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Die Diebin

 

Die Diebin

von Walter Kabel

 

Als der Personenzug Halle-Berlin um elf Uhr vormittags in den Bahnhof Bitterfeld, den großen Eisenbahnknotenpunkt, eingelaufen war, sprang aus einem Abteil dritter Klasse leichtfüßig ein kleiner, korpulenter Mann heraus, dessen glattrasiertem, faltigem Gesicht die goldene Brille und das kecke Stupsnäschen einen recht harmlos gemütlichen Ausdruck gaben. Dieser, einem Dorfschulmeisterlein aufs Haar gleichende Reisende lief jetzt mit trippelnden Schritten die Wagenreihe entlang und machte dann plötzlich vor einem Abteil zweiter Klasse Halt, wo er sich nun in aller Gemütsruhe eine Zigarre anzuzünden begann, gerade als ob er diese, jedem passionierten Raucher so wichtige Einleitungshandlung für den späteren Genuß ausgerechnet nur an dieser einen Stelle des weiten Bahnsteigs vornehmen konnte. Dieses seltsame Benehmen des kleinen Herrn wäre wohl jedem schärferen Beobachter aufgefallen. In dem lebhaften Bahnhofsgetriebe dachte aber niemand daran, dem dicken Menschen mit den hinter den Brillengläsern so freundlich glitzernden Äuglein irgendwelche Beachtung zu schenken. So wurde es denn auch nicht weiter bemerkt, daß zwischen ihm und einem in dem Fenster des Abteils Zweiter lehnenden, elegant gekleideten, jüngeren Herrn blitzschnell einige Blicke ausgetauscht wurden. Als die Zigarre brannte, schlenderte der unscheinbare Reisende, indem er offenbar mit größtem Wohlbehagen den bläulichen Rauch in die klare Herbstluft hinausblies, dem Empfangsgebäude zu und verschwand in der Tür zum Wartesaal. Gleich darauf verließ auch der andere Herr, der mit jenem vorhin die heimliche Augenzwiesprache gehalten hatte, den Zug und betrat ebenfalls das Bahnhofsrestaurant, wo er wie unabsichtlich an demselben Tische Platz nahm, an dem schon der kleine, brillenbewaffnete Mann hinter einem Glase Bier saß.

„Es stimmt doch – der Berliner Zug hat hier zwölf Minuten Aufenthalt, nicht wahr?“ sagte der zuletzt Gekommene nach einer Weile sehr höflich zu seinem Tischnachbar mit jener Zuvorkommenheit, mit der man nur einen uns gänzlich Unbekannten um Auskunft bittet.

Diese belanglose Frage bildete merkwürdigerweise die Einleitung zu einer Unterhaltung, die von beiden Seiten in vorsichtigstem Flüsterton geführt wurde, dabei im übrigen jedoch vollkommen den Eindruck machte, als hätten die Herren sich eben erst kennengelernt und wären nur zufällig miteinander ins Gespräch geraten.

„Was gibt’s denn, Winter?“ hatte der Jüngere, dessen blonder, aufgedrehter Schnurrbart, im Verein mit der frischen Farbe des scharfgeschnittenen Gesichts und der straffen Haltung des schlanken Körpers, auf einen Offizier in Zivil hinzudeuten schien, die Unterredung begonnen. „Sie hatten es ja mächtig eilig, mich zu sprechen. Haben Sie etwas Wichtiges entdeckt?“

„Ich hoffe, Herr Kommissar.“

„Dann los, Winter, kramen Sie aus. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr!“

„In Halle suchte ich mir ein leeres Nichtraucherabteil aus, um womöglich ein kleines Schläfchen zu machen. Da, im letzten Augenblick vor der Abfahrt, stieg noch eine junge Dame ein, die eine billige, gelbe Ledertasche in der Hand trug. Das ganze Benehmen meiner Mitreisenden erschien mir vom ersten Augenblick an recht verdächtig. Sie drückte sich nämlich scheu in eine Ecke und zog mit zitternden, hastigen Griffen die Gardine so weit vor, daß sie vom Bahnsteig aus nicht mehr gesehen werden konnte. Ihre Handtasche behielt sie auf dem Schoß, indem sie diese, wie ein wertvolles Stück, mit beiden Armen fest an sich preßte. Erst als der Zug sich in Bewegung setzte, schien sie erleichtert aufzuatmen und wagte sich nun auch freier zu bewegen. Aber ihre Blicke, mit denen sie mich nun verstohlen zu mustern begann, waren noch immer so seltsam verängstigt und scheu, daß ich mir unwillkürlich sagte, die Person könnte kein ganz reines Gewissen haben. –

Ich will mich kürzer fassen. – Meine List mit dem Sichschlafenstellen hatte denn auch wirklich gleich hinter der Station Roitsch den gewünschten Erfolg. Wir waren noch immer die einzigen Insassen des Abteils, die junge Dame und ich, und fraglos war meine Reisegefährtin zu der Überzeugung gekommen, daß meine Schnarchtöne wirklich echt sein müßten. Jedenfalls begann sie plötzlich vorsichtig den Inhalt ihrer Handtasche auf die Bank zu entleeren. Trotzdem sie mir dabei den Rücken zukehrte, ihre schwarze Tuchjacke aufknöpfte und diese nach beiden Seiten wie einen Schirm gegen neugierige Blicke aufschlug, gelang es mir doch, so mancherlei zu erspähen, beziehungsweise zu erlauschen. In der Reisetasche befinden sich – das stellte ich aus dem Knittern des Papiers beim Auswickeln fest – im ganzen zwölf in Papier gehüllte Wertgegenstände von geringer Größe. Auf Wertgegenstände schließe ich deshalb, weil ich öfter ein feines Klirren und Klingen wie von Edelmetallstücken vernahm und außerdem auch ebenso häufig an der Wagendecke eigenartig geformte Lichtreflexe bemerkte, die nur durch die Spiegelung der durch das Fenster fallenden Sonnenstrahlen in poliertem Golde oder geschliffenen Steinen hervorgerufen worden sein können. Die Möglichkeit, daß wir es hier mit einem Mitglied jener von uns bisher vergeblich gesuchten internationalen, hauptsächlich die D- und Luxuszüge unsicher machenden Diebesbande zu tun haben könnten, liegt nach diesen meinen Beobachtungen immerhin vor, – das werden Sie wohl selbst zugeben müssen, Herr Kommissar, besonders, wenn man das seltsam verängstigte Benehmen der Person, die im übrigen allerdings ein ganz sympathisches Gesichtchen hat, in Betracht zieht!“

Kriminalkommissar Fritz Reinbach schaute nachdenklich vor sich hin.

„Alles ganz schön, Winter … Aber meinen Sie wirklich, daß eine gewerbsmäßige Verbrecherin so unvorsichtig sein wird, in Gegenwart eines ihr unbekannten Dritten ihre Diebesbeute einer Besichtigung zu unterziehen?“, meinte er dann gedehnt.

Der Beamte zuckte die Achseln.

„Dummheiten macht jeder Gauner mal, das wissen wir ja aus Erfahrung! Und wenn mich mein Gehör nicht gerade allzusehr getäuscht hat, so handelte es sich nicht um eine Besichtigung, sondern mehr um eine Sortierung der Wertgegenstände. Wenigstens schien es mir so, als ob das junge Mädchen immer einige der Stücke zusammen in eine Hülle packte, während die Sachen vorher einzeln in Papier eingeschlagen waren. Jetzt liegt alles wieder fein säuberlich in der gelben Ledertasche, deren Inhalt ich in Berlin ganz gern einmal näher untersuchen möchte!“

„Die Person fährt bis Berlin?“

„Jedenfalls hat sie eine Fahrkarte bis dorthin, wie ich durch den von mir eingeweihten Zugführer ganz unauffällig feststellen ließ. Und daß sie mir inzwischen nicht entwischt, dafür werde ich schon sorgen. Augenblicklich befindet sie sich auch noch ruhig in ihrem Kupee, das ich hier von meinem Platze durch das Fenster stets im Auge behalten kann.“ –

Als der Zug sich dann wenige Minuten später wieder in Bewegung setzte, hatten sich die Insassen des Abteils 3., in dem der Kriminalschutzmann Winter jene interessanten Entdeckungen machen konnte, um zwei weitere Fahrgäste vermehrt. In der dem Platze des jungen Mädchens gegenüberliegenden Ecke saß Fritz Reinbach, der seinen Untergebenen verabredungsgemäß nicht zu kennen schien, während sich neben Winter auf der anderen Bank eine einfach gekleidete ältere Frau niedergelassen hatte.

Der Kommissar, der mit dem Kriminalschutzmann eine jener zahlreichen Kriminalpatrouillen bildete, die seit Monaten auf den Eisenbahnen nach einer ebenso verwegenen wie geschickt arbeitenden Diebesgesellschaft fahndeten, hatte in den letzten Tagen deutliche Anzeichen dafür entdeckt, daß das Hauptquartier des fraglos aus mehreren Köpfen bestehenden Gaunerkonsortiums in Berlin zu suchen sei, und wollte jetzt seine weiteren Nachforschungen von dort aus aufnehmen. Während er jetzt zurückgelehnt in seiner Fensterecke saß, anscheinend von dem Inhalt seiner Zeitung ganz in Anspruch genommen, fand er doch Gelegenheit, immer wieder das Äußere seines Gegenübers unmerklich einer eingehenden Prüfung zu unterziehen.

„Winter hat Recht gehabt,“ sagte sich Reinbach nach einem erneuten, das Antlitz des jungen Mädchens blitzschnell streifenden Blick. „Kein übles Gesicht, jedenfalls keines von denjenigen, denen die Tätigkeit ihres Besitzers einen für jeden Menschenkenner leicht zu enträtselnden Stempel aufgedrückt hat. Für eine Gaunerin sprechen diese zwei Leidenschaften um den schön gezeichneten Mund jedoch niemals. Und die Stirn – geradezu edel geformt, ebenso die Kinnpartie! – Ich fürchte, Winter befindet sich hier auf dem Holzwege. So ungekünstelt vornehm trotz der einfachen Garderobe und trotz des verschüchterten Wesens wirkt keine professionelle Diebin.“

Weiter ratterte der Zug durch die herbstliche Landschaft. In dem bereits geheizten Kupee hatte sich bei den völlig geschlossenen Fenstern allmählich eine Temperatur entwickelt, die dem Kommissar immer lästiger wurde.

„Gestatten Sie, daß ich das Fenster etwas öffne? Die Hitze hier ist, wenigstens für mich, unerträglich,“ sagte er daher mit knapper Verbeugung zu dem jungen Mädchen, das bisher unverwandt durch die Seitenscheibe in die, wie eine Wandeldekoration vorüberhuschende Gegend hinausgestarrt, nicht nur regelmäßig auf den Stationen den Kopf zurückgebogen und sich hinter der grünen Gardine zu verbergen gesucht hatte.

Die Wirkung dieser durchaus nicht in überlautem Tone gestellten Frage war derart, daß Fritz Reinbachs Ansicht über die so rätselhaft vorsichtige und verängstigte Reisegefährtin eine für diese recht nachteilige Wandlung erfuhr. Jeder Blutstropfen war nämlich bei dem Klang seiner Stimme aus ihrem Gesicht gewichen, und ganz entgeistert starrte sie den Kriminalkommissar aus vor Angst geweiteten Augen an, während sie mit einer unwillkürlichen Bewegung über die neben ihr liegende Handtasche wie schützend den Arm deckte. –

Winter, der von seinem Platz aus diesen auffälligen Vorgang genau verfolgt hatte, hüstelte jetzt vielsagend. Und erst dieses Hüsteln schien das junge Mädchen zur Besinnung zu bringen. Offenbar mit Aufbietung aller Energie zwang es sich zur Ruhe und preßte mühsam hervor:

„Sie wünschen, mein Herr …?“

„Ich fragte nur, ob ich das Fenster etwas öffnen dürfte, – das war alles!“ sagte Reinbach langsam und die letzten Worte besonders hervorhebend.

„Bitte …“, war die in höchster Verwirrung gegebene Erwiderung. Und abermals schaute die Unbekannte, jetzt aber mit vor innerer Erregung hochrotem Gesicht, krampfhaft zum Fenster hinaus.

Der Kommissar aber dachte: „Dir werde ich doch weiter recht genau auf die Finger sehen, mein Kind, trotz deiner Leidensmiene und der sanften grauen Augen. In Berlin wirst du deine Geheimnisse preisgeben müssen, so wahr ich Fritz Reinbach heiße!“

 

*

An demselben Tage, kurz nach Ankunft des Personenzuges Halle-Berlin, betrat eine junge Dame, die in der Hand eine gelbe, lederne Reisetasche trug, eines der in der Potsdamerstraße der Reichshauptstadt gelegenen Leihinstitute und bot dem Besitzer verschiedene alte Schmuckstücke zum Versetzen an. Da sie sich genügend legitimieren konnte, nahm man ihr die Schmucksachen, – einen altertümlichen Brillantring, eine große, goldene Brosche mit einer wertvollen Gemme als Mittelschild und ein schweres goldenes Plattenarmband – ohne weitere Umstände ab und zahlte ihr auch dafür eine dem Werte der Gegenstände entsprechende, ziemlich hohe Summe aus, worauf sie das Geschäft verließ, um hintereinander noch drei weitere, in der Nähe befindliche Pfandhäuser aufzusuchen, in denen sie gleichfalls verschiedene andere Schmuckstücke zu Geld machte. Dann fuhr sie mit einem Omnibus nach dem Anhalter Bahnhof, stieg am Endpunkte der Strecke aus und verschwand in dem Bahnhofsgebäude, – ohne zu ahnen, daß die beiden Kriminalbeamten ihr wie gute Schweißhunde ständig auf den Fersen geblieben und daher auch von ihren Besuchen in den Leihinstituten genau unterrichtet waren. Gerade als sie am Schalter für den um sechs Uhr abends nach Halle abgehenden D-Zug eine Fahrkarte gelöst hatte, vertrat ihr Fritz Reinbach den Weg und erklärte sie für verhaftet. Sie solle ihm nur, wenn sie unliebsames Aufsehen vermeiden wolle, freiwillig nach einer Droschke folgen. Halb taumelnd, mit Tränen kämpfend und leichenblassen Angesichts, gehorchte sie, ohne dann auch nur ein einziges Wort an die in dem Wagen ihr gegenübersitzenden Beamten zu richten.

In dem Verhörzimmer des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz angelangt, bat sie den Kriminalkommissar bereits in recht gefaßtem Ton, ob sie ihn allein ohne Zeugen sprechen könne. Sie wolle sich aus bestimmten Gründen nur ihm anvertrauen. –

 

*

Der Rentier Felix Hornemann, wohnhaft in Halle, Georgenstraße 15, gehörte zu jenen mildtätigen Menschen, die ständig in den Zeitungen annoncierten, daß sie jedem Geldsuchenden gegen genügende Sicherheit Darlehn in beliebiger Höhe gewähren. Daß eine derartige Mildtätigkeit stets Zinsen bis zu fünfundzwanzig Prozent und mehr einbringt, ist aus unzähligen Wucherprozessen zur Warnung aller derer genugsam bekannt geworden, die sich in augenblicklicher Verlegenheit befinden. Trotzdem gibt es noch immer genug Leichtsinnige, die die Hilfe dieser Hyänen in Anspruch nehmen, sogar so viele, daß jene berüchtigten „Wohltäter der Menschheit“ bei ihrem dunklen Gewerbe trotz einzelner Verluste zumeist ein recht bequemes und einträgliches Dasein führen. –

Zu Herrn Hornemanns Kunden gehörten seit Jahren Korpsstudenten, junge Juristen und Einjährige, soweit die pekuniären Verhältnisse der Eltern der hoffnungsvollen Herren Söhne die Anknüpfung geschäftlicher Beziehungen als lockend erscheinen ließen. Mit Offizieren gab Felix Hornemann sich grundsätzlich nicht ab. Da existierten so unangenehme Regimentskommandeure, die sich ohne jede Scheu in die Privatangelegenheiten ihrer Leutnants einmischten und sogleich mit dem Staatsanwalt drohten, selbst wenn es sich nur um lumpige zwölf bis fünfzehn Prozent Zinsen handelte, – die Abschlußprovision von ein Zehntel des Darlehns allerdings nicht mitgerechnet, welche der Wohltäter aus der Georgenstraße sich stets abzog. –

Es war am Tage nach der Verhaftung der jungen Dame mit der gelben Reisetasche. In Hornemanns Geschäftszimmer saß um die Mittagszeit auf dem roten Polsterstuhl ein Herr mit einem aufgedrehten blonden Schnurbärtchen, der ganz den Eindruck eines Offiziers in Zivil machte.

„Also fünfhundert Mark wünschen Sie, Herr Assessor?“ fragte der mildherzige Rentier soeben, indem er die Erscheinung des neuen, ihm bisher völlig unbekannten Kunden nochmals mit taxierendem Blick überflog. Diese Prüfung mußte zugunsten des blonden Herrn ausgefallen sein. Denn Hornemännchen, wie er in den Kreisen der Eingeweihten nur genannt wurde, rieb sich mit wohlwollendem Lächeln die Hände und nickte dann seinem Gegenüber aufmunternd zu.

„Allerdings, – fünfhundert Mark brauche ich und zwar auf drei Monate.“

„Schön – schön – hm, vielleicht dürfte ich fragen, wer den Herrn Assessor an mich empfohlen hat? Dafür interessiert man sich doch!“

„Herr Referendar von Köhler, wenn Sie’s denn durchaus wissen wollen!“

Bei dem Namen von Köhler wurde Hornemännchens eben noch so freundliche Miene urplötzlich eisig kühl und steinern.

„So, von Herrn Referendar also!“ meinte er gedehnt.

„Der Name meines Bekannten scheint in Ihnen nicht gerade sehr angenehme Gefühle auszulösen, Herr Hornemann,“ sagte der Assessor mit ironischer Aufrichtigkeit. „Die Veränderung in Ihrem Gesichtsausdruck läßt mich jedenfalls auf diesen Gedanken kommen.“

„Sie haben richtig geraten, Herr Assessor,“ erwiderte der andere nach einigem Zögern. „Ich werde wahrscheinlich an diesem Herrn von Köhler eine ganze Menge Geld verlieren.“

„I was Sie sagen!“, platzte der Assessor mit offensichtlichem Spott heraus. „So schlimm wird’s wohl nicht sein. Denn so viel mir bekannt ist, haben Sie Köhler doch nur einmal vor zwei Jahren ein Darlehn von achthundert Mark gegeben zur Deckung von Spielschulden. Sollte er diese Summe wirklich noch nicht zurückgezahlt haben?“

Herr Hornemann begann plötzlich sehr unruhig auf seinem Sessel hin und her zu rutschen. Das Benehmen dieses so scherzhaft veranlagten Herrn wurde ihm immer verdächtiger. Da steckte mehr dahinter. Diesen Assessor führten fraglos andere Absichten her, – aber welche, welche …?

„Bitte, wollen Sie mir nicht antworten …!“, fragte der unglaubliche Mensch jetzt sogar noch in geradezu herrischem Tone. „Wie verhält es sich mit den Schulden Köhlers, sprechen Sie!“

„Herr, was geht Sie das an?“ stieß Hornemann endlich mühsam hervor und erhob sich wie ein gereizter Tiger. „Ich verzichte auf …“

Worauf er verzichten wollte, blieb unausgesprochen. Denn der angebliche Assessor unterbrach ihn schneidend:

„Bleiben Sie sitzen –! Jetzt weiß ich, wes Geistes Kind Sie sind. Damit Sie aber auch wissen, wer ich bin – hier meine Legitimation, lautend auf den Kriminalkommissar Fritz Reinbach aus Berlin. – Und nun möchte ich Ihnen zunächst mal eine kleine Geschichte erzählen. Auf den eigentlichen Zweck meines Kommens werde sich später eingehen. – Gestern wurde in Berlin eine junge Dame unter dem Verdacht verhaftet, daß sie Schmucksachen, die sie in verschiedenen Leihhäusern versetzte, auf unrechtmäßige Weise in ihren Besitz gebracht haben könnte. Auf dem Polizeipräsidium hat die betreffende Dame, ein Fräulein Vera von Köhler – ich betone: Vera von Köhler – mir gegenüber dann folgende Angaben gemacht. Ihr Bruder, welcher Referendar und Reserveoffizier ist, hat vor zwei Jahren bei einem hiesigen Wucherer – damit sind Sie gemeint, Herr Hornemann, bleiben Sie nur ruhig sitzen! – also bei einem Wucherer achthundert Mark gegen einen Wechsel aufgenommen, die Summe aber bisher nicht zurückzahlen können, da sein Vater, der Geheimrat von Köhler, sehr bald nach Erhebung des Darlehns von einem schweren Schlaganfall betroffen wurde und sich infolgedessen pensionieren lassen mußte, wodurch die zahlreiche Familie des bisher völlig lebensfrischen Herrn in die bedränglichste pekuniäre Lage geriet. Heinz von Köhler sah sich daher gezwungen, von Ihnen immer wieder eine Prolongation des Wechsels zu erbitten, was Sie zunächst auch gutwillig taten, bis Sie dann eines Tages erklärten, ihm die inzwischen auf eintausendsechshundert Mark angelaufene Summe nicht länger stunden zu wollen. Sie drohten, sich an seinen Vater zu wenden, dem eine solche Nachricht bei seiner Hinfälligkeit hätte den Tod bringen können. In seiner Angst stellte Heinz von Köhler Ihnen nun ein Schriftstück aus, in dem er Ihnen als ältestes Kind der Familie mit Einwilligung seiner Geschwister den Köhlerschen Familienschmuck verpfändete. Dieses Papier, das an sich als eine Verfügung über erst später zu erwartende Erbschaftsgegenstände wertlos ist, nutzten Sie nun in geradezu raffinierter Weise gegen den jungen Menschen aus. Zunächst ließen Sie sich für die weitere Prolongation ganz enorme Zinsen bezahlen und erklärten regelmäßig, wenn ihr Opfer nicht gleich willfährig war, Sie würden eine Klage bei dem Gericht einreichen unter Vorlegung der Verpfändungsurkunde, die Heinz von Köhler in der Hast leider derart abgefaßt zu haben scheint, daß man ihm daraus unter Umständen den Vorwurf des versuchten Betruges machen könnte. Jetzt, wo die Wechselschuld mit den geschuldeten Zinsen bis zu zweitausendvierhundertundfünfzig Mark angewachsen ist, versuchten Sie nun dem grausamen Spiel ein für Sie recht gewinnbringendes Ende zu bereiten, indem Sie erst einmal die zweitausendvierhundertundfünfzig Mark und dann noch zweihundertundfünfzig Mark für die Aushändigung des verhängnisvollen Verpfändungsscheines forderten. Alle Bitten Heinz von Köhlers waren umsonst. Sie gaben ihm noch bis heute Mittag zwölf Uhr Zeit. Sollte bis dahin das Geld nicht bezahlt sein – im ganzen zweitausendundsiebenhundert Mark – so wollten Sie die Angelegenheit unweigerlich einem Anwalt zur weiteren Verfolgung unterbreiten, ein Schritt, der, worauf Ihr bedauernswertes Opfer Sie immer wieder flehend aufmerksam gemacht hat, vielleicht die Dienstentlassung des Referendars, dessen Verabschiedung als Reserveoffizier und damit sicherlich den Tod des ohnehin schon so schwergeprüften Geheimrats zur Folge haben könnte. In dieser Not entschloß sich Fräulein Vera von Köhler auf Bitten ihres Bruders, da sich nirgend ein anderer schneller Ausweg zeigte, den Familienschmuck, den ihr Vater in einer Kassette eingeschlossen in seinem Schreibtisch aufbewahrte, heimlich ohne Wissen der Eltern in Berlin zu versetzen, wo sie in dem Getriebe der Millionenstadt am meisten jeder Gefahr einer Entdeckung dieses demütigenden Schrittes und damit einer Bloßstellung ihres geachteten Namens zu entgehen meinte. Welch’ schwere Gewissenskonflikte sich für die armen Geschwister aus der ganzen Sachlage ergeben mußten, das werden Sie sich allerdings wohl kaum vorstellen! Zwar hoffte Fräulein von Köhler, daß der Geheimrat vorläufig das Fehlen der altertümlichen Pretiosen nicht gewahr werden und daß es ihr und ihrem Bruder inzwischen gelingen würde, von Verwandten und Bekannten soviel Geld zusammen zu bringen, um die Sachen wieder auslösen zu können. Aber dies war eben nichts als eine Hoffnung, und Hoffnungen trügen leicht, Herr Hornemann, wie Sie heute noch zu Ihrem eigenen Leidwesen hinsichtlich der zweitausendundsiebenhundert Mark merken werden. –

Die junge Dame, welche hier bei einer alten Gräfin als Gesellschafterin in Stellung ist und daher die kleine, in einem Tage zu erledigende Tour nach Berlin unternehmen konnte, ohne das ihre Eltern etwas davon zu erfahren brauchten, was nicht zu vermeiden gewesen wäre, wenn der im Elternhause wohnende Referendar die Erledigung der peinlichen Angelegenheit in die Hand genommen hätte, verließ wirklich gestern mit dem Frühzuge Halle, ständig von der Angst gefoltert, sie könnte unterwegs einem ihrer zahlreichen Bekannten begegnen, der sie dann vielleicht nach Zweck und Ziel ihrer Reise befragt haben würde und durch den nur zu leicht das so sorgsam gehütete Geheimnis hätte verraten werden können. So gestaltete sich diese Reise für Fräulein von Köhler zu einem wahren Martyrium. Völlig verschüchtert, nervös überreizt von den Aufregungen der letzten Tage, nur mit Mühe die immer lauter ertönende Stimme in ihrem Innern beschwichtigend, die ihr sagte, daß sie mit dem heimlichen Versetzen des Familienschmuckes ein Unrecht begehe, – so daß sie halbgebrochen in ihrem Kupee, mit Bangen jedes Menschen Antlitz betrachtend, das sich ihren Blicken darbot. Aber auch hier griff wie so oft die Vorsehung korrigierend in dunkles Menschengeschick ein. Fräulein von Köhler wickelte nämlich in ihrem Abteil, als sie ihren einzigen Mitreisenden fest schlafend wähnte, die verschiedenen Schmucksachen zu vier einzelnen Paketen zusammen, da sie nach der mit ihrem Bruder getroffenen Verabredung, um ja keinen Argwohn zu erregen, nicht sämtliche Gegenstände in einem Pfandinstitut zu Gelde machen, sondern vier verschiedene Leihhäuser aufsuchen wollte. Später wurde die Dame dann, wie ich schon erwähnte, als des Diebstahls verdächtig, verhaftet, – ich kann wohl sagen, zu ihrem Glück.

Wenn ich Ihnen die Erlebnisse Fräulein von Köhlers hier so eingehend geschildert habe, Herr Hornemann, so geschah es nur, um Ihnen einmal recht klar vor Augen zu führen, welch Unglück Sie und Ihresgleichen über ganze Familien bringen, wie Sie selbst die edelsten Charaktere vom geraden Wege abdrängen und unschuldige Wesen in die schmachvollsten, erniedrigensten Situationen versetzen können. –

Bitte, lassen Sie mich aussprechen!“ unterbrach der Kommissar den Versuch des Wucherers, sich zu verteidigen. „Hier habe ich nur noch zu reden und Sie lediglich zu schweigen und zu gehorchen. Andernfalls wäre es sehr leicht möglich, daß Sie Ihre Mittagsmahlzeit heute zwischen den grauen Wänden des Untersuchungsgefängnisses einnehmen müssen! –

Ich zähle Ihnen hier jetzt eintausend Mark auf. Das Papiergeld ist echt, wirklich echt. Dafür liefern Sie mir den Wechsel und die Verpfändungsurkunde aus. –

Sie wollen nicht? Auch gut! Ihr eigener Schaden!“

Der Kommissar erhob sich: „Sie wissen vielleicht, daß wir Kriminalbeamten im Notfalle berechtigt sind, eine Verhaftung auch ohne einen vorschriftsmäßigen Haftbefehl auszuführen. Von diesem Rechte werde ich jetzt Gebrauch machen, da mir Heinz von Köhler nicht weniger als zwölf Herren seiner Bekanntschaft genannt hat, die Sie geradeso wie ihn förmlich ausgepreßt haben. Um Ihnen nun nicht Gelegenheit zu geben, etwaige Sie belastende Papiere und Aufzeichnungen zu beseitigen, werde ich …“

Aber Fritz Reinbach hatte nicht nötig, noch deutlicher zu werden. Hornemännchen reichte dem Kommissar mit verbissener Wut die Papiere hin.

„So – die Tugend siegt!“ meinte dieser ironisch und schob die Blätter nach kurzer Durchsicht in die Tasche. „Noch eins, eh’ wir scheiden, Herr Hornemann: Sollte je von dem Inhalt unserer heutigen Unterredung auch nur ein Sterbenswörtchen über Ihre Lippen kommen, so rettet Sie nichts mehr vor einer Anklage wegen Wuchers, da noch immer genug Belastungsmaterial gegen Sie vorhanden ist. Ebenso werden Sie selbstverständlich derartige Darlehnsgeschäfte, die man so hübsch mit „Krawattenmachen“ bezeichnet, nie mehr wagen! Ich werde nämlich dafür Sorge tragen, daß die hiesige Polizei ihrer geschäftlichen Tätigkeit fernerhin die liebevollste Aufmerksamkeit schenkt.“ –

An der nächsten Straßenecke traf er Heinz und Vera von Köhler, die ihm gar nicht genug für diese glückliche Lösung all der Schwierigkeiten danken konnten. War er es doch auch gewesen, der Vera am Tage vorher nach ihrer Beichte im Berliner Polizeipräsidium dazu bestimmt hatte, sofort die versetzten Schmucksachen wieder auszulösen und dann in seiner Begleitung mit dem Nachtschnellzug nach Halle zurückzukehren.

Ein halbes Jahr später, an einem wunderbar milden Maitage, schritten Vera von Köhler und Fritz Reinbach Arm in Arm als überseliges Brautpaar die Saalepromenade entlang. Und als in der Ferne gerade ein Schnellzug über die Eisenbahnbrücke donnerte, drückte der Kommissar die Geliebte fester an sich und flüsterte ihr lächelnd zu: „Als Diebin habe ich dich einst verhaftet, Süßes, – weißt du noch? …? – Und du warst auch wirklich eine kleine, liebe Diebin – denn du hast mir ja mein Herz gestohlen, mein Herz für immer!“

 

 

Anmerkung:

  1. Walther Kabel arbeitete diese Erzählung gekürzt und leicht abgeändert unter dem Pseudonym W. v. Lensen in den Roman Die Basar-Hyäne der Argus-Kriminal-Bibliothek in den Kapiteln 1 und 8 ein.