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Die Überlebenden der „Skandinavia“ (1. Auflage)

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Überlebenden der „Skandinavia“.

 

Von W. Belka.

 

Frühling in den Polargegenden: überall rinnende Bäche und winzige Wasserläufe, die sich über die Eismassen hin einen Weg zu Tal bahnen, sich an tieferen Stellen, in Tälern und Mulden, zu kleinen Seen und Teichen ansammeln, das Eis, dem sie ihre Entstehung verdanken, zerfressen und tiefe Rinnen schaffen, in denen es gurgelt und schäumt von den geschmolzenen Oberschichten dieser endlosen, weißen Wüsten. Zermürbt sind die hügeligen Flächen der Schnee- und Eisfelder, schlüpfrige Feuchtigkeit herrscht überall … All das ist das Werk der Sonne, die nach der endlosen Polarnacht täglich in größerem Bogen über dem Horizont kreist und auch die Tier- und Pflanzenwelt durch ihre wärmenden Strahlen herbeilockt: die verschiedenen Vogelarten, die die einsamen Nordpolarländer im Sommer bevölkern, und die Säugetiere, die vor der erstarrenden Kälte weiter nach Süden gewandert waren und nun wieder höhere Breiten aufzusuchen wagen, um dort ihre Nahrung zu finden …

Über ein schlammiges Schneefeld kämpft sich mühsam ein von drei völlig abgemagerten Hunden und drei in Pelze gehüllten Männern gezogener, vollbepackter Schlitten aus leichten Bambusstangen weiter nach Süden zu. Schweigend, mit verbissener Energie, watet Mensch und Tier durch die bei jedem Schritt aufspritzende, kalte Nässe dahin. Die struppigen Köter keuchen, und den Männern steht der Schweiß auf den schmutzstarrenden, seit vielen Wochen nicht mehr gewaschenen Gesichtern. Ein Gedanke treibt sie vorwärts, ein bescheidener Wunsch: endlich wieder einmal Land unter ihren Füßen zu fühlen, und sei es der traurigste, ödeste Steinboden! Nur heraus aus diesem Gebiet ewigen Eises, das diese drei letzten überlebenden Mitglieder der schwedischen Polarexpedition des Stockholmer Grafen Axström seit zwei Jahren festhält unter unerhörten Strapazen und Entbehrungen.

Doktor Preimer, der Arzt der verunglückten Expedition, deren Schiff nördlich von Franz-Josef-Land im Herbst 1902 zwischen Eisschollen zerdrückt wurde, hebt jetzt den gesenkten Kopf und schaut mit den entzündeten Augen gen Süden, denn soeben hat der Schlitten eine Anhöhe erreicht, von der man weithin die Umgegend zu überblicken vermag.

Sein Blick wird lebhafter, seine zusammengesunkene Gestalt strafft sich unwillkürlich. Und dann kommt über seine Lippen ein Wort, das auch seine Gefährten aus der stumpfen Gleichgültigkeit weckt:

„Land – Land!“

Ihre Köpfe fliegen hoch. Und wie ein Schrei der Erlösung ist ihr gleichzeitiger Ruf …: „Eine Insel …!“

Der Schlitten hat halt gemacht. Stumm starren die drei Männer vorwärts, dorthin wo aus einer blinkenden Wasserfläche, anzusehen wie ein riesiger, von weißen Ufern eingeschlossener See, ein Felseneiland herauswächst, zu dem eine schmale Eisbrücke hinüberführt. Noch liegen auf den Abhängen der Hügel in der Sonne schillernde Eis- und Schneemengen. Aber die dunklen Stellen dazwischen sind Land, sind Felsgestein, das hier und da schon von frisch sprossendem Moose einen leicht grünlichen Überzug erhalten hat.

„Vorwärts!“ ruft Preimer, „vorwärts, Kameraden! Beeilen wir uns, daß wir auf jene Insel hinüberkommen, daß wir endlich merken, wie es sich auf festem Boden lagert …!“

Und wieder legen Hunde und Menschen sich in die Riemen und ziehen den Schlitten mit ihrer geringen Habe über die gut einen Kilometer lange Eisbrücke dem Eilande zu. Alle Müdigkeit, selbst der nagende Hunger, ist verschwunden. – Zahlreiche Möwen und Albatrosse umkreisen die Insel, und Seehunde sonnen sich am Strande. Da muß es ja Nahrung geben – eine Abwechslung nach diesem widerlich eintönigen Küchenzettel der letzten Wochen, auf dem stets nur Hundefleisch, roh und unzubereitet, stand, – das Fleisch ihrer treuen, vierbeinigen Gefährten, die sie einen nach dem andern schlachten mußten, um wenigstens etwas Genießbares zu haben.

Nun ist das Eiland erreicht, nun schreitet ihr Fuß über steinigen Boden. Sie werfen die Zugstricke ab, schirren die letzten drei Hunde los. Und freudestrahlend wendet sich Fritz Preimer an Sörensen, den Steuermann der vernichteten „Skandinavia“:

„Na, Sörensen, nun machen auch Sie mal ein anderes Gesicht …! – Mann, jetzt sind wir ja aus dem Ärgsten heraus! In einer Stunde setze ich Ihnen ein warmes Gericht vor. Dann wird sich auch Ihre Miene wieder aufheitern …“

Doch der Steuermann stierte den Doktor nur aus blöden Augen an, geht abseits und setzt sich auf einen kleinen Felsblock.

Preimer und der dritte Überlebende der Expedition, der Schiffsjunge Olaf Rörgaard, wechseln einen traurigen Blick. Sie haben ja längst gemerkt, daß Sörensen im Kopf nicht mehr ganz richtig ist. Seit Tagen hat er kein einziges Wort gesprochen und nur zuweilen laut aufgelacht, ein Lachen, das in der Einöde der Eiswüste noch schauerlicher klang.

„Wir müssen auf den Steuermann ein wachsames Auge haben, Olaf“, sagt der junge, deutsche Doktor, dem lediglich seine vortrefflichen Zeugnisse die vielumworbene Stelle als Expeditionsarzt verschafft hatten, leise zu dem langaufgeschossen, sechzehnjährigen Burschen. „Diese Geistestrübung kann bei Sörensen nur zu leicht zu Tobsuchtsanfällen ausarten. Wie es einen sogenannten „Tropenkoller“ gibt, so kennt die medizinische Wissenschaft auch eine „arktische Reizbarkeit“[1], eine den Polarfahrern eigentümliche Form des Wahnsinns, der durch die niederdrückenden Einflüsse der eintönigen, schweigenden Polarwelt hervorgerufen wird. Und von dieser Geisteskrankheit ist der Steuermann ohne Zweifel befallen worden.“

Zunächst sahen Preimer und der Schiffsjunge sich nun genauer auf der Insel um.

Diese hatte bei länglich runder Gestalt einen größten Durchmesser von etwa einer halben Meile. Der Strand war an den meisten Stellen flach, stieg aber bereits nach einigen fünfzig Metern zu einem hügeligen Plateau an, das mit Felsblöcken von gewaltiger Größe bestreut war und von drei schon als kleine Berge zu bezeichnenden Erhebungen überragt wurde, die auf der Südspitze ziemlich dicht beieinander lagen.

Aus den Felsschluchten rann auch hier überall das Schmelzwasser in kleinen Bächen herab und vermischte sich mit dem Inhalt des riesigen Sees, in dessen Mitte das Eiland wie ein grauschwarzer, jetzt noch mit weißen Schneetupfen besprenkelter Fleck sich erhob. Diese fast kreisrunde Stelle eisfreien Wassers war umgeben von enormen, jäh aufsteigenden Eiswänden, deren Zacken und Spitzen im Sonnenlicht funkelten. Nur dort im Norden, wo die schmale Brücke eine Verbindung mit dem Ufer schuf, befand sich in dem Eisgürtel ein Einschnitt, durch den der Schlitten mühsam sich vorhin einen Weg abwärts gebahnt hatte.

Als der Doktor und Rörgaard nach einem kurzen Rundgang um das Eiland zu der Stelle zurückkehrten, wo der Steuermann mit den müden Hunden zurückgeblieben war, sahen sie zu ihrer frohen Überraschung, daß Sörensen die Zeit ihrer Abwesenheit dazu benutzt hatte, den Schlitten von seiner Last zu befreien und die einzelnen Packen auf einer trockenen Steinplatte auszubreiten. Doch im übrigen nahm er von seinen beiden Gefährten keinerlei Notiz und erwiderte auch auf Preimers lobende Worte keine Silbe. Finster und verdrossen ließ er sich vielmehr sofort wieder auf den Boden nieder, als sei ihm die Gegenwart seiner Kameraden nur lästig.

Die beiden Gewehre und die dazu passende Munition, im ganzen etwa noch hundert Patronen, waren in Felle wasserdicht eingehüllt gewesen. Jetzt nahm der Doktor eine der Schußwaffen heraus, lud sie und eilte wieder davon, um einen Seehund zu schießen. Inzwischen sollte der Schiffsjunge versuchen ein Feuer anzuzünden und den einzigen Kochtopf, den sie noch besaßen, einigermaßen zu reinigen. – Preimer hatte Glück. Er erlegte eine noch junge Robbe durch einen Kopfschuß, die am Strande des Eilandes behaglich geschlafen hatte, weidete sie an Ort und Stelle aus und schleppte sie dann zum Lagerplatz.

Hier hatte Olaf Rörgaard wirklich aus Flechten und trockenem Moos, das er von den Felsen an der Sonnenseite abkratzte, ein Feuer in Brand bekommen. Schnell war aus Steinen ein einfacher Herd errichtet, auf den der jetzt leidlich saubere Eisentopf gestellt wurde. Bald kochte über dem stark qualmenden Feuer eine Anzahl der saftigsten Stücke des Robbenrückens, während die Keulen von dem praktischen Doktor in den beizenden Rauch gehängt wurden, um sie später als Rauchfleisch benutzen zu können. Auch die Hunde hatte man nicht vergessen und ihnen den ganzen Rest des Fleisches hingeworfen, das sie nun mit wahrem Heißhunger hinunterschlangen.

Die Zeit, bis die Mahlzeit fertig war, benutzte Preimer dazu, die noch vorhandenen Vorräte einer genauen Musterung zu unterziehen. Außer 8 Pfund Zucker in Blechbüchsen und ebensoviel Salz, das in einem festen Kistchen sich befand, besaßen die drei Männer nichts mehr von Proviant. Dafür verfügten sie aber an für sie recht wertvollen Dingen noch über einen großen Spirituskocher, der zugleich als Tranlampe zu benutzen war, ferner über zwei Beile, ein festes Zelt nebst den dazu gehörigen Stangen, einen Pelzschlafrock, einige warme Unterkleider, vier kleine Robbenharpunen nebst mehreren langen Leinen, einen Kompaß, zwei Schiffsfernrohre, zwei Thermometer, drei Revolver nebst einigen hundert Patronen, drei blecherne Eßnäpfe sowie Messer, Gabeln und Löffel.

Nachdem alle diese Gegenstände von dem Doktor und Olaf gereinigt waren, machte man sich mit wahrer Gier über das bescheidene Mittagessen her. Auch jetzt hielt Sörensen sich abseits und murmelte nur ein paar unverständliche Worte in seinen verwilderten, verfilzten Bart, als Preimer ihm mit freundlichem Zuspruch den gefüllten Napf hinreichte. Mit dem Verlassen der unwirtlichen Schneefelder und unter den Strahlen der heiteren Frühlingssonne, die hier auf den Felsen eine Wärme von acht Grad Celsius erzeugte, schien sein Geisteszustand sich nur noch verschlimmert zu haben. Alles, was er tat, geschah mit Bewegungen, die wie die eines Automaten aussahen. Der Ausdruck seines Gesichtes dagegen wechselte beständig. Mitunter lächelte er blöde vor sich hin, dann wieder blickte er scheu und ängstlich um sich oder schaute seine Gefährten drohend und finster an.

Sein Verhalten machte dem jungen Arzte nicht geringe Sorgen. Nicht genug, daß man schon alle Hände voll zu tun hatte, sich auf der Insel schleunigst einigermaßen wohnlich einzurichten, war den beiden Kameraden des kranken Steuermannes jetzt noch die Mühe aufgeladen worden, diesen fortwährend zu beobachten, da man nicht wissen konnte, in welcher Weise seine Geistesgestörtheit sich noch weiter äußern würde.

Wie schwer sich mit Sörensen umgehen ließ, zeigte sich sofort, als Preimer ihn bat, sie nach der Südseite der Insel zu begleiten, wo er ein Haus aus Steinen zu errichten beschlossen hatte, da von ihm dort vorhin eine Örtlichkeit entdeckt war, die für einen ständigen Lagerplatz alle möglichen Vorteile bot.

Sörensen blieb ruhig sitzen und gab keine Antwort. Da wiederholte der Doktor seine Aufforderung etwas energischer. Vielleicht war dem Kranken so beizukommen. – Tatsächlich – jetzt gehorchte er, wenn auch widerwillig, half alles auf den Schlitten wieder verladen und ergriff dann einen der Zugriemen, legte sich die Schleife über die Brust und trottete stumm neben den Gefährten und den Hunden her.

Den Schlitten über die Felsen fortzubringen, war keine leichte Arbeit. Gut eine Stunde brauchte man, bevor die drei stumpfen Bergkegel erreicht waren, zwischen denen sich ein Tal von etwa fünfhundert Meter Breite dahinzog, das ganz geschützt lag, eine flache, streckenweise von zermürbtem Gestein, grauen Flechten und dicken Moospolstern bedeckte Ebene bildete und sich nach Osten zu durch eine Art Engpaß zum Strande hinabsenkte.

Hier begann man sofort an der Südwand des nördlichsten der drei Bergkegel mit dem Bau einer Steinhütte, die mit einem Dache aus Zelttuch versehen wurde, welches man wieder durch die Zeltstangen stützte. Gegen zehn Uhr vormittags am 2. April 1904 hatten die drei letzten Mitglieder der Axström-Expedition das Eiland betreten, und bereits sechs Stunden später waren sie mit dem Bau eines Wohnhauses und eines Stalles für die Hunde fertig. Dann wurde reichlich Moos für die Lagerstätten zusammengetragen, während der Doktor bereits gegen Abend einen zweiten Seehund erlegte, der im Verein mit den von Olaf Rörgaard gefundenen Möweneiern ein kräftiges Essen lieferte.

Todmüde streckten die drei sich dann in ihrer Hütte zum Schlafe aus, deren aus Fellen bestehender Türvorhang die kühle Luft leidlich abhielt.

Morgens fehlte der Steuermann. Weder der Doktor noch Olaf vermochten zu sagen, wann er sich entfernt hatte. Ersterer war sehr beunruhigt durch die Abwesenheit des Kranken, zumal er am Tage vorher auf einer Schneehalde am Nordufer des Eilandes ziemlich frische Eisbärenfährten bemerkt hatte. Daher begannen sie auch sofort, nachdem sie als Morgenimbiß einige Möweneier genossen hatten, die Suche nach dem Verschwundenen. Aber so sorgfältig sie auch überall in den Felsschluchten nachforschten und so laut sie auch immer wieder Sörensens Namen riefen, der Steuermann war nicht aufzufinden. Und Preimer fürchtete schon allen Ernstes, jener könne womöglich die Insel überhaupt verlassen haben und in die endlosen Eiswüsten zurückgekehrt sein, denen sie am Tage vorher glücklich entronnen waren.

Bei diesem Umherklettern in den unwegsamsten Teilen der Felshügel entdeckten die beiden an Alter und Bildung so verschiedenen und doch durch all die gemeinsam überstandenen Mühsale so vertraut gewordenen Gefährten auf der Nordseite des südlichsten der drei Bergkegel einen infolge hochgetürmter Geröllmassen schwer auffindbaren schachtähnlichen Spalt im Gestein, der sich bei etwa zwei Meter Breite und drei Meter Höhe schräg nach unten ins Erdinnere hineinzog. Gleich nach dem Mittagessen gedachte Preimer, der auch für die Naturwissenschaften, für Chemie und Geologie (Erdgeschichte) viel Interesse besaß, und in diesen Fächern beinahe ebenso gut wie in der Medizin bewandert war, diesen Schacht genauer zu untersuchen, dessen Tiefe recht beträchtlich zu sein schien und der in der ungefähren Richtung auf die Mitte der von den drei Kegeln eingeschlossenen Ebene zu verlief. Nahm Preimer es doch als möglich an, daß der Steuermann, getrieben von irgend einer Wahnvorstellung, in die Felsspalte hinabgestiegen und dort unten verunglückt sei.

Da man für diesen Ausflug unter die Erde notwendig Fackeln brauchte, wurden solche aus mit Tran getränktem Moos, das man um Knochen der getöteten Seehunde wickelte und festband, hergestellt, eine Arbeit, die Olaf Rörgaard sehr geschickt erledigte. Der Schiffsjunge besaß überhaupt große Handfertigkeit und viel praktischen Sinn, die dem zwar gebildeten, dafür aber etwas ungewandten Doktor schon oft recht zu statten gekommen waren. Außerdem verfügte Olaf auch über einen nicht gewöhnlichen Mut, der mit einem heiteren, humorliebenden Gemüt gepaart war. Jedenfalls konnte sich Preimer glücklich schätzen, gerade diesen jungen Menschen, der mit dankbarer Verehrung an ihm hing, als Gefährten behalten zu haben. Wußte er doch nicht, was ihnen die Zukunft noch bringen und wie lange es noch dauern würde, bevor sie sich bis zu bewohnten Gegenden durchgeschlagen hatten. Vorläufig wollte der Doktor sich auf dieser Insel erst einmal von den überstandenen Strapazen ordentlich erholen. Was dann zu tun war, hing von den Umständen ab, besonders davon, ob es ihnen glücken würde, aus den Bambusstangen des noch aus der Ausrüstung der „Skandinavia“ stammenden Schlittens ein mit Fellen bezogenes Boot zu bauen, welches seetüchtig genug war, um damit die Fahrt weiter nach Südosten zu, wo die langgestreckte, zu Rußland gehörige Insel Nowaja Semlja liegen mußte, wagen zu können.

Versehen mit zwei Dutzend Fackeln und bewaffnet mit je einem Gewehr und einem Revolver, traten die Beiden nachmittags gegen zwei Uhr ihre Forschungsreise an. Nachdem sie die Geröllwand überklettert hatten, die vor dem Eingang der Felsspalte lag, zündeten sie die erste ihrer Fackeln mit Hilfe ihrer chemischen Feuerzeuge an, für die sie noch genügend Brennstoff besaßen, so daß sie damit nicht allzu sparsam umzugehen brauchten. Der dunkle, gähnende Schacht senkte sich in einem Winkel von etwa dreißig Grad nach abwärts und war daher bei einiger Vorsicht bequem ohne Benutzung von Seilen zu betreten. Auf seinem von Rissen durchzogenen Boden haftete der Fuß ganz sicher, und daher kamen der Doktor und Olaf auch ohne Unfall vorwärts. Nach etwa fünf Minuten, in denen sie bei ihrem schrittweisen Vordringen vielleicht 200 Meter hinabgestiegen waren, öffnete sich vor ihnen eine ziemlich geräumige Höhle, aus der wieder strahlenförmig eine große Anzahl von breiteren und schmäleren Spalten, die aber sämtlich eine erhebliche Tiefe besaßen, nach allen Seiten sich hinzogen. Ähnliche Spalten hatten sie auch schon in den Seitenwänden des Schachtes bemerkt, so daß also dieser unter der Ebene liegende Teil der Insel kein festes Ganzes, sondern ein wahres Labyrinth von Hohlräumen bildete.

Die Luft in dieser Grotte war so auffallend frisch, daß der Doktor sofort auf die Vermutung kam, die Höhle müsse noch einen zweiten Zugang besitzen, der die Entstehung eines leichten Luftstromes begünstigte. Für diese Annahme sprach auch der Umstand, daß der schwere, übelriechende Qualm der Fackeln langsam, aber stetig aus der Grotte in den breitesten Spalt sich hineinzog, der dem Schacht gerade gegenüberlag. Mithin mußte hier Zugluft vorhanden sein, die es verhinderte, daß der Rauch sich an der Höhlendecke ansammelte.

Als Preimer jetzt, neugierig gemacht durch die dunkle Färbung der diese Grotte bildenden Gesteinsmassen, die Fackel dicht an den mit einer feinen Staubschicht bedeckten Boden heranbrachte, stieß er einen Ruf der Überraschung aus.

„Olaf, weißt Du auch, von welcher Art der Fels ist, auf dem wir hier stehen?“ wandte er sich an den Schiffsjungen.

Dieser zuckte die Achseln. „Wie sollte ich, Herr Doktor …?! Ich bin doch kein Gelehrter wie Sie!“

Trotzdem hatte er sich gebückt und gleichfalls mit der Hand eine kleine Fläche vom Staube gereinigt.

„Hm“, meinte er dann bedächtig, „die Decke, die Wände und der Boden der Höhle haben eine so merkwürdig schwarze Färbung, daß ich beinahe sagen möchte, das Gestein könnte Steinkohle sein.“

Preimer nickte eifrig. „Stimmt, mein Junge, – stimmt! Es sind Steinkohlen, und ohne Frage handelt es sich hier sogar um ein Flöz von beträchtlicher Dicke, dessen Ausdehnung wir nachher einmal feststellen wollen, indem wir in die Spalten eindringen. Daß unsere schwarze Brennkohle durch die langsame, Jahrtausende dauernde Umwandlung von Pflanzen entstanden ist und daß durch diese Umwandlung von Körpern, die an Wasserstoff reich sind, zunächst Torf, dann Braunkohle, Steinkohle und schließlich Anthrazit entstehen und daß diese Neubildungen immer reicher an Kohlenstoff werden, wirst Du wohl wissen. Jedenfalls stehen wir hier jetzt inmitten eines natürlichen Kohlenbergwerks, dessen Gänge und Stollen nicht durch die Spitzhacke des Bergmannes, sondern durch Veränderungen in der Lagerung der obersten Schichten unserer Mutter Erde geschaffen wurden, die vielleicht auf starke Erdbeben zurückzuführen sind. Wir können von Glück sagen, daß in diesem Natur-Bergwerk ein beständiger Luftwechsel herrscht, wie wir schon festgestellt haben, da sich in jedem nicht ventilierten Bergwerk gefährliche Gase ansammeln, die sogenannten „Schlagenden Wetter“, die leicht explodieren und schon unzähligen fleißigen Bergleuten das Leben gekostet haben.[2] Würde also hier nicht Zugluft herrschen, so hätte es geschehen können, daß durch unsere Fackel die entzündbaren Gase zum Aufflammen gebracht und wir elend umgekommen wären. Von der Gefährlichkeit der Schlagenden Wetter wirst Du Dir sofort den richtigen Begriff machen, wenn ich Dir sage, daß auf je 0,5 Millionen Tonnen gewonnene Steinkohle ein Menschenleben geopfert werden muß und daß im Durchschnitt jährlich trotz aller Vorsichtsmaßregeln von 1000 Bergleuten drei bis vier den Tod finden.“

Hierauf begannen die beiden Gefährten in die Spalte einzudringen, die dem Schacht gegenüberlag. Diese zog sich, vielfache Nebenspalten abzweigend, etwa hundert Meter weit ziemlich wagerecht unter der Erde hin und endigte schließlich in einer zweiten Höhle, die nach hinten zu immer niedriger wurde. Unschwer ließ sich jetzt erkennen, daß der Luftstrom aus dieser Grotte hervordrang, die mithin eine zweite Verbindung mit der Oberwelt besitzen mußte. Auch hier zeigte sich überall das schwarze, hin und wieder von goldig glänzenden Glimmerfäden durchzogene Kohlengestein, und Doktor Preimer wiederholte daher seine Behauptung, daß dieses Flöz eine selten Mächtigkeit haben müsse, wobei er noch bemerkte, daß das Auftreten von Steinkohle in diesen Gegenden gar nicht weiter wunderbar sei, da die im Südosten gelegene Insel Nowaja Semlja ebenfalls reiche Kohlenschätze berge, die von der russischen Regierung längst abgebaut würden.

In die erste Grotte zurückgekehrt, untersuchte Preimer nochmals hier und da den staubbedeckten Boden. Sagte er sich doch, daß der Steuermann notwendig Spuren zurückgelassen haben müsse, wenn er in dieses unterirdische Netz von Höhlen und Spalten eingedrungen sei. Tatsächlich fand er denn auch in der grauen Staubschicht einige Fußabdrücke, die nur von Sörensen herrühren konnten, jedoch keine zusammenhängende Fährte bildeten. Die Möglichkeit, daß der Geisteskranke sich hier verborgen halte, lag jedenfalls nahe. Aber alles Rufen war vergeblich. Nur der von der Höhlendecke verstärkt zurückgeworfene Schall ihrer eigenen Stimmen erreichte das Ohr der Lauschenden.

Vor dem Verlassen der Grotte zündete der Doktor eine neue Fackel an. Sorgfältig trat er dabei die glimmenden Reste der anderen aus.

„Wir müssen hier mit Feuer sehr vorsichtig sein, Olaf“, meinte er. „Überall liegen losgebröckelte Kohlenstücke umher. Geraten diese in Brand, so kann leicht dieses ganze Bergwerk in Flammen aufgehen.“

Damit wandte er sich dem Schacht zu, um an die Oberfläche zurückzusteigen. Doch plötzlich stockte sein Fuß.

Ein dämonisches, grauenvoll anzuhörendes Gelächter füllte mit einem Mal die Grotte an, wurde von den Wänden vielfach wiedergegeben und trieb den beiden Gefährten im ersten Schreck jeden Blutstropfen aus dem Gesicht. Woher das gellende Lachen kam, war nicht zu ergründen. Nur Sörensen, der die nach ihm suchenden Kameraden heimlich beobachtet haben mußte, verborgen in irgend einer der Spalten, konnte es ausgestoßen haben.

Wieder rief der Doktor den Namen des Unglücklichen, wieder drang er mit dem Jungen an verschiedenen Stellen in die Seitengänge ein. Der Steuermann meldete sich nicht. Und nach einer weiteren halben Stunde vergeblichen Forschens machte man sich endlich auf den Rückweg.

Still und enttäuscht kletterten die Beiden in dem Schacht empor, wobei Preimer genau darauf acht gab, wo das Kohlenflöz mit seinen obersten Schichten in die darüber lagernden Sandsteinmassen überging. Auf diese Weise konnte er ungefähr berechnen, wie stark die Felsschicht über dem Flöz war. Er schätzte deren Dicke auf etwa acht Meter. – –

Den Rest des Tages benutzten die beiden Gefährten zu allerlei kleineren Arbeiten und zur Ergänzung ihres Möweneier-Vorrates. Morgen wollten sie dann auf Preimers Vorschlag hin damit beginnen, aus dem Natur-Bergwerk möglichst viel lose Kohlenstücke neben ihrer Hütte aufzuspeichern, um für alle Fälle genügend Heizmaterial bei der Hand zu haben. Ebenso gedachte der Doktor in ihrem Steinhause sofort mit dem Bau eines Ofens zu beginnen, der gleichzeitig auch zum Kochen benutzt werden konnte. Erschien es ihm doch sehr fraglich, ob sie noch in diesem Sommer mit all den Vorbereitungen für eine Reise nach Süden fertig werden würden. Diese waghalsige Fahrt war ja ohnehin nur zu sehr davon abhängig, ob die Eisverhältnisse sich günstig gestalten würden, das heißt, ob sich genügend offenes Wasser zeigen würde, auf dem man ungehindert vordringen konnte.

In der Nacht erschien ein Eisbär in der Nähe der Hütte, den die Hunde rechtzeitig durch wütendes Bellen anmeldeten. Hierüber wachte der Doktor auf, weckte Olaf, und beide schlichen dann mit den Büchsen in der Hand ins Freie hinaus, wo es trotz der nächtlichen Stunde ganz hell war und die Sonne durch einen leichten Wolkenschleier hindurchblinkte. Bekanntlich herrscht ja in der Nähe der beiden Erdpole ein halbes Jahr lang, und zwar während der Wintermonate, ständige Dunkelheit, da die Sonne während dieser Zeit nicht über den Horizont steigt. Dafür steht sie wieder im Sommerhalbjahr ohne Unterbrechung am Himmel. Unter dem 80. Grad nördlicher Breite dauert die Polarnacht vom 18. Oktober bis 23. Februar und verkürzt sich dann nach Süden zu immer mehr.

Der Eisbär stand unweit des Räucherofens, den Preimer etwa fünfzig Meter weit von dem Steinhause entfernt unter einer überhängenden Felsplatte errichtet und auch schon tüchtig mit Robbenfleisch gefüllt hatte, unter dem die durch Moos und Flechten genährte Glut auch jetzt noch schwelte. Der aufsteigende Qualm hielt das mächtige Raubtier davon zurück, sich der Fleischvorräte, deren Geruch ihn sicherlich herbeigelockt hatte, zu bemächtigen. Unerschrocken schritt der Doktor auf den Bären zu, der sich bei seinem Nahen auf den Hinterbeinen aufrichtete und ein zorniges Fauchen hören ließ.

Die erste Kugel durchschlug ihm die Brust, ohne sofort zu töten. Wütend stürzte der gelbweiße, spitzköpfige Geselle jetzt auf Preimer los. Aber zwei weitere Schüsse, die ihn aus den Gewehren der beiden nächtlichen Jäger empfingen, hemmten sehr bald seinen Lauf. Olaf Rörgaard, der sich während dieser verunglückten Polarreise der „Skandinavia“ zu einem sicheren Schützen ausgebildet hatte, war es geglückt, dem Bären seine Kugel gerade in die Stirn zu jagen, ein Meisterschuß, den der Doktor, der abermals nur nach der Brust gezielt hatte, nicht genug loben konnte. Jedenfalls sah er ein, daß dieses Abenteuer recht böse für ihn hätten ablaufen können, wenn der Schiffsjunge das gereizte Tier nicht so schnell niedergestreckt haben würde.

Die fast zwei Meter lange Bestie war, sich überschlagend, noch einige Schritte vorwärts gerollt, lag nun aber regungslos da. Die roten Blutflecken hoben sich von dem hellen, langhaarigen Pelz und der weißen Stirn deutlich ab, und kleine Lachen des rinnenden Lebenssaftes bildeten sich auf dem steinigen Boden, die von den Hunden begierig aufgeleckt wurden.

„Dieser Bursche dürfte uns vorzügliches Räucherfleisch liefern, Olaf“, meinte der Doktor gutgelaunt, nachdem er sich bei seinem Gefährten herzlich für dessen rettenden Schuß bedankt hatte. „Robbenfleisch schmeckt ja leider stets etwas reichlich tranig, und auch Möwenbraten ist kein hervorragender Genuß. Außerdem gibt das Fell eine schöne, warme Pelzjacke für Dich ab. Aufs Gerben von Wilddecken verstehe ich mich ja, wenigstens in der Theorie.“

Sehr befriedigt von dem Erfolge dieser Jagd legten sie sich dann wieder zum Schlafe nieder. Gegen Morgen wurde es in der Hütte jedoch so kalt, daß der Doktor fröstelnd aufwachte. Den dick gefütterten Schlafsack, den sie bisher während der Nacht gemeinsam benutzt hatten, wie dies alle Polarreisenden der größeren Wärme wegen zu tun pflegen, glaubten sie vorläufig nicht mehr nötig zu haben und hatten daher aus ihm zwei Pelzdecken gefertigt, die ihnen nun als Zudeck dienten. Daß diese aber trotz der warmen Jahreszeit nicht genügten, besonders da die Steinhütte ziemlich luftig war, mußte Preimer in dieser Nacht erkennen. Nachdem er sich leise erhoben hatte, trat er vor die Hütte, um sich durch schnelles Hin- und Hergehen zu erwärmen. Zunächst aber schaute er nach dem neben der Tür hängenden Thermometer. Drei Grad Wärme zeigte der. Das war für eine Frühlingsnacht in den Polargegenden ziemlich viel. – Leider ist’s aber selbst mit diesem bescheidenen Sommer im hohen Norden Ende August schon wieder vorbei, – falls der Ausdruck „Sommer“, mit dem wir unwillkürlich Bilder von grünen Bäumen, blühenden Blumen und warmen Nächten verbinden, auf die Polargegenden mit ihren Eismassen und kahlen Felsinseln und dem jähen Übergang zum Winter, zu eisiger Kälte, Schneestürmen und dunklen Tagen, in denen nur das Nordlicht eine seltsame, zauberhafte Beleuchtung spendet, überhaupt paßt.

Nachdem der Doktor festgestellt hatte, daß die Temperatur leidlich frühlingsmäßig war, wandte er sich den Hundeställen zu, aus denen ihm ein eigentümliches, ängstliches Winseln der drei Bewohner entgegenklang, das sofort beim Verlassen der Hütte seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Zuerst dachte er an die Anwesenheit eines zweiten Eisbären. Er schaute sich deshalb auch sehr genau um, bevor er sich weiter von dem Steinhäuschen entfernte. Doch nirgends war etwas Verdächtiges zu bemerken.

Dann wehte ihm der leichte, von Süden kommende Wind einen beizenden Geruch entgegen. Mißtrauisch blieb Preimer stehen und sog prüfend die Luft ein. – Das war ohne Zweifel Brandgeruch. Von dem Räucherofen konnte der nicht herrühren. Die schwelenden Moose und Flechten rochen ganz anders. Außerdem trieb der Wind diesen Qualm auch nach Norden zu davon. Woher kam also dieser scharfe, beizende Rauch, der wohl nur deswegen nicht mit den Augen gleichfalls zu bemerken war, weil ein leichter Nebel auf der Erde lagerte. Und – sollten etwa die Hunde deshalb so merkwürdig winseln, weil der Brandgeruch sie ängstigte?! – Jedenfalls mußte er der Sache sofort auf den Grund gehen. Schnell holte er sich daher sein Gewehr aus der Hütte, in der die Tranlampe, unter der Decke an einem Drahte hängend, trübe brannte, während ihr schwarzer Qualmfaden kräuselnd zu der kleinen Dachöffnung emporstieg.

Olaf Rörgaard schlief noch den festen Schlaf seiner siebzehn Jahre. Vielleicht träumte er gerade von seiner Heimat, von dem kleinen Häuschen am Hafen in Stockholm, wo er aufgewachsen war … Glückliche Jugend! dachte der Doktor halb neidisch, schulterte seine Büchse, rief die Hunde herbei und schritt in deren Begleitung nach Süden auf den Bergkegel zu, an dessen Nordseite der Schacht des Kohlenflözes lag. Wollte er doch mit diesem Spaziergang einen doppelten Zweck verbinden: einmal die Ursache des Brandgeruches untersuchen und dann auch zusehen, ob er nicht den Steuermann mit Hilfe der Hunde irgendwo aufstöbern könne.

Gemächlich überschritt er die Ebene, die zwischen den drei Bergkuppen lag. Unwillkürlich mußte er in diesem Augenblick daran denken, daß sein Fuß hier über die weiten Hohlräume des Kohlenflözes wandelte und daß dort unten Millionenwerte lagerten, die doch nie nutzbar zu machen waren, weil es in diesen Regionen unmöglich war, eine Kolonie von Bergleuten zu gründen, die die „schwarzen Diamanten“ zutage fördern konnten, ebenso wie es sich auch nicht durchführen ließ, die vielleicht gewonnene Kohle von hier nach bewohnten Gegenden zu schaffen.

Aber diese Erwägungen wurden dann nur zu schnell von anderen Gedanken abgelöst. Der Doktor wurde nämlich mit einem Male gewahr, daß der beißende Rauch ständig an Stärke zunahm. Inzwischen war der Nebel erheblich lichter geworden. Im Osten strahlten bereits die obersten Zacken des riesigen Eiswalles, der wie eine Steilküste das offene Wasserbecken und die in dessen Mitte liegende Insel rings umschloß, in leuchtendem Rot.

Hastiger schritt der Doktor weiter, die Augen stets auf die Stelle gerichtet, wo hinter dem aufgetürmten Geröll der Schacht in das Flöz hinabführte. Hatte es ihm doch eben so geschienen, als ob dort leichter, grauer Qualm emporstieg. – Da – jetzt sah er es ganz deutlich: eine stärkere Rauchsäule schoß drüben hoch, wurde vom Winde erfaßt und über die Ebene ihm entgegengetrieben.

Wie erstarrt war er stehen geblieben. Eine furchtbare Vermutung zuckte in ihm auf, blitzschnell: Sörensen, der geisteskranke Steuermann, mußte absichtlich das Kohlenflöz angezündet haben …! Der weißliche Rauch kam ja ohne Frage aus dem Schacht hervor. Vielleicht hatte der Unglückliche gestern nachmittag, als seine Gefährten nach ihm suchten, gehört, wie Olaf auf die Gefährlichkeit der herumliegenden Kohlenstücke aufmerksam gemacht wurde, die nur zu schnell Feuer fassen könnten, vielleicht war gerade dadurch in dem Geistesgestörten der Gedanke wachgerufen worden, dort unten einen Brand zu entfachen, der ganz unberechenbare Folgen haben konnte …!

Jetzt rannte der Doktor in wilder Hast weiter, erkletterte die Geröllmauer und stierte dann von deren Spitze fassungslos auf den Schachteingang hinab, aus dem immer dichtere Rauchschwaden sich hervorwälzten.

Das Natur-Bergwerk brannte …! Und nur Sörensen konnte es angezündet haben …! – Daran, das Feuer zu löschen, war nicht zu denken. Das sagte sich Preimer sofort. Hier hieß es lediglich abwarten, wie die Dinge sich weiterentwickeln würden.

Langsam kehrte er nun zu der Hütte zurück. Dort traf er bereits Olaf Rörgaard vor dem Räucherofen an, ein großes Taschenmesser in der einen und ein Stück Fleisch in der anderen Hand haltend und eifrig kauend.

Der Junge nahm die Nachricht von dem in dem Flöz jetzt wütenden Feuer zunächst mit einem ungläubigen Lächeln entgegen. Dann aber bemerkte er die aufsteigenden Qualmmassen. Erstaunen und Furcht malten sich auf seinem Gesicht. Und unwillkürlich platzte er heraus:

„Herr Doktor – wo nehmen wir jetzt nur das Heizmaterial her?! Das Moos und die Flechten werden nicht lange reichen.“

Auch Preimer hatte schon an diese für sie recht unangenehme Folgeerscheinung des unterirdischen Brandes gedacht. Und achselzuckend erwiderte er:

„Lieber Olaf – wir müssen uns eben ohne Kohlen behelfen! – Weit mehr geht es mir aber im Kopfe herum, was für böse Streiche der bedauernswerte Sörensen uns sonst noch spielen wird.“

Doch diese Befürchtungen des Doktors erwiesen sich zum Glück als grundlos. Der Steuermann ließ sich nicht sehen, und man merkte auch nichts davon, daß er überhaupt noch auf der Insel weilte. Eine ganze Woche verstrich so ohne besondere Ereignisse, abgesehen davon, daß das brennende Flöz seine Qualmmengen jetzt auch durch zwei andere natürliche Rauchfänge in Gestalt tiefer Gesteinsspalten, die zwischen den beiden nördlich gelegenen Bergen sich befanden, in täglich dichteren Schwaden herausschickte. Diese beiden Spalten sowie der breitere Schacht im Süden führten dem Feuer genügend Sauerstoff zum Weiterumsichgreifen zu, und Preimers Hoffnung, der Brand werde vielleicht von selbst ersticken, erfüllte sich nicht. Im Gegenteil – alles deutete darauf hin, daß die Flammen sich in den Kohlenadern immer weiter ausdehnten. Häufig schossen aus dem Schacht jetzt schon riesige Feuerzungen in die Höhe, und bisweilen erzitterte die Ebene unter den Stößen von Gasexplosionen, die in den Gängen und Spalten des Flözes erfolgten. Ebenso wurde für die beiden Gefährten die Rauchplage von Tag zu Tag lästiger. Nur wenn der Wind direkt von Osten oder Westen kam, trieb er den Qualm zur Seite. Jede andere Luftströmung aber hüllte die Ebene in graue Schleier ein, in denen es sich zuweilen kaum noch aushalten ließ, so daß der Doktor schon ernstlich daran denken mußte, das Lager nach dem nördlichen Teile des Felseilandes zu verlegen.

Dann ereignete sich in einer Nacht etwas, das zum schleunigsten Umzug zwang. Gegen zwei Uhr morgens erwachten die beiden Gefährten durch einen starken, dumpfen Knall, dem ein merkliches Schwanken des Bodens und eine Reihe kleinerer Explosionen folgten. Als sie schleunigst die Hütte, deren Steinmauern erbebten, verließen und ins Freie hinaustraten, wurde ihre Aufmerksamkeit sofort nach Norden gelenkt, wo keine zweihundert Meter von ihnen entfernt aus den beiden kleineren Rauchfängen jetzt förmliche Feuersäulen von gut zwanzig Meter Höhe hervorschossen, die die Umgegend in ein flackerndes, rötliches Licht tauchten und deren ausstrahlende Wärmemengen weithin sich bemerkbar machten.

Preimer wollte durchaus feststellen, ob die furchtbare Explosion, die sie aus dem Schlafe geweckt hatte, jene Felsspalten, die nunmehr zu richtigen Feueressen geworden waren, irgendwie verändert habe. Daher begaben sie sich sogleich nach dem Geröllfelde hin, das zwischen den beiden nördlichen Bergkuppen sich hinzog und auf dem in einem Abstande von vielleicht achtzig Meter die Riesenfanale des unterirdischen Brandes zum Himmel emporloderten. Notwendig mußten sie dieses Schauspiel aus vorsichtiger Entfernung beobachten, da die Hitze bereits auf dreißig Meter Abstand nicht mehr zu ertragen war. Trotzdem konnte der Doktor erkennen, daß die Spalten wesentlich breiter geworden sein mußten und daß sich dicht neben diesen noch einige kleinere Rauchfänge gebildet hatten, aus denen gleichfalls Feuerzungen hervorleckten.

Sofort begannen Preimer und Olaf ihre geringe Habe nach dem Norden der Insel in Sicherheit zu bringen und nachher auch mit dem Bau einer neuen Hütte, die sie an einer geschützten Stelle im Laufe eines Tages fertigstellten. Dann beschäftigten sie sich mit anderen notwendigen Arbeiten, errichteten einen Stall für die Hunde, einen Räucherofen und schufen sich allerlei kleine Bequemlichkeiten, um sich ihr Dasein behaglicher zu gestalten. In dieser ganzen Zeit hörten und sahen sie von Sörensen nichts, so daß sie notwendig annehmen mußten, der Steuermann sei auf irgend eine Weise ums Leben gekommen.

Nachdem sie sich vier Tage lediglich in der Nähe ihrer neuen Wohnung aufgehalten hatten, unternahmen sie eines Morgens einen Ausflug nach dem Südende des Eilandes, um zu sehen, ob dort in der Zwischenzeit irgend welche Veränderungen eingetreten seien. Aber nichts deutete darauf hin, daß abermalige Explosionen von größerer Stärke stattgefunden hatten. Ihre alte Hütte stand noch unversehrt da. Nur aus dem Südschacht des brennenden Flözes loderte jetzt ebenfalls eine riesige Flammensäule gen Himmel, die die der beiden nördlichen Feueressen noch an Höhe übertraf. Dafür hatte aber die Rauchentwicklung beträchtlich nachgelassen. Obwohl gerade Südwind herrschte, war die Ebene doch frei von Qualmschwaden, und nur eine starke Wärmezunahme machte sich angenehm bemerkbar, da die Luftströmung die Hitze der brennenden Kohlengase bis hierher trieb.

Die ganze folgende Woche herrschte so schlechtes Wetter, Sturm und leichtes Schneetreiben, daß die beiden einsamen Nordpolfahrer es vorzogen in ihrer Hütte zu bleiben, wo sie sich die Zeit damit vertrieben, aus den Stangen des Bambusschlittens das Gerippe eines Bootes herzustellen, was ihnen auch leidlich gelang.

Dann klärte sich der Himmel wieder auf. Gleich am ersten sonnenklaren Morgen gingen sie auf die Robbenjagd und erlegten 25 dieser Tiere, die sie schlafend am Strande überraschten und unter Schonung ihrer Büchsenmunition durch Beilhiebe auf die Nase töteten, um die Felle zum Beziehen des neuen Bootsgerippes verwenden zu können. Bei diesem Ausflug nach dem Oststrand des Eilandes erlebten sie eine doppelte Überraschung. Erstens sahen sie, daß die schmale Eisbrücke, die die Insel mit den endlosen Eismassen verbunden hatte, verschwunden war und daß ihre Trümmer in Gestalt kleiner Schollen in dem seeartigen Wasserbecken umherschwammen. Zweitens aber – und diese Beobachtung erschien ihnen geradezu rätselhaft – erblickten sie plötzlich drüben am Eisufer auf einem Hügel die Gestalt eines Mannes, in dem Preimer mit Hilfe des Fernrohres deutlich den Steuermann erkannt. Sörensen trug eine Büchse über der Schulter und in der Hand eine lange Stange – wahrscheinlich eine Harpune. Beide stammten nicht aus der Ausrüstung des Hundeschlittens, das wußte der Doktor genau. Mithin mußte der Geisteskranke sie irgendwo anders gefunden haben. Aber wo …?! Und diese Frage war es, über die die beiden Gefährten nachher lange vergeblich nachgrübelten.

Als der Doktor dann einen Schuß abfeuerte und dem Steuermann lebhaft zuwinkte, verschwand dieser schnell in östlicher Richtung.

Dieses Erlebnis bestimmte Preimer dazu, die Fertigstellung des Bootes möglichst zu beschleunigen. Nach Eskimoart wurden die Felle durch dünne Lederstreifen, die durch vorher gebohrte Löcher liefen, vernäht und die Nähte mit einem Gemisch aus Robbenfett und Asche verschmiert. Dieses kleine Fahrzeug ordentlich wasserdicht zu bekommen, gelang den beiden nordischen Robinsons aber erst nach mancherlei Versuchen.

Über dieser Arbeit waren wieder beinahe acht Tage hingegangen. Inzwischen hatten die Gefährten noch einige Male die Ebene besucht, von deren Nord- und Südgrenze die drei Feueressen mit unverminderter Kraft ihre Feuersäulen zum Himmel emporsandten. Beim letzten dieser Ausflüge war es dem Doktor aufgefallen, daß der Temperaturunterschied zwischen der Ebene und den anderen Teilen der Insel ein so beträchtlicher war, daß dies nicht nur eine Folge der den drei Riesenfackeln entstrahlenden Hitze sein konnte. Zu seiner nicht geringen Überraschung stellte er dann folgendes fest: Der steinige Boden der Ebene zeigte sich auffallend warm, und das darauf wuchernde Moos war sowohl kräftiger als auch frischer an Farbe geworden. Ebenso reckten sich hier und da aus dem grünen, früher recht armseligen Moosteppich kleine Pflänzchen empor, die man bisher nicht bemerkt hatte.

Dies alles konnte nur so erklärt werden, daß durch die Hitze des brennenden Flözes mit der Zeit die über den glühenden Gängen und Spalten lagernde. durchschnittlich acht Meter starke Gesteinschicht völlig durchwärmt worden war und nun bereits etwas von ihrer Wärme der Luft mitteilte.

Als der Doktor diese Ansicht Olaf näher erläuterte und dabei betonte, daß in Nordamerika ein findiger Gärtner über einem brennenden Kohlenbergwerk ein förmliches Paradies geschaffen habe, indem selbst im strengsten Winter infolge der Wärme des Bodens und der Luft alle Pflanzen in tropischer Üppigkeit blühten, entwickelte der Schiffsjunge sofort allerlei phantastische Zukunftspläne, bei denen leider allzu viele „Wenn’s“ vorkamen.

„Wenn wir Samen von Getreide hätten, dann könnten wir hier denselben Versuch machen. Und wenn wir …“

So ging es fort. Doch hinter diesen Phantasien stand das unerbittliche „Aber“, so daß Preimer lachend den begeisterten Olaf bald unterbrach:

„Wir haben leider all’ diese Dinge nicht, lieber Junge. Also müssen wir darauf verzichten, es jenem Gärtner nachzumachen und die Hitze des brennenden Kohlenlagers praktisch auszunutzen.“

Am Tage nach diesem Besuch der Ebene wurde das Boot fertig, ebenso die vier Ruder, die aus Bambusstangen und einem daran festgebundenen, fellüberzogenen schmalen Rahmen bestanden. Der Doktor beschloß daher, gleich morgen in aller Frühe eine Fahrt nach dem Ostufer des Sees zu unternehmen, um festzustellen, wo der Steuermann eigentlich einen Schlupfwinkel und das Gewehr und die Harpune gefunden hatte.

Begünstigt von klarem, windstillem Wetter ruderten die beiden Gefährten am nächsten Tage über das Wasserbecken, zogen nachher ihr leichtes Fahrzeug auf das Eis und wandten sich dann der Stelle zu, wo sie damals Sörensen hatten stehen sehen. Von hier aus verfolgten sie weiter die Richtung nach Osten und erstiegen schließlich einen Gletscher, von dessen höchstem Punkte aus sie einen meilenweiten Fernblick gewannen.

Zu ihrer nicht geringen Enttäuschung sahen sie jetzt, daß die Eismassen sich ohne jede offene Stelle bis zum südlichen Horizont hin erstreckten. Vorläufig war also gar nicht daran zu denken, die Fahrt nach den nächsten menschlichen Niederlassungen auf Nowaja Semlja anzutreten, denn sich nochmals auf eine Schlittenreise ohne genügende Vorräte zu begeben, wagten sie nicht. Die Entbehrungen des verflossenen Winters standen noch mit zu greifbarer Deutlichkeit in ihrer Erinnerung.

Während der Doktor noch in trübem Sinnen durch das Fernrohr die unendlichen Eisflächen nach Anzeichen offenen Wassers absuchte, hatte Olaf Rörgaard recht unbekümmert auch nach Norden zu die Eisfelder mit den Augen auf etwa vorhandene Eisbären ganz eingehend gemustert. Hierbei war ihm in nordöstlicher Richtung ein Gegenstand aufgefallen, den er nicht recht unterbringen konnte. Jetzt machte er Preimer auf dieses seltsame, etwa achthundert Meter entfernte Ding aufmerksam und bat gleichzeitig um das Fernrohr.

„Dort drüben ragt’s über die schroffe Wand hinüber“, erklärte er nochmals. „Mehr rechts, Herr Doktor, mehr rechts. Es sieht so aus wie eine Eissäule mit einem dicken schwarzen Streifen.“

Preimer hatte das Glas schon wieder vor den Augen, schaute einen Augenblick hindurch und rief dann in höchster Erregung:

„Olaf – Deine Eissäule ist nichts anderes als der Schornstein eines Dampfers. – Vorwärts, Junge, sehen wir zu, was von dem Schiff noch übrig ist, auf dem wir sicherlich auch Sörensen wiederfinden wenden.“

Eine halbe Stunde später hatten sie nach mancherlei Umwegen, die sie wegen der zahlreichen Spalten und Wassertümpel machen mußten, den Dampfer glücklich erreicht, der mitten auf einer ebenen Stelle bis zur Schanzverkleidung im Eise vergraben lag und dessen Eisenteile mit dickem Rost überzogen waren.

Olaf war als erster auf dem Verdeck, prallte aber sofort entsetzt zurück. Dort neben der von Eisschollen zerdrückten Kommandobrücke hob sich von den Planken deutlich der halbzerfleischte, blutige Körper eines Mannes ab. – Es war Sörensen der arme Wahnsinnige, der hier im Kampf mit einem Eisbären den Tod gefunden hatte. Seine erstarrte Hand hielt noch die abgeschossene Büchse, und neben ihm lag die Harpune, mit der er wahrscheinlich in höchster Not die Bestie von sich abzuwehren versucht hatte. Nachher stießen die beiden Robinsons dann auch auf den von Polarfüchsen bereits vielfach angefressenen Kadaver des Eisbären, der mit einer Schuß- und Stichwunde in der Brust etwa hundert Meter vom Schiffe entfernt hinter kleinen Eisschollen verendet war.

Nachdem die Leiche des Steuermanns in ein Segel gewickelt war, das Olaf im Vorschiff aufgestöbert hatte, begannen sie den Dampfer, der den Namen „Ohio“ am Bug führte, in allen seinen Teilen genau zu durchsuchen. Es stellte sich bald heraus, daß Eispressungen von unten und Eisschollen von oben her das Schiff bereits recht gründlich zerstört hatten. Im Kielraum standen gut zwei Meter Wasser, und die Planken waren an verschiedenen Stellen eingedrückt. Außerdem hatten auch Menschenhände aus diesem Wrack, das längst weggesunken wäre, wenn es nicht auf einer so starken Eisschicht geruht hätte, fast alles entfernt, was irgend einen Wert besaß. Deutlich sah man, daß die beiden Masten durch Axthiebe umgeschlagen und dann mit dem ganzen Tauwerk fortgeschafft waren. Ob dies durch die Besatzung selbst oder durch andere Leute geschehen war, ließ sich nicht ergründen. Ebenso konnte man nicht feststellen, woher der Dampfer stammte, da sämtliche Schiffspapiere fehlten. Lediglich aus einem zerrissenen Sternenbanner der Vereinigten Staaten schloß der Doktor, daß es ein amerikanisches Schiff sei. Weiter war auch mit einiger Sicherheit anzunehmen, daß es bereits eine ganze Reihe von Jahren, auf dem Eisfelde ruhend, im Polarmeer sich befinden müsse. Was aus der Besatzung geworden und welchen Zwecken es gedient, blieb eine ungelöste Frage.

Der geisteskranke Steuermann, der wohl zufällig auf das Wrack gelangt war, hatte sich in einer der drei kleinen Kajüten wohnlich eingerichtet und hier auch in einem Wandschrank mit einer Geheimtür die Waffen entdeckt. Dieser Schrank stand jetzt offen. Er enthielt noch eine ganze Menge von Gegenständen, die für die beiden Gefährten recht wertvoll waren, – ein paar Vorderladerbüchsen, Pulver, Kugeln, Zündhütchen, zwei große Sägen, Hammer, Nägel in allen Größen, eine Rolle starken Eisendrahtes und vier Leinensäcke, in denen sich mehrere kleinere Lederbeutel befanden, die zu des Doktors unaussprechlicher Freude mit allerhand Pflanzensamen gefüllt waren. Ob diese Samenkörner freilich noch keimfähig sein würden, mußte erst festgestellt werden.

Jedenfalls gewann Preimer aus der Einrichtung und Bauart des mit einer veralteten Maschine ausgestatteten Schraubendampfers den Eindruck, daß dieser für Polarfahrten nicht bestimmt gewesen sein könne und wahrscheinlich nur durch eine Verkettung besonderer Umstände in die Regionen des ewigen Eises geraten war. – Das ausgeplünderte Wrack besaß immer noch für die beiden Gefährten insofern einen beträchtlichen Wert, als sie daraus noch eine ganze Menge von Material, Holz und Eisen, gewinnen konnten, das ihnen von größtem Nutzen sein mußte. Daher beschlossen sie auch, zunächst die Leiche des Steuermannes auf der Insel zu beerdigen und dann sofort mit dem Herüberschiffen derjenigen Gegenstände nach ihrem Lager zu beginnen, die sie mit Hilfe der gefundenen Werkzeuge und ihrer Beile von dem Wrack losschlagen konnten.

Reichliche acht Tage hatten sie auf diese Weise zu tun. Unermüdlich arbeiteten sie, schleppten losgesägte Balken und Bretter, Planken des Decks, Teile der Kommandobrücke, Eisenbeschläge, Messingröhren von der Schiffsmaschine, ja sogar den Schornstein über das Eis nach dem Ufer des Sees hin, wo sie alles fürs erste aufstapelten. Olaf war hierbei auf den klugen Gedanken gekommen, einen neuen Schlitten zu zimmern, vor den man die Hunde spannen konnte, um auf diese Weise gleichzeitig eine größere Last von Sachen fortschaffen zu können.

Immer höher wuchs der Haufen der geborgenen Gegenstände an. Dann glaubten sie mit allem, was sie brauchen konnten, reichlich versehen zu sein, bauten nun aus den Balken ein Floß und brachten auf diesem den ganzen neugewonnenen Reichtum auf die Insel hinüber, ordneten hier ihre Schätze – denn für sie waren es solche! – und verstauten sie sorgfältig in einer zweiten, geräumigeren Steinhütte, die sie ihr Vorratshaus nannten.

Während dieser ganzen acht Tage hatten sie nicht die Zeit gefunden, wieder einmal die Ebene, unter der die Kohlenadern wie ein riesiger Ofen glühten, zu besuchen. Jetzt aber ließ der Gedanke, ob dort im Südteil der Insel vielleicht inzwischen wesentliche Veränderungen eingetreten seien, dem Doktor keine Ruhe mehr. Ausgerüstet mit einem Thermometer, mit dem Preimer die Temperatur des erwärmten Gesteins zu messen beabsichtigte, und wie immer mit den Büchsen über der Schulter wanderten sie eines Morgens nach der Ebene, die von den drei weithin sichtbaren Feuersäulen wie von lodernden Wahrzeichen überragt wurde. Sie fanden alles unverändert vor. Nur das Moos war noch üppiger geworden, und die Temperatur über der Ebene bedeutend gestiegen. Der Unterschied zu den anderen Teilen der Insel betrug jetzt schon acht Grad, während am Boden einer engen, zwei Meter tiefen Spalte mitten in der Ebene nicht weniger als vierzehn Grad gemessen wurden, ein weiterer Beweis dafür, wie stark die Felsschicht über dem Brandherde bereits durchhitzt sein mußte.

Der Doktor stellte durch sorgfältige Messungen der Temperatur dicht über der Erde ferner noch fest, daß beinahe die ganze Fläche der Ebene ziemlich gleichmäßig durch das brennende Flöz „geheizt“ wurde. Letzteres mußte mithin eine bedeutend größere Ausdehnung haben, als man anfänglich vermutet hatte.

Noch an demselben Tage begannen die beiden Gefährten mit den Vorbereitungen zur Anlage eines kleinen Ackerstreifens, auf dem sie zunächst versuchsweise allerlei Samen ausstreuen wollten, um dessen Keimfähigkeit zu erproben. Aus Asche, verwittertem Gestein und Vogeldünger stellten sie mehrere Beete her, die sie etwa dreißig Zentimeter hoch aufschütteten und mitten in der Ebene anlegten, wo die Temperatur am gleichmäßigsten war. Nachdem die Beete fertig geworden waren, wurden sie mit Süßwasser – man hat in den Polargegenden zwischen Süßwassereis (Landeis) und Salzwassereis (Meereis) zu unterscheiden. Letzteres sondert häufig das Salz in Kristallen ab, die das Eisfeld dann wie eine Schneeschicht bedecken. In der warmen Jahreszeit bilden sich auf den Eismassen große Tümpel, die je nach der Natur der darunter liegenden Eisschicht aus Süß- oder Salzwasser bestehen, – das man in gut abgedichteten Holzbehältern auf dem Floß vom anderen Ufer herüberholte, ordentlich durchtränkt. Hierauf erst wurde mit dem Aussäen begonnen, wozu man jedoch nur einen kleinen Teil des Samens verwendete. – –

Am 2. April 1904 hatten Sörensen, Preimer und Olaf Rörgaard die Insel betreten, und am 16. Mai übergaben die beiden letzten Überlebenden der „Skandinavia“ dem künstlich hergestellten Erdreich die verschiedenen Samenarten, unter denen sich auch Roggen-, Weizen- und Gerstenkörner befanden, mit dem heißen Wunsche, daß daraus wenigstens einige Pflanzen emporsprießen möchten, damit sie diesen Versuch später in größerem Umfange wiederholen könnten.

Die folgenden Tage verbrachten sie wieder im Nordteile des Eilandes, erlegten Seehunde und spürten drüben auf dem unendlichen Eisgebiet zwei Eisbären nach, deren Fährten sie im durchweichten Schnee entdeckt hatten. Die Raubtiere waren jedoch außerordentlich vorsichtig und ließen die Jäger nie auf Schußnähe heran, bis diese die vergebliche Verfolgung schließlich einstellten.

Dann trat ein Ereignis ein, das die friedliche Ruhe der kleinen Insel und ihrer Bewohner recht bedenklich stören sollte.

Eines Morgens wollten die beiden Gefährten wieder einmal das Wrack besuchen, um dort lange Nägel und starke Schrauben aus den Holzteilen herauszumeißeln, die sie zu festen Holzdächern für das Wohn- und das Vorratshaus notwendig brauchten. Als sie sich dem halbzerstörten Dampfer näherten, bemerkten sie jedoch zu ihrem nicht geringen Erstaunen, daß sich neben dem Schiffe auf einer trockenen, weil schrägen Eisfläche ein Lager von einigen zwanzig Lederzelten befand und daß eine ganze Anzahl von Menschen und Hunden die bisher einsame Stätte bevölkerten.

Sie waren noch nicht von den fremden Ankömmlingen bemerkt worden und beobachteten jetzt erst vorsichtigerweise, verborgen hinter ein paar Eisblöcken, das rege Leben und Treiben, das keine zweihundert Meter vor ihnen sich abspielte. Der Doktor hatte wie immer bei derartigen Ausflügen das Fernrohr mitgenommen, dessen Sehschärfe es ihm ermöglichte, über die Natur dieser in Felle gekleideten, an Gestalt ziemlich kleinen Besucher schnell ins klare zu kommen. Olaf hatte diese zunächst für Eskimos gehalten. Doch Preimer belehrte ihn schnell, daß dieser Volksstamm seine Sommerwanderungen bis hierher kaum ausdehne. Es handle sich vielmehr unzweifelhaft um Samojeden, die man im Gegensatz zu den Eskimos den Mongolen zuzählen könne und die in ganz Nordsibirien ebenso wie auf der Insel Nowaja Semlja vertreten seien.

Dann beschaute der Schiffsjunge auch selbst genauer durch das Glas diese kleinen, beweglichen Gestalten, deren Gesichter den echt mongolischen Schnitt bei gelbbrauner Hautfarbe aufzuweisen hatten und die sämtlich das schwarze, struppige Haar nach hinten in zwei durch Lederriemen abgeteilten Büscheln trugen. Die Samojeden waren zumeist damit beschäftigt, das Wrack noch weiter zu plündern. Und Preimer zweifelte jetzt nicht mehr daran, daß sie es gewesen waren, die den Dampfer soweit ausgeraubt hatten, und daß sie sicherlich während der warmen Jahreszeit in den letzten Jahren schon häufiger hier gewesen waren. Unerklärlich blieb ihm nur, wie die Leute mit ihren Zelten, Hunden und Weibern – denn auch letztere befanden sich darunter – von Nowaja Semlja so weit nach Norden gelangt sein könnten. Erst später sollte er hierüber Aufschluß erhalten und zwar einen nie geahnten, der ihm bewies, wie sehr er sich in der Annahme verrechnet hatte, daß die kleine Felsinsel zu Franz-Josef-Land gehören müsse.

Die Samojeden sind im allgemeinen ein harmloses, ehrliches Völkchen, was dem Doktor sehr wohl bekannt war. Trotzdem zögerte er, sich dem Lager noch mehr zu nähern, und zwar aus dem Grunde, weil er unter den schlitzäugigen Mongolen auch zwei auffallend große Leute mit dichten, langen Vollbärten bemerkt hatte, die ohne Zweifel Russen waren. Es ist nun ein alter Erfahrungssatz, daß Europäer, die sich mit farbigen zusammentun, stets mit Argwohn zu behandeln sind, zumal wenn sie sich einem auf so niedriger Kulturstufe stehenden Nomadenvolke angeschlossen haben. Die Anwesenheit dieser beiden Russen, die im übrigen dieselbe Kleidung wie die Samojeden trugen, ließ es Preimer ratsam erscheinen, zunächst das Treiben der Fremden noch eine Zeitlang zu beobachten. Leider sollten jedoch einige der Hunde des Lagers diesen Entschluß vereiteln. Diese hatten nämlich offenbar eine noch frische Bärenfährte aufgespürt, der sie nun heulend in gestrecktem Galopp gerade in der Richtung auf das Versteck der beiden Robinsons folgten. So kam es, daß die Meute Witterung von dem Doktor und Olaf erhielt, plötzlich abschwenkte und deren Zufluchtsort wütend bellend umkreiste.

Wenige Minuten später waren die beiden Gefährten von einigen zwanzig Samojeden umringt, die sich jedoch scheu in achtungsvoller Entfernung hielten, da die Büchsen sie sicherlich vor allzu großer Zudringlichkeit warnten. Erst als die Russen nun gleichfalls erschienen, schloß sich der Kreis immer enger, so daß der Doktor es schon bitter bereute, nicht schleunigst Fersengeld gegeben und die Insel wieder aufgesucht zu haben. – Dazu war es jetzt zu spät.

Einer der langen Kerle mit den dichten Vollbärten trat vor, blieb dicht vor Preimer stehen und musterte dessen Gewehr mit lüsternen Blicken. Dann fragte er in leidlich gutem Deutsch, indem er mit der Hand dorthin deutete, wo über den Eishöhen deutlich die drei Feuersäulen des brennenden Flözes zu sehen waren:

„Ihr wohnt dort, nicht wahr? Morgen wollten wir Euch aufsuchen. Wir haben schon einige Leute nach unseren Booten geschickt, die wir in der Bucht zurückgelassen haben. – Besitzt Ihr noch mehr solche Gewehre und auch Patronen dazu? – Zeig’ Deine Büchse mal her. Ich verstehe etwas von Schußwaffen.“

Das ganze Auftreten dieses Menschen zeigte eine derartige unverfrorene Unverschämtheit, daß der Doktor sofort wußte, woran er war. Schnell trat er einen Schritt zurück, nahm die Büchse unter den Arm und schob die Sicherung beiseite. Gleichzeitig raunte er Olaf zu, er solle auf seiner Hut sein; die Leute hätten es auf die Gewehre abgesehen.

Dann erwiderte er laut und furchtlos:

„Ein Jäger gibt seine Waffe nicht aus der Hand. – Wer seid Ihr und woher kommt Ihr?“

Das Folgende spielte sich so schnell ab, daß Preimer nachher kaum die einzelnen Vorgänge auseinander zu halten vermochte. – Der Russe hatte auf des Doktors ablehnende Antwort hin drohend die Stirn gerunzelt und seinen Leuten dann ein paar Worte in einer fremden Sprache zugerufen. Hierdurch gewarnt, war Primer mit ein paar Sätzen durch den Kreis der Samojeden hindurchgebrochen, gefolgt von dem Schiffsjungen, der die Lage sofort richtig erkannte. Einmal außerhalb dieser drohenden Menschenmauer, war es ihnen ein Leichtes, sich die ganze Bande mit den Büchsen vom Halse zu halten. Gefolgt von dem wütenden Geschrei der Samojeden, den Drohungen der beiden Weißen und dem Gekläff der Hunde eilten sie nun der Stelle zu, wo sie ihr Fellboot am Rande der Eismassen zurückgelassen hatten. Hin und wieder machten sie halt und erhoben warnend die Gewehre gegen ihre Verfolger, die in dichtem Haufen hinter ihnen herkamen und ständig die struppigen Köter auf sie hetzten, bis dem Doktor schließlich die Geduld riß und er mit wohlgezieltem Schuß zwei der Hunde auf einmal aus der Meute herausholte. Da erst wurden die Samojeden vorsichtiger und ließen von den beiden Robinsons ab, die schließlich ganz atemlos auf ihrem Eiland anlangten und sofort das leichte Boot mit zu ihrer Hütte nahmen, damit es nicht den ihnen feindlich gesinnten Fremden in die Hände fiele.

Während der Mittagsmahlzeit berieten sie dann, was nun weiter geschehen solle, um diese Störenfriede von dem Eiland fernzuhalten. Olaf nahm dieses Abenteuer recht leicht und meinte, so ein kleiner lustiger Krieg bringe wenigstens etwas Abwechslung in ihr eintöniges Dasein. Doch Preimer dachte über die Sache bedeutend ernster. Er verhehlte dem Gefährten nicht, daß man zwar die Samojeden weniger zu fürchten habe, daß aber die beiden Russen, die vielleicht gar aus der Sträflingskolonie auf Nowaja Semlja entflohen seien, ihren ganzen Einfluß aufbieten würden, um diese nordischen Nomaden zu einem Angriff auf die Insel zu verführen, wo sie sicher allerlei Schußwaffen vermuteten, die sie sich offenbar um jeden Preis irgendwie besorgen wollten.

Die Folge dieses Kriegsrates war, daß der Doktor und Olaf beschlossen, abwechselnd Tag und Nacht auf einer Anhöhe des östlichen Ufers des Eilandes Wache zu halten, von der aus man die Annäherung von Booten rechtzeitig bemerken mußte, um sich für die Verteidigung bereithalten zu können. Dieser Plan wurde durch den Umstand sehr begünstigt, daß ja in dieser Jahreszeit auch nachts die Sonne nicht unter dem Horizont verschwand und es stets gleichmäßig hell blieb.

In der ersten Nacht ereignete sich nichts besonderes. Nur drüben am Rande des endlosen Eisgebietes erschienen hin und wieder Gestalten, die aber stets schnell verschwanden. Inzwischen hatte der Doktor auch die auf dem Wrack gefundenen Vorderlader gereinigt, geladen und nach der Anhöhe gebracht auf der man den Beobachtungsposten eingerichtet hatte.

Dann aber rüttelte der gerade Wache haltende Olaf in der folgenden Nacht gegen Morgen den fest schlafenden Doktor, der in der Nähe in einem schnell erbauten Zelt ruhte, mit dem Alarmrufe wach, daß die Samojeden in sechs großen Booten von Südost her auf die Insel zuruderten. Im Augenblick hatte sich Preimer ermuntert, verteilte die Schußwaffen und eilte im Laufschritt mit dem Schiffsjungen der Südspitze des Eilandes zu.

Die Samojeden-Boote näherten sich sehr langsam, eins dicht neben dem anderen. In jedem befanden sich sechs Mann, die mit Pfeilen und Bogen und langen Lanzen bewaffnet waren. Nur die beiden Russen, die in einem Fahrzeuge saßen, hatten alte Steinschloßflinten in der Hand, wie der Doktor durch das Fernrohr deutlich bemerkte. Ebenso erkannte er auch bald, daß die Samojeden keine große Lust hatten, sich der Insel noch mehr zu nähern, an deren Ufer jetzt die zur Vereitelung eines Landungsversuches bereiten, gut bewaffneten Bewohner standen. Immer wieder mußten die Russen die Ruderer antreiben, sich der plumpen Ruder emsiger zu bedienen, wobei es nicht ohne Schimpfworte abzugehen schien.

Als die Flottille noch etwa hundert Meter vom Ufer entfernt war, rief Preimer den beiden Weißen zu, daß er auf sie feuern würde, falls sie nicht sofort kehrt machten.

Die Antwort war ein höhnisches Gelächter. Immerhin lagen die Boote jetzt eine Weile bewegungslos auf dem Wasser, und die Insassen berieten sich offenbar, auf welche Weise man die Insel am besten gefahrlos erreichen könne.

Dann kletterte einer der Russen in ein anderes Boot hinüber. Und gleichzeitig brüllte dessen Gefährte dem Doktor triumphierend zu:

„Wir haben sechs Boote, Ihr aber seid nur zwei Mann …! Wir werden an verschiedenen Stellen landen, und dann haben wir Euch bald in unserer Gewalt! Gebt Ihr gutwillig alle Eure Waffen heraus, so soll Euch nichts geschehen!“

Eine Erwiderung auf diese wenig vertrauenerweckende Zumutung vermochte Preimer nicht mehr zu geben.

Andere, gewaltigere Mächte mischten sich in den Streit ein, – die unterirdischen Feuer, die keine hundert Meter landeinwärts in den Kohlenschichten wüteten … Kaum hatte nämlich der Russe das letzte Wort herübergerufen, als ein dumpfer Knall aus dem Innern der Erde hervordrang und die aus den Essen hervorschießenden Flammensäulen urplötzlich wie aufgedrehte Fontänen sich fast zur doppelten Höhe erhoben. Wieder ein furchtbares Dröhnen, unter dem die ganze Insel zitterte. Und dann wallte mit einem Mal dicht vor den Booten der Samojeden unter Zischen und Brausen ein Wasserberg von gut fünfzehn Meter Höhe auf. Es war, als ob eine Seemine dort soeben explodierte und es mit ihrer vernichtenden Wirkung gerade auf die Flottille der Angreifer abgesehen hatte. Die beiden Boote, in denen sich die Russen befanden, waren den übrigen um ein Stück voraus, wurden von den jäh aufsteigenden Wassermassen mitgerissen, kippten um und verschwanden mit ihren Insassen in dem brodelnden Strudel des in sich wieder zusammenstürzenden Wasserberges. Hiermit nicht genug, begann die Oberfläche des Beckens an derselben Stelle jetzt wieder hohe Wellen aufzuwerfen, während gleichzeitig weißer Dampf diesen Ort des Verderbens völlig einhüllte.

Unter wilden Rufen des Entsetzens hatten die Leute in den vier anderen Booten schleunigst die Flucht ergriffen. Auch der Doktor und Olaf brauchten längere Zeit, um sich von dem ersten Schreck über diese unerwartete Hilfe zu erholen. Vergebens schauten sie dann nach den Unglücklichen aus, die dieser Katastrophe zum Opfer gefallen waren. Nur einige Trümmer des Bootes trieben nachher an den Strand.

Noch an demselben Vormittag brachen die Samojeden in wilder Hast ihr Lager bei dem Wrack ab und verschwanden über die Eismassen nach Süden zu, wie die beiden Robinsons, die auf Kundschaft ausgezogen waren, zu ihrer Freude bemerkten. Offenbar hatte die im Innern des brennenden Flözes erfolgte Explosion größerer Gasmengen, die den Boden des Wasserbeckens an jener Stelle gesprengt hatte, ihnen ein derartiges Entsetzen eingeflößt, daß sie nur einen Gedanken hatten: schleunigst die unheimliche Gegend zu verlassen.

Nachdem diese gelbhäutigen Gäste mit ihren vollbepackten Hundeschlitten, auf denen auch die trotz ihrer Größe recht leichten Fellboote – auch die Eskimos benutzen neben den sog. Kajaks, die nur für einen Mann bestimmt sind, größere Fahrzeuge, die sog. Umiaks (Weiberboote), die 15 bis 20 Menschen nebst Zelten und Hausgeräten fassen – lagen, am südlichen Horizont in der nebligen Ferne untergetaucht waren, kehrten Preimer und Olaf nach ihrer Insel zurück. Inzwischen hatte die Dampfentwicklung über jener Stelle des Wassers, an der vorhin die ungeheure Woge so plötzlich hochgestiegen war, völlig aufgehört, und die Oberfläche des Beckens lag wieder glatt und friedlich da, als habe sich niemals unter ihrem Spiegel eine so grauenvolle Tragödie wie die vor kaum drei Stunden geschehene abgespielt.

Der Doktor war über diese Rückkehr des alten Zustandes des Sees sehr befriedigt. Hatte er doch gefürchtet, daß durch die Öffnung, die die Gasmassen in den Boden des Beckens gerissen hatten, sich ständig Wasser in das brennende Flöz ergießen und dieses schließlich zum Verlöschen bringen könnte, wodurch seine Hoffnung auf einen lohnenden Getreidebau und die Aufzucht blühender Pflanzen vereitelt worden wäre. So aber war anzunehmen, daß die entstandene Öffnung sich von selbst wieder verschlossen habe, – eine Vermutung, die, wie die Zukunft lehrte, völlig zutreffend war.

Bereits drei Tage später konnten die beiden Robinsons zu ihrer größten Freude feststellen, daß aus den Beeten auf der Ebene hier und da kleine, grüne Pflänzchen und Halme hervorlugten, die dann schnell wuchsen und kräftig gediehen, zumal sie regelmäßig mit Süßwasser besprengt wurden. – Da dieser erste Versuch im kleinen so gut geglückt war, machten die beiden Gefährten sich sofort an die Anlage weiterer Beete, auf denen sie hauptsächlich Getreide säten.

Diese Ausnützung der günstigen Wärmeverhältnisse der Ebene trug bereits zwei Monate später die besten Früchte ein. Wenn auch nicht alle Samenkörner noch keimfähig gewesen waren, so ernteten die Bewohner des Eilandes doch immerhin soviel Getreide, ganz abgesehen von einer ganzen Anzahl blühender Ziergewächse, daß sie einen Teil davon zur Herstellung von Mehl und weiter zum Backen von Brot benutzten konnten und noch genug für eine neue Aussaat übrig behielten. Diese erfolgte Ende Juli. Mittlerweile hatten die früher noch recht häufigen unterirdischen Explosionen völlig aufgehört, ebenso wie die aus den drei Essen aufsteigenden Feuersäulen in stets gleichmäßiger Höhe ohne stärkere Rauchentwicklung weiter brannten. Dieser Zustand dauernder Ruhe im Innern des glühenden Flözes, das, wie die Explosion unter dem Boden des Sees bewies, sich noch eine Strecke unter dem Wasserbecken hinzog, worauf auch die ungewöhnliche Wärme des Wassers hindeutete, bestimmte dann den Doktor dazu, wieder die erste Hütte am Südabhang des einen der beiden nördlich liegenden Kegelberge zu beziehen und auch die ganzen Vorräte hierher zu schaffen, wobei noch der Umstand für diesen abermaligen Umzug mitsprach, daß die Bestellung und Bewässerung der Felder sich weit bequemer von hier aus erledigen ließ, wo man diese dicht vor der Tür hatte. Außerdem sagte sich Preimer mit Recht, daß die über der Ebene lagernden, erwärmten Luftschichten und die Hitze der drei Feueressen selbst im Winter die Temperaturverhältnisse an diesem Orte aufs günstigste beeinflussen würden, eine Hoffnung, die sich später glänzend erfüllte.

Anfang Oktober konnten unsere beiden Robinsons dann die zweite Ernte einbringen, die überaus reich ausfiel. Inzwischen hatten sie neben der alten Hütte ein neues Wohnhaus erbaut, bei dessen Errichtung sie zahlreiche Schiffsplanken, Steine und als Mörtel ein Gemisch von Vogeldünger, Asche und Robbentran benutzten. Diese Behausung bot ihnen dank der Gegenstande, die sie nach und nach noch aus dem Wrack herbeigeschafft hatten, recht viele Bequemlichkeiten. Die alte Hütte richteten sie sich als Arbeitswerkstatt ein, und hier spielten sie mit viel Geschick gleichzeitig Tischler, Schmied, Töpfer, Schneider und Schuhmacher und fertigten sich all die Dinge an, die sie zur Erleichterung ihrer Arbeiten brauchten und mit denen sie sich ihr Leben bequemer und den Ansprüchen von Kulturmenschen würdiger gestalten konnten. So besaßen sie bald in ihrem Hause außer Tisch und Stühlen bequeme Betten und Schränke zur Unterbringung ihrer Habseligkeiten. Sogar zwei kleine Fenster mit Glasscheiben waren in die Seitenwände des neuen Baues eingelassen, der mit seinem festen Bretterdach und dem kleinen Gärtchen vor der Tür, das mit einem Zaune umgeben war, recht freundlich dreinschaute.

Mitte Oktober machte sich das Nahen der kalten Jahreszeit durch eisige Winde und schwere Schneestürme bereits stark bemerkbar. Freilich – der von den unterirdischen Feuern geheizten Ebene, die dazu noch in Gestalt der drei mächtigen Flammensäulen über ebenso viele Riesenöfen verfügte, konnten die Kälte und der Schnee nichts anhaben. Letzterer mochte noch so dicht fallen, – auf dem durchwärmten Boden verwandelte er sich sofort in harmloses Wasser. Und selbst in den strengsten Wintermonaten sank das Thermometer auf der Ebene niemals unter den Gefrierpunkt. Im Gegenteil – der Doktor, der täglich das Thermometer prüfte, stellte fest, daß die Durchschnittstemperatur etwa fünf Grad Wärme betrug. Und diese teilte sich auch dem übrigen Eiland mit, welches nur in seinem nördlichen Teile unter Schnee- und Eismassen verschwand. Dafür blieb aber der See den ganzen Winter über offen, so daß die beiden Gefährten, die ihre Insel längst „Insel Eden“ und die Ebene „Paradies“ getauft hatten, häufige Bootsfahrten zu ihrer Zerstreuung unternahmen.

Besonders angenehm empfanden sie außer der milden Luft die künstliche, von den drei Feueressen herrührende Beleuchtung, die siegreich über die ewige Nacht des Polarwinters triumphierte und nicht nur die Insel Eden, sondern auch den See und die Ränder des Packeises in ein beständiges, rötliches Licht tauchte und Bilder von bezaubernder Schönheit schuf.

In diesen Monaten, wo hier außerhalb des seltsamen Eilandes alles Leben vor Kälte erstarb, bauten sich die beiden Gefährten, die die schweren Pelze nie mehr zu tragen brauchten, ein festes Boot aus Holzplanken sowie einen Schlitten, auf dem sie es bequem über das Eis fortschaffen konnten. Gerade als sie diese Arbeiten vollendet hatten, meldete sich die Rückkehr der warmen Jahreszeit an. Am 23. Februar erschien die Sonne zum ersten Mal wieder über dem Horizont, die Kälte ließ nach und Seevögel und Robben fanden sich ein. Der Frühling war da.

Sofort wurde nun mit der Bestellung der Felder des „Paradieses“ begonnen; gleichzeitig ergänzte man die Fleischvorräte, machte auf Robben und Eisbären Jagd und sammelte Möweneier ein, die gekocht und in scharfem Salzwasser aufbewahrt wurden. Lag es doch in des Doktors Absicht, sofort nach der ersten Ernte, die Mitte Mai zu erwarten war, die Reise über die Eisfelder in derselben Richtung anzutreten, in der damals die Samojeden sich auf und davon gemacht hatten.

Doch der Abschied von der Insel sollte schneller kommen, als die beiden Gefährten es vermuteten.

Am 30. März war es um die Mittagszeit, als es plötzlich in dem glühenden Kohlenflöz dumpf zu dröhnen begann. Dann folgte eine Explosion im Innern der Erde, die an Heftigkeit alle früheren übertraf und deren Stoßkraft hauptsächlich auf den Schacht im Süden wirkte. Große Felsstücke wurden dort in die Luft geschleudert, und die Feuersäule verbreiterte sich gut um das dreifache. Jetzt folgte Knall auf Knall. Aus dem Wasserbecken stiegen gleichzeitig drei hohe Fontänen auf, die von starken Dampfwolken und ohrbetäubendem Zischen und Brausen begleitet waren. Der Felsboden der Ebene erzitterte so stark, daß es schien, als ob es sich um ein Erdbeben handelte. Und mit einem Male öffnete sich dicht vor den beiden Robinsons, die gerade mit dem Begießen ihrer Felder beschäftigt waren, eine gut zwei Meter breite Spalte, aus der erstickender Dunst in schweren Wolken emporstieg.

In wilder Hast packten da die Gefährten das Notwendigste zusammen, stürmten nach dem Liegeplatz des neuen Bootes, verstauten den Schlitten, die Lebensmittel und all das andere, ließen die Hunde hineinspringen und stießen vom Ufer ab. Inzwischen hatte die unterirdische Kanonade noch an Stärke zugenommen, der ganze südliche Teil des Wasserbeckens bildete eine brodelnde, dampfende Masse und betäubende Gase breiteten sich immer weiter aus. Kaum hatte das Boot den Rand des Packeises erreicht, als eine abermalige Explosion von unerhörter Heftigkeit die Luft erschütterte und ganze Stücke der über dem brennenden Flöz liegenden Felsschicht in die Luft geschleudert wurden: das in die glühenden Kohlenmassen eingedrungene Wasser war infolge der ungeheuren Hitze in Dampf verwandelt worden und hatte dann wie der stärkste Sprengstoff die Felsdecke der Ebene zerrissen …

Noch aus weiter Entfernung sahen die beiden nach Süden vordringenden Gefährten eine riesige Dampfwolke über der Insel schweben, die in ihren unteren Teilen stark rötlich schimmerte, ein Beweis dafür, daß das Feuer des Flözes sich jetzt in weiter Ausdehnung nach oben Bahn gebrochen hatte.

Fünf Tage später erreichten sie die Südgrenze des Packeisgürtels, wo sie auf einen norwegischen Robbenfänger stießen, der sie an Bord nahm und später in die Heimat brachte. Und erst von dem Kapitän dieses Schiffes erfuhren sie, daß die nunmehr zerstörte Insel Eden nur etwa zehn Meilen von Kap Mauritius, der Nordspitze von Nowaja Semlja, entfernt sei, wodurch auch das Erscheinen der Samojeden bei dem Wrack eine genügende Erklärung fand.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Verlagswerbung:

 

Urteile maßgebender Personen über die „Erlebnisse einsamer Menschen“.

Herr Prof. Dr. V. in M. schreibt:

„… Ich halte sie für durchaus geeignet, den weitesten Kreisen des Volkes, besonders auch der Jugend, in die Hand gegeben zu werden … Die Erzählungen sind auch sehr geeignet, die Charakterbildung der Kinder günstig zu beeinflussen …“

Herr Pfarrer und Ortsschulinspektor H. in B.:

„… Der Inhalt, völlig einwandfrei, ist geeignet, die Persönlichkeit namentlich der jugendlichen Leser zu selbständiger, ernster Betätigung anzuregen und die Lebensanschauung sittlich zu heben und zu fördern. Ich würde daher die Hefte ohne Bedenken der hiesigen Jugend- und Volksbibliothek einverleiben.“

Herr Rechtsanwalt H. in F.:

„… Die von mir gelesenen Robinsonaden stellen meines Erachtens eine durchaus einwandfreie Lektüre dar, die man getrost der Jugend in die Hand geben kann. Sie haben noch den Vorteil, reichlich belehrenden Stoff zu bringen …“

Herr Direktor G. in W.:

„… Sie sind unterhaltend und belehrend. Der richtige Lesestoff in der Hand der ernstgerichteten Jugend.“

Herr Lehrer B. in B.:

„Die mir zur Beurteilung übersandten Bändchen sind eine einwandfreie Unterhaltungslektüre für Knaben von 12 Jahren an.“

Herr Landrichter V. in B., früher Untersuchungsrichter in S.:

„… Die Erzählungen habe ich mit großem Interesse gelesen. Als Unterhaltungsschriften für die Heimat sowohl als auch für das Feld würde ich die billigen und dabei guten Heftchen empfehlen können …“

 

 

Anmerkungen:

  1. Unter dem Titel Arktische Reizbarkeit erschien in der Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Band 9, S. 206–208, hierzu ein passender Beitrag von W[alther] K[abel].
  2. Zu dem Thema erschienen von Walther Kabel gleich zwei unterschiedliche Artikel: Grubenexplosionen in Illustriertes Unterhaltungs-Blatt (Greiner & Pfeiffer; 8 S.), Jahrgang 1909, Nr. 11, S. 86–87 sowie unter gleichlautendem Titel: Grubenexplosionen in der Bibliothek für Alle, 4. Jahrgang (1912), Band 6, S. 99–101.