in der Nähe umherstrichen. – Gupa war verschwunden. Er kehrte erst im Morgengrauen zurück, beladen mit Decken, Sätteln und einem Sack Hirse sowie mehreren Platten Ziegeltee und einem Kochtopf. Er war in einem Mongolenlager gewesen und hatte die Sachen gegen Steenpools Pfundnoten eingehandelt.

Unsere gemeinsame Beratung endete mit dem Ergebnis, daß die vier Wangs nach Osten zu in ihr Heimatdorf bei Kirin zurückwollten, wir anderen gedachten uns nordwärts zu wenden und am Amur ein Fahrzeug zu mieten, das uns wieder zur Küste brächte. Steenpool verfügte über reichlich Geld, und, wie ich schon betonte, die Melodie dieser Noten singt jeder gern, wir würden uns schon irgendwie durchschlagen.

 

15. Kapitel.

Wera wußte es …

… Der Pater Athomasius ruft mich zum Mittagessen.

Mir ist der Kopf heiß geworden über meiner Schreiberei. Ich habe sehr flott geschrieben, aber ich habe dabei so manche Einzelheit übergangen, ich habe Freund Wrangel gänzlich vergessen, der sich auf dem Floß nicht minder tapfer benahm wie Gupa und die Bleibienchen anbellte und am Grabe des Doktors kläglich heulte. So allerlei ist übersehen worden, was mir erst einfiel, als ich nach dem Mittagessen – ich pflegte mit zwei Arifs, das sind vornehme, schriftkundige Mönche, die Mahlzeit einzunehmen, denn in St. Antonius gibt es keine gemeinsamen Mahlzeiten – die Seiten wieder überflog, die über Gowins und Chedees Tod berichten. Was aus deren Leichen geworden ist, weiß ich nicht.

Ich rauche und sinne vor mich hin …

Wollte ich unsere Fahrt den Amur hinab schildern, würde ich zu viel Papier und Tinte verschwenden. Es waren eintönige Tage. Wera hielt sich von uns Männern fern, sie war seelisch gebrochen, und ihr Gesicht erschien hager und gealtert.

Erst als wir in Chabarowsk bei einem Freunde Gupas Quartier fanden und Steenpool die Fahrscheine bis Wladiwostok heimlich „hintenrum“ besorgt hatte, fiel die Entscheidung über unseren ferneren Weg. Wir hatten zunächst bis Hongkong reisen wollen, wo wir unter den englischen Kanonen in Sicherheit waren.

Ja – es war wirklich einer jener Zufälle, die nun einmal im Leben so vieler Menschen die Hauptrolle spielen, – ein Zufall, daß wir abends im Garten des Gastfreundes Gupas, eines seit vielen Jahren hier ansässigen Armeniers und Händlers (er hatte sicherlich gute Beziehungen zu den „armen Leuten“) in Abwesenheit Weras über „Sankt Antonius“ und den „Mönch“ sprachen, also über des Doktors letzte Worte.

Der Armenier, ein älterer Mann mit listigen Zügen, horchte auf.

„War der Fürst etwa ein Copte[4]?“ fragte er. „Ich meine, ein coptischer Christ, die in Ägypten mit am zahlreichsten vertreten sind, aber sogar in Rußland viele kleinen Gemeinden besaßen, in Armenien noch mehr: Ich bin selbst Copte!“

Wir wußten noch immer nicht, wo er eigentlich mit diesen Bemerkungen hinauswollte.

Dieser alte Gauner, zweifellos noch schlauer als Chinesen und Japaner und nur deshalb zu großem Reichtum gelangt, den er jedoch wohlweislich hinter einem sehr bescheidenen Lebenszuschnitt verbarg, – dieser ewig lächelnde Daseinskünstler nach asiatischem Muster fügte vertraulich hinzu: „Wir Copten sind alle sehr fanatische Gläubige wie die meisten Sektierer, wir sind anderseits freigebig und unterstützen die Stätten unserer religiösen Tradition nach Kräften …“

Er sog an seiner Zigarre, blickte über den zierlichen Garten hin, schaute sich vorsichtig um und fügte hinzu:

„Auf ägyptischem Gebiet nach dem Roten Meere zu liegen zwei Klöster, die ältesten der Christenheit, im ganzen wenig bekannt. Das eine, das allerälteste, nennen wir das Herz der Welt, weil es eben der älteste Sitz christlicher Frömmigkeit ist …“

Jetzt wußte ich Bescheid.

„St. Antonius!“ rief ich leise. „Ich habe von St. Antonius und St. Paulus gehört, – ich war einmal in Kairo, und ein Bekannter riet mir zu einem Besuch dieser Gebirgsklöster, da sich dort noch uralte technische Einrichtungen befänden, die mich als Ingenieur interessieren dürften. Daß ich auch nicht früher daran gedacht habe!! Vielleicht würde mir das Kloster St. Antonius doch mit der Zeit eingefallen sein, vielleicht würde auch ich schließlich dieselben Gedankengänge gefunden haben wie Sie! – Der Fürst muß Copte sein, und der Doktor, der nun droben im Chingan-Gebirge begraben liegt, war in dieser Beziehung gut unterrichtet. Zubanoff will nach St. Antonius und dort als Mönch sein Leben beschließen.“

Der Armenier nickte. „Es gibt keine andere Deutung. – Sie erzählten mir, die Fürstin habe in Angora geheiratet. Auch dort hausen Copten. Fragen Sie sie, ob ein coptischer Priester ihre Ehe eingesegnet hat …“

„Davon hat sie nie etwas erwähnt,“ meinte ich etwas zerstreut.

Wir Menschen sind nun einmal schamlose Egoisten, und mir lag nichts daran, daß Wera ihren Gatten wiederfände.

Steenpool war besser unterrichtet.

„Sie mag nichts davon erwähnt haben, aber – sie ist auch kirchlich getraut worden, – ich war in Angora, ich begnüge mich nie mit halben Ermittlungen. Sie …!! Es stimmt schon, Zubanoff ist Copte, und Frau Wera mußte eigentlich von selbst schon längst an das Kloster Sankt Antonius gedacht haben, denn es wäre seltsam, wenn der Fürst während der Brautzeit ihr gegenüber niemals diese beiden uralten Stätten der Sekte genannt haben sollte. Jedem Copten sind sie heilig, mehr noch, jeder Copte pflegt gerade in dem entlegenen St. Antonius etwa dasselbe zu sehen, wie dies die römischen Katholiken im Vatikan sehen: Den Mittelpunkt ihres Glaubens, – – das Herz der Welt! – Da – in Weras Zimmer brennt Licht, Abelsen … Ihr Schatten gleitet über die Fenstervorhänge, sie schreitet wieder ruhelos auf und ab, und was hinter ihrer schönen Stirn vorgeht, weiß nur sie selbst. Sie kommen ihr vielleicht ungelegen, Abelsen … Vielleicht deshalb, weil sie sich nur in der Absicht von uns fern hält, weil …“

… Er hüstelte …

„… weil sie eben bereits genau ihr Reiseziel kennt …“

Gupa sagte mit Nachdruck: „Sie kennt ihr Ziel, Mr. Steenpool, denn sie ließ sich heute von mir ein englisches Reisehandbuch über Ägypten besorgen, – ich sollte darüber schweigen, bat sie, und ich habe in dieser elenden Stadt nur eine veraltete Ausgabe von Cooks Orientfahrten aufgetrieben, in der ein Abschnitt über Ägypten handelt.“

„Nun also …“ – Steenpools Lächeln reizte mich. Er blickte mich an, und ich spürte, daß er genau wußte, wie es um mich stand. „Gehen Sie, Olaf … Und lassen Sie sich durch die Waffen einer Frau nicht entwaffnen … Die berühmtesten Spioninnen des Weltkrieges waren Frauen, und natürlich blendend schöne Frauen …“

„Das gehört wohl kaum hierher, Steenpool!“ Und ich schritt durch den mehr im japanischen Geschmack angelegten Garten über hellen Kies und stieg die Treppe zur Veranda hinan. Meine Füße widerstrebten dem Willen des Hirns, und mein Herz bangte vor dieser Entscheidung. – Wie würde ich mich mit Wera dieserhalb ohne neue Entfremdung auseinandersetzen?!

Die Tür ihres Zimmers ging auf die breite Veranda hinaus.

Ich klopfte an …

Sie hatte sich eingeschlossen, sie öffnete erst nach geraumer Zeit, sie stand im Lichte der großen Deckenlampe in derselben kühl-ablehnenden Haltung da wie all diese Tage …

„Ich muß Sie sprechen, Wera.“

Sie schrak sichtlich zusammen. Ich trat ein, drückte die Tür zu und meinte: „Haben Sie im Cook geblättert, haben Sie ihn vor mir versteckt?!“ Es klang sehr bitter, und sie errötete und lächelte wehmütig.

„Ich bin sehr undankbar, Olaf …!“

Sie deutete auf den einen Rohrsessel.

„Setzen Sie sich, mein Freund …“ Ihre Blicke forschten in meinen nicht eben freundlichen Zügen.

Sie wurde unsicher. „Hat also Gupa doch geplaudert …?!“

Ich griff nach ihrer Hand.

„Wera, Sie wollten uns heimlich verlassen!“

Sie erschrak noch mehr.

„Wera, Sie wollten allein nach St. Antonius … Zubanoff ist Copte, und die …“

Sie weinte laut auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

Aber solche echt weiblichen Anfälle von schwächlichen Tränenergüssen dauerten bei ihr nie lange an.

Sie trocknete die Augen, und eine zarte Blässe breitete sich über ihr Antlitz, während ihr Mund die charakteristischen Falten eisernen Willens bekam.

„Olaf, seit jener Nacht, als der arme kleine Doktor starb, habe ich nur einen Wunsch gehabt: Der Doktor hätte nie diese Worte gelallt – nie! Ohne diese seine letzten Äußerungen wäre ich … frei gewesen!“

Ich verstand sie.

In dem Moment hätte ich sie an mich reißen mögen …

„Olaf, ja ich wollte heimlich nach dem Kloster. Nun sind Sie doch hinter das Geheimnis dieser allerletzten Worte eines Sterbenden gekommen, der nicht mehr die Kraft fand, mehr zu sagen. Ich selbst kam erst auf die wahre Deutung, als wir den Amur hinabfuhren und ich eines nachts schlaflos da lag und mir die Zeit vor vier Jahren – oder sind es fünf?! – vergegenwärtigte. Damals war ich verlobt … Zubanoff war mein Abgott … Er erzählte mir gern von seiner Familie, er lebte gern in verblaßten Erinnerungen, und … so erfuhr ich, daß er Copte war, christlicher Sektierer. In jener Nacht auf dem Flusse gedachte ich seiner begeisterten Schilderung der ältesten Kulturstätten der Copten. Als Jüngling war er, gleichsam ein Pilger, dort gewesen … Er hatte geradezu geschwärmt von der Weltabgeschiedenheit des uralten Klosters, – alle Russen sind romantisch veranlagt, und in seinem Wesen trat der Hang zur Träumerei besonders stark hervor. Er war ja auch halber Asiate … Die Steppenvölker pflegen schon durch die Einsamkeit der unendlichen Weiten zum Grübeln zu neigen. Vieles trug dazu bei, sein unbewußtes Sehnen nach einem Leben in gänzlicher Abgeschiedenheit zu steigern. – In jener Nacht, in der auch meine Brautzeit mit ihrer rosenroten Seligkeit wie etwas gänzlich Unwirkliches an meinem Geiste vorüberglitt, so, als hätte dies jemand anders erlebt und nicht ich, fühlte ich, wie fremd er mir geworden und wie heftig dennoch mein Sehnen war, ihn zur Rede zu stellen und Aufklärung zu fordern, weshalb er mich so lange ohne Nachricht ließ und vor mir floh …! Ich muß Klarheit haben! – Sollte ich etwa von Ihnen, Olaf, auch das Opfer noch fordern, mich nach St. Antonius zu begleiten?!“

„Ich werde Sie begleiten, Wera …“ sagte ich bedrückt.

„Nein, nein …!“ Sie lehnte sich an mich. „Olaf, das … soll nicht sein! Ich habe Ihnen … nichts zu geben als Dank für Ihre … Treue.“

Sie wollte „Liebe“ sagen …

„Nichts, Olaf …! Vielleicht könnte ich Ihnen etwas geben, wenn Zubanoff … niemals in dem Kloster erschiene … – Würden wir ihn dort aber finden, würde er nach uns eintreffen, würde es ein Wiedersehen geben, dann …“ – sie ließ sich in den Sessel fallen und starrte vor sich hin – „dann würde ich … ich … ich weiß nicht, was ich tun würde, und … Ihre Anwesenheit, Olaf, würde alles nur noch … schlimmer machen …“

Sie brauchte nicht deutlicher zu werden.

Sie tat mir unendlich leid, und ich konnte sie durchaus verstehen. Sie mußte Klarheit schaffen zwischen sich und Zubanoff.

„Steenpool,“ sagte ich zart, „Steenpool würde sich niemals abschütteln lassen, Wera … Er ist gezwungen, seinen Vorgesetzten einen lückenlosen Bericht über seine geheime Mission zu liefern, und die Lücke „Iwan Zubanoff“ füllt er bestimmt aus. Wir reisen zusammen, Wera …“

Dann ließ ich sie allein.

Es war für uns beide besser. –

Wir reisten schneller ab, als wir es gedacht hatten.

Mitten in der Nacht weckte uns der Armenier.

„Sie müssen fliehen …“ – er war sehr aufgeregt „Ich habe Nachricht erhalten, daß man Sie alle hier in aller Stille gefangen nehmen und wegschaffen will … Diesmal liegen die Dinge umgekehrt: Die Wangs wollen Sie, weil Sie zu viel wissen, nicht aus der Mandschurei herauslassen …“

Er hatte ein Lastauto bereit, – in wilder Hast mußten wir uns unter halbgefüllten Säcken verbergen, – – es war der letzte abenteuerliche Akkord dieser seltsamen Sinfonie von Erlebnissen … Das Auto ratterte durch die Nacht über fürchterliche Wege bis zu einer Bahnstation … Als der Nachtzug nach Wladiwostok einlief, schlüpften wir in ein Abteil, in dem ein vertrauter Diener des Armeniers uns erwartete.

Vier Tage darauf befanden wir uns an Bord eines chinesischen Küstendampfers …

Unser Ziel war St. Antonius. Steenpool hatte das nötige Geld, uns bis Hongkong auf einem englischen Luxussteamer unterzubringen. Da erst waren wir wirklich in Sicherheit.

Wir sahen im Morgengrauen die felsigen Terrassengestade der Insel Hongkong hinter uns verschwinden … Wera stand neben mir an der Reling … Dschunken, alt wie Methusalem zogen mit prallen Segeln vorüber …

Asien, Ostasien entschwand …

Die Wangs mögen in geringer Zahl noch jetzt zusammenhalten. Die chinesischen Generale haben neun von den Tschu-Wangs ermittelt und geköpft, las ich in einem englischen Blatt. Die phantastische Idee eines Mongolenreiches mit Einschluß Japans dürfte kaum mehr in alter Größe aufleben. Aus dem Reste der Wangs wird wohl ein Bund der „armen Leute“ geworden sein: Banditen, Räuber, Flußpiraten!

„Für Europa ist dies nur günstig,“ meinte Steenpool in Kairo im Prachtgarten des Mena-House-Hotel und nahm einen neuen Strohhalm für seine Eislimonade und ließ seinen Brillantring blitzen.

Gupa, im weißen tadellosen Tropenanzug vollkommen Gentleman, blickte Steenpool nachdenklich an. „Ich war ein Wang … Es wird ein neuer Doktor Wang-Ho sich finden, und eines Tages wird Asien rein werden von fremden Spekulanten … Asien den Asiaten, Mr. Steenpool! Auch Sie werden die Entwicklung der Dinge nicht verhindern.“

Wera blickte träumerisch in die Kronen der Palmen empor … Am Nebentische lärmten amerikanische Globetrotter, und auf der hellen Straße zog ein Regiment ägyptischer Infanterie mit schmetternder Marschmusik vorüber. Ägypten war nicht mehr englische Kolonie, und die letzten Zeichen englischer Bevormundung würden auch sehr bald verschwinden.

Am nächsten Morgen ritten wir hoch zu Kamel durch die weißen Berge gen Sankt Antonius.

 

16. Kapitel.

Sie kommt …

Es war dunkel, als wir am Tore der äußeren Mauer anlangten. Der Bruder Torhüter hatte unseren Führer allerlei zu fragen, bevor er uns einließ. Die mit weißem Kalkbewurf versehenen Kirchen und Kapellen dieser großen umfriedeten Siedlung hoben sich im Mondlicht scharf von dem tiefen Olivengrün der Palmen ab, die überall den Hintergrund bildeten. Man hatte den Eindruck, als ob man eine ganze Stadt vor sich sähe.

Der Abt des Klosters empfing uns in der Vorhalle, ein Greis mit müdem, weltfernem Blick und von feierlicher Verschlossenheit.

Noch einmal flackerte hier die berauschende Wildheit großen Erlebens auf: Als der Abt jede Auskunft verweigerte, ob Fürst Zubanoff hier weile.

Steenpool sagte schroff: „Er ist hier, mein Vater! Wäre er nicht hier, würden Sie dies ohne Zögern erklärt haben. – Bitte, – kennen Sie Haftbefehl?! Wollen Sie der ägyptischen Regierung trotzen?!“

Wera rief – und auch Gupa und ich waren überrascht von diesem Schachzug Steenpools, der sich den Haftbefehl in Kairo ohne unser Wissen besorgt hatte:

„Oh – das ist heimtückisch, das ist gegen die Abmachung!“

Steenpool meinte kühl: „Ich rechnete hier mit Schwierigkeiten … – Bitte, mein Vater, zeigen Sie uns den Weg zu Zubanoffs Zelle!“

Der Greis erwiderte nur mit einer milden Handbewegung:

„Er betet … Gehen Sie in die heilige Kapelle …“

In dieser mehr als bescheidenen Kapelle, die auf so viele hunderte von Jahren zurückblickt, deren Wände seltsame verblichene Fresken zeigen, kniete in Kutte und Fellmütze vor dem Altar eine einsame Gestalt. Nur vier Kerzen brannten hier …

Hier sah Wera ihren Gatten endlich wieder. Hier rief sie ihn, den nicht einmal das Geräusch unserer Stiefel störte, mit bebender, zagender Stimme an.

Er richtete sich ganz langsam auf … Dann erkannte er sie, sein Kopf sank …

„Wera – du?!“

Was sie sprach, was sie in immer leidenschaftlicherer Anklage hervorstieß, trieb ihn vor ihr in die Knie.

Männer, vor Weibern kniend, gehören in ein Lustspiel …

Männer, die wie Kinder besinnungslos weinen, die nicht die Kraft haben, Mann zu bleiben, gehören in eine Posse …

„Sprich’, – verantworte dich!“

Das war ein Peitschenhieb, und Zubanoff besann sich auf sich selbst.

Mit einem Schlage änderte sich sein Benehmen, mit einem Schlage wurde er … wenigstens etwas Mann.

Und das, was er dann vorbrachte?!

Er hatte Wera Nachricht gesandt, er beschwor es … „Die Wangs müssen die Briefe vernichtet haben … Ich schrieb dir so oft …“

„Und in Zubanowo?!“

Er verlor wieder etwas die straffere Haltung.

„… Ich geriet mit Bix und Fattmoore in Streit … Ich tötete sie, aber in Notwehr … Mit diesen meinen blutbefleckten Händen konnte ich dir nicht gegenübertreten, Wera …“

Aus allem, was er in unserer Anwesenheit zu seiner Entschuldigung anführte, ging für mich nur das eine klar hervor: Der Wang-Bund und seine Macht als dreizehnter Tschu-Wang hatten ihm mehr gegolten als sein Weib!

Dann … schickte Wera uns drei hinaus …

Was sie mit ihm unter vier Augen verhandelt hat, – es blieb im Grunde gleichgültig.

In dieser Nacht schlief Wera dann allein in derselben Zelle, die ich jetzt bewohne. Am Morgen erst sah ich sie wieder, als die Kamele schon gesattelt waren.

Steenpool hatte den Haftbefehl zerrissen, Zubanoff trug den Reitanzug, in dem er vor zwei Tagen nach St. Antonius gekommen, Wera war sehr blaß, und ihre einzigen Worte waren:

„Sie wollen hier bleiben, sagte mir der Abt. Leben Sie wohl, Olaf … Ich hoffe mit meinem Gatten irgendwo eine neue Heimat zu finden …“

Sie sagte das ohne jede Wärme …

Sie kam mir vor wie innerlich erstorben. Sie reichte mir ihre Hand, und die war eiskalt.

Ich stand mit Gupa und Wrangel oben auf der äußeren Mauer … Wir blickten den Davonreitenden nach … Steenpool winkte immer wieder zurück … Wera nicht ein einziges Mal.

Aber den Blick, mit dem sich Zubanoff vor mir zum Abschied wortlos verbeugt hatte, – den sehe ich noch jetzt …

Die zahllosen Raben, die in den Bergwänden hausen und zur Zeit der Dattelreife die Bäume plündern, erfüllten die Luft mit ihrem höhnischen Geschrei.

Damals – nein, damals war mir Wera fremd geworden … Ich begriff weder sie noch ihren Gatten, und Gupa sagte, als die Berghöhen die Reiter verdeckten:

„Olaf, wir Asiaten schätzen die Frauen richtiger ein …!“

… Gestern habe ich diese letzten Zeilen geschrieben, heute war ich mit Gupa und Wrangel und zwei Mönchen drüben in St. Paulus … Auf dem Heimwege im Abendschatten knallte aus den hellen Klippen ein Schuß, und die Kugel summte bedrohlich dicht an meinem Ohr vorüber. Von dem Schützen war nichts zu entdecken.

Der Pater Torwart gab mir dann einen Brief, den der Bote heute von Kairo mitgebracht hatte.

Von Wera …

In meiner Zelle habe ich ihn gelesen …

Wera … kommt zu mir zurück …!

… Was sie noch schreibt?!

Zubanoff hat ihr gestanden, daß er Bix und Fattmoore hinterrücks niederschoß und daß er nach China zurückwolle …

„… Er ist nicht Europäer, Olaf, – er ist Asiate … Unsere Ehe, Olaf, ist das geblieben, was sie war: Keine Ehe!! – Ich komme …!!“

… Ob ich es verlernt habe, an ein Glück zu glauben?! Ob ich es verlernt habe, mich zu freuen?!

… Ich streichele Wrangels Kopf, der in meinem Schoße ruht …

„Sie kommt …!“ sage ich laut …

Der Hund winselt leise …

Draußen läutet die Glocke zum Nachtgebet …

Das schrille Gebimmel bricht jäh ab …

Mein Fenster klirrt.

Die Kugel hat durch mein Haar eine Furche gezogen …

Ich höre das Rufen der Mönche, ich höre Gupas Donnerstimme …

Der Schütze wurde wieder nicht gefunden. Die Kugel war das zweite Lebenszeichen meines Feindes.

Mein Feind Cordy hat nachher noch Ärgeres getan als diese hinterlistigen Schüsse …

Morgen wird Wera eintreffen.

… Ich fürchte, ich kann an mein Glück nicht mehr glauben … Ich bin zu oft enttäuscht worden.

 

 

Anmerkungen:

  1. Das hier in der Vorlage verwendete Wort „koytischen“ wurde auf „coptischen“ geändert, siehe auch Anmerkung 4.
  2. Fehlendes Wort eingefügt.
  3. In der Vorlage steht: „Cordilleren“ – Bandübergreifend und einheitlich auf „Kordilleren“ geändert..
  4. Coyte – Schreibweise mit “c / C” ist in älteren Büchern durchaus üblich. Dagegen lassen sich „y / p“ in Kurrent-Handschrift nur schwer unterscheiden und ergeben sich meist erst aus dem Sinn des ganzen Wortes. Vermutlich hat also hier der Setzer einen Fehler gemacht, als er das „y“ genommen hat, zumal „Copte / coptisch“ nicht gerade zur Allgemeinbildung gehört und Walther Kabel seine Manuskripte handschriftlich verfaßt hat.