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Das Auge des Brahma (1908)

 

Das Auge des Brahma.

Erzählung von Walther Kabel.

(Nachdruck verboten.)

Berühmte Diamanten, die sich durch Schönheit und Größe auszeichnen, haben ihre Geschichte wie berühmte Männer. Den allseitig bekannten soll jetzt ein neuer, der größte, hinzugefügt werden, den die südafrikanischen Kolonien dem König Eduard VII. von England verehrt haben, und der soeben seinen Schliff erhält. Dafür aber ist auch ein anderer spurlos verschwunden, denn über den Verbleib des einst in Brasilien gefundenen „Auges des Brahma“ ist nie wieder etwas Sicheres bekannt geworden, nachdem es im Jahre 1792 plötzlich verschwand.

Das „Auge des Brahma“, einen Stein von reinster hellblauer Färbung und vollendetstem Brillantschliff, kaufte Ludwig XIV. von einem holländischen Schiffskapitän und verleibte ihn dem französischen Kronschatz ein. Aus diesem wurde zur angegebenen Zeit der Edelstein auf geheimnisvolle Weise gestohlen und ist seitdem nicht wiedergefunden worden. Es wird behauptet, daß aus diesem Stein ein Diamant, den der Bankier Hope in Amsterdam besitzt, und ein zweiter, der Eigentum der herzoglichen Familie Cumberland ist, geschliffen sei. Nach einem anderen Bericht wurde das „Auge des Brahma“ niemals gespalten, sondern soll vielmehr um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, um 1850, von zwei Brüdern unbekannten Namens, deutschen Kaufleuten, die es in einem Bauernhause im Elsaß entdeckten und um einen mäßigen Preis erwarben, dem indischen Radscha Sorahmatra von Sadani zum Kauf angeboten worden sein. Sorahmatra hat, so wird weiter erzählt, die Brüder auf seine an der Koromandelküste Ostindiens gelegene Burg gelockt und sich mit Gewalt des Diamanten bemächtigt, indem er die beiden ergreifen und einkerkern ließ. Erst nach Jahren soll es den Deutschen dann gelungen sein, unter Zurücklassung des Steines zu fliehen. Jedoch hat man von ihnen nie wieder etwas gehört.

Dieses nur in den Kreisen der Antiquitätensammler und Diamantenhändler bekannte und etwas abenteuerlich klingende Gerücht, daß über den kleinen Kreis jener interessierten Personen wohl kaum hinausgedrungen war, lebte plötzlich wieder auf, als im Herbst 1905 in Brüssel ein blauer Edelstein auftauchte, den Sachverständige als das vor einem Jahrhundert verschwundene „Auge des Brahma“ wiedererkennen wollten. Man besaß von diesem noch alte, sehr eingehende Beschreibungen, und danach stimmte allerdings Farbe, Schliff und Gewicht beider Steine vollkommen überein. Jedoch mit Sicherheit ließ sich dies nicht feststellen.

Inwieweit nun jener zweite Bericht über den Verbleib des berühmten Edelsteines auf Wahrheit beruht, zeigt die folgende Geschichte, deren rein tatsächliche Angaben der Verfasser demselben jungen Arzte verdankt, mit dessen Namen der Bericht beginnt.

– – – – – – – – – – – – – – – –

Doktor Willibald Sprengel hatte sich als junger Arzt in der Vorstadt niedergelassen. Er hatte sich’s genau berechnet, daß er mit dem Reste seines Vermögens gerade noch zwei Jahre bestehen konnte. Schlug die Sache hier nicht ein, so mußte er nach diesen zwei Jahren ärmer und kaum klüger wie zuvor abermals eine Assistentenstelle an einem Krankenhause annehmen. Davor graute ihm ehrlich, graute ihm umsomehr, als dann auch seine Braut für ihn verloren war. Hatte doch Käthes leider so unmodern denkender Vater seine Zustimmung zu der Verlobung nur unter der Bedingung gegeben, daß Willibald nach zwei Jahren in der Lage sei, aus eigenen Mitteln einen Hausstand zu gründen und zu unterhalten. Sollte das nach Ablauf dieser Frist nicht der Fall sein, so würde er das Paar erbarmungslos trennen. Und dabei war’s geblieben trotz Käthes verweinter Augen, trotz der Bitten und bissigen Bemerkungen der künftigen Schwiegermama.

So zog denn Willibald Sprengel in die Vorstadt hinaus, weil er da noch am ehesten die Verwirklichung seines Zukunftstraumes erhoffte. Vor fünf Tagen hatte er mit seiner „Tätigkeit“ begonnen. Heute war ein Montag, ein richtiger „blauer“ Montag, wie er sich mit Galgenhumor sagte. Denn alles feierte – alles, selbst die Kranken! Überhaupt mußte hier draußen eine geradezu niederträchtig gesunde Luft wehen trotz des Kohlenrauches der Fabriken und der Düfte, mit denen das große chemische Institut die Umgegend verpestete. Das sah man schon an der fast unzähligen Kinderschar, die da unten auf der Straße in allen Altersabstufungen den Tag über ihr Wesen trieb, brüllte, quiekte und mit ihren Kreiseln die Bürgersteige sperrte.

Eben legte der junge Arzt aufseufzend eine medizinische Zeitschrift beiseite und schaute dann entmutigt auf die hohe Wanduhr, die er wie die übrigen Möbel vorläufig auf Abzahlung erstanden hatte.

Erst zehn Uhr! Es hieß also noch eine halbe Stunde ausharren, bis die „Sprechstunden“ vorüber waren. Nachdem er sich eine neue Zigarre angezündet hatte, nahm er das Adreßbuch vor und begann eine Wahrscheinlichkeitsrechnung aufzustellen. Viertausend dreihundert und fünfundachtzig Personen zählte der dicke Foliant als Einwohner der Vorstadt auf. Diese Zahl schrieb er bedächtig auf ein Blättchen seines Rezeptblocks, dividierte sie durch dreihundertfünfundsechzig und rechnete so heraus, daß zwölf Menschen auf jeden Tag des Jahres kamen. Von diesem Dutzend konnten vielleicht –

Zu seinen weiteren Kombinationen störte ihn der geräuschvolle Eintritt seiner „Empfangsdame“, die mit ihrem weißen Häubchen auf dem grauen Haar und dem würdigen Matronenantlitz auf jeden Patienten sicher einen wohltuenden Eindruck gemacht hätte, wenn einer gekommen wäre.

„Herr Doktor, es ist jetzt wirklich jemand draußen!“ rief sie atemlos. „Ein älterer Herr –“

„Wird ein Gläubiger sein!“ dachte Sprengel, laut aber sagte er: „Es ist gut, Frau Kniefke. Ich werde den Herrn selbst hereinbitten. Ich habe vorläufig noch zu tun!“

Frau Kniefke machte ein etwas erstauntes Gesicht. Aber da sie das auf dem grünen Schreibtischbezug liegende Blättchen Papier für einen angefangenen Brief hielt, kalkulierte sie schnell: „Ach so, er schreibt wieder an seine Braut!“ gab sich zufrieden und verschwand.

Willibald Sprengel hatte sich erhoben. Vielleicht ist’s doch ein Patient, überlegte er in verzeihlichem Optimismus. Prüfend schaute er sich nochmals im Zimmer um. Er konnte mit dieser Musterung zufrieden sein. Nur eins fiel ihm unangenehm auf: es roch hier so gar nicht „nach Arzt“, sondern recht stark nach Zigarrenqualm. Schnell entschlossen entnahm er dem gläsernen Arzneischränkchen eine Lysolflasche und sprengte vorsichtig einige Tropfen auf den Boden, die er dann mit der Stiefelsohle verrieb. So, nun war er genügend vorbereitet.

Er öffnete die Doppeltüren zum Wartezimmer und trat ein. Von einem Stuhl erhob sich ein ihm gänzlich unbekannter, einfach gekleideter Mann mit auffallend verwittertem Gesicht, aus dem ein Paar durchdringende Augen die Erscheinung des jungen Arztes prüfend überflogen.

„Wollen Sie, bitte, nähertreten,“ sagte Sprengel höflich, aber ohne sich’s merken zu lassen, daß ihm das Herz freudig zu klopfen begann.

Dann saßen sie sich in dem hellen, jetzt so berufsmäßig duftenden Zimmer gegenüber. Das durch die Fenster flutende Licht beschien das gebräunte, bartlose Gesicht des vielleicht fünfzigjährigen Fremden, ließ die kleinen silbernen Gehänge in seinen Ohrläppchen aufblinken, ebenso die dicke goldene Uhrkette und die breiten, eigentümlich gearbeiteten Ringe, mit denen er die Finger seiner sehnigen Hände besteckt hatte.

„Herr Doktor,“ begann der Unbekannte in etwas gebrochenem Deutsch, „bevor ich mit meinem Anliegen an Sie herantrete, muß ich Sie bitten, mir ehrenwörtlich Stillschweigen über alles das zu geloben, was wir vielleicht zu verhandeln haben. Ich möchte jedoch sofort bemerken, daß ich Sie als Arzt konsultieren will und daß meine – Behandlung Ihnen ein ganz schönes Stück Geld einbringen kann.“

Der junge Arzt stutzte. Diese Einleitung war doch etwas sehr merkwürdig! Aber schnell gefaßt erwiderte er: „Wir Ärzte sind verpflichtet, das Berufsgeheimnis zu wahren. Also dürfte sich die Abgabe eines Ehrenworts wohl erübrigen.“

Doch der Fremde schüttelte bedächtig den Kopf. „Das weiß ich sehr wohl, Herr Doktor! Ich muß aber trotzdem bei meiner Bedingung bleiben. Gehen Sie nicht darauf ein – nun gut, so zahle ich Ihnen die Gebühr für Ihre Zeitversäumnis, und Sie verlieren vielleicht – Tausende!“

Sprengel zuckte bei diesen Worten doch zusammen. Nach kurzem Überlegen sagte er: „Ich setze natürlich voraus, daß Sie wirklich nur meine ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen wollen, und daß es sich um keine Sache handelt, die mich irgendwie mit den Gesetzen in Konflikt bringen könnte.“

Wieder blickte der andere ihn forschend in das frische, offene Gesicht, schien bis auf den Grund der Seele lesen zu wollen. „Und Ihr Wort soll sich auf alles beziehen, was heute hier zwischen uns besprochen wird?“ fragte er dann mit Betonung.

„Jawohl – auf alles!“

Da streckte der Fremde langsam die Hand hin. „Schlagen Sie ein, Herr Doktor! Der Handschlag eines Mannes gilt mir mehr als das gesprochene Wort!“

Einen Augenblick ruhten diese wie aus Stahl gemeißelten Finger in der wohlgepflegten, weichen Rechten des jungen Arztes.

„Ich heiße Heinrich Gabler,“ begann der Fremde, „bin in der Provinz Sachsen geboren, habe mich aber seit meinem zwanzigsten Lebensjahre im Auslande aufgehalten und meine alte Heimat in der Zwischenzeit nur zweimal auf kurze Zeit wiedergesehen. Mein Beruf als Seemann führte mich durch die ganze Welt. Ich versuchte mich auch in anderen Stellungen, bin, als das Goldfieber da oben in Klondike ausbrach, einer von den ersten gewesen, die dort in der nordischen Wildnis ihre Ersparnisse an gewissenlose Händler verloren und nachher froh waren, wenigstens das bißchen Gesundheit aus jener Eiswüste gerettet zu haben. In Südafrika besaß ich jahrelang eine Farm, verkaufte sie günstig und wurde dann Eigentümer einer Bark, mit der ich in den indischen Gewässern Handel trieb. Diese Angaben über meine Person mögen Ihnen genügen, Herr Doktor. Einzelheiten werden Sie auch kaum interessieren, da meine abenteuerlichen Irrfahrten mit unserem Geschäft in keinerlei Zusammenhang stehen.“

„Bitte sehr! Fahren Sie nur fort.“

„Durch einen unglücklichen Zufall habe ich nun vor Jahren in einer großen Stadt Hinterindiens einen Kristall verschluckt, der sich in meinem Magen festsetzte und durch keinerlei Mittel zu entfernen war. Damals ging ich natürlich sofort in eine Klinik und ließ mich genau untersuchen. Die Ärzte sagten mir, daß der Stein sich vermutlich an der linken Magenwand gelagert habe und mich voraussichtlich kaum belästigen werde. Es wurde mit natürlich auch der Vorschlag gemacht, mich operieren zu lassen. Da ich jedoch gerade zu derselben Zeit wichtige Reisen vorhatte, mußte ich die Operation für später aufschieben. Seitdem sind Jahre vergangen, und ich trage jenen Kristall noch immer mit mir herum. In der letzten Zeit verursachte er mir Beschwerden. Mein Appetit hat nachgelassen, und ich leide auch häufiger an starkem Magendrücken. Von diesem jahrelangen, mir jetzt unbequemen Begleiter sollen Sie mich nun auf operativem Wege befreien, Herr Doktor.“

Der junge Arzt hatte aufmerksam zugehört. „Aber weshalb wenden Sie sich denn in diesem Falle nicht an einen Chirurgen?“ fragte er verwundert. „Ich kann eine derartige Operation hier in meinem Hause kaum ausführen, jedenfalls nicht, ohne einen Spezialisten hinzuzuziehen. Und um ganz offen zu sein – Sie kommen sicherlich auch billiger weg, wenn Sie sich in der Klinik behandeln lassen!“

Der Fremde lächelte vor sich hin. „Ich begreife Ihr Erstaunen,“ sagte er wieder bedächtig, „jedoch – ich habe zu diesem Massenbetriebe in unseren großen Krankenhäusern kein rechtes Vertrauen. Meine Mittel gestatten mir außerdem, alle Unkosten, die, wie ich mir selbst schon überlegt habe, nicht gering sein werden, mit Leichtigkeit zu tragen, denn ich will ja auch das Krankenlager nach der Operation hier bei Ihnen durchmachen, und dazu würden doch gewiß noch verschiedene Anschaffungen nötig sein.“

Sprengel wurde die Sache immer rätselhafter. Bevor er antwortete, überlegte er nochmals prüfend die Erzählung des Fremden. Gewiß – manches Merkwürdige fand sich darin. Alles nur Andeutungen, die ebensogut erfunden sein konnten. Andererseits – aus welchen Gründen sollte er das Ansinnen dieses Sonderlings ablehnen? Der Mann verlangte von ihm nichts als ärztliche Hilfe, hatte sich wahrscheinlich gerade an ihn gewandt, weil er bei einem wenig beschäftigten Arzt die sorgfältigste Pflege erhoffte.

So erwiderte er denn: „Ich gehe auf Ihren Vorschlag ein, Herr Gabler. Ein Bekannter von mir ist erster Assistenzarzt an der chirurgischen Klinik. Ihn werde ich hinzuziehen. Bei dem heutigen Stande der Operationskunst gehört ja die Entfernung eines Fremdkörpers aus dem Magen nicht einmal zu den besonders schwierigen Eingriffen. Komplikationen sind allerdings immer möglich. Aber bei Beobachtung aller Vorsichtsmaßregeln glaube ich Ihnen doch einen guten Erfolg versprechen zu können.“

Der Fremde nickte befriedigt. Die energische Art des jungen Arztes schien ihm zu gefallen. „Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Es freut mich, daß wir einig geworden sind. Doch muß ich Sie natürlich bitten, auch Ihren Freund, den zweiten Arzt, in derselben Weise zum Schweigen zu verpflichten. Ebenso wird es nötig sein, Ihre Haushälterin nur in das Notwendigste einzuweihen. Ich werde die Frau selbstverständlich ebenfalls reichlich entschädigen. Mir kommt es aus bestimmten Gründen, die ich für mich behalten möchte, eben darauf an, daß ein möglichst kleiner Kreis von Personen von dieser Sache etwas erfährt.“

Sprengel stutzte nun doch wieder. Was konnte den Fremden nur veranlassen, so sehr auf Geheimhaltung der Operation zu dringen?

Heinrich Gabler schien ihm diese Bedenken vom Gesicht abzulesen. Er holte eine Brieftasche hervor und entnahm ihr mehrerer Banknoten, die er auf den Schreibtisch hinzählte. Dann fuhr er schnell fort, als ob er Sprengel nicht länger Zeit zum Überlegen geben wollte: „Hier sind vorläufig tausend Mark, Herr Doktor. Davon sollen Sie die nötigen Ausgaben bestreiten. Über das weitere Honorar werden wir uns schon verständigen. Mit Ihrem Bekannten können sie selbst die nötigen Abmachungen treffen und brauchen dabei meinen Geldbeutel nicht zu schonen. Überhaupt – lassen Sie es an nichts fehlen, mir kommt es auf einige blaue Lappen wirklich nicht an.“ Er erhob sich. „Übermorgen werde ich mir Bescheid holen. Und nochmals – ich bitte um Ihre Hand, daß sie meine Bedingungen gewissenhaft erfüllen.“

Etwas zaudernd streckte der junge Arzt mir die Rechte hin.

Da lächelte der Fremde wieder so eigenartig. „Sie werden diese Konsultation nie zu bereuen haben, nie! Und – den Kristall, den ich so lange bei mir getragen habe, müssen sie mir sorgfältig aufbewahren. Ich möchte ihn mir zum Andenken mitnehmen!“

Dann ging er, und Willibald Sprengel geleitete ihn höflich zur Tür.

„Wäre es nicht besser, Herr Gabler, wenn Sie mir Ihre Adresse angeben würden?“ fragte er.

„Ich wohne hier bei Bekannten, bin wenig zu Hause,“ meinte der Fremde ausweichend. „Jedenfalls ist’s mir bequemer, wenn ich selbst übermorgen nachfragen kann. – Guten Morgen, Herr Doktor – auf Wiedersehen!“

* * *

Im Sprechzimmer Sprengels standen die Fenster weit offen und ließen die frische Luft eines warmen Maitages in den von süßlichem Chloroformgeruch erfüllten Raum hinein. Die beiden Ärzte waren eben dabei, die Instrumente zu reinigen und fortzupacken. Frau Kniefke ging geräuschlos hin und her, wusch mit einem Schwamm den Operationstisch ab, trug die Schüsseln hinaus und huschte bisweilen auch neugierig in das Schlafzimmer, wo Heinrich Gabler in einem neuen einfachen Feldbett noch in tiefer Narkose lag.

Doktor Winter sagte jetzt halblaut zu seinem Kollegen, indem er mit Bürste und Seife den soeben herausgeschnittenen Bergkristall von den anhaftenden Unreinlichkeiten zu säubern begann: „Ich glaube, wir können mit dem Resultat der Operation zufrieden sein. Unser Patient wird bei seiner robusten Gesundheit auch die Folgen bald überstanden haben.“

„Hoffentlich!“ meinte Sprengel in aufrichtigem Mitgefühl. „Ich wünsche ihm jedenfalls das Beste. Denn das muß man diesem Herrn Gabler lassen – er ist nicht nur ein sehr anständiger Zahler, sondern auch ein durchaus gebildeter Mensch von seltener Herzensgüte trotz seiner abenteuerlichen Vergangenheit. Ich bin ja in den letzten Tagen sehr viel mit ihm zusammen gewesen, und diese Stunden gehören wohl zu den interessantesten, die ich je verplaudert habe. Was er mir von seinen Reisen und seinen Erlebnissen ohne alle Wichtigtuerei erzählte, gab mir Gelegenheit, auch seinen Charakter kennen zu lernen. Seine in jeder Beziehung vornehme Denkungsart, die aus so vielen kleinen Zügen hervorleuchtete, hat ja auch meine letzten Zweifel zerstreut, und jetzt freue ich mich ehrlich, ihn damals mit seinem mir so sonderbar erscheinenden Anliegen nicht abgewiesen zu haben.“

Winter trocknete mit einem weichen Tuche den Kristall vorsichtig ab. „Eigentlich kaum zu glauben,“ sagte er kopfschüttelnd, „daß diese fast taubeneigroße Masse die Speiseröhre so glatt passiert hat. Außerdem – sehen Sie her, Kollege – der eigentliche Stein ist von einer harten, gipsartigen Masse fast vollkommen umgeben.“

Sprengel hatte den Stein neugierig in der Hand genommen und betrachtete ihn aufmerksam. „Sie haben recht,“ meinte er dann nachdenklich, „von dem Stein ist unter der bräunlichen Umhüllung nicht viel zu sehen. Aber er ist geschliffen. Ich erkenne deutlich die Rosettenform.“ Er zerbröckelte die Umhüllung.

Sie waren an das offene Fenster getreten, und jetzt, wo die Sonne den blauen Kristall traf, schossen plötzlich leuchtende Strahlenbüschel aus ihm hervor, funkelte er in so intensivem Feuer, daß die beiden Ärzte einen Aufruf des Erstaunens nicht unterdrücken konnten. Wie hypnotisiert starrten sie mit vorgebeugten Köpfen auf diese Lichtgarben, die in Sprengels Hand aufflammten und beinahe die Augen blendeten.

„Ähnliches habe ich noch nie gesehen!“ rief Winter ganz begeistert. „Man könnte den Stein wirklich für einen Diamanten halten! Schauen Sie nur, wie sich das Sonnenlicht in ihm bricht!“

Da störte Frau Kniefke sie in diesem bewundernden Betrachten. „Herr Doktor – er ist aufgewacht, möchte Sie gleich sprechen.“ –

Bleich und matt lag Heinrich Gabler in den Kissen. Als jetzt die Ärzte an das Bett traten und ihm mit herzlichen Worten Glück zu der gelungenen Operation wünschten, schien er kaum darauf zu hören. Mit ängstlicher Spannung sah er Sprengel an und suchte in dessen Mienen zu lesen. Dann fragte er mit zitternder Stimme: „Und der Kristall – haben Sie ihn gefunden? Wo ist er – wo? – Geben Sie ihn mir!“

Als der junge Arzt ihm jetzt den Stein in die Hand legte, schaute er ihn erst ängstlich prüfend von allen Seiten an, und dann flog ein Ausdruck triumphierender Freude über sein bleiches Gesicht.

* * *

Fast ein halbes Jahr verging, bis Heinrich Gabler die Wohnung des Arztes dort draußen in der Vorstadt verlassen konnte, um, wie er angab, nach Amerika zu reisen. Sprengel sah ihn mit ehrlichem Bedauern scheiden. Durch das tägliche Beisammensein hatte sich zwischen den beiden Männern eine beinahe herzliche Freundschaft entwickelt. In den ersten Tagen vermißte der junge Arzt seinen Hausgenossen fast, besonders da Frau Kniefke jede Gelegenheit wahrnahm, um des Abwesenden Lob in allen Tonarten zu singen. Sicherlich war Frau Kniefkes Sympathie für ihren Pflegling durch die beiden Hundertmarkscheine, die er ihr beim Abschied in die Hand gedrückt hatte, noch um ein Beträchtliches gesteigert worden.

Auch Sprengel konnte mit dem Ausgang dieses „Geschäfts“, wie Gabler seine Operation stets zu bezeichnen pflegte, in jeder Hinsicht zufrieden sein. Ganz abgesehen von den zweiten tausend Mark, die sein Patient ihm kurz vor der Abreise noch als Rest des Honorars übergeben hatte, war auch ganz plötzlich ein völliger Umschlag in seiner Praxis eingetreten. Anscheinend hatten die Bewohner der Vorstadt erst eine gewisse Scheu vor dem neuzugezogenen Arzt überwinden müssen, bevor sie seine Hilfe in Anspruch nahmen. Von Tag zu Tag füllte sich jetzt Sprengels Sprechzimmer mehr – er hatte unbedingt einen Erfolg zu verzeichnen und brauchte dem Herrn Schwiegerpapa nicht weiter mit dem unbehaglichen Gefühl entgegenzutreten, das ihn in der ersten Zeit stets überkam, da er die Fragen nach der Zahl seiner Patienten nur durch eine verlegene Ausrede hatte beantworten können.

Trotzdem Heinrich Gabler ihm zu schreiben versprochen hatte, war es doch Dezember geworden, ohne daß auch nur eine Zeile von ihm eintraf. Da erhielt Sprengel eines Tages einen Brief von der Deutschen Bank, in dem man ihm in trockenem Geschäftsstil mitteilte, daß für ihn von der Brüsseler Bank die Summe von dreißigtausend Mark angewiesen sei, und daß Geld zu seiner Verfügung stehe. Zunächst glaubte er an einen schlechten Scherz irgend eines Bekannten. Dann aber ließ er sich durch seine Braut, der er Mittags von dem Inhalt des Schreibens erzählte, doch bewegen, wenigstens einmal bei der Bank nachzufragen. Dort wurde ihm dann sehr höflich die Auskunft erteilt[1], daß die Sache ihre Richtigkeit habe, und daß das Geld von einem Herrn Heinrich Gabler in Brüssel eingezahlt sei. Jetzt blieb ihm natürlich nichts anderes übrig, als seiner Käthe über die Person des großmütigen Spenders Aufklärung zu geben. Auch die Schwiegereltern wurden eingeweiht, und der alte Herr Ruth konnte seinem Schwiegersohn nur wohlwollend auf die Schulter klopfen und anerkennend äußern: „Sie haben Glück … das muß man sagen!“

An demselben Tage ließ sich denn auch der gestrenge Schwiegerpapa erweichen, und die Hochzeit wurde für Anfang Februar festgesetzt. Als Willibald Sprengel aber spät in der Nacht in glücklichster Stimmung heimkehrte, fand er auf seinem Schreibtisch einen großen Brief liegen, der den Poststempel Brüssel trug und während seiner Abwesenheit eingetroffen sein mußte. Neugierig schnitt er den festen Leinenumschlag auf. Darin lagen ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt und ein Päckchen engbeschriebener Briefbogen.

Wohl eine Stunde saß der junge Arzt an seinem Schreibtisch und überflog immer wieder diesen Brief, dessen Inhalt ihm wie ein phantastischer Roman vorkam, in dem er selbst, ohne es zu ahnen, eine Rolle gespielt hatte.

Brüssel, den 9. Dezember 1905.

Mein lieber Herr Doktor!

Wenn Sie diesen Brief erhalten, schwimme ich bereits auf dem Ozean, fahre meiner zukünftigen Heimat entgegen, die ich mir in einem fremden Erdteil gründen will, in einer Gegend, wo mich niemand kennt. Dies muß ich zu meiner Sicherheit tun, wie Ihnen klar werden wird, wenn Sie erst das folgende gelesen haben. Daß ich Ihnen mein Reiseziel und meine spätere Adresse nicht nenne, geschieht aber nicht etwa ebenfalls aus mißtrauischer Vorsicht, sondern aus anderen Gründen. Ich will verhüten, daß Sie nach Durchsicht dieses Schreibens, welches Ihnen die Wahrheit über meine abenteuerliche Lebensgeschichte gibt, vielleicht in einer Anwandlung übertriebener, um nicht zu sagen falscher Rechtschaffenheit mir das wieder zurückschicken, was Ihnen hoffentlich die Erfüllung Ihrer Herzenswünsche erleichtern wird. Man kann eben meinen Lebenszweck und die Mittel, die ich zu seiner Erreichung angewandt habe, verschieden beurteilen. Ich wäre ja der Gefahr, von Ihnen falsch beurteilt, vielleicht sogar verurteilt zu werden, dadurch am einfachen aus dem Wege gegangen, daß ich Sie bei dem Glauben beließ, Sie hätten einem alten Sonderling namens Heinrich Gabler einen einfachen Bergkristall aus dem Magen entfernt. Aber mir liegt an Ihrer guten Meinung sehr viel. Und sicherlich hätten Sie über Ihren einstigen Patienten den Stab gebrochen, wenn Ihnen die beifolgenden Zeitungsnotizen aufgefallen und Sie aus denselben durch leicht anzustellende Kombinationen auf meine Person gekommen wären.

Die erste Notiz der „Brüsseler Zeitung“ vom 28. Oktober 1905 teilt weiter nichts mit, als daß der Diamantenhändler Farbeau einen blauen, in Händlerkreisen ganz unbekannten Diamanten für anderthalb Millionen gekauft, und daß der Verkäufer angegeben habe, er sei nur der Beauftragte eines Seemannes, der den Stein in den Ruinen eines verfallenen Tempels auf Ceylon gefunden haben wollte. Die zweite Notiz beschäftigt sich, wie Sie ja selbst nachlesen können, allein mit dem wertvollen Diamanten, berichtet die Geschichte des berühmten, einst der französischen Krone gehörigen „Auge des Brahma“ und spricht dabei die Vermutung aus, daß der von dem Händler Farbeau kürzlich angekaufte Stein mit dem vor über hundert Jahren verschwundenen identisch sei.

Da ich Sie nun, mein lieber Herr Doktor, während der langen Wochen, in denen ich bei Ihnen ein Asyl gefunden hatte, schätzen gelernt habe, so will ich nicht, daß Sie über mich allzu schlecht denken. So, wie die Zeitungsnotizen es darstellen, und wie Sie selbst einen Teil der Vorgeschichte dieses Diamantenverkaufs miterlebt haben, könnten Sie mich nur für einen gewöhnlichen Dieb halten, der jenen Stein irgendwo gestohlen und ihn auf raffiniertere Weise so lange in seinem Körper verborgen hat, bis sich Gelegenheit bot, das geraubte Wertstück gefahrlos zu veräußern. Ich hoffe aber, daß Sie zu einer anderen Meinung kommen werden, wenn Sie erst die Geschichte meiner Familie kennen.

Ich heiße nicht Heinrich Gabler, sondern Friedrich Sander und wurde in Leipzig als einziges Kind des Antiquitätenhändlers Leopold Sander im Jahre 1850 geboren. Meinen Vater habe ich nie gekannt. Wie meine Mutter mir als kleinem Jungen erzählte, sollen er und sein Bruder Heinrich, mit dem er das Geschäft gemeinsam betrieb, auf einer Seereise verschollen sein. Meine ersten Kindheitserinnerungen zeigen mir ein altes, baufälliges Haus, in dessen Parterreräumen meine Mutter, eine blasse, stille Frau, die seinerzeit sehr angesehene Handlung mit Hilfe eines langjährigen Buchhalters weiterführte. Dann wurde das Geschäft verkauft, und wir zogen nach Plagwitz hinaus. Ich besuchte das Gymnasium und stand, achtzehn Jahren alt, dicht vor dem Abiturientenexamen. An meinem achtzehnten Geburtstage sollte nun mein Leben eine plötzliche Wendung erhalten.

Es war am Abend, als ich mich zu meiner Mutter setzen mußte. Ich besinne mich auf jene Stunde noch genau. Auf dem Tische brannte die Lampe. Die Mutter saß in einem alten, bequemen Korbstuhl, und vor ihr lagen mehrere vergilbte Blätter, über die sie oft zärtlich mit der Hand hinstrich.

„Du bist jetzt in das Alter gekommen,“ begann sie wehmütig, „wo du nach dem Willen deines Vaters in das Geheimnis unserer Familie eingeweiht werden sollst. Du wirst dieses Geheimnis bewahren, wie ich es bisher getan habe. Einen Nutzen bringt dir die Kenntnis der Schicksale deines Vaters nicht. Ich bitte dich sogar, niemals den Versuch zu machen, dich an jenen zu rächen, die uns Unrecht zufügten. Überlasse die Vergeltung einem Mächtigeren!

Ich habe dir oft erzählt, daß dein Vater, um für das Geschäft seltene Antiquitäten einzukaufen, häufig größere Reisen unternehmen mußte, die ihn in alle Gegenden Europas führten. Im Frühjahr 1849, als gerade die Volksaufstände in Westdeutschland begannen, kam er auf einer dieser Reisen auch in ein Bauernhaus im Elsaß, dessen Eigentümer, wie man ihm gesagt hatte, verschiedene altertümliche Schmuckstücke besaß. Unter diesen Schmuckstücken fand er einen blauen Stein, der mit seiner echt goldenen Fassung anscheinend aus einem Diadem gewaltsam herausgebrochen war. Diesen Stein kaufte er für eine verhältnismäßig geringe Summe. Als er dann zurückkehrte und seinem Bruder, deinem Onkel Heinrich, der ein großer Edelsteinkenner war, den seiner Ansicht nach unechten Stein zeigte, erkannte dieser sofort, daß er einen Diamanten von unermeßlichem Werte vor sich hatte. Damals waren wir jung verheiratet, bauten nun die glänzendsten Zukunftspläne, da der Stein nach Schätzung deines Onkels Hunderttausende einbringen mußte. Die Schwierigkeit war nur, einen Käufer für ihn zu finden. Fast ein Jahr lang dauerten die vorsichtigen Nachfragen. Inzwischen wurdest du geboren, und mein Glück wäre vollkommen gewesen, wenn deinen Vater nicht die Sucht, den Diamanten um eine möglichst hohe Summe loszuschlagen, beständig gequält hätte. Heimlich habe ich oft heiße Tränen vergossen, da er selbst mich über seinen stets geheim gehaltenen Plänen zu vernachlässigen begann, habe die Stunde verwünscht, in der der blaue Stein in unser Haus kam. Eines Tages, es war im Sommer 1850, teilte dein Vater mir dann mit, daß er auf längere Zeit zusammen mit seinem Bruder verreisen müsse. Erst auf meine inständigen Bitten sagte er mir, daß sie den Stein im Orient verkaufen wollten. Vergeblich habe ich damals meinen ganzen Einfluß aufgeboten, ihn zurückzuhalten, seinen Bruder allein reisen zu lassen. Vergeblich waren meine Tränen, mein Flehen. Am 12. September schifften sich beide auf dem ‚Herkules‘ in Hamburg ein. Ich habe sie nie wiedergesehen.

Erst nach zehn Jahren erhielt ich aus Kolombo auf Ceylon diesen Brief, den ich mir als teures Andenken aufbewahrte, um ihn dir einst übergeben zu können. Ich kenne den Inhalt dieses Schreibens so genau, daß ich ihn dir nicht vorzulesen brauche, sondern dir aus dem Gedächtnis die weiteren Erlebnisse deines Vaters und seines Bruders ergänzen kann. – Durch einen befreundeten Kaufmann, dessen Handelsbeziehungen ihn auch mit den Neigungen indischer Fürsten bekannt gemacht hatten, war dein Vater auf die Idee gekommen, den blauen Diamanten einem jener oft märchenhaft reichen Radschas anzubieten. Da er den Stein jedoch keinem Menschen, selbst deinem Onkel nicht, anvertrauen wollte, so wurde verabredet, daß beide zusammen zu diesem Zwecke nach Indien reisen sollten. In Kalkutta angelangt, hörten sie von dem Radscha Sorahmatra von Sadani, der ein eifriger Sammler besonders seltener Edelsteine war. Durch einen Vermittler, einen höheren Beamten der Ostindischen Kompanie, traten sie mit jenem Fürsten in Unterhandlung und folgten auch arglos einer Einladung auf seine in der Nähe der Hafenstadt Madras an der Küste gelegene Burg. Hier wurden sie jedoch, nachdem der Radscha, den dein Vater in diesem Briefe als einen alten, ehrwürdigen Greis schildert, den Stein gesehen hatte, und man auch über den Preis einig geworden war, in einer Nacht heimlich in ihren Schlafgemächern überfallen, geknebelt und in ein tiefes Verließ geschleppt, wo sie bei kärglicher Nahrung über zehn Jahre zubrachten. Nur selten durften sie in einem kleinen, von hohen Mauern rings umgebenen Hofe einige Stunden frische Luft schöpfen. Und da ihnen diese Erholungsstunden stets zu derselben Zeit gewährt wurden, auch ihr Wärter, ein alter Hindu, der das Englische einigermaßen beherrschte, ihnen dann stets mitteilte, daß der Fürst wieder verreist sei, so kam dein Vater auf den Gedanken, daß sie vielleicht ohne Wissen Sorahmatras von betrügerischen Dienern in dem unterirdischen Kerker verborgen gehalten wurden. Denn an demselben Abend, der ihrer Gefangennahme vorausging, hatten sie dem Radscha den Stein übergeben, und am nächsten Morgen sollte ihnen die als Kaufsumme vereinbarten Anweisungen auf die Bank von England ausgehändigt, und sie dann unter sicherem Geleit bis Madras gebracht werden. Es ist also nicht unmöglich, daß der Radscha einem seiner Beamten diese Anweisungen übergeben hat, und dieser, um das Geld für sich zu behalten, im Verein mit anderen, ebenso gewissenlosen Genossen deinen Vater und deinen Onkel in jenes Verließ werfen ließ und seinem Herrn nachher erzählte, daß die deutschen Kaufleute abgereist seien.

Leider ist es nie gelungen, Licht in diese Sache zu bringen. Denn als ihnen endlich die Flucht gelang, und sie nach monatelangem Umherirren und unter den größten Gefahren die Stadt Kolombo auf der Insel Ceylon erreichten, wo sie sofort bei dem englischen Gouverneur Beschwerde gegen den Radscha erhoben und ihre Leidensgeschichte berichteten, wies man sie einfach ab, glaubte ihnen kein Wort von ihren abenteuerlichen Erlebnissen, trotzdem ihr verwildertes Aussehen und die kaum zu erfindenden Einzelheiten für ihre Glaubwürdigkeit hätten sprechen müssen. Aber damals, im Jahre 1861, tobte noch der große indische Aufstand, durch den die Eingeborenen die Fremdherrschaft abzuschütteln suchten; und da der Radscha Sorahmatra von Sadani als einer der wenigen Fürsten der Küstenländer den Engländern treu geblieben war, hatte man weder Zeit noch Lust, auf phantastische Verdächtigungen zweier Kaufleute hin gerade gegen ihn vorzugehen. – Dann starb dein Onkel plötzlich an einem schweren Anfall von Malaria. So stand denn dein Vater allein und vollkommen mittellos in dem fremden Lande da. Trotzdem wollte er es nochmals versuchen, sich sein gutes Recht anderswo zu holen. Als einfacher Matrose fuhr er auf einem Küstenfahrzeuge nach Kalkutta, um hier mit Hilfe jenes Beamten der Ostindischen Kompanie, der die Brüder an Sorahmatra gewiesen hatte, weitere Schritte zur Aufklärung der Angelegenheit zu tun. Doch der Beamte war, wie er nach mühsamen Nachforschungen herausbrachte, durch die Rebellen in Khanpur zusammen mit den übrigen Europäern, die sich in das Hospital gerettet hatten, ermordet worden. Die englischen Behörden verhielten sich daher auch in Kalkutta allen Vorstellungen und Anträgen gegenüber völlig ablehnend, zumal dein Vater für seine Behauptungen keinerlei Beweise beibringen konnte. – Da gab er denn die weitere Verfolgung seiner Sache vorläufig auf und wollte wieder als Matrose in die Heimat zurückkehren. Er ließ sich für die Hamburger Brigg ‚Ariadne‘ anheuern und schrieb mir noch kurz vor der Abreise diesen Brief, den du hier vor dir siehst. Den Brief erhielt ich. Dein Vater kam nie wieder. Die ‚Ariadne‘ ist am 15. September 1862 im Roten Meer mit Mann und Maus untergegangen.“

– – – – – – – – – – – – – – – –

Das hat mir meine Mutter an jenem Abend meines achtzehnten Geburtstages erzählt. Ich weiß, daß ich darauf tagelang wie im Traum umhergegangen bin, daß ich jene vergilbten Briefblätter immer wieder gelesen habe. Vorsichtig begann ich überall, besonders bei Leuten, die von dem Diamantenhandel etwas verstanden, nachzufragen. Ich wollte herauszubringen suchen, ob der Stein sich noch im Besitze jenes Radscha befand, und bei diesen Nachforschungen erfuhr ich nach Monaten zweierlei. Erstens, daß der vor ungefähr zwanzig Jahren von meinem Vater im Elsaß gekaufte Diamant zweifellos einer jener wenigen, seit Jahrhunderten berühmten Edelsteine war, und zwar jenes „Auge des Brahma“, das im Jahre 1792 aus dem französischen Kronschatze gestohlen wurde, und zweitens – für mich war’s das wichtigere – sollte ein blauer Diamant von seltener Klarheit und vorzüglichem Schliff zu den Schätzen eines indischen Radschas gehören, den er nach einem unsicheren Gerücht zwei deutschen Kaufleuten geraubt hatte. Vergebens habe ich Näheres über dieses Gerücht festzustellen gesucht, denn es war mir unerklärlich, wie die Fama die Erlebnisse meines verstorbenen Vaters bis nach Europa getragen haben konnte. Da brach der Deutsch-französische Krieg aus, ich wurde eingezogen und habe den Feldzug bei der Armee des Kronprinzen mitgemacht. Am Tage der Schlacht bei Sedan erreichte mich die Nachricht, daß meine Mutter gestorben sei. Wenn die Anstrengungen des Krieges meine Gedanken bisher abgelenkt und mich gleichgültig gemacht hatten: diese schmerzliche Kunde ließ all meine früheren Pläne wieder wach werden. Jetzt war ich frei, konnte mich ungehindert dem widmen, was mir seit jenem Abend als Lebensziel vorschwebte. Den blauen Diamanten betrachtete ich als mein Eigentum. Ihn wiederzugewinnen, war fortan mein ganzes Sinnen und Trachten.

Ich muß mich nun kürzer fassen, mein lieber Herr Doktor, sonst komme ich mit diesem Bericht nicht zu Ende, und er muß heute noch fertig werden, denn morgen in aller Frühe geht mein Zug ab, der gerade zur rechten Zeit in Hamburg eintrifft, um noch an Bord des Dampfers zu gelangen, auf dem ich meiner neuen Heimat entgegenfahren will.

Hören Sie also weiter. Nachdem der Feldzug den für Deutschland so überaus glücklichen Ausgang gefunden hatte, und ich zur Reserve entlassen war, machte ich mein kleines Vermögen flüssig und besuchte zuerst im Jahre 1872 Indien, kam auch sogar in die Burg des Radscha Sorahmatra, mußte aber bald einsehen, daß mein Vorhaben so gut wie unmöglich war. Trotzdem verfolgte ich mit zäher Hartnäckigkeit meine Pläne weiter. Ich wurde Seemann, begann als Matrose auf einem deutschen Handelsschiff meine Laufbahn und brachte es bald zum Steuermann auf einem großen Dampfer, der einer englischen Reederei in Madras gehörte. Jedenfalls wußte ich es so einzurichten, daß ich stets nach kurzen Unterbrechungen wieder nach Indien zurückehrte. So war inzwischen das Jahr 1892 herangekommen. Da erfuhr ich eines Tages, daß der neue Radscha Matasana von Sadani – Sorahmatra war kurz vorher gestorben – sich in England eine Jacht hatte bauen lassen und für diese unter sehr günstigen Bedingungen eine Mannschaft anwerben wollte. Ich meldete mich und wurde auch auf Grund meiner vorzüglichen Zeugnisse, die alle auf den Namen Wilkens lauteten, als Kapitän angestellt. Als solcher hatte ich oft genug Gelegenheit, nicht nur mit dem jungen Radscha zusammenzutreffen, sondern auch bei seiner Dienerschaft heimlich Erkundigungen einzuziehen, wo der Fürst seine Schätze aufbewahrte, und wie sie bewacht würden. Doch was ich da erfuhr, zeigte mir nur wieder die völlige Undurchführbarkeit meiner Absichten.

Jahre vergingen wieder, und in dieser Zeit ist mir häufig genug die Idee gekommen, mich dem Radscha anzuvertrauen und ihm ehrlich die Geschichte des blauen Diamanten und die Schicksale meines Vaters mitzuteilen. Doch der Erfolg erschien mir immer wieder zu zweifelhaft. War mein Vater damals mit Wissen und Willen Sorahmatras in jenem Verlies gefangen gehalten worden, so wußte sicherlich auch sein Sohn und Nachfolger von der Sache, und ich hätte mich dann durch meine Offenherzigkeit nur der Gefahr ausgesetzt, auf irgend eine Weise heimlich beseitigt zu werden. Kannte Matasana dagegen ebensowenig wie sein Vater den wahren Sachverhalt, so war es doch mehr wie ungewiß, ob er meiner Erzählung Glauben geschenkt hätte. Mir fehlten ja die Beweise! Der einzige war jener Brief meines Vaters gewesen, und den hatte meine Mutter, als ich im Felde in Frankreich war, zusammen mit anderen Papieren verbrannt – wohl aus Vorsicht, damit er nicht in unrechte Hände geriete, falls uns beide ein plötzlicher Tod ereilen sollte. Diese Überlegungen ließen mich schweigen. Zum Glück, wie die Zukunft zeigte.

Es war im Herbst 1899. Die Jacht „Godawari“ lag gerade zur Reparatur einer leichten Bodenbeschädigung im Trockendock in Madras, als ich ein Schreiben des Sekretärs meines Herrn erhielt, in dem mir befohlen wurde, sofort nach beendeter Ausbesserung des Schiffes nach Sadani zu fahren, vor der Burg vor Anker zu gehen und dort weitere Befehle dort abzuwarten. Das alte Radschaschloß Sadani liegt an der Koromandelküste, an dem Fluß Krischna, und besitzt einen kleinen Hafen. Als ich mich, vor Sadani angelangt, bei dem Fürsten meldete, wurde ich in sein Arbeitszimmer geführt, in dem sich außer ihm nur noch ein alter Brahmane namens Askari befand, der schon der vertraute Ratgeber Sorahmatras gewesen war. Der Radscha begrüßte mich freundlich wie immer und fuhr nach einigen Fragen, die den Zustand der Jacht betrafen, dann mit leiserer Stimme fort: „Mister Wilkens, Sie sind nun schon seit vielen Jahren in meinem Dienst und haben sich mein volles Vertrauen in dieser Zeit erworben. Einen Beweis dieses Vertrauens will ich Ihnen heute geben. Sie wissen, daß ich mir in Midnapur bei Kalkutta einen neuen Palast habe bauen lassen, den ich fortan den größten Teil des Jahres zu bewohnen gedenke. Es sollen also in nächster Zeit hier aus Sadani alle kostbaren Gegenstände dorthin gebracht werden, und ebenso will ich auch meine sämtlichen Schätze in den in Midnapur eingerichteten Stahlkammern unterbringen. Wie Ihnen vielleicht bekannt sein wird, besteht der wertvollste Teil dieser Schätze aus einer Sammlung von Edelsteinen, die von meinen Vorfahren angelegt worden ist. Darunter befinden sich mehrere sehr seltene Diamanten, die –“

Hier stockte Matasana. Der alte Brahmane hatte sich plötzlich warnend geräuspert und dem Radscha einen schnellen Blick zugeworfen, den ich aber doch bemerkte. Als ich nun den Fürsten etwas schärfer fragend ansah, stieg ihm deutlich die helle Röte in sein olivengelbes, feingeschnittenes Gesicht. Unter meinem Blick schlug er verwirrt, wie schuldbewußt, die Augen zu Boden; und in demselben Moment, Herr Doktor, durchzuckte mich auch schon der Gedanke: der Radscha kennt die Geschichte des blauen Steines, weiß, wie derselbe in den Besitz seines Vaters gelangt ist!

Da fuhr Matasana zögernd fort: „Diese Sammlung nun sollen Sie und Askari, so habe ich es mit dem alten Freunde meines Vaters verabredet, auf meiner Jacht nach Kalkutta und von dort mit der Bahn nach dem neuen Schlosse in Midnapur bringen. Ich habe mich für diese Art der Überführung entschieden, da sie mir am sichersten erscheint. Der Transport auf der langen Bahnstrecke zu Lande ist mir zu gefährlich. Überfälle von Eisenbahnzügen sind gerade in der letzten Zeit sehr häufig gewesen, und da ich bei Benützung des Landweges notwendig eine größere Anzahl von Personen ins Vertrauen ziehen müßte, würde sich die Gefahr einer Beraubung nur vergrößern. So aber werden nur wir drei wissen, welch kostbare Ladung die ‚Godawari‘ trägt. Auf Ihr Schweigen verlasse ich mich natürlich ebenso wie auf das Askaris.“

Dann entwickelte mir der Fürst die Einzelheiten seines Planes. Danach sollten von uns die Edelsteine und die wertvollsten Geschmeide in zwei einfache Lederkoffer verpackt und unauffällig an Bord in meine Kajüte geschafft werden, die Askari und ich für die Dauer der Überfahrt als Schatzhüter gemeinsam bewohnen konnten.

In welcher Erregung ich damals auf das Schiff zurückkehrte, können Sie sich wohl denken, Herr Doktor. Hier bot sich mir ja endlich eine Gelegenheit, mein langjähriges Vorhaben auszuführen! Ich schwankte auch keinen Augenblick, umso weniger, als ich fest überzeugt war, daß der alte Radscha Sorahmatra damals meinen Vater schmählich um sein Eigentum betrogen hatte. – In aller Stille traf ich meine Vorbereitungen. Vierzehn Tage hatte ich noch Zeit. Ich fuhr, angeblich um für die ‚Godawari‘ einige Maschinenteile zu ergänzen, nach Madras, hob meine Barmittel, die durch meine Ersparnisse eine ziemliche Höhe erreicht hatten, von der Filiale der Ostindischen Bank ab, erkundigte mich genau nach den Abfahrtszeiten der großen Dampferlinien für Kalkutta und kam darauf nach Sadani zurück, ohne irgendwie Argwohn erregt zu haben.

In einer dunklen Nacht stiegen dann der Fürst, Askari und ich in die Gewölbe hinab, nachdem Matasana die beiden ständigen Wachen fortgeschickt hatte. Was ich in jener Nacht geschaut, wird wohl selten einem gewöhnlichen Sterblichen vergönnt sein. Ich hatte schon immer von dem unermeßlichen Reichtum meines Herrn sprechen hören, aber was meine Augen bei dem Schein unserer hellen Acetylenlampen in Schränken und Truhen aufblitzen, funkeln und gleißen sahen, übertraf alle meine Vorstellungen. Lange Zeit habe ich wie betäubt dagestanden, keines Wortes mächtig. Dann kam es wie ein Fieber über mich, meine Hände bebten, auf die Stirn trat mir kalter Schweiß. Meine Gedanken jagten sich, neue Pläne durchzuckten mein Hirn.

Da fühlte ich den Blick Matasanas, der durchdringend in meinem bleichen Gesicht zu forschen schien. Ich nahm mich zusammen, zwang mich unter Aufbietung meiner ganzen Energie zur Ruhe. Aber dennoch führte ich wie im Traum des Fürsten Anordnungen aus. Er hatte einen eisernen Schrank von alter indischer Schmiedearbeit geöffnet und reichte uns wortlos die kleinen, aus Ebenholz gefertigten Kästchen zu, in denen die wertvollen Steine aufbewahrt wurden. Askari und ich legten sie ebenso wortlos in die Lederkoffer. Am Morgen machte die ‚Godawari‘ seeklar, und bald befanden wir uns auf dem offenen Meere, steuerten Kalkutta zu.

Am Abend des zweiten Tages war’s, wir kreuzten gerade in der Bai von Bengalen gegen einen böigen Nordost auf, als ich dem Indier in die Fruchtlimonade, die er regelmäßig zu trinken pflegte, ein unschädliches Schlafmittel mischte. Dann stieg ich an Deck, um die Wachen zu revidieren, und kam erst nach einer Viertelstunde wieder nach unten. Askari lag auf dem Diwan, auf dem er die Nächte, nur eingehüllt in eine dünne Decke, zubrachte; neben ihm aber standen wie immer die beiden braunen Lederkoffer.

„Ich bin müde, Wilkins,“ sagte er noch wie erklärend. „Die Seekrankheit hat mich doch sehr angegriffen.“

Bald war er fest eingeschlafen. Ich wartete eine halbe Stunde und horchte auf die regelmäßigen Atemzüge des alten Mannes, der nicht ahnen konnte, daß seine plötzliche Schlafsucht einen ganz anderen Grund hatte, denn das Limonadenglas stand geleert auf dem kleinen Anrichtetischchen zwischen den Flaschen und den anderen Gläsern.

Dann begann ich ihn zu rütteln. Er schlief aber wie ein Toter und murmelte auf meine Anrufe nur unverständliche Worte vor sich hin. Eine starre Ruhe war über mich gekommen. Ohne Hast führte ich meinen Plan weiter aus. Ich hatte mir alles genau überlegt. Nachdem ich die Kajütentür verschlossen und die Oberlichtfenster dicht verhängt hatte, nahm ich Askari vorsichtig die kleinen Schlüssel zu den Patentschlössern weg, die er an einer Schnur um den Hals trug, öffnete die Koffer und durchsuchte die kleinen Ebenholzkästchen, die durch einen Druck auf einen Perlmutterknopf aufsprangen. Endlich fand ich den blauen Diamanten – mein Eigentum! Er lag auf einem Bett von weißer Seide, und ein Bündel farbiger Lichtstrahlen leuchtete auf, als der Schein der Lampe ihn traf. Ich hätte aufjubeln mögen in dem Augenblick, da ich endlich am Ziel war. Noch ein schneller Blick zu dem Brahmanen hin, dann ließ ich den Stein in meine Tasche gleiten und legte in das leere Kästchen einen zusammengefalteten Zettel hinein, den ich schon vorher geschrieben hatte. Darauf stand: „Ich heiße nicht Wilkins, sondern Sander, bin ein Sohn jenes deutschen Kaufmannes, dem der Radscha Sorahmatra den blauen Edelstein raubte. Ich habe nur zurückgenommen, was mir von Rechts wegen gehört!“ – Askari rührte sich nicht, als ich ihm die Schnur mit den Schlüsseln wieder umhängte.

Nun hieß es den Diamanten verbergen, so verbergen, daß niemand ihn bei mir finden konnte. Auch daran hatte ich gedacht! In einem Schälchen mischte ich Gips und umgab den Stein mit einer so starken Schicht, daß er ungefähr Taubeneigröße bekam. Als die Gipsschicht hart geworden war, rieb ich den derart präparierten Stein dick mit Fett ein und – würgte ihn hinunter.

Der Brahmane erwachte am nächsten Morgen mit etwas dumpfem Kopf, schrieb aber seine Mattigkeit der Seekrankheit zu, die ihm gleich am ersten Tage sehr zugesetzt hatte.

Der Rest unserer Reise verlief ohne Zwischenfall. Ich hatte es so eingerichtet, daß wir gerade zwei Stunden vor Abgang eines großen Dampfers in Kalkutta anlangten. Ich ließ mich sofort an Land rudern, um, wie ich Askari sagte, bei der Hafenpolizei die vorgeschriebenen Meldungen zu erstatten. Mein Geld und meine Papiere trug ich bei mir. In einem Warenhause kaufte ich mir noch schnell die notwendigste Reiseausrüstung und einige Kleider und befand mich zehn Minuten vor Abfahrt der „Ozeana“ an Bord. Als ich mich dann in meiner Kabine umgezogen hatte – mein dunkler Bart war dem Messer eines chinesischen Barbiers zum Opfer gefallen – hätte wohl so leicht niemand in mir den einstigen Kapitän der „Godawari“ wiedererkannt.

Fünf Wochen später kam ich in San Franzisko an. Hier war es, wo ich mich bei einem berühmten Professor untersuchten ließ. Den mir gewordenen Bescheid kennen Sie, Herr Doktor. Ebenso habe ich Ihnen auch von meinen Irrfahrten erzählt, die mich durch die ganze Welt führten. Aus Furcht vor Verfolgern hielt ich mich niemals längere Zeit an demselben Orte auf, denn ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß der Radscha Matasana alle Anstrengungen machen würde, den blauen Diamanten wieder in seinen Besitz zu bringen, und sein Reichtum erlaubte es ihm, die gewandtesten Detektivs auf meine Spur zu hetzen. Ende des Jahres 1903 – ich kam gerade nach Kapstadt – bewies mir ein Erlebnis an Bord des Lloyddampfers „Bismarck,“ daß meine Vorsicht durchaus nicht überflüssig gewesen war.

Der Zufall spielt bisweilen merkwürdig, so auch damals. Auf dem „Bismarck“ befanden sich unter den Passagieren auch drei englische höhere Kolonialbeamte, die über Sansibar nach Indien zurückkehren wollten. Neben diesen saß ich eines Abends im Speisesalon. Die drei Herren, Vertreter der englischen Aristokratie, spielten um ziemlich hohe Einsätze Makao und sprachen in den Pausen sehr ungeniert über wichtige Vorfälle in der Kapkolonie, erwähnten auch den[2] eines großen Diamantendiebstahls, dessen Opfer wenige Tage vorher einer der bedeutendsten Juweliere in Kapstadt geworden war. Bei dieser Gelegenheit erinnerte der eine der Herren seine Mitspieler an den noch unaufgeklärten Raub des berühmten blauen Diamanten des Radscha Matasana, äußerte auch, daß damals trotz der sofort aufgenommenen Verfolgung der Dieb – das war ich! – entkommen sei, und man von dem wertvollen Steine nie mehr etwas gehört habe. Am interessantesten an diesem Gespräch war mir aber eine Bemerkung, die ein anderer der Engländer einfließen ließ. Danach sollte der Fürst die Suche nach dem geraubten Stein auffallend lässig betrieben und jede Mitwirkung der Behörden ebenso wie die Hilfe der Presse abgelehnt haben, so daß man in eingeweihten Kreisen sogar auf die Vermutung kam, der Radscha habe die ganze Diebstahlsgeschichte aus irgend welchen unerklärlichen Gründen nur – erfunden. – Nun, dieses Rätsel hätte ich den Herren ganz gut lösen können! Matasana hat eben gefürchtet, daß durch irgend einen Zufall das Verbrechen seines Vaters aufgedeckt werden könnte und daher der Öffentlichkeit möglichst wenig Gelegenheit gegeben, sich mit der Sache zu beschäftigen.

Ich wartete darauf noch ein Jahr, bevor ich nach Deutschland zurückkehrte, um mir den Stein durch eine Operation aus dem Magen herausnehmen zu lassen. Mehrere Wochen suchte ich in den verschiedensten großen Städten nach einem Arzt, dem ich mein Anliegen vorbringen konnte. Nachdem sich dann mehrere Ihrer Kollegen durch die etwas merkwürdigen Bedingungen, mit denen ich meinen Besuch einleitete, hatten abschrecken lassen, kam ich zu Ihnen. Warum ich diese Bedingungen gestellt habe, wird Ihnen jetzt klar geworden sein. Ich mußte mein Geheimnis auch weiterhin bewahren – wenigstens solange, bis ich den Diamanten verkauft hatte. Sie haben nicht nur meine Wünsche gewissenhaft erfüllt, sondern mich auch in sorgfältigster Weise gepflegt, und die Wochen in Ihrem Hause hatte ich wirklich ein sicheres und behagliches Heim gefunden. Daß ich mich hierfür erkenntlich zeigen wollte, können Sie mir nicht verargen, selbst wenn Ihr Gewissen sich gegen die Annahme des wohlverdienten und ganz angemessenen Honorars sträuben sollte, weil es von einem Manne kommt, der mit vielleicht nicht ganz einwandfreien Mitteln sich sein Eigentum wieder verschafft hat.

Doch zurück zu meinem Bericht, dem ich nicht mehr viel hinzuzufügen habe. Wie ich den Stein ohne Schwierigkeiten verkauft habe, sehen Sie aus den Zeitungsnotizen. Bevor ich jedoch mit dem Diamantenhändler Farbeau in Unterhandlungen trat, erkundigte ich mich, ob vielleicht – eine allgemein übliche Maßregel – das „Auge des Brahma“ bei den Händlern auf der Liste der gestohlenen Diamanten geführt wurde. Es war nicht der Fall, und diese Tatsache ist ein weiterer Beweis, wie sehr dem Fürsten daran liegt, daß nichts in die Öffentlichkeit kommt.

Und nun, Herr Doktor, nachdem Sie die Geschichte meines Lebens kennen gelernt haben, urteilen Sie selbst! Wie dieses Urteil ausfällt, werde ich wohl nie erfahren. Aber sollten Sie es je für nötig erachten, zu meiner Rechtfertigung der Welt gegenüber das Ihnen anvertraute Geheimnis preiszugeben, so würde ich ja daraus ersehen, daß Sie geurteilt, aber nicht verurteilt haben. Und hiermit gebe ich Ihnen auch Ihr Wort zurück. Machen Sie von Ihrer Wissenschaft den Gebrauch, den Ihnen Ihr Gerechtigkeitsgefühl vorschreibt.

Leben Sie wohl, und mag die Zukunft Ihnen nur Gutes bringen!

* * *

Im Frühjahr 1906 las Doktor Willibald Sprengel seiner kleinen Frau eines Abends folgende Notiz aus der Zeitung vor: „Das britische Thronfolgerpaar, das bekanntlich am 19. Oktober vorigen Jahres seine Reise nach Indien antrat, ist nach dem Besuch mehrerer Küstenstädte nun auch in Delhi, der Hauptstadt des indischen Kaiserreichs, unter Entfaltung eines nur im Orient möglichen, geradezu märchenhaften Pomps eingezogen. Vor den Toren der Stadt wurden der künftige Beherrscher des englischen Weltreichs und seine Gemahlin von dem Vizekönig von Indien, Earl of Minto, und einigen hundert eingeborenen Fürsten empfangen und dann durch die festlich geschmückten Straßen bis zum Palaste des Vizekönigs geleitet. Am Abend fand ein Bankett statt, zu dem die Fürsten in ihren edelsteinübersäten Nationaltrachten erschienen waren. Diese Tischgesellschaft bot ein die Augen blendendes, zauberhaftes Bild dar. Buntschillernde seidene Gewänder, auf denen die kostbarsten Brillanten wie zuckende Flämmchen leuchteten, goldgestickte Uniformen mit blinkenden Ordenssternen, dazwischen die Galaroben der Damen, und die feenhafte Beleuchtung des nur in Weiß und Gold gehaltenen Saales – das alles wirkte zusammen wie ein Märchen aus Tausend und eine Nacht. Und doch soll in dieser illustren Menge einer der indischen Fürsten immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt haben: Matasana, der Radscha von Sadani, der an einer mit Brillanten dicht besetzen Kette als Medaillon einen großen, blauen Diamanten trug, vor dessen Feuer alle übrigen Steine zu erblassen schienen. Dieser Diamant, den Kenner für jenen unter dem Namen „Auge des Brahma“ berühmten und vor einem Jahrhundert aus dem französischen Kronschatz verschwundenen Edelstein halten, befand sich fünfzig Jahre im Besitze der Familie der Fürsten von Sadani, wurde im Jahre 1899 entwendet und tauchte erst 1905 in Brüssel bei einem Diamantenhändler wieder auf, der ihn dem früheren Besitzer für die ungeheure Summe von drei Millionen Franken verkaufte.“

Sprengel hatte die Zeitung langsam zusammengefaltet und schaute sein Frauchen jetzt fragend an. „Weißt du nun, Schatz, weswegen ich dir diesen Bericht vorlesen mußte?“

Frau Käthe nickte eifrig und lächelte ihrem Manne glückselig zu. „Ich weiß, Liebster, ich weiß! Es ist ja unser Glückstein, dieses ‚Auge des Brahma‘ – unser Glückstein!“

 

 

Anmerkungen:

  1. Fehlendes Wort „erteilt“ ergänzt.
  2. Fehlendes Wort „den“ ergänzt.
  3. Walther Kabel baute einige Abschnitte der Novelle in die Romanerzählung „Indische Abenteuer“, die 1919 in der IRA-Kriminalbibliothek irrenführenderweise unter dem Titel „Das Auge des Brahma“ erschien, ein. Näheres siehe unter „Wissenswertes zu Indische Abenteuer oder das Auge des Brahma“.