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Der Sprung ins Nichts

 

 

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Der Sprung ins Nichts

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 22 –

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1930 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Der Mann im Sack.

„Du vergißt bei alledem eins, lieber Jörn“, sagte ich eines Abends zu meinem blonden, riesigen Gefährten, der mit mir und Bully zusammen am Kaminfeuer der Blockhütte sich wärmte. „Du als Sohn des Volkes der blonden Eskimos hast dir durch ein paar Bücher die Sehnsucht nach den Kulturstätten der Menschheit angelesen und möchtest um jeden Preis moderne Zivilisation kennen lernen. Gesetzt den Fall, ich begleitete dich nach Süden und wir kehrten etwa in Edmonton als erster Station dieses Bummels durch die Großstädte in einem Hotel ein. Gesetzt den Fall, daß dort niemand nach unseren Papieren fragte. An der kanadischen Grenze würde dies bestimmt geschehen, und in die Vereinigten Staaten uns ohne Papiere einzuschmuggeln, bedeutet scheußliche Unannehmlichkeiten mit der Polizei und allen möglichen Behörden. Wahrscheinlich würde man uns wieder nach Kanada abschieben, und dann würde sich dasselbe Spiel wiederholen. Ohne Papiere ist man verraten und verkauft, mein lieber Jörn.“

Jörn Haskielt hielt auf den Knien eine halb zerfetzte Karte von Nordamerika und hob nun den Kopf und schaute mich verständnislos an. In seinen blauen Nordlandsaugen schimmerte das heiße Sehnen nach den unbekannten Steinwüsten der Großstädte. – Er war ein großes Kind.

„Papiere?!“, fragte er zögernd. „Was für Papiere?!“

Ich mußte lächeln. Dieser Mann, ein Hüne von tadellosem Körperbau, mit dem frischen, offenen, ehernen Gesicht der alten Wikinger, bewegte sich in einem so engen Bildungskreis, daß jeder zwölfjährige Großstadtbub ihn verspottet hätte. Das unergründliche Geschick, das die Menschen scheinbar ziellos durch ein dunkles Dasein treibt, hatte ihn von seiner fernen Polarheimat hierhergeführt in die kanadische Wildnis zwischen Mackenzie und Großem Bärensee und mir zum Gefährten meiner Einsamkeit beschert. – Die Existenz der blonden Eskimos als Nachkommen verschollener germanischer, nordischer Seefahrer wird heute kaum mehr angezweifelt. Von mir bestimmt nicht. Mir gegenüber saß Jörn Haskielt, und er war ein Sohn dieses Volkes, das als oberstes Gesetz die strengste Abschließung von allen Fremden anerkannte und streng durchführte.

Ich suchte ihm die Bedeutung von Legitimationspapieren zu erklären. Jörn begriff nur langsam, denn die Einrichtungen eines geordneten Staatswesens mit seinen tausend Gesetzen und tausend Schwindeleien der Gesetzesbrecher waren ihm gänzlich neues Bildungsgebiet.

Es war nicht das erste derartige Gespräch zwischen uns. Wie schwer die Rolle eines Lehrers gegenüber einem Schüler ist, der als erwachsener Mann bereits seine eigene, wenn auch eng begrenzte Ansicht über Menschen und menschlichen Daseinskampf besitzt, fühlte ich mit jedem Tage mehr. Jörn stellte Zwischenfragen, die mich verwirrten und die mir die Überzeugung aufdrängten, daß er von den moralischen Qualitäten der Kulturträger immer geringschätziger dachte. Am unbegreiflichsten blieb es ihm, daß man für Diebe, Räuber und Mörder riesige Wohnungen errichtete und diese Schädlinge dort durchfütterte. Sein Rechtsempfinden war auf die sehr einfache Formel zu bringen: Wie du mir, so ich dir!

… Draußen säuselte ein schwacher Nachtwind um die Giebel der Blockhütte, rauschte in den hohen Tannen der Bergkuppe und schwoll nur zuweilen zu einzelnen stärkeren Stößen an, die dann stets die feinen, durchsichtigen Häute, die hier die Fensterscheiben ersetzten, zu klatschendem Hin- und Herflattern zwangen.

All das waren Geräusche, die wir längst gewohnt waren. Die vielfältigen Stimmen der unendlichen, menschenleeren Wildnis, die unsere Bergfestung umgab, drangen nicht bis in dieses harzduftende Balkenhaus hinein. Mitunter mochte wohl der krächzende Ruf eines Krähenschwarmes, der verspätet seine Horste aufsuchte, wie Geisterstimmen sich melden, aber auch dies störte uns nicht. Was sollte uns hier überhaupt stören?! Feinde oder gefährliche vierbeinige Bestien gab es nicht. Die Scharen der Wölfe waren noch feist und faul von reicher Sommerjagd, und die dicken, gemütlichen Bären spielen nur in Indianerschmökern von einst eine blutrünstige Rolle. Der schwarze Panther, weiter im Süden sehr gefürchtet, verirrt sich nicht in diese nordischen Breiten, deren Sommerzeit ihm zu kurz ist. Wir waren hier genau so sicher, wie auf einer einsamen Insel im Weltmeer.

Wir drei …

Jörn, Bully und ich.

Jörn Haskielt habe ich bereits ein wenig eingehender geschildert. Über Bully läßt sich nur sagen, daß er ein Hund von wunderbarster Mischung und ungeheuren Kräften war, das Bulldoggenblut überwog freilich, darauf deuteten schon sein Eimerschädel, seine giftigen, blutunterlaufenen Augen, seine Schnauze und sein unheimliches Röcheln hin. Bellen konnte er nicht. Unsere Schlittenhunde draußen in der Box verachtete er, und die Zuchtwölfe in den anderen Boxen zogen sich scheu in den äußersten Winkel zurück, wenn Freund Bully sich breitbeinig am Drahtgitter aufbaute und die Lefzen hochzog und die Reißzähne zeigte. –

Zuchtwölfe?!

Es ist das wieder ein anderes Thema.

Ich berühre es nicht gern. Es betrifft die Vergangenheit, und die muß für mich tot sein.

Diese jüngste Vergangenheit hieß für mich Kanada und war ein hilfloses kleines Menschenwesen, dem ich einst Vater war und das ich hingab aus reiner Selbstlosigkeit.

Kanada, meine kleine Ada, wie ich sie nannte, war für mich der Glückstraum der Wildnis, – mein Kind hat hier in dieser Blockhütte mir den Bart gezaust und hat die Wände lustig angekräht und … verließ mich im Schutze des Mannes, der diese Bergfeste errichtete und den Spleen hatte, Hunde und Wölfe zu kreuzen und mit einer Zuchtfarm große Geschäfte zu machen.

Es hausen viele seltsame Geister in der kanadischen Wildnis, – Justus Ritter von Napy war ein anständiger Kerl durch und durch. –

Nach meinem langen Vortrag über Ausweispapiere – Geburtsschein, Pässe und ähnliches – mußte Jörn das Gehörte erst geistig verdauen.

Ich nahm mir eine Zigarre, griff in den Kamin nach einem brennenden Scheit und ließ ihn scharf aufhorchend wieder sinken.

Bully war mit einem Ruck auf den Beinen, stellte die Ohren nach vorn, die seinen Schädel eselsmäßig verschandeln, und horchte gleichfalls.

Wir drei hörten dasselbe: Ein unheimliches hohles Sausen in der Luft, dann irgendwo ein Krachen und Splittern, und dann – – nichts mehr.

Ich hatte den Scheit in den Kamin zurückgeworfen und die Zigarre weggelegt.

„Was war das?“

Jörn starrte mich an.

„Es klang wie ein Schwarm Wildgänse, die in voller Flucht dahinschießen.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Jörn, du hast dir längst gewünscht, einen der Zaubervögel zu sehen … Ich fürchte, der Vogel ist in der Nähe, aber … tot.“

Ich schritt zur Tür, nahm die Büchse vom Haken und stieß die Tür auf.

Draußen schimmerte das verschwommene Licht der matten Sommersonne, die vier Monate am Himmel kreist und nicht untergeht, mit dürftigen Strahlen baldigen Abschieds über der endlosen Weite der Wälder, Seen und Prärien. Noch drei Wochen kaum, und die grüne Pracht des schnell vergänglichen kanadischen Blütenrausches würde unter Eis und Schnee begraben liegen.

Vor uns bildete die Bergkuppe noch zwanzig Meter breit eine grasige, steinige Terrasse, die dann jäh in den See abfiel, den wir zu Ehren meines Kindes den Ada-See getauft hatten.

Links und rechts zogen sich die finsteren Kulissen uralter Riesentannen, vermischt mit Buchen und Eichen, etliche hundert Meter am Nordrande der Kuppe entlang.

Wir drei lauschten angestrengt.

Bully schnüffelte.

Von den Boxen wehte der Raubtierdunst der Wölfe herüber, und diese Boxen lagen im Schatten der mächtigen Äste der harztriefenden Tannen.

Bully knurrte und setzte sich in wackelnden Trab. Seine Nase trog nie. Er witterte Fremdes besser als ein Tier, das in der Wildnis groß geworden.

Wir Männer folgten ihm. Irgend etwas war da in den Wolfsboxen nicht in Ordnung. Die Bestien rannten hin und her, knurrten und schlugen die Kiefer schnappend zusammen.

Jörn, ungestümer als ich, war vorausgeeilt …

„Hallo, Olaf, – – schnell, – – hier liegt etwas in der Box der trächtigen Wölfin – – ein Sack!“

Zwei Männer und ein Hund standen vor dem Käfig und sahen, daß das Drahtgitter, das die Box auch oben bedeckte, nicht nur eingedrückt, sondern zerrissen war und daß nur der prall gefüllte große Leinensack diesen Schaden verursacht haben konnte.

Die trächtige Wölfin, ein besonders bissiges Tier, sprang zuweilen knurrend auf den Sack zu und vergrub die Zähne in die grobe Leinwand.

Als sie dies jetzt wiederum tat, scheuchte ich sie mit einer Stange zurück, trieb sie in den überdachten Teil ihres Auslaufs hinein und schloß die kleine Tür.

Jörn und Bully betrachteten den Sack mit mißtrauischen Blicken. Unter dem groben Leinen zeichneten sich unverkennbar die Umrisse einer menschlichen Gestalt ab.

Ich schnitt den Sack oben auf (er war mit Lederriemen oben zugebunden), und uns leuchtete der völlig kahle Kopf eines kleinen gefesselten Mannes mit einem wahren Affengesicht entgegen.

Als wir den Fremden in die Hütte geschafft hatten, kam er nach einem Viertelliter Brandy rasch zur Besinnung. In seinen Augen lag ein Ausdruck wahnwitziger Angst, und erst nach einigen freundlichen Worten glitt es wie ein erlösendes Lächeln über die rotstoppeligen Züge, die etwas Abstoßendes, Widerwärtiges an sich hatten, das schwer zu bezeichnen ist.

Der Mann holte mehrmals tief Luft und schloß die Augen. Seine Wangen verfärbten sich, dicke Schweißperlen traten ihm auf die Stirn, und das krampfhafte Zucken seines Leibes machte durchaus den Eindruck, als ginge es mit ihm zu Ende.

Ich fühlte ihm den Puls.

Sehr schwach …

„Rasch – – mit Branntwein die Brust reiben, Jörn!!“

Ich zog dem Mann ebenso rasch die derben Schnürstiefel aus und auch die sauberen Socken und bearbeitete seine Fußsohlen.

Er erholte sich langsam.

Inzwischen hatte ich seine Taschen durchsucht.

Er war wie ein Städter gekleidet, er hatte verschiedene Goldzähne, seine Wäsche war sauber, der Körper gepflegt.

In seiner Brieftasche fand ich verschiedene Papiere, darunter auch einen Paß, der ebenfalls auf den Namen Habakuk Elias Douglas, Generaldirektor der „Vereinigten F. Z.“, lautete.

Ein Generaldirektor, der vom Himmel in eine Wolfsbox fällt, war immerhin etwas Neues und Ungewohntes.

Im übrigen waren seine Taschen bis auf eine Nagelfeile, einen Bleistift und einen seltsamen Stern aus Silber leer.

Ich schob die Brieftasche wieder in seinen Rock und wartete, bis er die Augen langsam öffnete und abermals wirr um sich starrte.

Ein neuer Schluck Brandy verscheuchte den Rest der Nervenkrise, und ich fragte mit einiger Berechtigung:

„Weshalb hat man Sie in den Sack eingebunden, Mr. Douglas?!“

Daß der Mann einige dunkle Dinge auf dem Kerbholz hatte, war ihm ohne weiteres anzusehen.

„Schufte!“, erwiderte er matt. „Feige Schufte! Aber Gott war mit mir!“

Ich fand, daß er Gott getrost aus dem Spiele lassen könnte. Seine Fratze deutete mehr auf engste Beziehung zu Beelzebub hin.

„Wenn Gott mit Ihnen war, dann hat er Sie wohl mit einem Fußtritt von der Himmelsschwelle befördert“, meinte ich grob und sehr offen, denn der ganze Bursche behagte mir nicht.

Seine kleinen Fischaugen tasteten mein Gesicht ab.

„Sie reden wie ein Heide, Bruder“, sagte er ölig und richtete sich halb auf. „Es waren Schufte, es waren Erpresser und Diebe, und noch niemals haben Menschen ein so teuflisches Mittel angewandt, eine Zunge zu lösen.“

Er sprach wie ein Prediger irgend einer verrückten Sekte, und gerade deshalb riß mir die Geduld.

„Drücken Sie sich gefälligst knapper aus, Mr. Douglas. Und Ihr Bruder bin ich auch nicht. Wir haben für Sie getan, was wir tun konnten, – also raus mit der Sprache!“

Er ließ sich Zeit. Er war zweifellos ein geistig sehr reger Mensch. Aber seine Intelligenz war wohl kaum der Mitwelt zum Nutzen geworden. Leute seines Schlages hatte ich in allen Weltteilen getroffen, immer fischten sie im trüben, schwammen jedoch stets an der Oberfläche, nur ihre Hände wühlten in Schlamm und Schmutz. Sie waren Geschöpfe einer Zeit der Weltgärung, sie schöpften den Rahm des Blutwahnsinns von vier Kriegsjahren ab, sie wollten eine Zeit nutzen, in der die Moral der Völker dem Tiefstande sich näherte.

Die hellen Fischaugen taxierten mich abermals. Und dann fragte er mit unverschämter Nichtbeachtung meiner eigenen Forderung, daß er zuerst reden solle: „Sind Sie Fallensteller? Ist eine Polizeistation in der Nähe?“

Diese kleine kahle Kröte besaß neben anderen Eigenschaften die Anmaßung der Städter, die die Leute der Wildnis verachten.

Ich hatte bereits zu viel Zeit mit ihm verschwendet.

„Jörn, geben Sie auf ihn acht, aber sprechen Sie kein Wort mit ihm und seien Sie vorsichtig“, erklärte ich dem Sohne des fernen Eislandes in unserer Muttersprache, die Douglas wohl kaum verstand.

Ich nahm die Büchse, pfiff Bully und schritt wieder den Boxen zu.

Ich wollte jene flüchtige Vermutung nachprüfen, die mir vorhin aufgestiegen, als auf das unheimliche Rauschen in der Luft das Splittern von Holz gefolgt war.

Vor der Box der Wölfin blieb ich stehen und ließ die Augen umherschweifen.

Ich entdeckte so eine dünne Stahltrosse, die, nur ein feiner Strich, sich im Dunkel der Tannenäste verlor. Das untere Ende der Trosse trug noch festgeknotet eine Riemenschlinge, und schon dies genügte mir, die Katastrophe im Geiste zu entwerfen, die hier stattgefunden haben mußte. Ein Blick in die Tannenwipfel bestätigte dies, ich sah geknickte Äste, eine wegrasierte Krone, deren Bruchstelle ganz hell schimmerte, und ich wandte mich schleunigst den Nordabhängen der Kuppe zu, die genau so steil abfielen wie die Terrasse zum Ada-See. Ein breiter tiefer Felsenschlund war hier der Wallgraben der Festung Justus Ritter von Napys, der mit meinem Kinde und dem blühenden Weibe, das er liebte, davongezogen war in wärmere Landstriche, in denen das Kind der Wildnis den Gefahren der Einsamkeit nicht preisgegeben war.

Über diesen gekrümmten Schlund führte nur ein einziger schmaler Felsgrat, der in der Mitte noch eine vier Meter breite Lücke aufwies. Napy hatte diese Lücke durch eine Zugbrücke, die sehr praktisch angelegt war, passierbar gemacht. Ich warf nur einen schnellen Blick auf die emporgewundene Balkenbrücke, schritt am Rande der Tiefe nach Osten und fand eine Stelle, wo das auch hier wuchernde Gestrüpp zerknickt und zum Teil weggefegt war. Als ich mich vorbeugte und hinabschaute, erkannte ich am Grunde des Kanons ein großes Flugzeug, das nach dem Anprall gegen die Tanne offenbar mit dem Schwanze voran in die Tiefe gerutscht war. Der eine Flügel war abgebrochen, der Propeller und die Vorderseite des Rumpfes waren mir zugekehrt, die Fenster der Kabine blinkten matt, und deutlich drang aus dem Dämmerlicht des Schlundes das Stöhnen eines verletzten, vielleicht eingeklemmten Menschen an mein Ohr.

Ich lief zurück zur Blockhütte, ich holte Riemen, ich fand Jörn mit verschlossenem Gesicht mit der Büchse im Arm neben dem Lager des fragwürdigen Gastes, und nach wenigen erklärenden Worten, die Mr. Habakuk Elias Douglas mit hinterlistigen Blicken aufzuschnappen suchte, entfernte ich mich wieder, um das Rettungswerk eiligst zu beginnen.

So fand ich Elly Mac Intock, und ein neuer Abschnitt meines farbenfrohen schmalen Weges abseits vom Alltag war eingeleitet.

 

2. Kapitel.

Die Schlange, die sich in den Schwanz biß.

… Ich schreibe im Lederzelt während einer der kurzen Ruhepausen, die wir uns bei dieser Hetzjagd nach den Flüchtlingen gönnen. Es ist eine kleine Gestrüppinsel eines der Nebenflüsse des gewaltigen Mackenzie-Stromes, auf der wir zur Zeit lagern. Jörn schläft, das Mädchen schläft, Bully schnarcht röchelnd, und draußen die Hunde balgen sich um das Gescheide des zuletzt erlegten Karibu. Der Fluß plätschert und murmelt, und die verschlafenen Rufe der Wildvögel im Ufergestrüpp klingen wie die Sehnsuchtsschreie armer irrender Seelen. Die Wildnis zeigt uns hier bereits ihr südlicheres Antlitz, wir sind aus der Zone des nördlichen Polarkreises immer scharf nach Südwest gewandert und gerudert, wir fliehen vor den Schneestürmen, die nun dort droben die Festung am Ada-See bereits umtoben und sehr bald jene hohe Schneedecke schaffen werden, über die dann der Fallensteller auf seinen Schneeschuhen dahingleitet oder der Eskimo seine Hundeschlitten in wildestem Galopp jagen läßt.

Ich habe Abschied genommen von jenem Teile Kanadas, der da zwischen Mackenzie und Großem Bärensee und weiter nach Norden, Osten und Westen bis zu den Grenzen Alaskas niemals auftaut, in dessen Tiefen der ewige Frost sich eingenistet hat und doch wehrlos mit ansehen muß, wie in den kurzen Sommermonaten die Prärien und Wälder aufblühen im Farbenrausch und die Moskitoschwärme gleich Wolken über den Feldern der Glockenblümchen dahinschweben.

Die Landschaft hier hatte bereits ein anderes Gesicht angenommen. Baumarten, die droben fehlten, verliehen den Wäldern die Farbenpracht des Herbstes, die doch nur wie die Schwindsuchtsrosen auf den Wangen eines hinsterbenden kranken jungen Menschenkindes sind. –

Und wie war das doch, als ich Elly Mac Intock aus dem Rumpf des zusammengedrückten Flugzeugs hervorholte?

Das sind nun zwei Wochen her, und der Mann im Sack und seine Feinde, ebenso Ellys erster Augenaufschlag, mit dem sie mich dankbar grüßte, all das … wie Traumland aus der verwischten Vergangenheit.

Die Ereignisse, das Erleben drängen sich in die kurze Zeitspanne weniger Stunden zusammen, und dies und jenes der Einzelheiten verliert an Bedeutung oder gräbt sich in der Erinnerung an falscher Stelle ein. Man muß das Gewesene ordnen, will man ein ehrlicher Berichterstatter bleiben.

Bully lag am Rande der Schlucht, als ich mit den langen Riemen zurückkehrte. Bully hatte die Ohren schräg nach hinten gelegt und glich so stets einem Schafbock, dem die Felle weggeschwommen sind. Diese Ohrenstellung Bullys ist ein Zeichen der Anteilnahme. Das Stöhnen, das unten aus der Schlucht drang, hatte an sein Herz gerührt.

Ich beeilte mich.

Als ich dann an den Riemen abwärtskletterte, immerhin dreißig Meter, als ich zunächst auf dem Propeller ritt und der Gestank des ausgelaufenen Benzins mir scharf in die Nase drang, blickte ich argwöhnisch hinab in das Geröll und sah einen dünnen Qualmfaden, fast weiß von Farbe, kräuselnd in der stillen Luft des Kanons hochsteigen. Wie eine kurze gefleckte Schlange wand sich da eine Schnur durch die Steine – Zündschnur, und sie brannte, und dort, wo sie endete, war eine Blechbüchse aufgestellt …

Schurken!, hatte Douglas gesagt.

Bei Gott, Schurken hatten hier die Sprengkapsel gelegt, um das Wrack des Eindeckers völlig zu vernichten und das Benzin zu entzünden und alles, alles in Flammen aufgehen zu lassen!

Schurken – was für Schurken!!

Ein lebender Mensch steckte noch im Rumpf des Flugzeugs, und trotzdem hatten diese Bestien die Schlange angezündet und wollten die Spuren und Mitwisser ihrer Scheußlichkeiten vom Erdboden tilgen.

Es gab kein Zaudern, kein Besinnen, – und der Fuß stieß das Fenster ein, der Körper drängte nach, und drinnen lag eingeklemmt zwischen Sitz und Wand mit blutender Schläfenwunde ein blutbesudelter hilfloser Mensch.

Meine Kräfte genügten wohl, den Körper hervorzuziehen, aber wer die Enge eines Rumpfes eines Motorvogels mittlerer Größe kennt, wird unschwer abschätzen können, was es heißt, einen Bewußtlosen zum Fenster hinauszuschieben, am Lasso festzubinden und dann selbst schleunigst emporzuklettern, beflügelt von der doppelten Angst, daß die Riemen die Last nicht tragen und daß da unten der Blechtopf vorzeitig explodieren könnte!

Schurken – – Schurken!!

Dreifache Schurken, da sie … ein Weib, das das Flugzeug steuerte, dem Tode preisgeben wollten.

Weib, – das fühlte ich ja, als ich das blutige, hilflose Menschenbündel in Leder im Arm hielt!

Junges Weib …

Vielleicht ein hübsches, lebensfrohes, tapferes Geschöpf …

Jetzt noch: Das Gesicht rot betupft, Kratzer am Kinn, an den Wangen, aber unter der Lederkappe quoll die Fülle kastanienbraunen Haares lockend hervor, und die knospende Rundung einer jungen Brust preßte sich gegen meinen Lederrock, den die Monate der Abenteuer abgeschabt, trotzdem vielleicht zum Prunkstück gemacht hatten. Kein Frack auf Seide kam ihm gleich.

Unter mir das lauernde Verderben, in meinen Händen den fünffach geflochtenen Riemen, – und behutsam, jeden Ruck vermeidend, empor zu Bully, der sachverständig zuschaute.

Ein Schwung, – eine Baumwurzel – fester Boden, und jetzt den Lasso mit dem Mädchen hochgehißt, immer schneller, immer schneller, denn die glühende Schlange dort in der Tiefe drohte sich bereits in den Schwanz zu beißen …

Ein Griff …

Ich warf das Mädchen ins Gras …

Ein zweiter Griff – ich schleuderte den dummen Bully zurück, rollte hinterdrein, – – und dann im Kanon unten bereits der ohrenbetäubende Knall, – eine Stichflamme schießt hoch, Teile des Flugzeugs wirbeln empor, Steingeröll prasselt in die Tiefe, Flammen lecken hoch, Benzinqualm fliegt in Wolken in die Tannenwipfel, die sich vor Ekel schütteln.

Das Mädchen liegt auf dem Rücken, bleich, blutig, entstellt, – und die Lider mit den langen dunklen Wimpern heben sich zitternd, ein dunkles Auge findet sich aus tiefem Schlaf der Ohnmacht in die Wirklichkeit zurück und streift mich mit einem frohen, dankbaren Blick.

Dieser Blick gleitet zum Rande des Abgrundes, über dem die Flammen hochschlagen, und der Blick vertieft sich zu unaussprechlichem Grauen, und bebende Lippen flüstern ein verächtlich hervorquellendes Wort:

„Schurken!!“

Ich kniee neben ihr.

„Liegen Sie still … Sie haben viel Blut verloren …“

Ein Polster feuchtes Moos preßt sich gegen die klaffende Wunde, wird mit einem Taschentuch befestigt.

„… Ich hole Verbandzeug … Bully, du bleibst!“

Bully röchelt und wackelt mit den Eselsohren.

Als ich zur Hütte stürze, vernehme ich den dumpfen Krach, mit dem die Zugbrücke herabfällt, ahne Böses, kann mich nicht um die Brücke kümmern, finde den Riesen Jörn in der Hütte auf dem Gesicht liegend wie einen breitgetretenen Riesenfrosch.

Bruder Habakuk hat sich empfohlen.

Mag er.

Kriegen ihn schon noch …

Erst das Mädel … –

Und als sie verbunden ist, als sie hustend und prustend den Brandy geschluckt hat, da bekommen die Wangen Farbe, und ich wasche ein junges Gesicht, das mich dankbar-matt anlächelt.

Nachher liegt das Mädel auf meinem Lager, und Jörn steht finsteren Gesichts da und reibt sich die ungeheure Beule auf der Stirn …

„Der Kerl, – – mit dem Stein!“, sagt er nur.

Und er zeigt auf das Steinchen, das wir stets zum Messerwetzen benutzt haben, wenigstens die obere Kante, – Steinchen von dreiviertel Zentner Gewicht. Ein normaler Schädel wäre wie Pappe eingedrückt worden, aber Jörns Stirn tat das Gegenteil: Sie wölbte sich trotzig nach außen und nahm die Farben des Regenbogens an.

Beneidenswert!

Anderseits: Woher hatte Bruder Habakuk die Kräfte, einen solchen Felsblock einem Hünen an den Kopf zu werfen?!

Jörn erklärte hierzu sehr schlicht: „Er hatte die Kräfte und es ging sehr schnell.“

Bruder Habakuk sollte uns noch mehr Rätsel aufgeben.

Hauptsorge war jetzt, das Mädchen so weit wieder zu Kräften zu bringen, daß sie uns über dieses eigenartige Abenteuer genaueren Aufschluß gab. Sie war vor Erschöpfung eingeschlafen, und ich beließ Jörn als Wache bei ihr, riet ihm jedoch, die Tür verriegelt zu halten.

„Der Steine wegen …“

Er wurde rot vor Verlegenheit und schnitt ein grimmes Gesicht.

„Außerdem koche ihr eine Brühe, Jörn, und wenn sie erwacht, füttere sie recht zart.“

Jörn nickte verlegen und schielte nach der holden Schläferin hin, deren reizvolle Schönheit ihn sichtlich verwirrte. Möglich, daß die Jungfrauen seines fernen Volkes weniger lieblich waren, möglich, daß er als Krankenpfleger sich zu blamieren fürchtete: Er sagte mit jener überwältigenden Treuherzigkeit und Primitivität des Denkens, die ihm erst die „Kultur“ rauben würde:

„Olaf, könnte ich nicht die Schurken erschießen? Ich finde sie schon.“

Das „Erschießen“ war ihm unwiderlegliche Selbstverständlichkeit.

„Oder sie dich“, meinte ich lächelnd. „Die Burschen sind dir überlegen, Freund Jörn. Wer einen Affen wie Bruder Habakuk in einen Sack bindet und an einem Drahtseil als Hängeantenne mit durch die Lüfte nimmt, der zaudert keine Sekunde, aus dem Hinterhalt dir eine Kugel in deine Stirnbeule zu jagen, die dann wohl verschwinden würde … Ich will dir vorläufig noch nicht ein Grab schaufeln müssen.“

Bully war entschieden derselben Ansicht, denn er rieb seinen Kopf an meinem Knie und legte die Ohren nach vorn – Richtung Nordschlucht.

Wir zogen davon. Bully spielte Vorhut, trabte nach rechts, nach links, nach rechts, nach links, immer schnüffelnd, immer die Nase hochgereckt, immer seiner Aufgabe voll bewußt. Aber daß die Kerle noch hier in der Festung steckten, hielt ich für ausgeschlossen. Ich behielt auch recht.

Ich hatte neue Riemen mitgenommen, und der erste, der jetzt in die Schlucht neben den noch qualmenden Trümmerhaufen hinabschwebte, war Bully. Ich zog die Lassos wieder empor, und mein treuester, vierbeiniger Freund betrachtete gemütsruhig die Reste des großen Vogels, schnupperte dann zwischen den Steinen und lief ein Stück nach Westen zu, die Nase dicht über dem Boden. Ich pfiff, und er kehrte um. Also dorthin waren die Leute entflohen.

Ich turnte gleichfalls hinab und sah zu meinem Bedauern, daß von dem Flugzeugrumpf nicht einmal mehr brauchbare Eisenstreben erhalten geblieben, die wir zu Schlittenkufen hätten verwenden können. Damals hatten wir noch keineswegs die Absicht, unsere Festung aufzugeben, und eiserne Röhren als Schlittenkufen hätten uns für den Winter viel genützt.

Aber ich fand anderes, das uns wertvoll war. Zunächst hatte die Explosion das Fahrgestell abgerissen und in ein Sumpfloch am Boden der Schlucht geschleudert. Die beiden Räder mit den prallen Pneumatiks waren gut erhalten. Sodann entdeckte ich noch weiterab zwei längliche Rollen Seidenstoff: Fallschirme! – Der Seidenstoff würde gute Unterwäsche liefern. Und gerade die entbehrte ich. –

Noch manche Kleinigkeiten hob ich auf, schichtete alles auf einen Haufen und verfolgte dann die Spur der Flüchtlinge.

Ich sah sehr bald, daß es zwei Männer gewesen waren, die irgend etwas getragen hatten, denn der Abstand zwischen ihnen blieb stets der gleiche.

Da der Kanon unsere Bergkuppe nach Westen zu bis zum See hinab von der Außenwelt abschnitt, gelangte auch ich in kurzem ans Seeufer, wo es viele Stellen feinkörnigen Sandes gab. An einer dieser hellen Stellen hatten die beiden zweifellos ein kleines Boot, das sie bisher geschleppt und das im Schwanzteil des Flugzeuges gelegen haben mußte, zu Wasser gebracht. Vergossenes Benzin und runde Eindrücke von Benzinkannen bewiesen des weiteren, daß das Boot einen Motor besäße.

Die Kerle waren zu Wasser entflohen, und jetzt ihrer Fährte weiter nachzuspüren, wäre verlorene Liebesmüh gewesen. Der Ada-See wurde von einem Fluß durchströmt, der sich nach Osten und Westen in der Unendlichkeit der Wildnis verlor.

Ein anderer Gedanke veranlaßte mich, dem Seeufer nach Westen hin zu folgen. Dort hatten wir unser Umiak, unser großes Fellboot, in den Weiden versteckt, und die Möglichkeit bestand immerhin, daß die Schufte es bemerkt und zur eigenen Sicherheit zerstört hatten.

Bully wackelte wieder voraus. Ich merkte ihm an, die Sache machte ihm keinen Spaß mehr. Bully fühlt sich am wohlsten, wenn er die eigene Haut zu Markte tragen kann. Hier gab es offenbar keinerlei Gefahr mehr, die beiden Brandstifter waren zu Schiff auf und davon, und Bruder Habakuk würde, obwohl er frecher Weise Haskielts Büchse und Pistole mitgenommen hatte, so ganz allein hier in der herbstlichen Wildnis entweder einem Wolfsrudel oder noch früher uns in die Krallen geraten.

Nach ehrlicher Zeitrechnung war es jetzt Mitternacht. Der Norden da oben kümmert sich nicht um die Uhrzeiger. Es war hell, und die Sonne schwamm als trüber Fleck in einer Dunstschicht am Horizont.

Bully lebte plötzlich auf, sein Schädel hob sich, die Ohren wackelten, er lief noch ein paar Schritt und drehte sich dann nach mir um. Das hieß: Achtung! Dicke Luft anscheinend!

… War auch so.

Nicht für uns.

Bruder Habakuk hatte Pech gehabt. Die Spuren erzählten mir eine klare Geschichte.

Das Boot der Mordbrenner war hier gelandet, sicherlich hatten die beiden Insassen den frommen Glatzkopf durch das Weidengestrüpp bemerkt und ihn abgefaßt. Ein paar Tropfen Blut deuteten auf eine Aussprache ernsteren Charakters mit scharfen Instrumenten hin, – Bruder Habakuk hatte dabei den kürzeren gezogen, war ins Boot geschleift worden und hatte die Flußfahrt entweder mitmachen müssen oder lag nun ganz unten auf dem Seegrund und fütterte die Fische. Letzteres freilich erschien mir unwahrscheinlich, denn „der Mann im Sack“ hatte für mich längst die Bedeutung eines Menschen gewonnen, aus dem man um jeden Preis ein Geständnis herauspressen möchte. Umsonst hängt man keinen Bruder Habakuk als Antennengewicht an ein Flugzeug und segelt von Gott weiß woher durch die Lüfte.

Daß dies nicht mit des Mädchens Einverständnis geschehen, ergab zu ihrer vollen Rechtfertigung die Tatsache, daß die beiden Kerle sie hatten stumm machen wollen.

Bruder Habakuk, Generaldirektor der Vereinigten F. Z., wußte mithin irgend ein nutzbringendes Geheimnis, das ihm entlockt werden sollte. Allerdings fanden die Methoden, die man zum „Entlocken“ angewandt hatte, nicht ganz meine Billigung.

Ich kehrte um, nachdem ich das Umiak ganz unversehrt in den Weiden freudig begrüßt hatte.

Das Mädchen würde uns ja unbedingt über all die Fragen einige Aufklärung geben können.

Diese Hoffnung war genau so trügerisch als meine geistvollen Schlußfolgerungen.

Der blinde Zufall, mit dem man nie gern rechnet und der doch viele Rechnungen umwirft, spielte hier eine entscheidende Rolle – oder hatte sie gespielt.

 

3. Kapitel.

Eine etwas dunkle Geschichte.

„… Ich heiße Elly Mac Intock“, erzählte unser lieblicher Gast fünf Stunden später, als wir beim Tee in der Blockhütte beieinander saßen. – Auch ich hatte inzwischen ein paar Stunden geschlafen.

Jörn Haskielt starrte sie immer so unverhohlen andächtig an, daß sie verlegen wurde. Die Kavalierseigenschaften des guten Jörn waren noch sehr primitiv. Aber diesen treuherzigen blauen Augen konnte man nichts übelnehmen. Auch Elly lachte schließlich. Ihr Lachen glich dem silberhellen, ungekünstelten Kichern eines harmlosen Kindes, und wenn irgend etwas geeignet war, für sie einzunehmen, dann war es eben diese Reihe perlender Töne, die da so zwanglos über frische, ungetuschte Lippen kamen.

„… Also Elly Mac Intock, einundzwanzig Jahre, Vollwaise, geboren zu Winnipeg, übliche bessere Schulbildung, aber Neigung für Sport vorherrschend, – so wurde ich Fliegerin, machte meine beiden Examina, wurde ein Jahr als Postfliegerin bis hinauf nach Fort Burley geschickt, war dann wieder ein halbes Jahr Flugzeugführerin des Großindustriellen Thomas Barnkoff, der jedoch allzuviel Teilnahme für meine Einsamkeit bezeigte, – er war verheiratet und hatte vier Kinder. Monatelang fand ich keine Beschäftigung, da Mr. Barnkoff in üblicher Weise als Gentleman sich rächte, mich nämlich überall anschwärzte, bei solchen Charakteren die übliche Art der Quittung für eine scharfe Abweisung.“ Elly Mac Intock sprach das letztere mit unendlicher Geringschätzung, ohne sich jedoch weiter aufzuregen.

„… Unter scharfer Abweisung verstehe ich die Zuhilfenahme einer Pistole, vor der dieser edle Herr schamlos zahm wurde …“, – dieser Zusatz, halb belustigt vorgebracht, kennzeichnete das Mädchen am besten.

Ich konnte mir sie sehr leicht vorstellen, wie sie die freche Lüsternheit ihres Brotherrn erstaunlich kaltblütig abgewehrt hatte.

„… Und dann, das war vor zwei Wochen, lernte ich auf dem Flugplatz in Winnipeg, wo man mich aushilfsweise für Rundflüge engagiert hatte, einen Amerikaner kennen, der zunächst den allerbesten Eindruck auf mich machte, einen gewissen James Morrison, ein Name, der fast so heimisch in bestimmten Gegenden ist wie Sie, Mr. Smith.“

Mr. Smith, ich, fühlte sich keineswegs verletzt.

„… Wenn Morrison gehalten hätte, was der erste Eindruck versprach, wäre alles wunderschön gewesen. Leider … er war ein Blender. Er spielte den großen Finanzier, er hatte auch Geld, er wollte mich mit nach San Franzisko nehmen, bekanntlich nur ein Katzensprung Winnipeg – Frisco …“

Jörn zog eiligst seine Karte zu Rate. Aber er fand Frisco nicht. Die Karte hatte gerade in Kalifornien ein Loch.

„… Mr. Morrison kaufte ein neues Flugzeug, tadellose Maschine, mit allen modernen Chikanen, – ich flog die Kiste ein, sie lag glänzend in der Luft, der Motor war erstklassig. Dann stellte mir Morrison seinen Geschäftsfreund Sam Fifo vor. Der mißfiel mir gründlich. Aber ich kümmerte mich um Fifo keinen Deut, und dann sollten wir drei ganz plötzlich nach Fort Burley starten. Von mir aus – weshalb nicht?! Nur eins stieß mir auf: Mr. Morrison wünschte, daß unser Reiseziel geheim bliebe! – Noch immer traute ich ihm. Börsenleute und Großschieber haben ja ihre besonderen Methoden. Er behauptete, unweit von Fort Burley einen Holzgroßspekulanten treffen zu wollen …“

Sie rührte mit dem Zinnlöffel in dem Teebecher und nahm wieder ein Häppchen kaltes Fleisch. Sie hatte Finger und Hände von schlanker, tadelsfreier Form, sehr gepflegte Nägel und trug am linken Handgelenk eine Armbanduhr, am rechten einen Uhrkompaß.

„… Wenn ich gewußt hätte, daß Morrison oder Fifo eine Maschine steuern könnten, wäre ich nicht so blindlings in dieses Abenteuer hineingetappt. Sie verstanden jedoch von der Fliegerei absolut nichts und waren mir mithin auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Wir starteten abends elf Uhr, waren um elf Uhr vormittags in der Nähe von Fort Burley, das ja mehr eine Stadt ist. Morrison rief mir zu, nicht hier zu landen, aber seine weiteren Anweisungen befolgte ich nur unter dem Zwang einer Pistolenmündung, die mein Nackenhaar kitzelte. Auch das war töricht von mir, denn die beiden Kumpane hätten sich schwer gehütet, etwas gegen mich zu unternehmen. Jedenfalls merkte ich, daß Morrison die ganze Gegend tadellos kannte. Wir steuerten mehr westlich, verloren Burley wieder aus den Augen und landeten drei Stunden später mitten im Urwald auf einer flachen Lichtung. Die Maschine setzte gut auf, – kaum stand sie, als Morrison und Fifo erstaunlich flink mit ihren Büchsen herauskletterten und auf ein Blockhaus zuliefen, das halb hinter Felsen versteckt lag.“

Ihr unbekümmertes Gesichtchen wurde plötzlich ungeahnt hart und steinern.

„… Was dann geschah, Mr. Smith, war so … scheußlich, daß ich darüber möglichst wenig sagen möchte. Ich war ebenfalls zur Erde herabgeklettert, um mir Bewegung zu machen. Meine Glieder waren steif, ich hatte mir sehr viel zugemutet, wir waren zweimal in Regen und Gewitter geraten, ich hatte alle meine Sinne dauernd anspannen müssen, und hinzu kam noch die letzte Aufregung, als diese beiden Helden sich als gemeine Schurken entpuppt hatten. – Sie werden vielleicht fragen, weshalb ich denn nicht sofort wieder aufstieg und nach dem Fort zurückflog? – Ich war zu erschöpft …! Ich sank schon nach den ersten Schritten im Schatten eines Baumes ins Gras und schlief ein. Schüsse weckten mich, ich fuhr empor, aber ich sah nichts, die Blockhütte war ein Stück entfernt, ich glaubte geträumt zu haben, dann aber fielen wiederum zwei Schüsse, eine Fensterscheibe zersplitterte, ich vernahm das angstvolle Schreien eines Menschen, ich eilte auf das Blockhaus zu, und … Morrison versperrte mir den Weg …

„Scheren Sie sich zum Teufel!“, fluchte er, – seine Kleider waren zerrissen, seine Wange blutete, er war sehr bleich und sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. In diesem Zustande glich er bei seiner Hagerkeit einem bösen Teufel, zumal er sein Haar gescheitelt zu tragen pflegte und beide Scheitelseiten wie Hörner hochkämmte.

Ich verlangte trotzdem von ihm Aufklärung, was in der Hütte vorgefallen sei. Er war vollkommen verstört, seine Grobheit war wohl mehr Angst, seine Augen verrieten noch mehr: Eine entsetzliche Furcht – ein Grauen, das ihm die Kehle zudrückte, – seine Stimme war heiser und gänzlich fremd, – er mußte soeben Zeuge einer gräßlichen Szene gewesen sein.

Dann packte er mich beim Arm und schob mich der Maschine zu.

„Hinauf mit Ihnen …!“, – womit er mir drohte, mag ich hier nicht wiederholen … Meine Pistole hatten sie mir schon vorher weggenommen, ich war wehrlos, ich hörte nur vom Führersitz, daß hinten aus der Gegend der Blockhütte abermals das wahnwitzige Brüllen begann, daß es verstummte, daß Sam Fifo dem hinter mir stehenden Morrison zurief, er solle die Benzinkannen emporheben … Ich mußte den Tank füllen – mußte … Mit welchen Gefühlen ich es tat, werden Sie begreifen … Um so mehr begreifen, als ich merkte, daß Fifo dann an das Fahrgestell irgend etwas festband … Wenn ich damals meine Waffe gehabt hätte, Mr. Smith, – bei Gott, ich hätte die Schufte niedergeknallt …! Ich – – konnte es nicht … Morrison befahl mir, Edmonton anzusteuern, aber nördlich von der Stadt niederzugehen, – wo, das würde er mir schon zeigen. Als wir aufstiegen, kam die Maschine nicht recht vom Boden frei, ich merkte, daß sie überlastet war, – ich ahnte nicht, was die Schufte begangen hatten, wen wir mit uns nahmen … Ich habe den Mann nie zu Gesicht bekommen, nur … den Sack … den prall gefüllten Sack, der … am Fahrgestell nachher pendelte … nachher … nach vielen Stunden, die mir wie ein böser Traum waren …“

Ihre Hand umspannte den Becher so fest, daß sie ihn zusammenbog … Über ihrer Nasenwurzel lagen drei dicke Falten und in ihren dunklen Augen sprühte das Feuer einer gräßlichen, machtlosen Erinnerung an die Stunden ihrer Demütigung.

„… Bedenken Sie, – ich wußte, daß dort in der Blockhütte Verbrechen geschehen waren, daß Morrison und Fifo Verbrecher waren, daß ich ihnen half, diese Untaten fortzusetzen … Bedenken Sie, daß ich als Weib so schäbig und erbärmlich gekränkt worden war wie nie bisher … Was in mir damals loderte, war nur Rachgier, blinder Haß, – – an mich selbst dachte ich keinen Augenblick, aber die beiden Schurken, die wollte ich anderswie strafen … Und – – ich steuerte nicht nach Südwest, sondern immer nach Westen, hinweg über die menschenleere Wildnis … Ich wußte, daß es irgendwo zwischen Mackenzie und Großem Bärensee die Polizeistation Mackinaff mit Sendermasten und Flugfeld gäbe, ich traute mir wohl zu, sie zu finden, – – und fand sie nicht, der Tank wurde leer, Morrison und Fifo schliefen, sie hatten sich halb betrunken, – – und dann erblickte ich hier diesen Berg, Ihre große Blockhütte, die Tannen dahinter und den Lichtschein des Kamins und die Rauchsäule … Menschen wohnten da, – – Fallensteller, – sie würden mir helfen, – und ich wagte es … Aber bevor ich im Gleitflug niederging, verspürte ich einen starken Ruck, beugte mich hinaus, sah den Sack am Fahrgestell pendeln, – – und wußte, daß die Schufte einen Gefangenen mit sich führten, den sie mich nicht hatten sehen lassen wollen … Einen Gefangenen – – einen lebenden Menschen, dem ich nicht helfen konnte, – vielleicht nur dadurch, daß ich bei meinem Plane blieb und die Maschine durch die Tannenwipfel steuerte, hinter denen ich gleichfalls Wald vermutete. Ich ging in flacher Linie herab, sauste in die Bäume, riß die Maschine hoch, damit sie mit dem Schwanzteil aufprallte … Aber hinter den Tannen war kein Wald, da war der Abgrund, die Maschine rutschte hinein, durch den Aufprall wurde ich vom Sitz geschleudert und verlor das Bewußtsein … – Mehr weiß ich nicht, Mr. Smith …“

Sie hielt erschöpft inne, die Erinnerung an die letzten Minuten der abenteuerlichen Fahrt hatten ihr das Blut aus den Wangen getrieben …

„Trinken Sie!“ – ich füllte ihr den Becher halb mit Tee, halb mit Brandy …

Aber Elly Mac Intock wies die Stärkung energisch zurück.

„Ich brauche solche Mittel nicht, ich habe mich schon wieder in der Gewalt …“

Sie stützte den Kopf leicht in die Hand und starrte vor sich hin.

„Gewiß war ein Boot im Schwanzteil …“, fügte sie von selbst hinzu … „Ein leichtes Faltboot mit kleinem Außenborder. Morrison hatte so manches eingekauft, was ich nicht sehen sollte … Mit dem Boot sind sie geflohen … mit dem Fremden, dem Gefangenen, wie Sie mir vorhin erzählten …“

Ja, ich hatte ihr alles erzählt, nur nicht den Namen des Mannes im Sack genannt.

Ich fragte jetzt erst:

„Kennen Sie von Winnipeg her einen Generaldirektor Habakuk Elias Douglas?“

Ihre Hand sank herab, sie blickte mich groß an, und dann … lachte sie leise.

„Habakuk Elias Douglas?! Gewiß! Den kennt in den Vereinigten Staaten und in Südkanada jedes Kind – die Kinder am besten …“

Ihr Lachen verstummte jäh, und hastig fragte sie, nach meiner Hand greifend:

„Um Gott, – – war Douglas der Mann im Sack?“

„Ja!“

Sie nahm jetzt doch einen langen Schluck.

„Das … das macht das Ganze noch rätselhafter, Mr. Smith. Denn dieser Generaldirektor ist ein harmloser Mormone aus der Mormonenstadt am Großen Salzsee, – er ist der Erfinder der neuen Tierschattenspiele, bei denen er lebende … Flöhe verwendet … Tatsache! Ihm gehören etwa dreißig sogenannte Flohzirkusse modernster Art, er soll viel Geld damit verdienen, die Idee war neu und eigenartig, Douglas ist auch ein glänzender Geschäftsmann … Er war in Winnipeg, als ich Morrison kennen lernte, die Idee ist ihm als Patent geschützt, und …“

Ich mußte an mich halten, um nicht laut herauszuplatzen mit einem den Umständen nach sehr unziemlichen Lachen.

Flohzirkus …!!

Ein Generaldirektor Vereinigter Flohzirkusse als Held einer Tragödie!

Mir war so manches schon begegnet, – nie hatte das Groteske sich so innig mit dem Entsetzlichen vermischt wie hier!

Was konnte den beiden Verbrechern an einem Manne liegen, der doch sicherlich keine Reichtümer besaß?!

Weshalb hatten sie sich mit ihm in jener einsamen Blockhütte getroffen, – was hatte sich dort abgespielt?! War Douglas vielleicht nur zufällig Zeuge von Mordtaten gewesen?!

Niemand konnte uns diese Frage beantworten, – nur einer der drei, – oder einer der beiden, die im Faltboot geflüchtet waren.

Wohin?

Mir genügte es: Zweifellos nach Westen! Sie hatten ja nach Edmonton gewollt …!

Ich sagte zu Freund Jörn:

„Du wolltest so sehr gern die großen Städte kennen lernen … Du wirst es! Wir werden Morrison und Fifo finden, und wenn sie sich im Chinesenviertel von Frisco verkriechen sollten, wo nicht einmal die Polizei sich nachts auskennt!“ –

Drei Stunden darauf war das Umiak beladen, die Zwinger wurden leer, die Wölfe gewannen die Freiheit wieder, und unsere Hunde hielten an den Ufern mit uns Ruderern gleichen Schritt. Absichtlich hatte ich sie geteilt, denn sollten die Flüchtlinge irgendwo an Land gegangen sein und den Marsch zu Fuß fortgesetzt haben, so würden die Hunde uns dies verraten. –

Vierzehn Tage …

Zwei Wochen sind dahin, und wir haben die drei nicht zu Gesicht bekommen.

Drei.

Denn Douglas ist der dritte.

Drei Mann wandern da vor uns durch die Prärien und Wälder und ahnen nicht, daß wir keine drei Meilen hinter ihnen sind.

In dieser Nacht aber werde ich die drei beschleichen – mit Bully, und dann wird es einen Tanz geben, bei dem vielleicht die Pistole Trommel spielt.

 

4. Kapitel.

Verkehrtes Spiel.

Unsere kleine Reisegesellschaft hält treue Kameradschaft. Wir drei sind längst zu zwangloseren Umgangsformen bekehrt worden und haben alle überflüssigen Redensarten und Anreden unter den Tisch fallen lassen. Elly ist Elly, Jörn ist Jörn, ich bin Oskar Smith, verflossener Schiffskoch eines verflossenen Walfängers, – denn mit dem Namen Abelsen ist hier in Kanada kein Staat zu machen. Anderswo auch nicht. Elly wundert sich zwar des öfteren, daß ein Kombüsen-Mann über so vielseitige Kenntnisse verfügt, und zuweilen blickt sie mir sehr nachdenklich ins Gesicht … Zum Glück fragt sie nichts. Es wäre unbequem.

Wir sind zu Wasser, zu Lande gereist, augenblicklich steht uns wieder eine Fußwanderung bevor – bis zum nächsten Fluß, der vielleicht bereits dem Mackenzie zuströmt, dem Nil des Nordens. – Unser Umiak bewährt sich wie bisher. Das Fahrgestell des Flugzeugs ist uns sehr zu statten gekommen, die Hunde ziehen das große Fellboot spielend leicht über Land, und Ellys Vorschlag, den Motor mitzunehmen, obwohl das Ding mehr wiegt als unsere gesamte sonstige Ausrüstung, mag später noch gute Früchte tragen. –

Ich werde jetzt die Laterne löschen und meine Schreiberei wegpacken.

… Bully verläßt mit mir das Zelt, und die kleine Insel, vom Südufer nur durch ein schmales Wasserband getrennt, kann man trockenen Fußes überwinden.

Mondlicht liegt milchig-dämmerig über der schweigenden Landschaft. Drüben gen Süden dehnt sich eine kahle, steinige Steppe, dahinter wieder dunkler Wald. In die Steppe eingestreut sind zahllose Buschinseln, das Tierleben erscheint reichhaltiger als droben im Norden, das kanadische Renntier, das Karibu, werden wir kaum mehr antreffen. Der Karibubulle, den Jörn gestern erlegte, war ein alter Herr, der wohl die wärmeren Gegenden liebte und als Einzelerscheinung anzusehen war – auch was sein Fleisch anbetraf, es war zäh wie Leder.

Die Wildnis hat ein anderes Gesicht bekommen. In allem … Man könnte hier von Indianersommer sprechen, jener Übergangszeit zum Absterben der Natur, die einst den Rothäuten mehr galt als der eigentliche Sommer. Es war die Zeit der Büffelwanderungen, der Fleischernte der roten Naturkinder. – Es war einmal …

Das träumerische Nachtbild weckt verblaßte Erinnerungen, und über meiner Seele liegt die Müdigkeit der Sehnsucht nach … vielleicht nach einem Pferderücken, nach wildem Dahinjagen, nach schrillen Jagdrufen, nach – vielleicht – einem Toten, der mir Bruder war.

Stimmungen …

Aber das Gebot der Stunde rüttelt auf. Weiß ich, wie dieser Nachtmarsch zum Lager der drei Flüchtlinge verlaufen wird?! Diese zwei Wochen eintöniger Verfolgung haben mich einrosten lassen. Was gab es denn da an Erleben, an glutbewegten Szenen – – nichts!

… Und Bully, der treue, mag wie ich empfinden. Die armen Kaninchen sind ihm zu zahlreich über den Weg gelaufen … Er schaukelt sich in seinem Fett … Er ist beinahe asthmatisch geworden.

Er sitzt neben mir, von dem Gebüsch vor uns und von dem Mondschatten der Blutbuche völlig verborgen. Melancholisch kratzt er sich mit der Hinterpfote die Halspartie, wo die Flöhe ihn stets am meisten peinigen. Es hilft nicht viel, daß ich ihm, sobald wir lagern, frische Kalmusblätter auf seine Decke lege, die bekanntlich durch ihren Geruch die blutsaugenden Hüpferlinge vertreiben sollen. Vielleicht ist es nicht der echte Kalmus … In meiner Heimat sieht er zwar genau so aus und riecht auch genau so aromatisch-faulig, aber wahrscheinlich dürften die Kanada-Flöhe von anderer Art sein als die schwedischen, es soll ja 530 verschiedene Arten geben, und der Pariser Geldmagnat Rothschild besitzt die vollständige Sammlung dieser unbequemen Rekordspringer und Aussauger, – so las ich es einmal irgendwo in einer Zeitungsnotiz. – Krause Gedanken gehen mir durch den Kopf, – das ist nun einmal nicht anders, wenn man in eine Mondlandschaft blickt und aus irgend einem Grunde, der unserem Verstand nicht recht zum Bewußtsein kommt, noch immer zögert, den Flußarm zu überschreiten.

… Bis jäh wie auf einer kreisenden Drehbühne eines Theaters die Szene sich ändert und das zischende Pfeifen und der Schlag hinter mir in der rissigen Rinde der alten Buche meine Ideenwelt vollkommen mit umstellt und ich in Sekunden das Blut zu Kopfe schießen fühle und Nerven und Muskeln sich spannen vor der Offenbarung einer nahen Gefahr.

Blitzschnell sacke ich zusammen, rolle vorwärts und falle in die moosgepolsterte Rinne, die hinab zum Flusse läuft.

In solchen Augenblicken glaubt man wie ein Automat zu handeln und handelt doch nach den Gesetzen langer Erfahrung.

Was da an meinem Ohr vorüberzischte, war kein Messer, kein Pfeil … Was da neben diesem Zischen wie ein kleiner Propeller die Luft surren machte, konnte nur ein Wurfbeil gewesen sein, – der Stiel als Propeller … Für ein Messer war der Einschlag in der Eiche zu hart. Auf jeden Fall war das kein freundschaftlicher Gruß gewesen, mit solchen Visitenkarten meldet sich nur jemand an, der ernsteste Absichten hat und der nebenbei noch ein hervorragender Beilwerfer ist.

Wer?! – Ein Fallensteller?! Vielleicht einer, der bereits in sein Winterquartier eingerückt ist und unliebsame Nachbarschaft ausschalten möchte?!

Niemals! Gesindel, das sich mit Mordabsichten trägt, ist unter den berufsmäßigen Trappern sehr selten.

Oder etwa einer der drei Gentlemen, die da vorn irgendwo lagerten?!!

Auch die Annahme war hinfällig, denn die drei waren Städter, waren Gauner, Hochstapler, Gott weiß was, den frommen Bruder Habakuk mit eingeschlossen. Die hatten von derlei Künsten keine Ahnung. Ein Beil richtig zu schleudern, das war nicht einmal mir bisher geglückt, das wollte gelernt sein.

… Und dann … – jetzt wurde es ernst, bitterernst … Ich hatte den Kopf nur ganz wenig gehoben, ich lag im Schatten, vor mir wuchsen sogar etliche Gräser, und trotzdem hatte der unsichtbare Feind sein Messer so glänzend geschleudert, daß es mir links neben der Halsschlagader in das wollene Tuch fuhr und dort stecken blieb. Und dieses Messer kam mit solcher Kraft geflogen, als hätte ein muskelstrotzender Wilder es geworfen.

In jedem Moment konnte ich nun vielleicht mit einer Kugel rechnen. Denn dieses erste Geplänkel besagt übergenug, – es ging hier nicht um einen heimtückischen Überfall irgend eines hergelaufenen Strolches: Der Mann – oder die Männer, die da irgendwo im Ufergebüsch steckten, verstanden ihren Kram und wollten Blut sehen!

Ich wählte den weiseren Teil der Tapferkeit, – vorsichtig schob ich mich zurück, schnellte empor und sprang hinter den dicken Baum, – keine Sekunde zu früh … Mochten Beil und Messer ihr Ziel verfehlt haben, der Stein, der jetzt dahergesegelt kam, hätte mir unweigerlich die Knochen zerschlagen.

Wo steckten die Kerle nur?! Sollte ich denn gar nicht zu Schuß kommen?! Und weshalb verhielt sich Bully so vollständig still?! Er mit seiner feinen Nase hätte doch die Burschen längst gewittert haben müssen, zumal wir Südwind hatten!

Und ebenso jäh wie bisher kam auch der vorläufige Abschluß des fragwürdigen Abenteuers. Diesmal war ich der Betrogene, – – zwei Hände preßten sich um meinen Hals, – es waren Eisenklammern, es war ein zweckloses Bemühen, vielleicht noch einen Warnungsschuß abzugeben, … die Büchse entfiel mir, es wurde mir schwarz vor den Augen, ich sackte zusammen, aber der Kerl, der mir da die Luft abschnürte, besaß Bärenkräfte … Der Kerl ließ mich nicht zusammensacken, der Kerl ließ mich wie ein armseliges Karnickel freischwebend in der Luft …

Und das war das letzte, das noch klar über die Schwelle meines Bewußtseins trat: Mit dem Burschen konnte ich es niemals aufnehmen, der war sogar Jörn Haskielt überlegen!

Dann … nichts mehr …

Traumland als Vorstufe des Todes, wilde Phantasien …

In diesen Minuten, Sekunden, Tagen, – wußte ich es denn, welche Zeiträume so dahinflossen?! – durchlebte ich Kindheit, Knabenjahre, Mannestum, Flucht von einst, Abenteuer, – – alles durchlebte ich in wirr durcheinander taumelnden Bildern – etwa so, wie wenn Kinderfinger im übermütigen Spiel hinter die Linse der Laterna Magica nicht eine Glasscheibe voll bunter Figuren, sondern mehrere hineinschieben, so daß die Bilder zerfließen und nur zuweilen aus dem Farbenchaos einzelne Gestalten sich herausschälen – wieder verschwinden – anderen Platz machen – wieder anderen … –

Das Fieberland der Schwelle des Todes ist die Abrechnung unserer Erinnerungen mit uns selbst. Wie der Traum die persönlichen Hemmungen löst, die uns im Wachsein trügerisch vom eigenen Ich stets nur ein selbstsüchtig geschminktes Bild zeigen, – wie im Traum das nackte Ich ohne Beschönigung vor uns hintritt und uns unser wahres Spiegelbild zeigt, so zeigt uns das Delirium des überhitzten Blutes in Fieberphantasien Abschnitte unseres Lebens in grausamer Verzerrung.

Stunden?! Tage?!

… Ich wußte nichts …

Ich raste durch das Labyrinth der Pfade meines Lebens wie ein blinder Reiter auf tollem Roß … Ich schrie in wilder Inbrunst nach Jane, der Einstigen, Einzigen, – ich schrie in wahnwitzigem Rausch den schrillen Jagdruf meiner Araukanerfreunde von einst in die Leere hinein, die um mich war, in der ich schwebte – als Gespenst …

Ich rang mit Dämonen, ich stieß um mich, stieß gegen kaltes Gestein, – – und wußte nichts, nichts …

Die Hölle war in mir.

War über mir, unter mir …

Ich verbrannte …

Glaubte zu verbrennen, heulte nach einem Trank in all meiner Pein wie ein winselnder Schwächling …

Und wußte nichts davon.

Bis nach schier endlosen Zeiten endlich die Minute kam, wo mein abgemagerter Leib wirklich die Stufe des Todes betrat und mein Geist sich klärte und meine Finger über meine Wolldecken tasteten wie Spinnenbeine …

Fieberkrise …

Und mein Geist sich zu lösen drohte von der irdischen Hülle und mit überirdisch klaren großen Augen die Wirklichkeit erfaßte …

Das, was wirklich um mich war.

Ganz still lag ich, nur die Finger krabbelten über die Wolldecke, – und jeder kennt es, dieses bedrohliche Anzeichen, jeder, der einmal spürte, daß Leben und Tod den allerletzten Kampf miteinander auskämpfen und nur die gesunde Natur, das gesunde Herz, die Zähigkeit des Leibes den Sieg des Lebens unterstützen kann.

Ich sah die Wirklichkeit.

Eine trübe brennende Laterne …

Ein Gesicht, dahinter die Schwärze der Unendlichkeit oder die Nähe düsterer Wände …

Noch ein Gesicht, – und das war Jörn Haskielt, – – und noch ein Gesicht, das war mein Hund, der neben mir lag …: Bully – – mit dick verbundenem Kopf …

Meine übergroßen Augen schlossen sich wieder.

Die Wirklichkeit tat mir weh.

Aus endloser Ferne kam eine Stimme eines Weibes:

„Er muß trinken …!! Jörn, er muß …! Es ist die Krise!!“

Und ich trank …

Schluckte …

Es brannte …

Und es rann die Kehle hinab wie flüssige Lava, und als es sich dem Blute mitgeteilt hatte, kam die tiefe, bleierne Müdigkeit, das Spiel der tastenden Finger hörte auf, und …

… ich schlief ein. – –

Seitdem sind wieder Tage vergangen.

Sie pflegen mich und Bully, sie pflegen mich gesund, und die karge Nahrung, die die Schurken uns spenden, teilen sie in sechs Portionen, von denen ich und Bully vier erhalten.

Jörn ist mager wie ein Stockfisch.

Elly Mac Intock ist überschlank und wiegt wohl kaum noch neunzig Pfund.

Aber dieser mein Leib, den ein Untier würgte und dem ein zweites Untier das Messer in die Brust stieß, hat in den Jahren der Wanderung abseits vom Alltag so manchen harten Kampf durchgefochten und hat auch diesen bestanden und den Tod vertrieben und blüht wieder auf zu dem, was er war.

Und er war gesund, trainiert, abgehärtet, – und was in ihm wohnte, war Geist eines Menschen, der nicht sterben wollte.

Er lebt.

Ich. –

– Sie sitzen an meinem Lager und erzählen.

Mein Lager aus Moos und Zweigen und Wolldecken war das Schlachtfeld des großen Ringens um Sein oder Nichtsein.

Diese seltsame kühle, klare Luft ringsum inmitten dieser schweigenden, dunklen, kalten Felsen war der Höllenpfuhl, in dem ich zu schweben glaubte … –

… Jörn erzählt mit der abscheulich klaren Sachlichkeit eines Naturkindes, für das es keine großen Anregungen über tollste, wildeste, phantastische Abenteuer gibt. Jörns Einstellung zu derartigen fabelhaften, sagenhaften, unwirklichen Dingen ist die eines Riesen, der im Reiche der Zwerge gähnend das Treiben der winzigen, nichtigen Menschlein beobachtet.

So ist er:

„Ich schlief, Olaf … Bully heulte. Ich springe auf, greife nach der Büchse und eile aus dem Zelt. Vor mir steht ein Mann und schlägt mit einem großen Stein nach mir. Wir ringen miteinander, und er ist der Stärkere …“

Elly Mac Intock unterbricht ihn.

„Jörn, daraus wird Abelsen niemals klug, – – Sie reden wie … wie ein Stadtkämmerer, der die bei der Stadtverwaltung unterschlagenen Summen aufzählt. Lassen Sie mich berichten, Olaf.“

Mit meinem Inkognito als Oskar Smith, Koch, ist es vorbei. Ich habe im Fieber alles verraten und ganze Romane vorgetragen, hat mir Elly erklärt, und vor Elly brauche ich mich nicht mehr hinter Oskar Smith zu verkriechen.

„… Ich erwachte gleichfalls über Bullys Aufheulen, ich war noch sehr schlaftrunken, sah den Kampf zwischen Jörn und dem langen Morrison, konnte jedoch nicht eingreifen, da der kleine Sam Fifo mit seiner Pistole dabeistand. Ich bin ja nun – zum Glück – durch eine ziemlich harte Lebensschule gegangen. Als Fliegerin darf man nicht schlafen oder nur an getuschte Augenbrauen oder Lippen denken. Ich reimte mir unschwer zusammen, daß Morrison und Fifo Sie bereits überfallen haben müßten. Wenn ich Ihnen und Jörn noch helfen wollte, war es am klügsten, zunächst zu verschwinden. Das tat ich. Ich schnitt das Zelt auf, nahm Büchse und Pistole und kroch ins Gestrüpp und weiter über den Flußarm immer gen Süden. Dorther waren die beiden Angreifer gekommen, dorthin würden sie sich wenden. – Ich will nicht viel Worte machen. Morrison und Fifo hatten Pferde in der Nähe, ich beobachtete, wie man Sie und Jörn wegschaffte, nachdem die Kerle eine halbe Stunde nach mir gesucht hatten. Als sie abgezogen waren und auch unsere gesamte Habe mitgenommen hatten, fand ich den halbtoten Bully auf der Insel. Ein Stein hatte ihn erledigt. Ich verband seine Wunde, schleppte ihn mit mir und holte die beiden Schufte sehr bald ein. Sie marschierten zu Fuß, auf den Pferden lagen Sie und Jörn, und die Schlittenhunde mußten den Umiakwagen ziehen. Nach zwei Stunden kamen wir in ein kahles Gebirge, und dort in einem Tale hatten Morrison und Fifo ihr Lager aufgeschlagen. Habakuk Douglas lag als verschnürtes Bündel neben einem noch glimmenden Feuer. Die Kerle fesselten Sie und Jörn und warfen Sie neben Habakuk ins Geröll und ritten dann zurück, natürlich um mich zu fangen. Aber die Elly Mac Intock war bereits zur Stelle, und die Elly hat Fliegeraugen und sah das dicke Seil, das da in einer Spalte der steilen, himmelhohen Mauer dicht neben dem Lagerplatz hing. Ich eilte hin, besah mir das Seil, kletterte empor und fand in fünfzig Meter Höhe, wo die Wand etwas zurücksprang, eine Art Terrasse von gut fünfzig Meter Länge … In der Rückseite der Terrasse sah ich Löcher, die offenbar von Menschenhand hergestellt waren, – Fenster, könnte man sagen. Ich kam sehr rasch zu einem Entschluß, seilte Sie und Jörn und Bully nacheinander an, hißte Sie empor und nachher auch Habakuk und unsere Vorräte und alles, was wir brauchen konnten. Zuletzt zog ich das Tau empor, und mit einer Laterne untersuchte ich die Wohnhöhlen. Sie wissen, daß in Mexiko gewisse Indianerstämme einst ebenfalls in solchen Höhlen hausten. Ich stellte fest, daß diese Grotten nur einen einzigen Zugang von oben hatten, den ich schleunigst mit Felsstücken verrammelte. Inzwischen war Jörn zu sich gekommen und half mir. Mit Ihnen, Olaf, stand es sehr schlecht. Als Morrison und Fifo drei Stunden später die Barrikade wegzuräumen suchten, hat Jörn einige Schüsse abgegeben, und ich drohte ihnen, Habakuk zu töten, da ich wußte, daß er ihnen als Gefangener am wertvollsten war. Wir einigten uns dahin, daß sie uns mit Lebensmitteln versorgen sollten … Sie gingen auf alles ein, – der beste Beweis, daß ihnen Habakuks Person sehr an ihren schuftigen Herzen lag. Weitere Verhandlungen lehnten wir bis zu Ihrer Genesung ab. Habakuk ist sicher eingesperrt und will durchaus nicht erklären, weshalb die beiden ihn am Fahrgestell festgebunden hatten und was in jener Lichtung bei Fort Burley sich abgespielt hat. – So liegen die Dinge, Olaf. Nun werden Sie recht schnell gesund, damit wir irgend einen Entschluß fassen können.“

Hut ab vor Elly!

Dieses Mädel hatte Schneid!!

 

5. Kapitel.

Das untere Stockwerk.

… Diese Grotten hier, das weiß ich nun, sind letzte Zuflucht der Reste eines weit südlicher wohnenden Indianerstammes gewesen.

Ich bin gesund. Die geringe Schwäche wird auch noch schwinden.

Wie gesund ich bin, haben Habakuk und die beiden Schurken sehr zu ihrem Leidwesen erfahren.

Aber mit so zerpflückten Einzelheiten sollte man kein Tagebuch füllen. Ich entwerfe eine Disposition.

Zunächst also: Die Grotten! Sie erinnern entfernt an die Felsenwohnungen der Gondaloors auf der Insel im Bereich der Antarktis, aber sie sind in vieler Hinsicht eigenartiger und historisch zweifellos von Wert. Viele ihrer Wände sind mit indianischen groben Malereien bedeckt. Ein Fachmann würde unschwer aus diesen Malereien feststellen, zu welchem Stamme die fünfzehn Toten in der sogenannten Mumienkammer gehören. Ich vermute, es sind Sioux-Indianer. Auch Elly, die vieles über die Indianer gelesen hat, neigt dieser Ansicht zu. Als der Vernichtungskampf gegen die rote Rasse um das Jahr 1830–40 seine brutalsten Formen angenommen hatte (vergleiche Skalpjäger, pro Indianerskalp fünf Dollar!), flüchteten viele Reste der Rothäute in unzugängliche Gebirge. Weshalb sollen nicht auch kriegerische Sioux sich bis hierher durchgeschlagen haben?!

Die Grotten bilden ein Gewirr von Kammern, Gängen, Sälen, Abgründen, Schlünden. Ein einziger Felsengang führt in einer Länge von hundert Meter nach Westen bis zur Kuppe dieses Berges. – Ich nehme an, daß es ein einzelner Berg ist. Diesen Zugang haben wir noch gründlicher verrammelt, aber Schießscharten freigelassen, und durch diese Löcher spenden uns Morrison und Fifo Fleisch, Brennholz, Fische und Mehl. Wir spenden ihnen Hohngelächter, wenn sie einmal in blindwütigen Drohungen sich austoben. Wir hätten sie längst abschießen können, aber ich habe es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, diesem Geheimnis auf den Grund zu kommen.

Von diesen Rothäuten, die hier einst hausten, sind nicht nur die Mumien übrig. Wir haben allerlei Waffen, Decken, Lederzeltbahnen und vieles andere gefunden. Wir haben auch das ganze Grottengebiet noch nicht durchforscht. Wahrscheinlich befindet sich unter uns noch ein Höhlengebiet, das nur durch einen der Schlünde zu erreichen sein mag. Die Annahme, daß die Grotten in zwei Stockwerken übereinander liegen, stützte sich auf die sehr einfache Tatsache, daß wir im Hauptgang eine schmale Spalte entdeckten, eine Laterne hinabließen und unten gleichfalls einen weiteren Hohlraum erkannten.

Jörn steht all diesen Dingen mit völliger Gleichgültigkeit gegenüber. Elly und ich sind desto eifriger, Klarheit zu schaffen, und Bully ist lebendes Beweisstück dafür, daß eine Etage tiefer nicht alles in Ordnung ist. Oft genug liegt er an der „Laternenspalte“ und horcht und knurrt röchelnd.

Sollte es da unten noch Lebende geben?

– Und dann die Terrasse, unser „Balkon“ zum Luftschnappen, zu Sonnenbädern und – in der ersten Zeit – zu unliebenswürdigen Schießereien mit Morrison und Fifo.

Die Terrasse gewährt Ausblick in das öde Felsental und auf die kahlen Berge drüben.

Es ist an sich eine trostlose Landschaft. Außer einigen dürren Eichen und Tannen sieht man nichts Grünes. Das Gestein ist grauschwarz, und nichts Lebendes zeigt sich in dieser Einöde. Wie gesagt, unsere Gegner wollten in den ersten Tagen, als ich draußen Sonnenbäder nahm, mich wegputzen. Aber ich war vorsichtig, und meine Drohung, Habakuk mit einer Lassoschlinge um den Hals zu garnieren, schonte fortan den Patronenvorrat der Gentlemen. Ihnen liegt an Habakuks teurem Leben unendlich viel. Wenn da nicht Geldfragen mitspielen, lasse ich mich hängen.

Und – Punkt zwei: Habakuk Elias Douglas, Generaldirektor der vereinigten Flohzirkusse, Mormone, dunkler Ehrenmann, großer Schweiger!

Ich habe mir Habakuk verschiedentlich vorgeknöpft. Ins Gebet genommen. Habakuk ist nicht schöner geworden. Um seine Affenfratze wuchert ein roter Stoppelwald wie ein abgenutzter Besen. Sein Schädel ist kahl geblieben.

Habakuks Gemach hat ein ganz enges Fenster zur Terrasse hinaus. Selbst ein biblisches Kamel könnte durch dieses Nadelöhr-Fenster nicht hindurch, und Bruder Habakuk ist kein Kamel, sondern ein sehr gerissener Kunde. Vor seiner Tür lehnt eine Felsplatte, die sicher abgestützt ist.

Punkt drei: Gesamtlage! – Sie ist so eigenartig-unwirklich, daß sie aus einem Kapitel der Jules Verne-Romane stammen könnte. Zwei Leute hausen da draußen außerhalb der Grotten, zwischen ihnen und uns besteht eine Art friedliches Abkommen, das als Grundlage die wertvolle Person Bruder Habakuks hat. Habakuk Douglas ist die Stütze dieser Waffenruhe. Morrison und Fifo möchten ihn lebend haben, wir geben ihn nicht heraus und füttern ihn, lassen ihn am Leben, dafür erhalten wir Lebensmittel, Holz, und Petroleum für die Laternen. –

„Es ist ein sehr eigentümliches Dasein, das wir führen“, meinte Elly eines Abends, als wir von der Terrasse aus die von einer Jagdstreife hoch zu Roß heimkehrenden beiden „Außenseiter“ beobachteten. „Wie soll das eigentlich enden, Olaf? Wir haben heute den fünften Oktober, wir sind nun über zwei Wochen hier, und … die Geschichte wird langweilig.“

Jörn ist nicht bei uns. Nur Bully. Einer von uns muß stets in der Grotte bleiben, denn so manches ist mir in der vergangenen Nacht aufgestoßen, das eine erhöhte Wachsamkeit erfordert. Ich habe Elly und Jörn gegenüber davon nichts verlauten lassen, ich will dieses Neue selbst ergründen, und ich sehne die Nacht herbei.

Ellys frische Wangen und blanke Augen sehen so gar nicht danach aus, daß dieses Prachtmädel sich hier langweilt. Im Gegenteil. Ellys pikantes Gesichtchen sprüht von Übermut. Seitdem meine Genesung so schnelle Fortschritte macht und mein Knochengerüst wieder Fleisch ansetzt, hat Bully alle Ursache, eifersüchtig zu sein. Die Fliegerin weicht nicht von meiner Seite. Ihre Vorliebe für meine Gesellschaft, meine Person nimmt Formen an, die nicht gerade der Lage der Dinge entsprechen. Nein, Elly Mac Intock, Gefährtin langer Wanderung durch Einöde und Wildnis, entwickelt sich zu einem kleinen, leicht koketten Persönchen. Da sie Jörn und Bully bereits völlig beherrscht, möchte sie ihren Machtbereich auch auf mich ausdehnen. Sie hat zuweilen ein so übermütiges, lebenshungriges Flirren in den dunklen Augen, daß man es als versteckte Herausforderung hinnehmen könnte.

Schweigend beobachten wir, wie der lange, dürre Morrison einen Hirsch vom Pferde hebt, als wären zwei Zentner Gewicht eine Spielerei. Den Mann haben wir gründlich unterschätzt, der ist sogar Jörn überlegen. Er schaut zu uns empor, und sein Gruß mit der Hand ist ebenso geringschätzig wie anmaßend. James Morrison, das weiß ich nun, ist kein Neuling in der Wüste. Alles andere als das. Was er ist, – es wird sich herausstellen. Und was er plant, ebenfalls. Ein Kerl seines Formats ist ganz dazu angetan, ein Ziel geduldig, schlau und unerhört kühn im Auge zu behalten. Dieses Ziel ist: Uns auszulöschen und Bruder Habakuk wieder in die Finger zu bekommen. Ich gebe mich, was Morrisons Absichten betrifft, keinen Illusionen hin.

„Woran denken Sie, Olaf?“, fragt meine Nachbarin auf dem großen, flachen Steine etwas ironisch.

„Daran, daß auch Freund Morrison wohl sehr bald unter demselben Gefühl leiden wird wie Sie: Langeweile! – Und diese Langeweile Morrisons, die man hier ja eigentlich anders bezeichnen müßte, wird die üblichen Folgen haben: Er wird Dummheiten machen!“

Elly hatten den Kopf gedreht und blickte mich voll an. Ihr Gesicht, ihre Augen waren verwandelt. Tiefer Ernst lag auf ihren Zügen. „Dann begegnen sich unsere Gedanken, Olaf … Ich nehme dasselbe an: Er wird einen Gewaltstreich versuchen. – Wir dürfen nicht vergessen, daß in drei Wochen des Indianersommers milde Tage vorüber sind, daß wir hier noch in einem Landstrich weilen, der die barbarische Kälte des Winters nur zu gut kennt. Und dann noch …“ – sie machte eine Pause – „dann noch eins …“

Ihr Blick wurde schärfer. Von Koketterie keine Spur mehr.

„Olaf – und dann noch, – – weshalb verschweigen Sie mir Ihre Beobachtungen?! Glauben Sie, ich wüßte nicht längst, daß in den Grotten unter uns noch ein … Weib wohnt?!“

Ich weiß dies erst seit der verflossenen Nacht“, sagte ich ganz ruhig. „Ich sah sie – unter der Laternenspalte, – mit einer Laterne und mit einer Büchse, gekleidet in Wildleder, einen Schlapphut auf den blonden Haaren …“

Vielleicht war zu viel Begeisterung in meiner Stimme.

Elly runzelte die Stirn.

„Finden Sie sie schön?!“

Das war so echt weiblich.

Das rein Äußerliche war selbst Elly Mac Intock die Hauptsache.

Mein Lächeln machte sie wohl auf ihre Entgleisung aufmerksam. Sie errötete unwillig. Sie konnte sehr temperamentvoll sein.

„Ihr Lächeln ist infam, Olaf!! Denken Sie etwa, daß ich unter diesen Umständen je an … Torheiten Zeit und Gefühl verschwenden würde?! Das Weib da unter uns ist schön, und wenn sie irgendwie mit diesen seltsamen Begebnissen etwas zu tun hat, was ich übrigens bestimmt annehme, ist sie doppelt und dreifach gefährlich. Ich warne Sie!!“

Sie hatte sich erhoben und schritt rasch dem Grotteneingang zu.

Ich schaute ihr ein wenig verlegen nach. Ich sah ein, daß Elly Mac Intock mir durch ihr übermütig-vertrauliches Benehmen lediglich hatte andeuten wollen, daß sie genau wie ich darüber unterrichtet sei, wer außer uns noch in dieser Steilwand hauste, von der wir bisher nur diese Ostterrasse und die Grotten im Innern und den langen Felsgang nach der Westseite zu kannten. Wie dieses Bergmassiv in Wirklichkeit ausschaute, wußten wir nicht.

Die kleine Mißstimmung zwischen dem Mädchen und mir hielt auch während des Abends an. Elly war bei der Nachtmahlzeit wortkarg und fast unliebenswürdig. Ihr stiller Verehrer Jörn wurde verschiedentlich angehaucht, und auch der arme Bully litt sichtlich unter Miß Intocks schlechter Laune. Sie zog sich sofort in ihre Kammer zurück, vor deren Eingang eine amerikanische Zeltbahn hing. Das Fenster ging ebenfalls nach der Terrasse hinaus, war von uns jedoch wie alle übrigen Außenöffnungen durch Felsbrocken so weit verschlossen worden, daß niemand eindringen konnte. Ähnlich geschah es jeden Abend mit der Türöffnung: Auch sie wurde verrammelt! – Da außerdem beständig einer von uns wachte, da ferner Bullys feine Ohren unbedingt jedes verdächtige Geräusch bemerkt hätten, durften wir uns vollkommen sicher fühlen.

Jörn rauchte verdrossen seine Pfeife. Als Tabak benutzte er welke, halb verfaulte Buchenblätter, die der Sturm oben in den langen Gang gefegt und angehäuft hatte. Es mußte also unbedingt dort nach Westen hin Bäume stehen.

„Was fehlte ihr, Olaf?“, fragte er leise, obwohl seine Stimme kaum bis zu Ellys entfernter Kammer dringen konnte.

Die Petroleumlaterne stank, in den Grotten herrschte die übliche Stille, die nur durch das ferne Klingen der Wassertropfen melodisch gestört wurde, die neben Bruder Habakuks Gefängnis aus einer Ritze in einen Blechnapf und weiter in einen der Schlünde hinabträufelten.

Jörn Haskielt, Sohn des Volkes der blonden Eskimos, trotzdem halber Landsmann von mir und ein ganzes Kind, putzte seine Büchse. Ich hatte andere Arbeit. Ich hatte den einen Fallschirm auseinander getrennt und nähte mir ein Unterhemd aus dem festen Seidenstoff. Bully strolchte in den Gängen umher und machte auf Ratten Jagd, die hier seltsamerweise zuweilen auftauchten.

Ich berichtete Jörn über meine Beobachtung aus der verflossenen Nacht und über meinen gelinden Zwist mit unserer Kameradin.

Jörns blaue Augen begegneten den meinen.

„Ich sah sie vorgestern“, meinte er schuldbewußt. „Oder besser – nur ihren Schatten, Olaf, und da ich mir meiner Sache nicht sicher war, schwieg ich besser.“

„Wir warten, bis es draußen ganz dunkel ist“, erklärte ich kurz. „Dann hältst du hier Wache und ich nehme das Tau und klettere in den „Brunnen“ hinab.“

Der Brunnen war die Felsspalte, in die die Wassertropfen hinabrieselten.

Jörn nickte nur. „Das Wasser wird auch unten aufgefangen“, meinte er in seiner knappen Ausdrucksweise.

Ich verstand ihn. Genau so wie wir das spärliche Naß in dem Blechgefäß sammelten, ebenso tat es die Frau unten mit dem über den Gefäßrand herabperlenden Wasser. Auch sie brauchte es. Freilich wohl nicht immer. Denn es gab Stunden, in denen man hören konnte, daß unten im „Brunnen“ die Tropfen tiefer irgendwo aufschlugen.

Jörn mochte dies ebenso mit dem Gehör festgestellt haben wie ich.

Eine geraume Weile herrschte Schweigen. Ellys munteres Geplauder fehlte uns. Dann stand Jörn auf und zündete die zweite Laterne an, packte gebratenes Fleisch auf den Zinnteller und schritt davon. Er ging zu Habakuk Douglas.

Wenn man allein mit seinen Gedanken ist, konzentriert man sie schärfer. – Wer war die Frau dort eine Etage tiefer? Auch Elly hatte vermutet, sie stünde mit unseren bisherigen Erlebnissen in Beziehung. Dann mußte diese Frau entweder zu Morrison und Fifo oder zu Habakuk gehören. Vielleicht eher zu diesem, obwohl auch dagegen vieles sprach. Sie war Europäerin, blond, jung, aber dennoch wie ein Kind der Wildnis gekleidet. Was tat sie hier?! Weshalb suchte sie sich nicht mit uns in Verbindung zu setzen?! Von unserer Anwesenheit hier mußte sie ja längst unterrichtet sein.

Frage auf Frage quält mich mit zäher Beharrlichkeit. Ich wollte irgendwie zu einem bestimmten Resultat kommen, bevor ich den Abstieg in den Brunnen wagte.

Haskielt kehrte zurück. „Olaf, der Douglas will Sie sprechen“, sagte er mit seiner unerschütterlichen Ruhe. „Mir scheint, er hat Angst.“

„Wovor?“

„Das weiß ich nicht … Er hockt im hintersten Winkel seiner Kammer und hat Augen wie ein toter Lachs.“

Wenn Jörn hiermit meinte, daß die blasse Furcht Bruder Habakuk peinige, so war das sehr unklar ausgedrückt.

Ich nahm die Laterne, eilte durch das Labyrinth der Gänge und kleinen Höhlen und entfernte den starken Baumast, der den flachen Stein vor Douglas’ Türeneingang sicher stützte.

Ich war vorsichtig. In der Linken hielt ich die Cold-Pistole, in der Rechten die Leuchte, aber Habakuk Elias Douglas von der Sekte der Mormonen kauerte in seinem Winkel wie eine verschüchterte Maus.

„Was gibt es?! Wollen Sie endlich reden?“, fragte ich grob. „Ihretwegen sitzen wir hier fest … Das wissen Sie.“

Habakuks Zelle hatte ein schmales Fenster. Außer einem Lager mit zwei Wolldecken war die kleine Grotte leer.

„Um aller Heiligen willen, – – die Laterne weg!!“, keuchte er heiser … „Mr. Smith, es war jemand draußen auf der Terrasse vor dem Fenster. Weg mit dem Licht!!“

Der blöde Teufel sah ganz aschfahl aus.

„Hm – hängen wir eine Decke vor die Öffnung …!“, – und ich tat es. „So, Mr. Douglas, nun dürfen Sie kleine Spottgeburt von Dreck und Lüge und Bartstoppeln wohl wieder einigen Mut haben. – Wer war draußen?“

Er setzte sich aufrecht hin. Seine verstörten Blicke gewannen Klarheit und Fassung.

Sie war draußen …“, flüsterte er scheu. „Ich sah sie genau … Sie war es! Das Haar trügt nicht.“

Meine Aufmerksamkeit erwachte.

„Wer ist … sie, – wer?!“

Er wand sich, als hätte er Bauchgrimmen. Dieser unglaublich verstockte kahlköpfige Sünder verteidigte sein Geheimnis mit überflüssigen Gliederverrenkungen. Ich hatte bisher von Zwangsmitteln abgesehen. Mir lag das nicht. Aber meine Geduld war jetzt zuende.

Ich fauchte den kleinen Patron gehörig an „Wenn Sie nicht augenblicklich die Wahrheit bekennen, liefere ich Sie Morrison und Fifo aus! Das ist mein letztes Wort. Wir haben keine Lust, hier etwa Ihretwegen den Winter zu erwarten.“

Ich hatte wohl allzu laut gesprochen. Nicht Habakuk antwortete, sondern eine Stimme von draußen, von der Terrasse her.

„Ich warne Sie, Douglas!! Es geht um Ihr Leben!!“

Das Weib!

Wie ein Blitz war ich an der Fensteröffnung, riß die Decke weg …

Nichts …

Die Terrasse war leer …

Ich hatte den Kopf durch die schmale Öffnung gezwängt, – es war ein Leichtsinn, wenn die blonde Frau feindselige Absichten hatte, genügte eine Kugel.

Nur der inzwischen aufgegangene Mond beleuchtete die Terrasse mit milden Strahlen.

Das ganze kahle Gebirge war zu einem Feenreich geworden. Die plötzlich eingetretene Abkühlung hatte irgendwo in der Niederung Nebel erzeugt, und der leichte Nachtwind führte diese Nebelstreifen wie schwebende Geister durch die Täler und an silbern schimmernden Felswänden entlang.

Dieses Bild erregte meine Phantasie. Ich vergaß für Sekunden Bruder Habakuk und all das Seltsame, das wir erlebt hatten. Ein glücklicher Zufall war es, daß eine warnende innere Stimme mich zurückfahren ließ und daß ich gerade noch Zeit hatte, dem heimtückischen Burschen, der da bereits mit geschwungenem Stein dicht vor mir stand, auszuweichen.

„Hallo – also so ist es gemeint!“, – und dieses kleine Scheusal flog auf sein Lager zurück und hatte nun guten Grund, sich den Bauch zu halten und kläglich zu winseln.

Ich gab mich nicht weiter mit ihm ab. Ich fühlte, die Dinge drängten hier zu einer Entscheidung. Ich verließ die Kammer, stützte die Steinplatte wieder fest und stürmte zu unserer behaglichen Wohngrotte.

Sie war behaglich. Jörns große Fertigkeit, aus Aststücken mit Hilfe von angefeuchteten Riemen, die sich beim Trocknen gleich Eisenklammern zusammenzogen, Sessel mit Ledersitz und Lederlehne sowie einen Tisch mit einer straff gespannten Haut als Platte herzustellen, hatte hier Triumphe gefeiert. Elly hat auch ihrerseits viel Geschmack entwickelt. In der Mumienkammer, in der die fünfzehn mumifizierten Rothäute in voller Kleidung auf Steinen an der Wand hockten und eine unheimliche stille Versammlung bildeten, gab es allerlei Kleinigkeiten, die den einstigen Bewohnern dieser Höhlen vielleicht Gegenstände religiösen Kultes gewesen. Elly hatte Aschbecher, Gefäße, Wandschmuck daraus gemacht.

Aber – jetzt war unser Wohnraum leer!

Wo steckte Jörn?!

Seine auseinandergenommene Büchse lag auf dem Fellteppich.

Ich rief …

Keine Antwort kam.

Ich rannte hinüber zu Ellys Schlafgemach. Noch nie hatte ich es betreten.

Totenstille …

Mir rann es heiß über den Rücken …

„Bully!!“, brüllte ich …

Und ich riß den Ledervorhang hoch.

Da war des Mädchens Lagerstatt, der kleine Tisch, den Jörn gefertigt, – – das war alles.

Was war hier geschehen?!

Ich stand noch immer unter dem zur Seite geschobenen Ledervorhang. Ich hatte die Laterne weit vorgestreckt, und das wurde meine Rettung. – Jörn war Reinlichkeitsfanatiker. Mochte es auch eine gewöhnliche billige Blechlaterne sein: Er putzte selbst die Rückseite, wo der Handgriff sich befand, spiegelblank. Und in diesem Spiegel erblickte ich hinter mir einen Schatten, ahnte den Überfall, warf mich zu Boden, fuhr herum und wollte abdrücken. Aber die Gestalt glitt schon blitzschnell um die Ecke. Ich hinterdrein … Ich hatte auch den Schlapphut und das blonde Haar erkannt … Dann stolperte ich über einen anderen am Boden liegenden Körper.

Stolperte, schlug lang hin, die Laterne zerschellte …

Finsternis …

Und hinter mir ein dumpfes rasselndes Keuchen: Bully!

Mit zerschundenen Knien kroch ich zu ihm …

Die Lederschlinge um seinen Hals war gelockert … Aber sie war zweifellos sehr fest zugezogen gewesen.

Armer, armer vierbeiniger Freund! Man hat dir übel mitgespielt, aber man hat dich doch nicht töten wollen!

Bully blinzelt mich mürrisch an, als ich das Feuerzeug funken lasse und die Laterne wieder anzünde. Die Glasscheiben sind nur noch Splitter, das Petroleum ist halb ausgelaufen.

„Bully, old Boy, was ist vorgefallen?!“

Er sucht sich aufzurichten. Es macht ihm Mühe. Schließlich sitzt er, wackelt mit dem Eimerschädel und röchelt.

„Bully, – du mit deiner feinen Nase, – du läßt dir eine Schlinge über den Kopf werfen?!“

Er legt die Ohren flach nach hinten und zieht es vor, zu schweigen. Seine Augen sind noch mehr blutunterlaufen als sonst.

„Warte hier!“

Ich denke an Habakuk … Ich habe hier kostbare Minuten versäumt.

Als ich vor Bruder Habakuks Zelle angelangt bin, – – Steinplatte weggerückt, Zelle leer.

Natürlich!!

Und dann treibt es mich weiter … Ich habe mich nur flüchtig in der Zelle umgesehen. Nirgends Blutspuren … Ich bin insoweit beruhigt.

Anderes beunruhigt mich.

Zweierlei steht fest: Erstens, die Frau, die so ungeahnte Banditentüchtigkeit entwickelt, ist auf die Terrasse und in unsere Grottenwelt gelangt. Wie?!

Schleunigst prüfe ich die verkeilten Fensteröffnungen und die Tür und droben das westliche Schlupfloch. Ich finde alles in bester Ordnung. Die Steinstäbe und die Barrikade sind unberührt. Die Sache wird immer geheimnisvoller. Vor dem westlichen Schlupfloch liegt wie stets einer der beiden Obergauner, diesmal Mr. Sam Fifo – als Wache. Sie trauen uns nicht und wir trauen ihnen nicht.

„Hallo, Fifo!!“

Er hat auf einer Wolldecke gelegen und eine Zigarre geraucht. Dies kleine Unwurm von Fifo mit dem angeklebten schwarzen Scheitel und der Geiernase grunzt mißvergnügt:

„Was wollen Sie?!“

Die Schießscharte in der Felsbarrikade gewährt nur schmale Aussicht. Meine Füße stehen in Jörns Tabaklager: Buchenlaub!

„Fifo, haben Sie geholfen, die Bewohnerzahl der Grotten zu verringern?“

Das jagt ihn hoch.

„Wer fehlt?! – Etwa Douglas?!“

„Douglas fehlt nichts“, erwidere ich diplomatisch. „Der sitzt fest.“

Fifo beruhigt sich. „Verdammt, dann stören Sie mich doch nicht! Uns liegt nur etwas an diesem Mormonenschuft.“

Er legt sich wieder lang hin und saugt an seiner Zigarre.

In der zweiten Schießscharte liegt eine Hirschkeule und ein Stück Hals. In der dritten bemerke ich die gefüllte Petroleumflasche und ein Päckchen. Es sind wahrscheinlich Zigarren darin.

Ich berge die Vorräte und eile zurück. Unterwegs watschelt mir Bully entgegen. Ich schicke ihn zur Barrikade. Er kennt seine Pflicht.

Und als ich dann den „Brunnen“ ableuchte, als ich das Gestein sehr sorgfältig mustere, finde ich an zwei Stellen feine Rindenstücke, die nach Harz duften.

Mir geht ein Licht auf …

Nun weiß ich, wie die Unbekannte in die Grotten gelangte und wie sie meine Gefährten und Bruder Habakuk verschwinden ließ.

Ich staune.

Die Frau muß unheimliche Kräfte besitzen, denn Jörn wiegt 180 Pfund mindestens, – wie viel Elly wiegt, weiß ich nicht, ich habe sie noch nie so recht in den Armen gehalten, seitdem ich sie aus dem Flugzeug herausholte.

 

6. Kapitel.

Das rote Fünkchen.

– Wo waren wir?!

Wir besaßen eine einzige zerlöcherte fettige Karte, und wenn ich ihr und unserer Marschroute trauen durfte, mußten wir irgendwo in den Horn-Bergen stecken, die sich parallel zur großen Biegung des Mackenzie bis zum Westzipfel des Großen Sklaven-Sees entlangziehen.

Irgendwo.

Wir hatten also den Mackenzie wahrscheinlich in nächster Nähe nach Westen hin.

Wahrscheinlich.

Sicher war auch das nicht, denn die Wildnis kennt weder Weg noch Steg noch Wegweiser mit klaren Inschriften oder gar Meilensteine mit Kilometerangaben. Wildnis bleibt Wildnis, selbst dort, wo etwa eine Strecke von zehn Meilen genügt, plötzlich „Zivilisation“ vorzutäuschen. Zehn Meilen aus den Urwäldern vielleicht zum Mackenzie hin, und ein sogenanntes Fort mit großer Siedlung zeigt rauchende Kamine, zeigt stattliche Gebäude mit blinkenden Fensterreihen, zeigt eine Schmalspurbahn mit puffender Lokomotive und hochbeladenen Waggons, zeigt weißgestrichene Landungsbrücken, Dampfer, Motorboote, elektrische Bogenlampen und manches andere.

Zehn Meilen davon ab: Wildnis!!

Wieder nur Wälder, Prärien, Steinwüsten, Berge, blinkende Bäche, allerlei Wild …

So ist diese kanadische Wildnis noch heute!

Ich war in Edmonton, wohin ein Schienenstrang aus der Unendlichkeit des Ostens hervorkriecht, – und was war Edmonton trotz seiner sechzigtausend Einwohner: Grenzstadt!!

Und nach Edmonton hatte Elly Mac Intock die beiden Gentlemen Morrison und Fifo nebst dem Mann im Sack bringen sollen!

Wo war Edmonton?!

Im Süden …

Irgendwo!

Und wir steckten in den Horn-Bergen, vermutete ich.

Ob es stimmte?! – Gleichgültig war diese Frage durchaus nicht. Befanden wir uns wirklich in der Nähe des Mackenzie, so konnte dies zu sehr unangenehmen neuen Verwicklungen führen. Ich war vogelfrei. Ob meine Polizeifreunde in Fort Maupherson droben mit ihren Aussagen, Abelsen sei tot und nur Schiffskoch a. D. Oskar Smith lebe noch, viel Glück bei ihren Vorgesetzten gehabt hatten, blieb fraglich. Mein Gesicht ist leider zu scharf geschnitten, als daß es den Vergleich mit einer Steckbriefphotographie vertragen könnte. Dieser infame Wisch zirkulierte noch immer und hatte mir überall, wo es Behörden und Verräter gab, Scherereien bereitet.

Und mit diesen Gedanken, die mir ganz von selber zuflogen, als ich mir darüber klar geworden, daß die blonde Frau mit Hilfe einer aus dünnen Tannenstämmen gezimmerten Leiter im Brunnen emporgestiegen war, tauchte auch die Erinnerung an den Traum der Wildnis wieder auf, der für mich Ada geheißen hatte – die kleine Ada, mein Kind, mein Pflegling, das ich hingab in selbstloser Liebe.

Wie sollte das auch sein?! Ein Kind, elternlos, Findling der Wildnis, hatte viele Wochen mein einsames Leben ausgefüllt. Ich hatte es, kaum daß es geboren war, von der Seite der erschossenen Mutter an mich genommen. Ich hatte ihm über die ersten kritischen Tage mit primitivsten Mitteln hinweggeholfen. Es war mein geworden durch das schlichte Gesetz, daß denen Vaterrecht verleiht, die für ein hilfloses Wesen sorgen. Ich war Adas Vater durch das stärkste Band, stärker als das der Liebesstunde: Durch heilige Pflichterfüllung an einem elternlosen Geschöpfchen!

Durch verworrene, mehr als düstere Zusammenhänge tappe ich gleich einem Blinden. Aber die Frau da unten wird mich kennen lernen. Ich bin nicht aus dem Holze geschnitzt, das sich biegen läßt und die Biegung beibehält. Ich bin wie ein gesunder Rohrstock, der sich immer wieder gerade richtet. –

Ich habe die Laterne mit ihrer flackere Petroleumfunzel abseits gestellt und lausche dem klingenden Aufschlagen der Tropfen in unbekannter Tiefe. Das dicke Tau, das Elly Mac Intock draußen an der abschüssigen Terrassenwand vorfand, habe ich bereits befestigt. Bully schaut interessiert zu. Dieses Tau, das da draußen einst hing und das Elly die Möglichkeit bot, Jörn und mich und Bully in die Felsenfeste zu tragen, beweist oder bewies, daß Morrison und Fifo ebenfalls in diesen Grotten sich umschauten. Was suchten sie hier?! Von der unteren Etage wissen sie nichts. Vielleicht enthüllt gerade sie das große Geheimnis.

„Freund Bully, ich kann dich nicht mitnehmen“, – ich streichele ihm den Eimerschädel, und ich schiebe ihn wieder zum Westausgang, wo er hätte wachen sollen.

Mit faulen Bewegungen trottet er davon.

Ich klemme das Messer zwischen die Zähne, entsichere die beiden Pistolen, schiebe sie wieder in die ledernen Hüllen am Gurt und recke die Arme zur Kraftprobe. Wenn die Frau da unten blutdürstig genug ist, wenn sie mich an dem Seil wahrnimmt, kann sie mich abknallen. Aber ich habe die eine Chance für mich, daß sie noch mit ihren Gefangenen beschäftigt sein wird.

Ich greife zu den Lederstücken, die mir beim raschen Hinabgleiten die Innenhand schützen sollen.

Ein festes Zupacken, ein Pendeln am Seil, dann die Laterne vor die Brust gesteckt, – – und abwärts – – ein rasches Gleiten, trotzdem ein scharfes Beäugen der Wände der Kluft. Sie triefen vor Nässe, sie haben Zacken und Löcher, es ist nur eine natürliche Spalte im Gestein, kein wirklicher Brunnen.

Ein nasser, kalter Schacht …

Und ein Mann, der fünfzehn, zwanzig Meter hinabgleitet und nach dem Schlupfloch sucht, durch das die Frau ihre Leiter nach oben schob. Diese Öffnung muß ziemlich umfangreich gewesen sein, ich müßte sie sehen, aber die Frau hat sie schlauerweise durch Felsbrocken verkeilt, verschlossen. – Wahrscheinlich …

Dann ist das Seil zu Ende, ich hänge über einem blinkenden Wasserspiel, ich muß wieder empor …

Ich packe mit der Rechten nach oben, ziehe mich hoch, – jetzt mustere ich das Gestein sorgfältiger …

Und spüre am straffen Tau eine leichte vibrierende Erschütterung …

Mein Kopf neigt sich nach hinten … Zehn Meter über mir ein Arm, ein Messer …

Haarscharf muß das Messer sein …

Bevor ich noch zum Schuß komme, reißt das Tau, ich falle, – eisiges Wasser schlägt über mir zusammen, im Nu sind die Lederkleider durchnäßt, die Kälte des Brunnens benimmt mir den Atem, und halb blind tauche ich wieder auf, fahre mit dem Kopf ins Leere und … sehe nichts …

Nichts …

Die Laterne ist tot.

Finsternis umgibt mich, die Hände suchen nach einem Halt, ich kralle mich an feuchte Zacken, schwinge mich vorsichtig auf irgend einen Vorsprung, die Beine hängen noch im Wasser, die Hände tasten empor, finden leeren Raum, trockenes Gestein, offenbar eine Einbuchtung des Schachtes, – die Hände fühlen Geröll, eine sanft geneigte Fläche, und kriechend schiebe ich mich vorwärts in das Unbekannte hinein, in die Finsternis …

Die Erregung verjagt das Kältegefühl, ich empfinde nur eine ungeheuere Empörung und Wut gegen das Weib, das mich wie eine Ratte im Wassereimer ertrinke lassen wollte …

Dieses feige Attentat auf mein Leben ist mißglückt. Dieser Berg ist zerfressen wie ein Apfel, in dem die Würmer hausen. Abwärts läuft der zackige Gang, den ich kriechend verfolge, – und nach endlosen Minuten schimmert da vor mir das bleiche Mondlicht durch Dornen und Disteln und Gestrüpp.

Ich bin im Freien.

Ein Blick ringsum belehrt mich, daß dies hier nicht der Kanon ist, in dem Morrison und Fifo lagern. Es muß die Westseite des Berges sein, und dieses Tal hier mit himmelhohen Terrassenwänden ist bewaldet, – Buchen, Eichen, Tannen bilden kleine Gehölze, ein Bach rieselt durch das Tal, und links von mir – nach Süden zu – flackert kaum merklich ein rotes Pünktchen, ein Lagerfeuer.

Jetzt friere ich. Die Nacht ist kalt. Der Wind ist unbarmherzig. Ich sehne mich nach Wärme, ich spüre, wie meine Glieder erstarren, und Selbsterhaltungstrieb jagt mich nach Süden zur flackernden Glut.

Behutsam trabe ich dorthin, suche Deckung, komme näher, sehe mitten in einem Waldstück vor einem derben braunen Zelt das Feuer, darüber einen dampfenden Kessel.

Und stutze, horche …

Die Bäume rauschen, die Windstöße säuseln, und mir schlägt das Blut heiß ins Gesicht …

Gott im Himmel, – – ist das Wahrheit, ist das keine Sinnestäuschung?!

Sollte ich mich so irren …?!

Ich schiebe mich weiter … Noch fünf Meter.

Aus dem Zelt ertönt dasselbe liebe süße Plärren.

Und – – kein Mensch in der Nähe …

Ich horche nochmals …

Dann die Pistole heraus …

Zwei Sprünge …

Ich reiße den Zeltvorhang zur Seite …

Drinnen brennt trübe eine Laterne.

Aber ihr Licht zaubert mir die Vollendung meiner Sehnsucht vor:

Dort auf dem Lager von Decken strampelt ein Kind …

Nur Ada, das Kind der Wildnis, hatte so überreiches aschblondes Gelock …

Nur Kanada-Ada hatte diese großen blauen Augen …

… Ich habe mein Kind wiedergefunden!

Das Schicksal gab es mir zurück.

 

7. Kapitel.

Salut für Ada.

Ich habe wieder Pflichten, die mir höher stehen als die Augenblickssorge um die Gefährten und um mich. Ich habe Ada zu sättigen, denn ihr Greinen kenne ich. Sie hat Hunger.

Immer noch ist es die Wildnis, die uns beherbergt, wieder beherbergt, und in dieser Wildnis ragen die Berghäupter in den glitzernden Sternenhimmel empor, und zwischen den kahlen schweigenden Kuppen in dem abgrundtiefen Tale zwischen herbstlich verfärbten Bäumen hockt ein Mann am knisternden Feuer und gibt acht, daß die Milch, die er da in den verlöteten Büchsen neben leeren Lagerstätten des Zeltes gefunden, nicht allzu heiß werde. Auch die Flasche mit dem Saugpfropfen habe ich gefunden, und nachher sitze ich im Zelt, das zappelnde Bündel im Arme, und halte die Flasche und sehe das gierige Schmatzen meines Kindes und lächele still und glücklich.

Dann versinkt Klein-Ada in jenen Schlaf des Sattseins, der auf ihren Bäckchen die blühenden Rosen der Gesundheit erscheinen läßt.

Meine Gedanken wandern abseits.

Das Zelt und dessen Einrichtung beweist mir, daß Justus Napy und Milli Haynes oder Milli Napy (vielleicht sind sie bereits ein Ehepaar) absichtlich vom Flusse her in die Berge gezogen sind, also ihre Reise nach Edmonton unterbrochen haben.

Weshalb? Es müssen doch sehr triftige Gründe gewesen sein, daß sie sich mit dem Kinde und zwei Pferden in diese Einsamkeit wagten. Die Pferde stehen drüben im Dickicht, ruppige Gäule, aber ausdauernd und kräftig. Kommen Justus, Milli und Ada meinetwegen?

… Ich weiß es nicht, und die Mondnacht verrät nichts.

Die Stille dieser Herbstnacht bedrückt. In dem Wispern der Stimmen höre ich Geräusche, die ich mir nur einbilde. Mein Blut rauscht in den Ohren, und Wärme durchfließt mich. Freund Napy wird es mir nicht verargen, daß ich mir Unterwäsche entlieh. – Ich überlege. Eine Entscheidung ist so sehr schwer. Meine erste Pflicht ist erfüllt und die nächste hieße: Die Gefährten!

Anderes hat sich dazwischen gedrängt.

Hinter mir gen Norden, wo dieses Tal sich krümmt, liegt der faule Mordbube Fifo, der mir das Messer in den Rücken stieß auf jener Flußinsel, als Wächter vor der Barrikade. Will ich zurück in unsere Grotten, die nicht einmal mehr als Schlupfwinkel sicher sind, müßte ich Sam Fifo zunächst ausschalten.

Das Kind lähmt mich.

Soll ich es hier allein lassen?! Was hilft das magere Feuer gegen ein schweifendes Wolfsrudel?! Es ist ja Wildnis ringsum, und die Wölfe haben sich längst wieder zusammengefunden samt ihrem Nachwuchs zu ewig hungrigen Gemeinschaften. So manche Nacht, wenn ich auf der Terrasse oben wachte, vernahm ich ihr Heulen und Kläffen, das der Wind mir fernher zutrug.

Wo sind Napy und Milli?!

Ich überlege noch immer.

Bis ein schärferes Geräusch meinen Kopf lauschend hochwirft.

Ein Knacken …

Trockenes, brechendes Holz …

Bevor die Hand die Pistole findet, steht ein hagerer Mann vor mir, ein Gesicht wie Stein, ohne Erbarmen, – Augen wie ein zum Sprung bereites Raubtier, halb zugekniffen …

James Morrison!

Morrison, der Mann mit den unglaublichen Kräften, der Betrüger, in tadellosem Cordanzug, Kniehosen, derben Schnürschuhen, trotzdem fast zu städtisch gekleidet für die Umstände und Umgebung.

Endlich sehe ich ihn aus allernächster Nähe.

Endlich, – aber ich habe die Partie schon mit dem allerersten Zug verloren, scheint es nur. Seine Pistole glotzt mich an mit dem Mündungsloch, und jede Minute, Sekunde kann der kleine Krater Feuer speien und ich umsinken, Loch im Schädel, erledigt für alle Zeit.

Elly Mac Intock hat mir viel über Morrisons Hinterhältigkeit berichtet. Die Schilderung, die sie von seinem Charakter entworfen hatte, mußte stimmen.

Wir standen uns Auge in Auge auf drei Meter gegenüber, mit der Linken hatte er den Zeltvorhang noch mehr gelüftet, das Laternenlicht fiel voll auf sein hageres, braunes Gesicht, das durchaus sympathisch gewirkt hätte, wenn nicht um den breiten Mund mit den schmalen, herabgezogenen Lippenenden und im Hintergrunde der Augen die gemeine Niedertracht eines kultivierten Banditen gelauert haben würden.

Mr. James Morrison hatte jene kühle, überlegene Ironie im Blick, die je nach Wunsch gutmütig oder frech wirken konnte. Das war sein „äußerlicher“ Blick. Wer besser hinschaute, gewahrte den zweiten wie einen halb verhüllten Vorhang: Die brutale Gemeinheit!

Seine Stimme entsprach diesen Augen. Als er mich aufforderte, die Hände zu heben, geschah es fast liebenswürdig-nonchalant. Etwa wie im Salon: „Verzeihung – haben Sie ein Zündholz?“ – Auch in dieser Stimme schwang der zweite Unterton mit: Brutale höhnische Gewaltanmaßung!

Ich wußte, er würde abdrücken.

Nichts wäre ihm gelegener gekommen, als ein Zögern meinerseits. Dann hätte er einen Schein von Recht für sich gehabt.

Ich gehorchte sofort.

Und mir ging es durch den Sinn: Was mag dieser Mensch sein, der die Kräfte eines Stieres mit der Verworfenheit des langjährigen Verbrechers in sich vereinigt?!

Ich war ihm an Stärke weit unterlegen. Wer mit einem Jörn Haskielt fertig wird, legt einen Abelsen glatt um. Darüber machte ich mir keine Illusionen. Und doch: James Morrison mochte vieles erlebt haben, mochte mich halb erwürgt haben, eins hatte ich vor ihm voraus: Die noch größere Erfahrung.

Und – er war nervös, er war durch irgend etwas beunruhigt. Seine Augenlider flatterten leicht.

Auge in Auge mit dem Tode stand ich …

„Wir haben Douglas, wir haben alle …“, sagte er höhnend. „Auch Sie …!! – Legen Sie sich lang hin – auf den Bauch, Hände nach oben – – bitte!“

Er hatte das „Bitte“ noch nicht völlig ausgesprochen, als sich im dunklen Winkel jäh ein krähendes Stimmchen zu schrillem, schlaftrunkenem Schrei erhob.

Morrison zuckte zusammen, seine Augen glitten von mir ab, – in demselben Moment schlug ich zu, die Waffe entlud sich, ein zweiter Fausthieb traf Morrisons Herzgrube, er fiel hintenüber in das Feuer, krümmte sich zusammen, wälzte sich zur Seite. Die Bestie Mensch erwachte auch in mir … Ein Stein lag zur Hand, – – Morrison sackte vollends in sich zusammen, aber dieses Gerüst aus Knochen, Muskeln und Sehnen besaß offenbar die Zähigkeit einer Katze … Er war flinker als ich, er floh in das Gestrüpp, zwar taumelnd, aber doch kaum wesentlich im Gebrauch seiner Glieder behindert.

Ich mußte ihn haben, ich stürmte hinterdrein, er floh nach Süden zu, ich feuerte dreimal, ich war außer Atem und verfehlte mein Ziel. Er gewann Vorsprung, die Finsternis unter den Baumgruppen war ihm günstig, aber die Stämme standen doch nicht so dicht, daß er irgendwie verschwinden konnte. An einer mondhellen Stelle schoß ich abermals. Morrison schrie auf, warf die Arme in die Luft und brach zusammen. Als ich die Stelle erreichte, mußte ich mich urplötzlich zurückwerfen, denn quer über die Talsohle zog sich hier eine breite Spalte hin … Ich nahm einen Stein, ließ ihn hinabfallen und wartete auf den Aufschlag … Es platschte hell: Wasser floß dort unten in erheblicher Tiefe …

Vielleicht ein Wasserarm jenes unterirdischen Baches, der die Grotten durchrieselte.

Morrison jedenfalls war nicht mehr zu fürchten, dieser finstere Schlund gab nichts mehr heraus. Wer dort einmal mit einer Kugel im Leibe hinabgestürzt war, konnte mir nicht mehr schaden.

Ich holte tief Atem, ich schritt bedächtig zurück zu dem Zelt und dem glimmenden Feuer, zu meinem Kinde, und ich ging dahin wie ein Träumender … Ich bereute die voreiligen Kugeln, ich hätte so gern gewußt, wer dieser Mann, der trotz seiner Brutalität immer „Mann“ blieb, in Wirklichkeit gewesen sein mochte. Möglich, daß der Feigling Sam Fifo, diese absolute Null, nunmehr zu einem Geständnis sich bequemte. Möglich, daß dann endlich all das sich entwirrte, was jetzt noch als unlösbares Rätsel mich bedrückte.

Schließlich: Ein Menschenleben bleibt stets etwas Kostbares, bleibt stets eine dunkle Frage, die vielleicht einmal zum Licht sich emporringt und all das Häßliche abstreift.

Der Tod aber bleibt der grausame Schnitt, der alle zarten Fäden empor zum Licht zerschneidet. Was wußte ich denn von James Morrison?!

Nichts – – im Grunde nichts!!

Ich fühlte mich bedrückt, unzufrieden.

Ich hätte gewünscht, Morrison wäre mir entkommen. All die Freude über das Wiederfinden meines Kindes war ausgelöscht. Meines Kindes Wiederkehr hätte nicht mit diesen Schüssen als Freudensalut begrüßt werden dürfen.

Und mein Kind schlief … Ich stand wieder vor seinem Lager, – Ada hatte den Daumen im Munde und knallrote Bäckchen …

Ungern bückte ich mich, hob das Kind samt den Decken empor, nahm noch ein paar Büchsen Milch und die Flasche mit und schlich gen Norden das Tal hinauf, um nun auch Mr. Fifo dahin zu belehren, daß es kaum recht lohnt, mit Olaf Karl Abelsen anzubinden.

Der Mond hatte sich hinter den Berghäuptern verkrochen. Dunkelheit umsäumte meinen Pfad, – es war schwer, sich zurechtzufinden, – wie sollte ich wohl die Stelle entdecken, wo Fifo droben auf den Terrassen irgendwo wie ein fetter Kater vor dem verrammelten Mauseloch lag?!

Daß er die Schüsse gehört hatte, war kaum anzunehmen. Repetierpistolen machen nicht allzuviel Lärm.

Aber – wo steckte Fifo?!

Zunächst mußte ich dafür sorgen, daß ich beide Hände frei hatte. Ich schnürte mir Klein-Ada, die ruhig weiterschlief, auf den Rücken, wie es viele Naturvölker tun, deren Weiber die Säuglinge mit zur Feldarbeit nehmen. Dann suchte ich nach dem Stollen, der mich aus dem „Brunnen“ hier in dieses westliche Tal geführt hatte. Ich fand ihn, ich berechnete etwa, wo der lange Gang mit der Barrikade liegen müßte, und begann dann eine mühselige Kletterpartie, die an meine Muskeln die allerhöchsten Anforderungen stellte, da die Talwand zumeist schroff wie eine Mauer war und die Terrassen nur in weiten Abständen aufeinander folgten.

Wer jemals in Dunkelheit einen solchen Anstieg auf unbekanntem Gelände wagte, der weiß, was für Zeit verrinnt, wenn man noch gezwungen ist, nach Möglichkeit jedes Geräusch zu vermeiden.

Ich schaffte es.

Droben leuchtete noch der Mond durch einen Einschnitt der Berge. Ich konnte die Szenerie überblicken. Meine Vermutung, daß unsere Grotten in einem Bergmassiv lägen, traf zu.

Über dieser Abflachung, wo Sam Fifo so behaglich seine Zigarre geraucht hatte, erhob sich die Spitze des Berges zu schroffem, zerklüftetem Horn.

Horn-Berge!!

Es stimmte schon … Sie hatten Hörner.

Aber Sam Fifo?!

Verschwunden!!

Und die Barrikade – – weggeräumt!

Ein finsterer Schlund gähnte mir entgegen …

Ich zündete die Laterne aus dem Zelte an. – Ich ahnte schon, was hier vorgefallen, Morrison hatte genug verraten: Er und Fifo hatten auch die Blonde überwältigt, und die Grotten waren jetzt Mr. Sam Fifo als Wächter unterstellt.

Ein Deckenzipfel genügte, die Laterne zu verhüllen. Im Finstern tastete ich mich weiter, und mein Herz war schwer vor Besorgnis um den treuen vierbeinigen Freund, den die Kerle niemals geschont haben würden.

Dann vor mir ein ganz leises Röcheln.

Ich stand – horchte …

Das Röcheln ward noch leiser, – ich enthüllte die Laterne, und vor mir lag Bully in einer großen Blutlache, die Augen halb geschlossen, alle Viere von sich gestreckt, – – sterbend, dennoch mich anblinzelnd, als ich rasch neben ihm niederkniete und ihn streichelte und seine Wunden befühlte, aus denen der rote Lebenssaft sickerte: drei Schüsse!

Ich streichelte ihn.

Ein letztes Mal riß er die Augen ganz weit auf, ein letztes Mal leckte er dankbar meine Hand, und dann zuckte und streckte sich sein Körper …

Bully war tot.

Unfaßbar der Gedanke, daß er nie wieder auf seinen krummen Beinen neben mir dahintrotten würde!

Und – wie hatte er Ada auf seine Art geliebt! Wie hatte er ihre Wiege im Sonnenschein gehütet, wie oft war er mir Lebensretter geworden!

Und er – war tot!

Aus dem Schmerz um ihn stieg eine ungeheure Erbitterung in mir hoch!

Fifo sollte es büßen!!

Ich lächerlicher Tor, der ich noch mit mir darüber gehadert hatte, weil ich Morrison die Kugel nachschickte!

Bully, du wirst gerächt werden!! Bully, du wirst nachher ein Grab finden, das deiner wert ist …! …

Und auf dem Rücken das Kind, das warme kleine lebende Bündel …

Und vor mir dann matter Lichtschein …

Ein Blick um die Felsenkante hinein in unser Wohngemach:

An dem Tische mit der straff gespannten Lederplatte sitzt Sam Fifo mit seiner ruppigen Gaunervisage und … hat vor sich meine Blätter liegen, mein Tagebuch …

 

8. Kapitel.

Der Sprung ins Nichts.

Sam Fifo hatte es sich gemütlich gemacht. Er rauchte, die halb geleerte Brandyflasche, eine unserer letzten, stand neben ihm, den Becher hielt er in der Linken und drehte ihn hin und her, mit der Rechten schlug er die Seiten um, die ihn nichts angingen. Ob er die schwierige Sprache beherrschte, bezweifelte ich. Er blätterte zu schnell. In seinem grob gehauenen Gesicht war ein Ausdruck von Mißvergnügen.

„Hände hoch!“

Englisch war ihm geläufig, und vielleicht war gerade dieser eindeutige Befehl ihm noch geläufiger.

Er gehorchte schleunigst. Sein Unterkiefer, dessen flaches Kinn nicht gerade für Charakterstärke sprach, sank vor Schreck herab, und seine Äuglein hafteten entsetzt auf meiner drohenden Waffe.

„Sie leben?!“, gurgelte er heiser.

„Ja. Und Morrison ist tot, und auch nach Ihnen greift das Verhängnis, Sam Fifo.“

Ich mußte an mich halten, nicht noch deutlicher zu werden.

Der trübe Schein zweier Laternen erfüllte den Raum.

„Legen Sie die Pfoten vor sich auf den Tisch“, befahl ich weiter.

Auch dem bescheidenen Wunsche entsprach er. Seine Züge wurden aschfahl.

Es mußte wohl ein Unterton in meiner Stimme zittern, der ihn ängstigte.

Den Riemen mit der Schlinge hielt ich bereit.

„Hinein mit den Händen!“

Ich war nähergetreten. Die Schlinge zog sich zu. Das Ende des Riemens schlang ich um den Tischfuß.

„So, Sam Fifo, jetzt kommt die Abrechnung, vorher die Beichte. Bei der ersten Lüge knallt es!“

Er klappte hörbar den schlotternden Kiefer zu und zog die Nase kraus, weil der kalte rinnende Schweiß ihn kitzelte.

„Ich … habe nichts getan“, keuchte die Stimme tonlos.

„Abgesehen von dem Messerstich in meinem Rücken werden Sie wohl noch über ein langes Sündenregister verfügen.“ Ich knotete das schlafende, satte Bündelchen von meinem Rücken und legte es behutsam auf einen der Jörnschen Patentsessel.

„Das Kind!“, rief Fifo atemlos.

„Ah – also Sie wissen etwas von dem Kinde. Woher?!“

Adas rosiges Gesichtchen paßte wenig in diese bitterernste Szene hinein.

Fifo senkte rasch den Kopf.

„Wer sind Sie nun eigentlich?“, die Frage war ihm unbequem.

Er schwieg.

Als meine Hände den Inhalt seiner Taschen hervorholten, kollerte er in jähem Haßausbruch: „Sie werden es bereuen, Sie … Sie Bandit!!“

„Meine Reue ist vielfach unangebracht“, sagte ich nur. „Als Morrison vorhin mit einer Kugel im Leibe in die Schlucht stürzte und ein langes Bad nahm, schlug mir überflüssigerweise das Gewissen.“

Ich öffnete seine Brieftasche.

Da war ein Paß, der Sam Fifos Fratze als Photo abgestempelt zeigte.

„Kaufmann“, war als Beruf angegeben, als Wohnort „Mammoth Hot Springs Hotel, Yellowstone, U. S. A.“ – Also Amerikaner. – Armes Amerika, auf den Yankee kannst du nicht eben stolz sein.

Als ich die übrigen Papiere durchsah, stellte sich heraus, daß Mr. Samuel Fifo Kavallerie-General gewesen und zwar im Mammoth-Hotel: Buchhalter, Kontorschemelreiter. – Im übrigen besagten die Papiere gar nichts.

„Sie haben ja einen sehr friedlichen Beruf“, meinte ich nachdenklich. „Buchhalter … Weshalb stechen Sie da mit einem Messer und nicht mit einem Federhalter?!“ Mein billiger Witz ließ ihn grinsen. Er glaubte, die Dinge hätten eine Wendung zum Besseren genommen. Ich zog einen Schemel heran.

„Reden Sie!“

Der Ton behagte ihm nicht. „Wie gesagt: Die erste Lüge, und Sie folgen Ihrem Freunde Morrison!“

Er stierte in das Mündungsloch der Pistole. Es hypnotisierte ihn. Er schwitzte noch mehr.

„… Also, was führte Sie nach Winnipeg?“

Ich hatte ihm das Stichwort gegeben, und er hätte nun beichten können.

Ein breites, freches Lächeln verzog seinen Mund.

„Geschäfte!“

„Ach so – – Sie wollen nicht!“

Und ehe er es sich versah, stieß ich mit dem Messer von oben zu und nagelte ihm die linke Hand an die Mittelleiste des Tisches, die unter dem Leder lag.

Er schrie auf.

„Sie Untier!!“

Seine Augen hingen an der breiten Klinge. Die Wunde in seinem Handrücken war ungefährlich. Aber seine Gesichtsfarbe spielte ins Grüngelbe.

„Wir sind nun zu ein Zehntel quitt, Sam Fifo … Ein Rücken wird höher bewertet, als ein Handrücken. In drei Tagen merken Sie nichts mehr von dem Stich, ich dagegen merke Ihren Stich noch heute. – Was taten Sie in Winnipeg und nachher mit dem Mormonen?“

Der fette kleine Kerl japste nach Luft.

„Wir … wir suchen etwas …“, stotterte er angstvoll.

Der kurze Anlauf zur Unverschämtheit war wieder verpufft.

„Gold – eine Goldader?“

Diese Frage lag so nahe. Das Goldfieber erlischt in U. S. A. niemals. Es schwillt periodisch an wie die Grippe. Sind einmal irgendwo durch Zufall in einem Bach Goldkörner gefunden worden, werden ganze Dörfer entvölkert. Alles strömt dem goldenen Magnet zu. Nach einem Monat erlischt die Seuche wieder.

Fifo starrte auf die blutende Hand.

„Nein …“, knurrte er heiser. „Kein Gold … Für Morrison war es Gold … Er war verrückt.“

„Und wer ist Morrison?“

Das fette Unwurm da vor mir zauderte.

Ich schob die Pistole etwas vor.

„Der reichste Mann von Helena“, sagte er schnell. „Ein vielfacher Millionär … Ich wünschte, er wäre nie im Hotel eingekehrt … Er hat mich verführt, ich bin unschuldig …“

Den Vers kannte ich. Die Geschichte wurde mir langweilig. „Wenn Sie jetzt nicht alles im Zusammenhang erzählen, Freund Fifo, wird Ihr Kopf darunter leiden.“

„Nehmen Sie das Messer weg“, stöhnte er. „Ich kann eine Blutvergiftung bekommen, und dann werde ich Witwer … nein, meine Frau wird Witwe, und meine sechs Kinder …“

„Ihre Familienchronik interessiert mich nicht. – Weshalb waren Sie beide so ungeheuer brutal, Douglas im Sack am Fahrgestell festzubinden?!“

Er zögerte abermals. „Ist Morrison wirklich tot?“

„Genau so tot wie mein armer Bully …“ Und Bullys Andenken lebte auf und trieb mir das Blut in die Stirn. „Sie Schurke, – Sie haben den Hund niedergeknallt … Das vergesse ich Ihnen nie!! Bestien seid ihr beide gewesen, und mit Bestien macht man kurzen Prozeß. Falls Sie jetzt nicht endlich einen klaren Überblick über die Geschehnisse geben, werde ich Sie an einen Lasso binden und ein wenig eintauchen … Es gibt hier einen Brunnen, und das Wasser bringt jeden Tobsüchtigen zur Vernunft … Sechs Liter davon im Magen, und Sie werden zahm wie ein Schaf sein. Los also!“

Dieser Wicht widerte mich an.

Ich hatte Kerle kennengelernt, die in Wahrheit Schufte ganz großen Formats waren. Dies hier war ein kläglicher Schemelreiter, der nur aus Habgier Morrisons Werkzeug wurde. Wenn Morrison, den ich als Lump weit höher einschätzte, diesen Fifo zum Vertrauten erwählt hatte, mußte wohl Sam Fifo gewisse Eigenschaften besitzen, die einem Menschen wie Morrison imponiert hatten. Feige Kreaturen pflegen zumeist über eine Verschlagenheit zu verfügen, die über dem Durchschnitt steht. Was ihnen am Mut fehlt, suchen sie durch das elende Fünkchen Intelligenz, das da Gerissenheit heißt, zu ersetzen. – Freilich konnte man dieses unharmonische Bündnis zwischen den beiden auch dahin deuten, daß Sam Fifo über gewisse Vorgänge aus Morrisons zweifellos recht buntem Dasein sich Kenntnis verschafft und daher einen Zwang auf ihn ausüben konnte. Andererseits war dies wieder bei James Morrisons Charakterveranlagung insofern wenig wahrscheinlich, als Morrison einen unbequemen Mitwisser längst beseitigt haben dürfte.

Meine energische Aufforderung, endlich die volle Wahrheit zu bekennen, fand bei dem Dicken geringen Widerhall. Seine zugekniffenen Augen, ein heimtückisch-biederer Zug um die Mundwinkel und eine noch widerwärtigere reuige Miene warnten mich.

„Douglas ist ein Dieb“, sagte Fifo seufzend. „Wirklich, Mr. Smith, er hat Morrison im Mammoth-Hotel bestohlen … Da ich nun ehemals Privatdetektiv war, haben wir Douglas’ Spur bis Kanada verfolgt und …“

„… nicht die Polizei in Anspruch genommen?!“, fauchte ich ihn an. „Solche Märchen sind für Kinder, Fifo!!“

Ich hatte genug von diesem zwecklosen Verhör.

„Gut, – dann werden Sie baden!“ sagte ich grob, erhob mich und schritt in den Winkel, wo die Lassos, Patronenkästen und manches andere lagen, auch der zweite Fallschirm aus dem Flugzeug, den ich noch nicht zertrennt hatte. Der Fallschirm rollte zur Seite, als ich den einen Lasso hervorzog – den längsten. Fifo würde schon mürbe werden. Daß hinter all seinen Lügen, Ausflüchten und hinter seiner zähen Verschwiegenheit eine ganz große Schufterei steckte, davon war ich längst überzeugt. Bullys Tod hatte meine Nerven zum Reißen gespannt. Ich hatte hier einen Mordgesellen vor mir, der wahrscheinlich keine Schonung verdiente.

Ich wandte mich ihm wieder zu. Sein Gesichtsausdruck machte mich sofort stutzig. Es lag in seinen Mienen etwas wie Schadenfreude, und gleichzeitig ein atemloses Lauschen auf bestimmte Geräusche.

Ich horchte, ich behielt ihn dabei im Auge, und ich sah, wie er rasch den Kopf neigte und ein ärgerliches Aufblitzen seine Augen weitete.

Dann hörte ich etwas …

Schritte im rechten Seitengang …

Schritte, nur angedeutet durch ein Knirschen der feinen Geröllteilchen des Felsenbodens.

Ich handelte damals vollkommen überlegt. Ich sagte mir sofort, daß der, der da so schleichend nahte, nur ein Feind sein könnte. Vielleicht … die Blonde, – – oder doch Morrison! Konnte er mich nicht überlistet haben?! Hatte ich ihn wirklich getroffen?

Und ich – ich hatte nicht nur für mich zu sorgen. Da lag doch mein Kind und schlief … Und dieses Kind mußte ich vor der Gefahr eines Kugelwechsels schützen … Ich mußte es auch mit mir nehmen, in der Gewalt meiner Gegner war es stärkste Waffe gegen mich.

Ich löschte die Laterne auf dem Tische aus, und – – schlug blitzschnell zu, traf Fifo gegen die Schläfe und packte das Kind und die zweite Laterne und die Decke mit den Milchbüchsen und … stieß mit dem Fuß gegen den Fallschirm …

Zufälle regieren Weltgeschehen und Menschenschicksal.

Ich bückte mich …

Ein Deckenzipfel verhüllte die Laterne, und ich flüchtete in den dunklen Seitengang …

Ich fand mich auch im Dunkeln zurecht.

Schade, mein Fausthieb hatte doch nicht recht getroffen. Sam Fifo meldete sich, sein Wutgebrüll erfüllte die Grotten mit schrillen Schallwellen, dann ein ferner Schrei:

„Morrison, – – Sie leben, – – dorthin entfloh er …! Hier, ziehen Sie das Messer heraus, der Lump hat mich festgespießt!“

Einen Augenblick zögerte ich. Sollte ich umkehren, sollte ich es nicht doch auf einen schnellen Kugelwechsel ankommen lassen?!

Aber – – das Kind!! Mein Kind, – – die Gefahr war zu groß. Niemals durfte ich hoffen, daß diese beiden Kerle so viel Mitleid aufbringen würden, für die kleine Ada zu sorgen, falls mich eine Kugel niederwarf. Mir blieb nur die Flucht, ich hatte jetzt Pflichten, die alles andere in den Schatten drängten.

Und ich schlich eilends und lautlos durch die Felsengänge, nur mit der rechten Hand mich weitertastend, ich gelangte in den westlichen, ansteigenden Stollen, ich berührte Bullys leblosen Körper, – die Zeit ließ ich mir doch, ihn nochmals zu streicheln, dann vor mir die matte Helle des Ausganges, die Terrasse, die Steine der weggeräumten Barrikade, – hinaus ins Sternenlicht, in den eisigen Wind, – ein kurzes Stutzen, Überlegen: Wohin? In das Tal hinab?! Würde ich es erreichen, bis zum Zelt, wo doch der Abhang unter mir jeglichen Mondlichtes entbehrte?!

Über mir – da war Licht …

Da beschien noch die runde Silberscheibe die Zacken und Schlünde und das Horn des Gipfels, dort oben würden sie mich nicht vermuten, dort konnte ich sehen, wo Hand und Fuß einen Halt suchten.

Und ich zauderte nicht. Jede Minute war kostbar, jede Sekunde. Ein prüfender Blick. Kein Neuling war ich im Bergsteigen. Ich fand eine Stelle, die mich rasch dreißig Meter höher brachte, hinein in einen engen Felskamin, wo ich mein Kind mir auf den Rücken binden konnte, um beide Arme frei zu haben.

Mein Kind – – und all das andere.

Und mein Kind schlief den sorglosen Schlaf der satten Säuglinge, mein Kind hatte es warm, ahnte nichts von den Ängsten, die das Herz seines Vaters zernagten.

Dann sah ich die beiden unter mir …

Sah sie vorsichtig wie Füchse aus dem Schlupfloch schleichen, die Büchsen in den Fäusten, auf einen Angriff wartend, der nicht erfolgte.

Dreißig Meter sind nichts bei solcher Hatz.

Ich beobachtete, ich stand im Schatten, ich hätte schießen können, aber selbst für Coldpistolen war die Entfernung zu groß, der Schuß zu unsicher.

Minuten atemloser Spannung folgten.

Würden die beiden schlau genug sein, ebenfalls emporzusteigen, statt mich abwärts zu suchen?!

Morrison schien zu zögern. Er kroch bis zum Abhang, spähte in die Tiefe.

Und da benutzte ich den alten Trick: Ich warf einen Stein im Bogen nach links, so daß er an einer Stelle des Abhangs aufschlug, wo Buschwerk die Aussicht verhinderte.

Der Stein rollte in die Tiefe, und Morrison flog empor, winkte dem feigen, fetten Sam, und hastig begannen sie den mir so willkommenen Abstieg.

Ich verlor sie aus den Augen …

Und suchte mich nun selbst weiter emporzuarbeiten …

Der Berg war grausam, der Felskamin schien das Ende des gangbaren Pfades zu bedeuten, – aber ich mußte es schaffen, hier durfte ich nicht bleiben, ich rechnete bestimmt damit, daß Morrison sehr bald die kleine List durchschaut haben würde.

Bergsteiger wissen es, was es heißt, in der Dunkelheit einen Kamin zu bewältigen. Ich wußte es bis dahin nicht, denn die Zeiten, als ich jung, geschmeidig und gut ausgerüstet Bergtouren unternommen hatte, waren anders als jetzt. Ich trug nur Ledermokassins, ich besaß keinen Eispickel, kein Seil, – – ich war allein, kein Gefährte half mir.

Aber droben über der schmalen Schlucht glänzten die Sterne … Droben war die Rettung, war die Sicherheit …

Ich mußte hinauf!

Minuten wurden zu Stunden …

Furcht folterte mich, wenn nach ein paar Meter Anstieg die Füße und Hände nirgends ein Loch zum Einkrallen fanden.

Hautfetzen und Blut zeichneten meinen Weg. Breitbeinig stand ich über der Tiefe, ein Akrobat ohne Zuschauer, ein Kämpfer um Leben oder Tod. Mein Körper war in Schweiß gebadet, meine Muskeln drohten zu streiken, Anzeichen von Krampfanfällen ließen das Wadenfleisch zucken. Die kaum vernarbte Wunde im Rücken brannte wie Feuer, fader Blutgeschmack klebte mir auf der Zunge …

Da waren enge Ritzen, in die ich den Lauf der Pistolen hineinzwängte … Das waren meine Steigeisen …

Die eine Pistole büßte ich auf diese Weise ein. Ich konnte sie nicht mehr herausziehen.

Noch drei Meter etwa …

Und da – unter mir Stimmen …

Also doch: Sie waren da, und sie konnten mich hier in aller Gemütsruhe abknallen, wenn ich nicht …

Wenn ich nicht …

Und – ich schoß zuerst …

Zwei Schatten verschwanden wieder …

Weiter also …

Zähne zusammenbeißen …!

Nur noch drei Meter …

Und der Kamin hier so eng, daß ich mit den Ellenbogen die Seiten berührte … Wie eine Schlange wand ich mich höher, und eine Schlange hing da über meinem Kopf …

Eine dicke Baumwurzel …

Zupacken …

Versuchen, ob sie hielt …

Sie hielt.

Ich zog mich höher, hatte den Kopf im Freien, sah den Stumpf einer Tanne, sah eine Luftwurzel …

Packte wieder zu …

Surrend, zischend fegte eine Kugel dicht neben mir ins Leere …

Ein Schwung, ein Nachziehen der Beine, und keuchend lag ich auf dem Bauche, – Sterne funkten vor meinen Augen, Feuerräder, rote Felder, wieder Feuerräder …

Ohnmacht griff nach mir …

Aber es durfte nicht sein …

Durfte nicht …

Ich war Wanderer abseits vom Alltag, und die Strolche der großen Einsamkeit haben keine Nerven …

Nur Muskeln und eisernen Willen.

Der Wille siegte, und die Schatten der Kraftlosigkeit wichen wieder.

Ich blickte ringsum.

Ich hatte eine kleine Terrasse erreicht, aus der die eigentliche Bergkuppe als krummes Horn hervorsprang, vielleicht noch achtzig Meter …

Sollte ich dort hinauf?!

War ich hier nicht vorläufig sicher?

Ich erhob mich …

Und da ertönte auf meinem Rücken das plärrende, feine Stimmchen …

Ada war erwacht.

Mein Kind, mein Kind, wenn du wüßtest, was dort unten liegt – mit Blut gezeichnet, mit Hautfetzen …!! Ein Weg der Rettung – – was für ein Weg!!

Und ich schaute mich genauer um …

Teuflischer Hohn dieses Berges: Dort nach Norden … dort … eine Geröllhalde, die ich übersehen hatte, ein schräger, fast bequemer Pfad!!

Peng … peng … peng …

Im Nu lag ich lang.

Peng … peng …

Da kam Morrison empor …

Und das Scheusal Fifo deckte seinen Anstieg mit Schüssen …

Ich reckte den Arm …

Zielte …

Eisige Ruhe erfüllte mich …

Ich drückte ab …

Nur ein Knacken …

Ladehemmung?!

Nein, – – der Patronenrahmen leer …

Ich … Narr!!

An alles hatte ich gedacht …

Aber einen zweiten gefüllten Patronenrahmen besaß ich nicht.

Peng …

Bleispritzer stiebten …

Da kroch ich zurück …

Und in sinnlosem Grimm tastete ich nach Felsbrocken …

Warf … schleuderte … warf …

Titanenkampf aus grauer Vorzeit …

Mit Felsen …

Unter mir ein Schrei, ein Fluch …

Also doch getroffen …! Kein nutzloses Beginnen …

Abermals der Steinhagel …

Ich höre die Brocken abwärts poltern …

Ich höre mein Kind greinen, weinen …

Kind, um dich kämpfe ich …!

Kind, um dich werde ich waffenloser Mann das Letzte wagen.

Gepriesen sei der flüchtige Gedanke, der mich das Eine mitnehmen ließ, – – vielleicht in unbewußt weiser Voraussicht des Kommenden!

Die Terrasse zieht sich als schmaler Grat nach Osten. Und unter diesem Grat ist das Nichts, die Finsternis, die große Leere eines Abgrundes.

Gepriesen sei Morrison, der Henker!!

Zwei Fallschirme verstaute er im Flugzeug …

Den einen zertrennte ich: Seidene Unterwäsche – – Luxus!

Den zweiten trage ich auf dem Rücken …

Jetzt wird er uns tragen …

Es bleibt kein anderer Ausweg. Es muß gewagt werden. Und – noch nie wagte ich es … Im Nu habe ich die Bänder abgestreift, die Traggurte festgeschnallt, habe den Schirm ein wenig geöffnet …

Er ist in Ordnung …

Eine Sekunde des Zögerns …

Peng … peng …

Oho, Herr Fifo – – ziele besser!!

Ein Anlauf … – Und ein Sprung ins Nichts.

Ein blitzartiges Herabsinken, dann ein Ruck …

Der Schirm hat sich entfaltet …

Peng … peng …

Du dummer Schurke …!!

Wir sinken …

Langsam …

Wir schweben … Hinab in das Nichts, das von Bergen umrandet ist … Hinab in die Finsternis … Hinab in den Schlund zwischen steilen glatten Wänden …

Wohin?!

Wohin wohl …?!

 

9. Kapitel.

Kain, der Wolf.

Kain erschlug seinen Bruder Abel, – so steht es im Buche der Bücher zu lesen.

Aber Kain trug seitdem kein Kainszeichen auf der Stirn. Das haben nur die Menschen als Redensart in die Welt gesetzt.

Mein Kain fraß seinen Bruder, und mein Kain trägt ein Zeichen an der Stirn, eine kahle Stelle, eine Wundnarbe, von meinem Pistolenkolben.

Wolf ist Wolf. Kain hatte Hunger, und ich erschlug Abel, seinen Bruder, und er fraß ihn.

So tun es Wölfe, wenn die Rippen im Winter an den schmalen Leibern zu zählen sind und Schmalhans Küchenmeister ist.

Heulend und knurrend rennt das Rudel durch die weißen Einöden, leer die Mägen, Gier im Hirn, Mordlust in den Augen.

Mäuse, Kaninchen, – vielleicht mal ein knapper Happen.

Bis einer des Rudels matt wird, nicht mehr mithalten kann bei der wilden Suche nach Beute, – bis der eine Blut speit, niedersinkt …

Dann fallen die anderen über ihn her, dann zerreißen sie ihn … fressen ihn auf, – Kampf gibt es, – noch andere sinken um mit zerschlitzten Bäuchen, und lebend reißen die Lebenden dem Sterbenden die Därme heraus.

Die Wildnis kennt kein Erbarmen.

Die Menschen erst recht nicht. Zum Morden sind die meisten zu feige, zu zartfühlend … Aber trotzdem vernichten sie einander, und das siegreiche, vollgefressene Rudel heißt dann: Genies der Börse, Syndikat, Trust. –

Ein Wunder war der Schlund.

Wunder voller Tannen, voller Felsblöcke, voller Moospolster.

Und gerade dicht vor dem Loche landeten wir, aus dem der Gestank eines Raubtierkäfigs die feuchtkalte, harzige Luft verpestete.

Eine Höhle …

Wärme also …

Ein Heim für mich und mein Kind. Ganz sanft landete ich mit den Beinen, stand aufrecht, und der Fallschirm wurde schlaff und fiel über meinen Kopf. Ich riß ihn weg, denn ein brennender Schmerz fuhr mir von der linken Wade zum Hirn …

Irgend ein Tier hatte nach mir geschnappt, – ich sah nur unklare Umrisse, aber ich schlug zu mit dem Pistolenkolben, und die Bestie prallte zurück …

Ein Wolf …

Und ein zweiter Hieb, und noch einer, bis das Tier zusammenbrach und stöhnend verendete.

So empfing mich der Abgrund.

Mich, den Mann ohne Waffen, ohne Patronen, ohne Messer.

Das war Abel, den ich erschlug, Abel nannte ich ihn, – nachher fraß ihn Kain, der Bruder.

Kain war vorsichtiger.

Zwei glühende Punkte glotzten aus der Finsternis der Höhle mich an.

Grüngelbe Lichter, Wolfsaugen, – und das war Kain, mit dem ich kämpfte um den Besitz der Höhle.

Ein Mann, ein Kind, ein lebender Wolf, ein toter Wolf, und – – die Tannenschlucht, der Höllenschlund.

„Platz für uns, Wölflein! Raus mit dir! Mein Kind braucht ein Feuer … braucht warme Milch, braucht Sauberkeit … Raus mit dir!!“

Kain knurrte heiser und klappte mit seinen Kiefern.

„Oho – kennst mich schlecht, Wölflein …! Zähnefletschen ist Posse mit leerer Pose! Raus mit dir!“

Die grüngelben Lichter zogen sich zurück.

„Also – Kampf, Wölflein … Also gut!“

Und ich lachte leise, und in diesem Lachen flackerte der Blutrausch.

Ich suchte nach dem Feuerzeug. Der Deckel ist stets gut gefettet, und innen ist Stahlrad und Lunte trocken.

Die Lunte glimmt, und ich kratze von der nächsten Tanne ein wenig klebriges Harz ab, schmiere es an die Zündschnur, blase sie an, und das Flämmchen flackert auf und läßt den Docht der Laterne aufzucken zu spitzer Flamme.

„Raus mit dir, Wölflein …! Ich habe hier jetzt eine Steinkeule, und der Schädel wird platzen wie ein leeres Ei!“

Das Schlupfloch ist niedrig, ich bücke mich, ich bin in der Höhle, richte mich auf …

Ein Schatten fliegt mir entgegen mit heiserem Keifen, ein noch nicht völlig ausgewachsener Jungwolf …

Im Laternenlicht sehe ich die schillernden Augen …

Und – schlage zu, treffe, – aber die Höhlendecke mit ihrem Wurzelwerk der Tannen hat den Hieb halb gebremst …

Aufheulend liegt das Tier am Boden, bewegt zappelnd die Beine, will wieder hoch …

Ich hole zum tödlichen Streiche aus.

Da – – weint mein Kind mit schrillem Stimmchen …

Da blicken mich die Augen des halb betäubten Tieres an wie in stummem Flehen um Gnade.

Der Hieb fällt nicht.

Ein Gedanke an den toten Bully … Eine ferne Hoffnung …

Und ich hole den Fallschirm, löse die Gurte und Stricke, und Kain, der Wolf, wird gefesselt.

Er lebt. Er blutet. Mitten auf der Stirn schimmert der weiße Schädel unter der zerplatzten Haut durch.

Ich lege Ada in einen Winkel, hole einen Tannenast, fege Unrat, Knochen und Schmutz ins Freie und sorge für eine dicke, weiche Moosschicht. Dann flackert ein Feuer auf, Qualm steigt empor, findet droben zwischen den Wurzeln Abzug, und mein Kind wird satt und sauber und … schläft.

Da erst komme ich recht zur Besinnung. Die Nervenanspannung verebbt, und müde falle ich nieder …

Müde … so müde, daß eiserner Wille dazu gehört, erst noch rasch den Eingang zu verrammeln.

Und dann schlafe ich … schlafe ein, der Wolf Kain stöhnt in seinen Fesseln, – – ich schlafe.

Träume …

Fahre empor …

Dünne Lichtstreifen schießen in die Höhle. Es ist Tag geworden …

Der erste Tag in der Wolfshöhle. Die Romantik der Wildnis umgibt mich. Die Höhlendecke besteht aus einem dichten Geflecht von Wurzeln, zwischen denen Steine festgeklemmt sind. An zwei Stellen schimmert das Licht hindurch: Rauchfang! Überall an den Wurzeln hängen wie grauschwarze Klümpchen Fledermäuse. Seltsam, daß diese Flattertiere sich mit den Wölfen so gut vertragen haben. Jedenfalls sind sie da, und sie schlafen. Auch sie sind ein lebendiger Beweis dafür, daß die Horn-Berge nicht mehr zur kanadischen Wildnis zu zählen sind. Auch sie zeigen südlichere Tierwelt an, – droben im Nordland kampierten wir einst in einer Bärenhöhle, und dort waren Wände und Decke mit unangenehmen Mitbewohnern betupft: Moskitos!

Vorsichtig spähe ich durch die Steinbarrikade des Eingangs ins Freie. Dunkle Tannen, grünbemooste Felsen, eine Quelle, steile dunkle Wände und der tote Jungwolf – das ist alles, was ich erblicken kann.

Kain, der Blessierte, liegt mit seinem hellen Verband um den Kopf regungslos auf seinem Mooslager. Ada schläft noch.

Ein Mann, ein Kind, ein gefesselter Kain und die Fledermäuse bilden die Insassen der kleinen Grotte unter dem Wurzelwerk riesengroßer Tannen. Eine seltsame Bewohnerschaft, vielleicht die einzigen hier in diesem Felsenschlund, in den der gnädige Fallschirm mich mit meinem Kinde hinabtrug. Vielleicht … Ich traue dem Frieden da draußen nicht, ich traue Morrison und Fifo alles zu. Ich kenne die Steilwände nicht, irgendwo muß es hier einen Ausgang geben, den die Wölfe benutzten. Wenn die Feinde draußen lauern, schießen sie mich tot, sobald ich mich zeige.

Ich habe Zeit. Ich habe Pflichten. Und ich nehme Holz vom gestern nacht gesammelten Vorrat und fache ein Feuer an. Die feuchtkühle Luft erwärmt sich, der Hunger meldet sich bei mir, aber mein Magen wird warten müssen. Erst Ada …

Das Glück, mein Kind wieder bei mir zu haben, gibt mir Spannkraft und Güte. Ich sehe, daß Kain die Augen offen hat, ich bücke mich, streichele ihn, spreche zu ihm, er schnappt nach meiner Hand, aber ich liebe die Tiere, und ich weiß, wie man sie behandeln muß. Geduld gehört dazu. Meine Hand ist stärker als die Wildheit Kains, der in dem Menschen den schlimmsten Feind sieht. Der Verband ist festgeklebt, und ich rühre nicht weiter daran. Nachher werde ich Wasser holen.

Klein-Ada ist erwacht und kräht. Der Fallschirm muß daran glauben, denn ich brauche Windeln. Ich muß den Stoff zerreißen, mir fehlt ein Messer, ich verwünsche meine Gedankenlosigkeit, die Sam Fifos Hand an den Tisch angespießt hat. Ich spiele Vater und Mutter, – Säuglinge von acht Wochen sind hilflose Wesen, die Sauberkeit verlangen. Über dem Feuer hängt eine Blechbüchse, und als Klein-Ada erst die Flasche in den Fingerchen hält und saugt, kann ich an anderes denken.

Wieder spähe ich hinaus. Droben über der Schlucht muß die Sonne scheinen. Selbst hier unten ist es sehr hell. Eine Bachstelze läuft durch das Geröll, eine zweite folgt, vor dem toten Wolf stutzen sie, aber der Instinkt sagt ihnen, daß es nur ein Kadaver ist, der dort starr und steif liegt. Sie trippeln eilfertig weiter, und zwischen den Wurzeln drüben taucht ein Kaninchen auf, äugt umher und knabbert Gräser. Wenn sich Kaninchen hier in der Schlucht eingenistet haben, sage ich mir, kann die Wolfshöhle nicht ständiger Schlupfwinkel einer Familie der ewig hungrigen Bestien gewesen sein. Ich nehme an, daß die beiden Jungwölfe nur kurze Zeit hier hausten, nachdem sie sich von der Familie getrennt haben und selbständig geworden sind. Andererseits bewiesen mir die Bachstelzen und die Kaninchen, daß Morrison und Fifo mir nicht gefolgt sind. Ich räume also die Steine weg und wage mich ins Freie hinaus. Ich bin behutsam wie ein scheues Tier, ich sehe die Schlucht zum ersten Male bei Tageslicht, und ich stelle fest, daß ihre Sohle kaum fünfzig Meter breit ist und ihre Länge vielleicht zweihundert Meter beträgt. Schritt für Schritt wage ich mich weiter, prüfe die Felswände, und ihre Glätte und Höhe befriedigt mich. Hier hinab gelangt kein Mensch mit Hilfe von Lassos, und das beruhigt mich.

Nach Westen zu ragt „das Horn“ in den blauen, klaren Himmel, ich kann den Felsgrat erkennen, von dem ich den Sprung in die Tiefe wagte. Dann folge ich dem ausgetretenen Wildpfad zu einem Gestrüpp an der Ostwand, und hier finde ich hinter Dornen, Jungtannen, Birken und Brombeeren, die voller reifer Früchte sind, im Gestein ein schmales Loch, einen Felsengang, so niedrig, daß man kriechen muß, wollte man sich hindurchzwängen.

Verschiedene Anzeichen sprechen dafür, daß Kain und Abel hier aus und ein gingen. Es wird dies also die einzige Verbindung zur Außenwelt sein.

Flüchtig kommt mir der Gedanke, sie zu versperren. Aber ich überlege und gelange zu der Überzeugung, daß dieses Schlupfloch von Morrison und Fifo kaum entdeckt werden könnte. Es ist ratsamer, ich untersuche es. Dieser Stollen ist kein bequemer Weg, ich muß kriechen, nur stellenweise kann ich gebückt gehen, und in dieser Finsternis des gewundenen Weges taste ich mich blindlings vorwärts und gelange schließlich ins Freie und in einen Hügel von Steinschutt und Steinblöcken, – – und sehe das kahle Tal vor mir, sehe rechts von dem Felswinkel das Zelt der Feinde, daneben die Schlittenhunde, die faul in der Sonne liegen. Es sind gut fünfhundert Meter bis dorthin.

Nun weiß ich Bescheid.

Nicht lange, und Morrison tritt aus dem Zelt und hinter ihm – ich traue meinen Augen nicht – ein Weib – – die Blonde, rank und schlank, Weib der Wildnis in Leder, aber das Gesicht bleich, verzerrt.

Der dürre, lange Kerl mit den Kräften eines Stieres steht vor ihr … Schlingt plötzlich die Arme um ihren Leib und preßt sie an sich, trägt sie wie ein Püppchen davon, und beide nähern sich mir, verschwinden hinter einem der zahlreichen Steinhügel, und das Weib hing schlaff und matt in den Eisenarmen.

Was bedeutet das?!

Für mich ein neues Rätsel, aber keine Hilfe … Ich bin waffenlos. Und mit James Morrison sich auf einen solchen Kampf einlassen, das wäre Wahnwitz. Millionär, reichster Mann von Helena soll er sein. – Helena: Stadt im Westen irgendwo, Kalifornien, an irgend einer großen Bahnstrecke. Mehr weiß ich nicht. Millionäre sind für gewöhnlich keine Athleten. Der Mann ist mehr als das. Der muß sich trainiert haben, der muß auf dem Pferderücken gut daheim sein, der besitzt vielleicht endlose Farmen, kleine Königreiche, in denen er sich austoben kann. Was weiß ich von ihm?! Nur eins: Ein Bulle, ein Tiger!!

Aus meinem Versteck hervor belauere ich die Vorgänge im Tal. Und jäh gellt da ein Schrei, – – Weiberkehle, – – jäh fällt da ein Schuß – noch einer, und die Blonde in ihrem schnittigen Lederanzug erscheint vor der Felsgruppe – ohne den Schlapphut, in der Hand eine Pistole, jetzt nur noch dreihundert Meter entfernt.

Matt lehnt sie am Gestein, die Linke auf die Brust gepreßt, – rafft sich auf, flieht gen Norden, und drüben vom Zelt her … peng … peng … peng …

Du kläglicher, fetter Narr, weshalb verschwendest du Patronen?! Die Frau ist längst in einer Mulde untergetaucht, Steinhaufen decken sie, gerade dort liegt das Geröll in Zentnerstücken.

Sam Fifo bindet die Hunde los. Aber es sind unsere Schlittenhunde, und Sam Fifo mag Flöhe dressieren können … Mit Hunden kann er nicht umgehen, die Hunde gehorchen nicht, faul trotten sie zur Seite, und als er Steine hebt und wirft, springen ihn ein paar der Rüden an, und der Feigling verkriecht sich im Zelt.

Wirklich, ein feiner Kumpan, der Sam!!

Aber – Sam Fifo ist nichts gegenüber dem, was sich hier ereignet.

Ich habe nichts gesehen, nichts gehört, – plötzlich ist sie da – – die Blonde …

Ein Bild, das bezaubert …

Wie aus dem Boden wächst sie hervor, ihre Waffe droht, die hellen heißen Augen beißen sich fest in meinem Gesicht.

„Keine Bewegung – – keinen Laut!!“ Ihre Stimme schwirrt wie eine zu straff gespannte Saite. „Sind Sie Smith? –Schnell, antworten Sie!“

„Smith – ja … Und Sie?!“

Das schmale, kerngesunde, leicht gebräunte schöne Gesicht wird sanfter.

„Ah – ich dachte es mir … Sie leben also!! Morrison wird sofort hinter mir her sein … Was tut diesem Untier ein Streifschuß?! Aber meine Fährte wird er kaum finden … Fragen Sie nicht viel! Wohin führt das Loch da?“

Etwas sehr Selbstbewußtes ist in ihrer ganzen Art, – ein Weib besonderen Schlages fordert Aufschluß.

Diese Blonde jedoch ist Feindin. Weiber lügen, Männer trügen. Ich traue ihr nicht.

Sie lachte leise, ein schneidendes, unbarmherziges Lachen.

„… Ich lese Ihre Gedanken … Wer ich bin?! Habakuk Douglas Tochter und Morrisons Frau dem Namen nach – Frau eines gemeinen Schuftes, der leider noch immer lebt … – Entschuldigen Sie, es klingt sehr brutal: Schuft!! Diese Felsen ringsum nehmen keinen Anstoß daran, und Wahrheit bleibt Wahrheit.“

Die Sonne bescheint ihr Profil, ihr Haar ist wie gesponnenes Gold, aber ihr Mund mit den süßen Lippen zeigt die Härte einer Vollnatur.

„… Wahrscheinlich glauben Sie mir … Sie kennen mein Schicksal nicht … Ich … wurde verschachert, und den, den sie wirklich liebte, brachte Morrison ins Zuchthaus, damit für ihn der Weg frei würde. Das Leben, Mr. Smith, dichtet noch immer die tollsten Romane, von denen die Welt nur in kurzen Zeitungsnotizen abgestumpft Kenntnis nimmt und … rasch vergißt. Ich vergesse nie. Was er mir angetan hat, war die widerwärtigste Komödie … Ein Millionär – – Millionen ausstreuend, und ein Mädchen, das blind war. Ich wünschte, ich besäße keinen Vater …!“

Ein unendlich bitterer Zug erschien in ihrem Gesicht. Blitzartig begriff ich da in groben Umrissen diese Tragödie eines Mädchens, das wahrhaft geliebt hatte und das sich offenbar dann für den Vater aus noch unbekannten Gründen geopfert hatte.

Ein lauter Ruf von drüben, wo vorhin die Schüsse gefallen waren, trieb mich zur Eile an.

„Folgen Sie mir“, sagte ich hastig. „Oder nein, – kriechen Sie voraus, ich muß diese Öffnung maskieren. Schnell, – zögern Sie nicht … Ich meine es gut mit Ihnen.“

Sie gehorchte. Sie war flink und geschmeidig, sie besaß die Kraft der urwüchsigen Blumen, die den ersten Nachtfrösten siegreich widerstehen. Sie war größer als Elly Mac Intock, sie war die schönere, reizvollere, sie hatte neben all der gesammelten Energie den verführerischen Charme eines temperamentvollen Weibes.

Es lagen hier genug Steine und Felsplatten umher, die für meinen Zweck brauchbar waren. Ich trug sie neben den Stolleneingang, schob mich mit den Füßen voran in den Gang hinein und häufte Steine und Platten zwanglos auf. Ob Morrison neben seiner Tigerstärke auch die Augen eines Fallenstellers besaß, bezweifelte ich. Er würde an diesem Steinhaufen nichts Besonderes finden und nie ahnen, daß die Natur hier einen Zugang zu dem Abgrund drüben geschaffen hatte.

Trotzdem wartete ich hinter dem Steinhügel eine geraume Weile. Mir lag daran, festzustellen, ob wir uns vorläufig sicher fühlen durften.

Ich hörte Stimmen, – meine einzige Sorge war, daß Morrison und Fifo vielleicht einen der Hunde auf des blonden Weibes Spur setzten. Ich hörte Morrison fluchen, – Fifos Stimme kreischte dazwischen, die beiden waren sich wohl in die Haare geraten, – die Stimmen entfernten sich wieder, Hundegeheul lebte auf, wüstes, wildes Bellen folgte, Schüsse fielen …

Man brauchte nicht viel Phantasie zu besitzen, um herauszufinden, daß unsere Rüden sich gegen ihre neuen Herren auflehnten …

Nichts geschah weiter, und ich trat den Rückweg an. Als ich in der Schlucht anlangte, war das erste, was ich sah, der Wolf Kain, der ohne Fesseln auf unsicheren Beinen in ein Gestrüpp flüchten wollte. Er war noch sehr matt, er schleppte sich nur vorwärts, er bemerkte mich, stand still, sein Rückenhaar sträubte sich, aber ruhig schritt ich auf ihn zu, sprach zu ihm und streichelte ihn. Er hatte sich niedergesetzt. In seinen Augen war noch der Haß des Wildlings und die Furcht vor dem Menschen, aber auch ein geringer Schimmer von Demut, Kraftlosigkeit und Unterwerfung. Den Stirnverband hatte er abgestreift, die weiße, rotblau umrandete Schädelwunde leuchtete mich an wie ein Vorwurf, und als er einmal den Versuch machte, nach meiner Hand zu schnappen, preßte ich ihm ebenso schnell das Maul zusammen, bückte mich und preßte seine Schnauze in meine Achselhöhle und ließ ihn den Schweißgeruch des Menschen einatmen. Ich hatte diesen kleinen Trick von den Eskimos und Fallenstellern gelernt, die einen fremden Hund gekauft hatten und ihm klar machen wollten, wer fernerhin sein Herr sei.

Kain hielt ganz still. Und ich fuhr ihm durch das Genickhaar, kraute ihm unter der Kehle und sprach weiter zu ihm, flüsterte ihm den Namen Kain in die hochgestellten Ohren und richtete mich dann auf.

Plötzlich erschien die blonde Frau, die Pistole schußbereit, – – und stutzte, rührte sich nicht. Maßloses Erstaunen weitete die hellen, blanken Augen. In dieser Umgebung, zwischen diesen bemoosten Blöcken und Riesentannen mit langen Flechtbärten und den abgestorbenen unteren Ästen, glich sie einer wunderschönen Phantasiegestalt aus einem Indianerroman – etwa einem Farmermädchen, das voller Stolz die selbstgefertigte Ledertracht trägt und unbewußt mit der natürlichen Grazie ihrer Haltung kokettiert.

„Und ich wollte ihn erschießen …“, sagte sie nur und senkte den Arm mit der Waffe. „Der Wolf da hat ja einen anderen halb aufgefressen.“

Ein Blitz der Angst fährt in mein Hirn.

„Und – das Kind?!“

Da lächelt sie mütterlich-glücklich.

„Oh, das Kind schläft nicht mehr …“ Sie errötete plötzlich bis unter die Stirnhaare, dreht sich um und eilt um die grüne Felsgruppe.

Vielleicht war sie nie so schön wie in diesem Augenblick, als ihr das Blut so heiß ins Gesicht stieg – – Weshalb?!

Die Natur gibt zu dieser Szene ihren herrlichsten Beleuchtungseffekt. Die Sonne hat sich hinter einer der Bergzacken hervorgeschlichen und gießt ihr blendendes Licht in verschwenderischer Fülle über den Abgrund, der nur immer für kurze Stunden diese Wärme und diese Freude der Helle kennenlernt.

Merkwürdig, – die Frau errötet. Weshalb? Weiß sie etwas über mein Kind, über dessen Herkunft und Schicksal?! Verbindet sie meine Person mit diesem Kinde irgendwie zu einem heißen Erlebnis, bei dem kein Standesbeamter die eheliche Liebe sanktionierte?! Ist sie so mädchenhaft scheu und zart, daß schon der Gedanke an eine wilde, heiße Liebe sie erröten läßt?! Sie ist doch Morrisons Frau!! – Ich verstehe das alles nicht.

„Wölflein“, sage ich ein wenig verwirrt von dem soeben Erlebten, „du hattest Hunger, und du hast deine Fesseln zerbissen und mein Kind geschont und deinen Bruder gefressen. Du heißt Kain, dabei bleibt es, und du wirst mein Kain werden – so, wie ich dich nannte, bevor noch dein Hunger sich meldete.“

Als ich meine streichelnde Hand fest in sein Nackenhaar vergrabe, als ich ihn mit mir ziehen will, widersetzt er sich.

Es dauert Minuten, bevor ich durch reine Güte seinen Widerstand überwinde und ihn zwinge, mir zu folgen. Dicht an meinem rechten Schenkel liegt sein mißhandelter Kopf, aus seiner Brust kommt ein Stöhnen, als ob er sich schäme, der stärkeren Macht der Unterwürfigkeit gegen den Erbfeind Mensch nachgegeben zu haben.

 

10. Kapitel.

Maria Morrison.

„… Und weshalb tauften Sie ihn Kain?“, fragt Maria Morrison eine Stunde später, als wir draußen im Tannenrund im Moos in der Sonne sitzen und Adas neue Wiege zwischen den Ästen pendelt. „Es ist doch gerade kein schöner Name, Mr. Smith, das müssen Sie zugeben. Warum nicht Abel?!“

Abel?!

Kain und Abel …!

Und hier neben der blonden Maria sitzt ein Abelsen. Soll ich ihr erklären, daß der Herr und sein Wolf nicht gut Abelsen und Abel heißen konnten?!

Es wäre weit angebrachter, sie erzählte mir, wie sie es möglich machte, Klein-Ada zu sättigen, denn das Kind schläft dort im Sonnenschein, und sein rosiges Gesichtchen schaut aus reinen, weißen Leinen heraus, das sehr verdächtig von einem zarten Frauenhemd zu stammen scheint.

Es ist ein wunderbar schöner Herbsttag, und unser Abgrund enthüllt im Sonnenlicht ungeahnte Schönheiten. Vielleicht gleicht er der Szenerie aus der Wolfsschlucht im „Freischütz“ bei unvorschriftsmäßig grellem Lampenschein. Aber dies hier sind keine Pappkulissen, das hier ist echt bis ins kleinste, echt ist der Harzduft, der uns umweht, echt das Murmeln der Quelle und das Säuseln der Tannenwipfel, in denen die dunkelbraunen Eichhörnchen hin und her flitzen und so gar nicht menschenscheu sind. Echt die Berghäupter ringsum, die meisten kahl und dunkel, einige bedeckt mit niederen Waldstreifen, fast alle auslaufend in leicht gekrümmte Hörner.

Die Sonne des Herbstes brütet heiß hernieder und läßt die bemoosten Felsen kräftig atmen. Der Odem des Bodens ist würzig und berauschend, irgend ein feiner, ganz feiner Frühlingshauch scheint die Schlucht zu durchziehen.

Maria Morrison ist meinen Fragen bisher geschickt ausgewichen. Freilich, die eine Stunde, die wir uns nun persönlich kennen, war ausgefüllt mit mancherlei Arbeit. Als ich mit Kain die Höhle erreichte, fand ich Maria in dem luftigen Schlupfwinkel, das Kind im Schoße. Ich band Kain draußen fest und trug die Reste seines Bruders in den nördlichen Winkel. Dort mag er später den Kadaver vollständig verzehren. Wir haben keinen Überfluß an Fleisch. Drei Kaninchen mußten daran glauben, und während das eine rasch über dem Feuer briet, richtete ich die erste Frage an Maria.

„Wo sind Jörn und Elly Mac Intock, die Fliegerin?“

„In den Grotten …“

Das war alles. Sie beschäftigte sich mit dem Kinde, meinem Kinde, und ihre karge Antwort entfremdete uns, die wir doch aufeinander angewiesen waren.

Es wurde eine schweigsame Mahlzeit. Aber Maria durfte nicht glauben, daß ich mich mit so knapper Auskunft zufrieden geben würde.

Dann gingen wir zu der kleinen Lichtung in den warmen Sonnenschein, und Kain, der Wolf, frisch verbunden und sicher angeseilt, lag neben der schaukelnden Wiege aus Tannenzweigen.

Maria begann über den Namen Kain abfällig zu urteilen. Das war die Einleitung.

Maria saß da, die Hände um die hochgezogenen Knie geschlungen, und wartete wohl auf das, was kommen mußte. Ich hatte sehr viel zu fragen.

„Ich denke, zwischen uns beiden müßte volle Offenheit herrschen“, sagte ich ohne jede Schärfe. „Klären wir zunächst das Naheliegende, Frau Morrison …“

Sie blickte mich kurz am „Nennen Sie mich Maria, – ich hasse den anderen Namen.“ In ihrem Ton war mehr Schmerz und Bitterkeit als Haß. „James Morrison und mein Vater stehen mir so fern … wie … Fremde … Es ist traurig, – es ist so!“

„Gut, – also Maria … Und dann – nennen Sie mich nicht Smith, sondern sagen Sie Olaf … Das genügt. Smith ist nichts, Olaf ist etwas – – zur Zeit Ihr Kamerad, Maria, und bei Gott, kein schlechter Kamerad.“

Sie hatte mich seltsam starr gemustert.

„Sind Sie … Abelsen?!“

„Ja. – Woher kennen Sie den Namen?“

„In Edmonton sprach man von Ihnen … Auf dem Dampfer auf dem Mackenzie erzählte man von seltsamen Dingen …“

Ihre Augen suchten die Wiege.

„… Sie haben also das Kind da großgezogen, Olaf, – Sie sind der, den man als Freund der kanadischen Polizei rühmte …“

Ich mußte lachen – zwanglos, gutmütig. „Ja – als Oskar Smith war ich sehr intim mit den Braven aus Fort Maupherson, ganz recht. Als Abelsen?! Hinter mir her läuft ein Papierwisch, Maria … Mörder soll ich sein. Im Grunde danke ich es diesem Steckbrief, daß wir hier wie die Helden einer Wild-West-Geschichte sitzen und die Berge die Ohren spitzen bei unseren Worten. Vielleicht haben diese Berge schon früher Wild-West kennen gelernt …“

Maria nickte. „Ja – im Jahre 1862 zogen sich die Reste der Sioux-Indianer, die noch in Dakota frei umherstreiften, hierher zurück. Ich weiß es, Olaf, denn …“ – und sie brach plötzlich ab. „Ich möchte darüber nicht sprechen, Olaf, – würden Sie Ihr Wort brechen?!“

„Nein. – Aber bleiben wir bei dem, was jüngste Vergangenheit ist. Es waren noch sechs Konservenbüchsen Milch vorhanden, als ich mit Ihnen zusammentraf, Maria. Und die sechs Büchsen sind noch da, aber Ada ist … satt. Erklären Sie mir dieses Rätsel. Eine Milchhalle dürfte es hier nicht geben.“

Ich hatte absichtlich den scherzenden Ton gewählt. Niemals hätte ich die Wirkung meiner Worte erwartet. Die Frau an meiner Seite erbleichte, wurde dann wie von einem Krampf geschüttelt und brach in Tränen aus. Aufschluchzend preßte sie die Hände vor das verzerrte Gesicht und stammelte in hilfloser Abwehr:

„Schonen Sie mich – – schonen Sie mich! Vielleicht bin ich nicht besser als der, den ich meinen Gatten nennen muß!“

Dann sprang sie empor, riß Ada aus der Wiege und drückte das Kind in leidenschaftlicher Erregung an sich. Sie kehrte mir den Rücken zu, aber aus dem Heben und Senken ihrer Schultern ersah ich, wie fassungslos sie weinte.

Ich war bestürzt. Diese Frau blieb mir Geheimnis. Konnte ich es wagen, sie in diesem Zustande noch nach all dem anderen auszuforschen, was mir so sehr am Herzen lag? Wo waren Jörn und Elly, wo waren Justus Napy und Milli?! Was war überhaupt in den Grotten vorgefallen?!

Maria tat mir leid. Ich ahnte, daß ihre Seele durch eine qualvolle Tragödie vergiftet war, die nicht nur die Heirat mit dem ungeliebten Manne zum Inhalt hatte.

Was denn mehr als dies?! Was war ihr außerdem noch angetan worden?! Wie kam sie dazu, sich selbst anzuklagen und sich mit einem Burschen wie Morrison auf dieselbe Stufe zu stellen?!

Sie tat mir unendlich leid, ich deutete ihre Zärtlichkeit gegenüber Ada wohl richtig, wenn ich annahm, daß das unschuldige Kindlein ihr in diesem Aufruhr seelischer Nöte als Trost am nächsten stände.

„Maria, – ich werde nichts mehr fragen“, sagte ich dicht hinter ihr, und die Sonne verschmolz unsere Schatten zu einem einzigen dunklen Fleck auf dem grünen Moos. „Es gibt auch Wichtigeres als das Vergangene“, suchte ich sie abzulenken. „Ich nehme an, daß Jörn und Elly und Napy und Milli Gefangene Morrisons sind …“

An ihrer jähen Kopfbewegung erkannte ich ihr plötzlich erwachtes Interesse. Ihr Tränenstrom versiegte, in ihren Armen ruhte mein Kind, und ihre leise Stimme bat um Auskunft. „Wer ist Napy? Wer ist Milli?“

„Das hieße weit in Verflossenes zurückgreifen, wollte ich Ihnen erschöpfend antworten. Jedenfalls sind es die, denen ich die kleine Ada anvertraute … Ich vermute, sie kamen mit einem Dampfer den Mackenzie hinab und mögen irgendwo hier in der Nähe gehört haben, daß Morrison und Fifo uns belagerten. Gibt es hier einen Ort am Flußufer, eine Anlegestelle? Ist der Mackenzie wirklich so nahe?“

Sie hatte sich wieder in der Gewalt. Behutsam tat sie das Kind wieder in die Wiege zurück und wandte sich mir zu, trocknete ihre Augen und sagte seltsam hart:

„Ich schäme mich meiner selbst!! Bin ich noch Maria Douglas, die man am Großen Salzsee stets die tolle Maria nannte?! Ich und weinen?! Bei Gott, Olaf, ich hatte keine Tränen mehr, seit Monaten nicht. Man hat mich seelisch ausgepreßt, hat alles Gefühl in mir ertötet. Aber – davon ein andermal! Ob es einen Ort hier am Mackenzie gibt? Ja – der Fluß ist keine zehn Meilen entfernt, und im Süden dieser Berge fließt der Patamak vorüber, vielleicht der reißendste Bach, der seine Wasser dem großen Flusse sendet. Patamak heißt das Urwaldstädtchen, ein Lager von Holzfällern und wilden Flößern ist es, die Dampfer legen dort an, ein Kohlenbergwerk primitivster Art ist in der Nähe. Dort verließ auch ich den Dampfer. So war es vereinbart mit meinem Vater. Hier bei Red Hand sollten wir uns treffen … Aber Sie wissen ja nicht, wer Red Hand ist: Der letzte der Sioux vom Stamme der Dakota-Völker, ein Greis, so alt, daß er seine Jahre nicht zählen kann, aber ein Freund meines Großvaters mütterlicherseits.“

Und das sprach sie mit einem gewissen Stolz.

„… Ich bin eine geborene La Grange mütterlicherseits, und La Grange, mein Großvater, war der eine einzige Weiße, der Mitleid mit der verfolgten Urrasse der Indianer hatte. Fragen Sie in den Prärien bis zum Felsengebirge nach Harry La Grange, dem Indianerhändler, und alte Leute werden Ihnen Romane erzählen, die wahr sind.“

Sie legte mir mit sanftem Druck die Hand auf den Arm. „Olaf, erst hier bei Red Hand erreichte mich die Nachricht von dem ungeheuerlichen Betrug, den mein eigener Vater an mir begangen hatte. Verschachert hat er mich an Morrison, eine Million war der Kaufpreis, mitgeholfen hat er, den anderen Harry La Grange ins Zuchthaus zu bringen – den, den ich liebte, Olaf, dem niemand gleichkommt und den man doch vor Gericht schleppte in der Salzsee-Stadt: Morrisons und meines Vaters Werk, das weiß ich nun! Durch Red Hand!“

Auf ihren flammenden Wangen erschienen die scharf abgegrenzten Flecken höchster Erregung.

„Olaf“ – ihre Finger krallten sich in meinen Ärmel – „der, den ich liebe, kannte Red Hands Versteck … Er war ja ein La Grange, und die Sioux waren dankbar. – – Fragen Sie, fragen Sie jetzt, Olaf, denn meine Seele hat Flügel bekommen, die Wahrheit drängt zum Licht … Er war feige, mich in besseres Licht zu rücken … Das Licht ist Sonne, und die Sonne lügt nicht. Fragen Sie!“

Sie war schön in dieser Erregung, berauschend schön.

Ich begann zu begreifen, daß ein Kerl wie Morrison, der keine moralischen Hemmungen kannte und der nur dem Triebe folgte und dem ungezähmten Übermaß seiner Tigerkräfte, alles daran gesetzt hatte, dieses Mädchen zu erringen.

Aber – zu einer Frage kam es nicht …

Wir hatten schlecht acht gegeben auf das verdächtige Verhalten Kains, des Wolfes, und als Kain jetzt aufsprang und mit gesträubtem Genickhaar ins Dickicht äugte, sah ich die beiden Büchsenläufe – – zu spät.

„Hände hoch!!“

Und als ich zauderte, riß mir eine giftig summende Kugel einen Hautfetzen vom Ohrläppchen ab.

Hohnlachend stolperte der fette Fifo heran. Kichernd nahm er die Riemen, und als ich wehrlos war, spie die Kröte mir vor die Füße …

„So, Mr. Zuchthäusler, – – wie schaut nun die Weltgeschichte aus?!“

Gehorcht hatten sie …

Mit dem Mr. Smith war es nichts mehr. Sie wußten, wer vor ihnen stand.

Maria war totenbleich.

Totenbleich schaute sie dem sich langsam nähernden Morrison entgegen.

Steinernen Gesichtes trat er vor sie hin.

Unheimlich war der kalte Glanz dieser Mörderaugen.

„Du hast zu viel geschwatzt, mein Liebling“, sagte er genau so eisig, wie seine Miene es war. „Du hast diesem da sein Todesurteil gesprochen … Ich kann keine Mitwisser brauchen … – Sam, der Ast dort ist günstig … Mache den Lasso fertig. Wir können uns hier nicht lange aufhalten. Das Verschwinden der … –“ – und da biß er sich wütend auf die Lippe, – er hatte ebenfalls zu viel geschwatzt.

Ich ahnte dunkel: Die Freunde waren frei!!

… Und vermutete doch gänzlich Falsches.

Dann wollten sie mich aufknüpfen.

Ich hatte die Umgebung beobachtet …

Kain, der Wolf, war entschlüpft … Sein Strick war zernagt.

 

11. Kapitel.

Die Schlinge.

… Mich aufknüpfen …

Eilfertig hatte der dicke Sam den spitzen Felsen erklettert und den Lasso an dem Ast befestigt.

„Mörder!!“, kreischte Maria … „Mörder!! Du hast auch mein …“

Morrisons Eisenfaust fuhr ihr an die Kehle. Im Nu hatte er ihr sein Taschentuch in den Mund gezwängt, warf sie zu Boden, fesselte ihr auch die Füße.

Ohne ein Wort zu sprechen, ohne Erregung, kaltblütig, herzlos, versteinert.

Wortlos packte er mich, – in seinen Armen waren meine hundertfünfzig Pfund ein Nichts.

Wie ein Bündel warf er sie über die Schulter und erklomm den Felsen – ruhig, gelassen, besonnen jeden Schritt prüfend, damit er nicht ausglitte.

Oben auf der Felskuppe, zwölf Meter über dem Boden, legte er mir die Schlinge um den Hals …

Der Lasso war so lang, daß ich beim Absturz fast den Boden berühren mußte. Und deshalb hing der Riemen schlaff, baumelte mir vor dem Gesicht.

Der Tod stand neben mir – dichter denn je.

Und der Wille zum Leben erwachte.

Keiner – und die es behaupten, lügen – keiner wird angesichts solchen Todes nicht jene Angst verspüren, aus der dann der Wille zum Leben erwacht und anschwillt zu verzweifelten Gedanken, die nach einem Ausweg zur Rettung suchen.

In James Morrisons schweigender Brutalität lag ein Zug ins Große.

Das war kein Verbrecher von Dutzendmaß, der war ein Gigant der Verderbtheit, ein Mensch, der innerlich aus Erz gegossen war und eiskalt blieb …

Nicht ein Wort sprach er.

Drüben lag Maria – halb bewußtlos vor Grauen …

Drüben hing meines Kindes Wiege, und vor meinem Munde lag der Riemen.

Ich … biß zu.

Ganz fest …

Ich fühlte, daß Morrison sich vorbeugte, um mich hinabzuschleudern.

Und da – Wink des Schicksals – schrie ganz leise mein Kind …

Strampelte in der Wiege …

Schrie lauter …

Als ob es ahnte, was mir drohte.

Morrison wandte den Kopf …

Zögerte …

Und … lachte dann …

Ein unmerkliches, erfrorenes Lachen …

„Auch solch ein Balg!“, sagte er höhnisch – – und dann flog ich von seinen Schultern ins Leere …

Biß die Zähne noch fester zusammen, daß mir die Kiefernmuskeln schmerzten …

Ein Ruck …

Der Riemen glitt mir trotz allem durch die Zähne …

Die Schlinge zog sich zu …

Ich pendelte hin und her …

Und … ein Schuß knallte – – noch einer – – irgendwo …

Ich fiel in das Moos …

Ich lag still …

Nicht erwürgt, nicht einmal ohne Bewußtsein.

Bewußt hörte ich von Norden her aus dem Dickicht eine Stimme, die hell und klar die Schlucht erfüllte:

„Morrison, hüte dich!! Hüte dich!!“

Nichts mehr …

Nur das:

Morrison, hüte dich!!

Aber die Wirkung war wie ein Blitzschlag …

James Morrison schnellte herum. Ich sah es.

Todesschrecken kerbte sein Gesicht, verfärbte es …

Auch die elende Kröte Sam stand zitternd da.

Auch Maria hatte den Kopf gehoben …

Ein überirdisches Lächeln flog über ihr weißes Antlitz, in ihren großen Augen war ungläubiges Staunen zu lesen …

Doch Morrison, Kerl aus Erz, überwand den ersten Schreck …

„Ihm nach, Sam, – – ihm nach …!!“

Er glitt vom Felsen herab, packte Maria, riß sie hoch, trug sie als Schild, stürmte davon …

Still ward es um mich her.

Minuten verträufelten in die Ewigkeit …

Ich horchte …

Ich saß aufrecht …

Und wieder verrannen Minuten …

Bis ich mir bewußt wurde, wie töricht ich handelte …

Freiheit – –, – und ich krümmte mich zusammen, – mir waren die Hände auf dem Rücken gebunden, aber die Arme trotzdem nach vorn zu schwingen, war nicht schwer …

Meine Zähne schmerzten … Die Knoten lösten sich …

Ich war frei. Dort lag Marias Pistole, – dort ihr Messer …

Ich hatte Waffen … Und ich war frei.

Ich glitt durch das Tannendunkel – hin zum Stollen … Ich sah die frischen Spuren, die mir verrieten, daß Morrison und Sam die Schlucht verlassen und Maria gezwungen hatten, vor ihnen her zu kriechen … Ich fand einen Stein, der wie ein Keil in das Loch paßte, ich nahm eine geknickte Jungtanne, stützte sie gegen den Stein, verkeilte mit Felsstücken die Löcher, die noch verblieben waren, suchte einen zweiten Baum, einen dritten, beschaute mein Werk und wußte, daß der Zugang versperrt war, wußte auch, daß der Mann, dessen Kugeln vorhin so unheimlich sicher den Riemen, an dem ich pendelte, zerfetzt hatten, auch Maria schützen würde.

Ich mußte abwarten, was weiter geschah. Ich durfte mein Kind nicht verlassen … Ich hörte das feine Stimmchen bis hierher.

Viel zu lange hatte ich Ada schon der Gefahr ausgesetzt, daß etwa Kain, der Wolf, sie als Speise dem toten Bruder vorzog.

Ich lief zur Tannenblöße zurück, und – – unter der Wiege, ich traute meinen Augen nicht, lag Kain, – – lag wirklich Kain, der Wolf, und nagte an dem Hinterviertel seines Bruders Abel.

Ich stand still.

Da erst fiel mir ein, was weder Maria noch ich vorhin bedacht hatten: Daß Kain, der Wolf, als er doch so lange in der Wolfshöhle allein gewesen, nicht das Kind angerührt, sondern von dem Kadaver gefressen hatte.

Ich stand ganz still und beobachtete und überlegte.

Ada greinte, strampelte, plärrte …

Und sobald ihr Stimmchen anschwoll, hörte Kain mit Fressen auf und duckte sich scheu zusammen.

Erschreckte ihn das Stimmchen?!

Oder – tauchten Erinnerungen in ihm auf, die ihn an seine Säuglingszeit gemahnten?! Dachte er daran, daß auch er einst ein hilfloses Junges gewesen war?! –

Ich habe hierüber nie Klarheit gewonnen.

Aber mir selbst kam da die Erinnerung an die Dschungelgeschichten jenes Amerikaners, dessen Maugli-Phantasie ihm Weltruhm einbrachte, – Maugli, das indische Baby, das von den Wölfen erzogen wird …

Jeder kennt die Geschichte.[1]

Ich selbst besaß einst ein Wesen, das ich Maugli nannte, – einen kleinen zärtlichen Affen.

Es ist lange her. –

Ich näherte mich meinem Kinde, und das Seltsamere geschah: Kain, der Wolf, knurrte und duckte sich zum Sprunge!

Ich machte halt …

Mir war dieses Begebnis unbegreiflich und ist mir es bis heute.

Kain, der Wolf, verteidigte mein Kind!!

Gegen mich, den Vater!

Ich schaute ihn fest an …

„Wölflein, du bist ein Narr …“

So sprach ich zu ihm, bannte ihn mit den Augen, mit dem Klang der menschlichen Stimme und näherte mich wieder – – meinem Kinde …

Kain kroch zurück …

Langsam …

Kain knurrte grollend, aber er wagte keinen Angriff.

Und als ich Ada im Arm hielt und herzte und streichelte, da geschah das neue Wunder: Kain, der Wolf, schlich heran, die spitze Schnauze vorgestreckt, und schnupperte … sog die Luft ein …

Ein Mann, ein Kind, ein Wolf, – und der Mann hält dem Wolf das zappelnde Bündelchen hin, und der Wolf schnuppert lauter, und seine Augen verlieren den Glanz des Wildtieres und beäugen das kleine Wesen und … wenden sich ab und haften auf des Bruders Hinterviertel.

Kain tut sich nieder und frißt. –

Wenn es überhaupt eine Erklärung für dieses Benehmen eines fast ausgewachsenen jungen Wolfes gibt, dann nur die, daß Kain infolge des Schädelhiebes in jenen ersten Tagen, da ich sein Herr wurde, nicht vollkommen klaren Verstandes war, daß also seine wilden Instinkte gleichsam gelähmt waren. Diese Erklärung mag nicht ganz befriedigend sein, sie wird jedoch der Wahrheit ziemlich nahe kommen. –

Auf die Stunden heiß bewegten Erlebens folgte bei mir jener Zustand wohltuender Entspannung, in dem die Ereignisse infolge geistiger Erschöpfung etwas traumhaft-Unwirkliches annehmen.

Ich war erschöpft. Die Minuten, in denen der Tod mir so nahe war, hatten mich stärker mitgenommen, als ich glaubte, als ich es an mir gewöhnt war. Wer Gefahren kennt, wen der Tod bereits häufiger gestreift hat, wird mir bestätigen, daß es einen großen Unterschied ausmacht, ob die vom blinden Zufall gelenkte Kugel oder der Kampf Mann gegen Mann oder aber eine jämmerliche Henkerschlinge unser Leben bedroht. Die Ausschaltung jeder Verteidigungsmöglichkeit gegenüber feigen Mördern belastet die Seele mit einem Druck, der nicht so schnell wieder verschwindet.

Ich saß in der Sonne, mein Kind im Arm, den Rücken gegen denselben hohen Felsblock gestützt, der für mich die Falltür einer Richtstätte hätte werden sollen. Wie verschwommene Bilder zogen die Geschehnisse dieses Vormittags an meinem geistigen Auge vorüber. Ich bemühte mich, Klarheit in dieses Chaos zu bringen. Aber zu viele Fragen blieben noch offen. Was war in der Blockhütte bei Fort Burley geschehen, wo Elly Mac Intock die Schüsse und Schreie gehört hatte, wo James Morrison mit einem vor Entsetzen versteinerten Gesicht ins Freie getaumelt war und wo sich Habakuk Douglas aufgehalten hatte, der dann im Sack als Fracht die abenteuerliche Fahrt über die Wälder mitmachte?!

Je tiefer ich den Dingen auf den Grund zu gehen suchte, desto mehr Widersprüche stellten sich einer logischen Zusammenfassung der Ereignisse entgegen. Ich gab es schließlich auf, in der Vergangenheit prüfend und abwägend zu schürfen und wandte mich der Gegenwart zu.

Auch sie war nicht rosig.

Ich hätte gewünscht, daß der Mann, der mich gerettet hatte und der ein wahrer Kunstschütze sein mußte, sie nie gezeigt hätte. Seine Stimme hatte geradezu vernichtend auf das Verbrecherpaar Morrison und Fifo gewirkt, hatte jedoch offenbar bei Maria ganz andere Gefühle ausgelöst. Wenn es der alte Sioux-Indianer Red Hand gewesen, und diese Annahme lag am nächsten, mochte er die Schüsse von einer Stelle abgegeben haben, die vielleicht irgendwie mit den Grotten in Verbindung stand. Die Schüsse und die Stimme waren zweifellos von der nördlichen Schluchtwand gekommen und zwar aus einiger Höhe, niemals von der Sohle der Schlucht selbst, wie ich mir nun bei ruhiger Überlegung mit aller Bestimmtheit sagte. Es war ganz verfehlt von den verängstigten Verbrechern, dem Schützen zuzutrauen, daß er durch den Stollen in die Schlucht eingedrungen sei. Hiervon konnte keine Rede sein, mein Ohr war zuverlässig. Die Schüsse kamen von oben, und das hatte Morrison nicht bedacht.

Eine andere Frage war die, weshalb dieser glänzende Schütze meine Mörder geschont hatte. Zwei Kugeln feuerte er auf einen Lederstrick von kaum doppelter Daumenbreite ab. Weshalb erschoß er nicht Morrison und Fifo, weshalb setzte er Maria und mich der Gefahr aus, von dem verstörten Schurken niedergeknallt zu werden, weshalb ließ er zu, daß Morrison Maria mit sich schleppte?!

Hier gab es nur eine Antwort: Weil der Schütze sich seiner Sache sicher war, weil er genau wußte, daß er die Verbrecher vollkommen in der Gewalt hatte!

Es war keine andere Erklärung möglich.

Und – war es der alte Indianer gewesen, den Maria mir als hochbetagten Greis geschildert hatte?!

Zerstreut streichelte ich meines Kindes blondes Köpfchen. Ada war wach, und winzige Fingerchen wühlten in meinem Barte wie einst am Stanhoop-Berg, der dann in Flammen aufging. Das war die feurige Fackel des Traumes der Wildnis gewesen. Das war der Wendepunkt gewesen – Flucht und Not und drohender Tod. Trotzdem: Traum der Wildnis!

Und jetzt?! –Ein Traum der Berge, ein nicht minder aufpeitschendes Erleben, und dazu die große Seligkeit, meine Ada wieder im Arme zu wiegen und wieder Vater und Beschützer spielen zu dürfen.

Red Hand, der Indianer …

War er es?!

Flüchtig dachte ich an Harry La Grange, den Zuchthäusler, den Mann, den Maria geliebt hatte und von dem sie behauptete, ihm gegenüber sei Morrison ein Nichts!

Wie mußte dieser junge La Grange, Nachkomme eines ehrlichen Indianerhändlers, beschaffen sein, wenn Maria ihn so einschätzte.

Liebe macht blind, Liebe steigert die Vorzüge des Geliebten und übersieht die Fehler. – Nicht bei Maria traf dies zu. Sie war selbst Persönlichkeit, Charakter. Leid und Demütigung und Vergewaltigung hatten diese Frau über sich selbst hinausgehoben. Sie überschätzte nichts. Sie war kühl im Urteil, gerecht.

Konnte La Grange entflohen sein, war er gerade rechtzeitig hier in den Grotten bei Red Hand eingetroffen?! Und wenn dies so war: Weshalb hatte er sich nicht mit dem Riesen Jörn, diesem unverfälschten Naturkinde, zusammengetan. Jörn war ein Kämpfer, Elly Mac Intock war es nicht weniger, und Red Hand war auch noch da. Das waren vier gegen zwei. Weshalb ließ man also Morrison und Fifo entkommen?!

… Ada greinte leise und zauste meinen Bart, und Kain, der Wolf, hatte nun seinen Bruder Abel vollends verspeist, und lag da und blinzelte uns an.

Es war die Romantik der Wildnis.

Eine unzugängliche Schlucht, ein Mann, ein Kind, ein Wolf …

Immer wieder wähnt man, das Leben hätte nichts Neuartiges mehr zu verschenken, das Leben hätte seine Variationen erschöpft. Aber dieser erhabene, unendlich vielseitige Komponist, der da „Leben“ heißt, erschöpft sich nie. Komponist und Dichter in eins, – der wunderbarste, den es gibt, der unermüdliche, der mich die Pfade abseits vom Alltag entlangführte und mich so überreich beschenkte, der mich die unberührte Natur als Größtes lieben lehrte[2] und die Naturereignisse mir als Geschenke darbrachte.

Abenteurer – – ich?! Wirklich nur Weltentramp, Strolch der Unendlichkeit?!

Wirklich nur?!

Zuweilen[3] spürte ich das Höhere, Edlere, das in diesem meinem Schicksal eines Gehetzten lag: Werkzeug der Vorsehung!!

Vielleicht …

Es wäre anmaßend, dieses „Vielleicht“ nicht einzufügen.

War ich Werkzeug des geordneten Systems des Weltgeschehens, so durfte ich hier nicht müßig abwarten.

Handeln also!

Nicht vorschnell.

Überlegen. Genau überlegen. Kein Risiko eingehen, denn ich hatte mein Kind bei mir. Daß die Dinge einer Entscheidung entgegentrieben, spürte ich mit aller Deutlichkeit. Wie und wo diese Entscheidung fallen würde, wußte ich nicht. Ich hatte entweder mit dem greisen Red Hand oder mit Harry La Grange als Hauptfaktor zu rechnen. Daß Morrison und Fifo nur noch die klägliche Rolle umkreister Hasen spielten, war mir ebenfalls klar. Maria mochte sich noch in ihrer Gewalt befinden, aber auch dies schien mir lediglich ein beabsichtigter Schachzug des Siegers zu sein. Wie das Endspiel sich gestalten würde, blieb insofern ungewiß, als es sich nur darum handelte, wann dieser Kunstschütze, der da auf hundertfünfzig Meter ein Lederseil zerfasert hatte, seine Kugeln blutigere und endgültige Arbeit verrichten ließ. Ich wollte bei diesem Endspiel dabei sein, und wenn ich mit der nötigen Vorsicht zu Werke ging, konnte ich jedes Risiko ausschalten.

Ich kam zu dem Entschluß, zunächst mein Kind nochmals zu nähren und es dann genau wie Kain, den Wolf, mitzunehmen. Ich würde ja sehr bald sehen, wie Kain sich mir gegenüber benahm.

Ich erlebte sehr Merkwürdiges. Ich hatte mich zur Höhle begeben, – – und Kain folgte uns. Er blieb sogar dicht hinter mir. Als ich ihn lobte und nach seinem Kopf faßte, um ihn zu streicheln, zog er nur die Lefzen hoch und duckte sich. Er schnappte nicht mehr nach mir, und seltsamerweise galt seine scheue Aufmerksamkeit lediglich Klein-Ada. – Das war das eine.

Und dann hatte ich die Milch gewärmt, in die Saugflasche getan, das Kind trocken gelegt und wartete, daß es wie bisher den Saugpfropfen in das Mündchen nehmen würde. Aber Ada mißachtete die Flasche, die winzigen Fäustchen schoben sie zur Seite, und Ada ließ deutlich erkennen, daß sie die Flasche nicht mehr mochte.

Ich stand vor einem Rätsel.

Genau wie vor Stunden, als ich Maria fragte, weshalb noch dieselbe Anzahl Konservenbüchsen vorhanden und das Kind doch gesättigt war.

Als Junggeselle ist man zuweilen etwas engstirnig.

Es kostete viel Mühe, Klein-Ada schließlich doch zur Annahme der Flaschennahrung zu bewegen. Kain schaute interessiert zu. Überhaupt, Kain war ein besonderes Geschöpf. Ich hatte einmal irgendwo „Wolfsblut“ in der Originalausgabe gelesen, jene Geschichte eines Wolfsbastards von dem urwüchsigen, kraftvollen Poeten Jack London. Aber Kain hatte kein Hundeblut in den Adern, das sah ich sofort, Kain war reinblütiger Wolf. Er saß vor mir und ließ kein Auge von dem Kinde. Niemand wird je die Seele eines Tieres begreifen. Tiere sind stumm, und ihr Innenleben bleibt Geheimnis. Zum Glück, müßte man sagen. Denn der Mensch als Fleischfresser, als Vernichter ungezählter Tierleben würde vor Scham erbleichen, wenn er die Anklagen der gemordeten Geschöpfe hörte, die unter den Händen kaltherziger Schlächter ihr Leben lassen.

Es war kaum mehr anzuzweifeln, daß Kain mein Kind auf seine Art liebte. Welcher geheimnisvollen Seelenquelle diese Liebe entsprang, entzog sich meiner Kenntnis. Als Tierfreund nehme ich an, daß der Geruch dabei am höchsten zu bewerten war. Tierbeobachter werden zugeben, daß zum Beispiel ganz junge Hunde ähnlich riechen wie menschliche Säuglinge.

Während ich die beiden noch vorhandenen Kaninchen für alle Fälle als Vorrat röstete, hatte sich Kain dicht neben Adas Lager niedergetan, die Schnauze auf die Pfoten gelegt und die Augen halb geschlossen. Das Kind krähte noch vor Wohlbehagen und strampelte. Als eines seiner Patschhändchen dabei die Nase Kains berührte, begann der Wolf die Hand liebkosend zu lecken, und als mein Kind daran Vergnügen fand, Kains Kehle zu krauen, stieß das Tier ein seltsam dumpfes Grollen aus, in dem sich unfehlbar Freude ausdrückte.

Mein Staunen wuchs.

Ich hielt es für ausgeschlossen, daß Kain noch niemals mit Menschen in engere Berührung gekommen sein sollte. – Später erhielt ich die Bestätigung für diese Annahme, aber niemals eine einleuchtende Erklärung für Kains Liebe zu meinem Kinde.

Es mochte zwei Uhr nachmittags sein, als wir drei unter den nötigen Vorsichtsmaßregeln durch den Stollen die Schlucht verließen, in die mich der Sprung ins Nichts hinabgetragen hatte. Ich sollte die Schlucht nicht wiedersehen. Aber niemals werde ich ihre steilen Wände und grünen Felsen und bärtigen Riesentannen vergessen. In dieser Schlucht rettete mir ein Fallschirm das Leben, in dieser Schlucht erfuhr ich die ersten groben Umrisse dunkler Rätsel, und hier erlöste mich die sichere Hand eines unübertrefflichen Schützen vor der bereits zusammengleitenden Schlinge.

 

12. Kapitel.

Einer vom heimatlosen Volke …

… Sie schlafen alle … Bis auf mich.

Und ich sitze hier in der Wohngrotte an Jörns einzigartigem Tisch und blicke dem Wölkchen der qualmenden Zigarre träumerisch nach.

Das Leben ist ein Roman ohne Ende. Das Leben dichtet stets neue Kapitel hinzu. Die Abschnitte, die da für die Menschheit in den großen Städten spielen, sind eintönig und drehen sich um die Grundmelodie Hunger und Liebe. Die Grundmelodie bleibt auch in der Wildnis dieselbe, nur daß die Variationen gewaltig anschwellen zu glühenden Dramen, in denen ein anderes Blut rauschend pulsiert, in denen durch die äußerste Szenerie das innige Verbundensein der Urgewalten Hunger und Liebe mit der Natur schärfer hervortritt und dem Ganzen die besondere Note verleiht.

Hunger: Daseinskampf, Geldgier, Haß, Vernichtung!

Liebe: Trieb, seelisch verfeinerte Gier, Sehnsucht der Geschlechter, Zeugen und Sterben, und auch Haß, Vernichtung, schamlose Intrigen, tiefste Verworfenheit. –

Ich habe sehr viel nachzuholen in diesen Blättern. Aber man muß die Stimmung nutzen. Nicht jeder Tag gleicht für uns innerlich dem anderen. Es gibt Tage der Hemmungen, in denen wir unfähig sind, uns selbst im geschriebenen Wort widerspiegeln zu lassen. –

Sie schlafen … Liebe weht durch die Grotten … Erfüllung der Sehnsucht klingt in den fallenden Tropfen des Brunnens … Es ist eine feine zarte Musik. Man glaubt die Herzen hämmern zu hören.

Zu meinen Füßen liegt Kain, der Wolf. Neben mir steht eine Wiege … Die Laterne dunstet und das Papier lockt. – –

… Ein Mann, ein Kind, ein Wolf quälen sich durch den leeren Stollen, der zum kahlen Tale führt, der Mann voran, das Kind auf dem Rücken, hinterdrein am Lasso Kain, der Ersatz für den armen Bully. Wenn Kain noch Beißgelüste hätte, könnte er mich übel zurichten. Aber Kain, der Wolf, mit dem frischen Verband um den Kopf ist manierlich wie ein Hündchen.

Als wir draußen das Tageslicht wieder begrüßen, als die weggeräumten Steine und Felsstücke der Barrikade vor uns einen Damm bilden und die großen Felsgruppen, in Sonnenlicht getaucht, ihre trostlose Unfruchtbarkeit offen zur Schau stellen, als drüben die Steinwand, schroff, zerklüftet, oben in Spitzen auslaufend, die nach den Wolken stechen, die Felseinöde noch sinnfälliger machen, beginnt bereits das wenig Verheißungsvolle dieses Versuchs, mit einzugreifen in den Schlußakt der großen Tragödie.

Unsere Schlittenhunde sind frei, schwärmen umher, jagen flinke Kaninchen und beweisen, daß Morrison sie kaum genügend gefüttert hat.

Kain wittert die Erbfeinde, sein sturres Haar hebt sich, das kurze Genick wird noch kürzer, und aus dem Maule tropft Geifer.

Wie er so dasteht, regungslos, die Rute halb gesenkt, in Figur, in Kampfstellung völlig Wolf, zeigt er mir trotz des schmalen Leibes die Urkraft des Wildtieres, die Muskeln wie Wülste und das Gebiß, blendend zart mit bösen Reißzähnen.

Bully, mein armer Bully, den die Kerle so ruchlos niedergeknallt haben, war anerkannter Herrscher der Schlittenhunde gewesen. Mit jedem hatte er ein Hühnchen gerupft, mochte er auch an Gestalt niedriger gewesen sein wie sie. Seine ungeheuere Kraft gab den Ausschlag. Keiner hatte sich mehr an ihn herangetraut, sie gingen ihm in weitem Bogen aus dem Wege und fügten sich seinen Launen.

Hier lagen die Dinge anders. Kain, der Wolf, mit seinem Raubtiergeruch lenkte die Schlittenhunde herbei, die ziellos umherstrolchten und ihre Freiheit genossen. Witterten sie mich noch dazu, würde es einen ungeheuren Lärm geben, denn sie hingen an mir und gehorchten eigentlich nur mir. Es waren starke Tiere, keine richtigen Schlittenhunde, sondern hochbeinige Schäferhunde mit geringem Einschlag langhaariger Ahnen. Justus Napy hatte sie auf seiner Farm zu Kreuzungsversuchen benutzt, und die Tiere waren sämtlich erstklassig.

Ich sah die, die uns am nächsten, stutzen und schnüffeln. Ihnen war Kains scharfe Witterung in die Nase gekommen. Ich erkannte das Bedrohliche der Situation, denn das Lärmen der Hunde und ihre Vereinigung an einer Stelle mußte Morrison und Fifo aufmerksam machen. Es war schwierig, unter diesen Umständen ein Mittel zu erfinden, dem unerwünschten Gebell und Geheul von etwa zwanzig Prachttieren vorzubeugen.

Ein nochmaliger schneller Blick über das Tal zeigte mir, daß Morrisons Zelt weit drüben nach Süden in der Einbuchtung der Steilwand verschwunden war. Der Platz war leer.

Ich wußte nicht, was inzwischen vorgefallen sein mochte, ich stand außerhalb der Ereignisse, ich wollte in ein Drama eingreifen, dessen Endszenen ich nicht kannte.

Die Hunde scharten sich zusammen, reckten die Hälse. Wie durch Geheimzeichen herbeigerufen, waren auch die entferntesten herbeigetrabt und bildeten mit den anderen ein geschlossenes Rudel. Der Geruch des Wolfes, ihnen allen nicht fremd, da sie in den Zwingern Napys, die wir dann übernommen, mit gefangenen Wölfinnen in engster Gemeinschaft gelebt hatten, löste doch nicht sofort jene Angriffswut in ihnen aus, die ich befürchtet hatte.

Zum Glück! Es blieb mir nichts anderes übrig, als Kain festzubinden und mich den Tieren zu zeigen. Sobald ich sie bedrohte, würden sie wohl Ruhe halten.

Vor mir ragten einige verstreute Felsstücke empor. Ich konnte mich jedenfalls zwischen ihnen gegen Sicht nach Norden und Süden decken, und das war schon viel wert. Als ich Kain dann eilends festgebunden hatte, als ich bis zu den Felsen kroch, die kleine Ada dem Schutze des Wolfes anvertrauend, als ich mich emporrichtete und die Hunde mich erblickten und erkannten, stürmte die ganze Rotte mit kurzem Aufheulen vorwärts. Meine Zurufe, die ich vorsichtig dämpfen mußte, halfen nicht viel, aber Steine halfen, die ich ihnen entgegenschleuderte, und mein böser Gesichtsausdruck, den sie richtig deuteten. Sie hielten inne, sie machten halt, man sah geradezu, daß mein übler Empfang für sie allzu überraschend kam.

Ein paar neue Zurufe, scharf und befehlend, zwangen sie nieder. Erst legte sich der eine, dann ein zweiter, die anderen folgten, und ich wußte nun, daß sie mir durch Lärmen keine Ungelegenheiten bereiten würden. Aber durch ihre jetzige friedliche Stellung mußten sie auffallen, falls jemand die Tiere beobachtete. Ein Mittel gab es, sie wegzuscheuchen, – und der Gedanke hätte mir früher kommen müssen!

Ich nahm das eine Kaninchen, ich schwenkte es im Kreise, warf es mit vollem Schwung über die Hunde hinweg, es fiel ins Geröll, die Tiere flogen hoch und gingen davon, ein wildes Getümmel, eine tolle Rauferei begann um den saftigen Braten, und ich hatte freien Weg gen Süden – zur Terrasse, zu denen, die meinem Herzen nahe standen, zu denen, die das Gericht der Wildnis herausgefordert hatten, und dieses Gericht ist hart, unbarmherzig, aber immer gerecht!

Ich hatte den Weg frei …

Und wollte mich zurückwenden …

Wollte …

Sekunden, Bruchteile von Sekunden entscheiden über Leben und Tod …

Hätte ich mich auch nur eine Sekunde später umgedreht, würde ich nicht dabei auf einen runden Stein getreten haben und ausgerutscht sein, so hätte das zweifache Peng – Peng mir immerhin alle weiteren Mühen dieses Daseins erspart.

Zwei Schüsse, zwei Kugeln, – die eine durch den Hutrand, die zweite durch den Oberärmel …

Zwei Schüsse – – von oben …

Und ich – ein einziger Satz, hinter den Felsen, – ein Blick hinüber zu Kain … Und ein eisiges Gefühl, als stieße mir jemand einen Eisdolch ins Herz:

Mein Kind – – mein Kind war verschwunden!!

Abermals das höhnische Zischen … Abermals das widerliche Bellen der Büchsen …

Ich drückte mich an das Gestein, mein Hirn war leer …

Mein Kind – – gestohlen!! Und Kain?! Hatte er ruhig zugesehen …?! Kain, auf den ich mich so fest verlassen hatte!

Er saß da – den Kopf emporgerichtet, blinzelte nach oben, und aus seinem halb geöffneten, geifernden Rachen kam ein Grollen wie fernes Gewitter … Sein Nackenhaar war dichte Bürste, seine Glieder zitterten, seine Haltung war die eines Tieres, das sich im Sprunge auf eine vorüberschießende Schwalbe stürzen möchte.

Braver Kain, ich hatte dir Unrecht getan! Braver Kain, gegen eine Lassoschlinge, die man von oben geschickt über das Bündelchen streift, während ich mit den Hunden beschäftigt war, konntest du nichts ausrichten! Hättest du zugeschnappt, würdest du das Kind getötet haben. Du hast es nicht getan, die Klugheit siegte … Und nun haben sie auch mich, die beiden da droben, – auch mich – durch mein Kind …!

„Werfen Sie Ihre Waffen weg, Zuchthäusler!“, höhnte der fette kleine Kerl mit frechem Lachen. „Ihr nettes Kindlein ist unser, und es wäre nicht das erste derartige Würmchen, das ich … zertrete! Sie … Steckbriefling!! Weg mit den Waffen!! Weg damit!! So schlau wie Sie sind wir noch alle Tage …!“

Und ich?

Ich – – hineingetappt in eine Falle, die ich nicht ahnen konnte. Ich, wehrlos trotz Pistole und Messer, ich, angeklemmt an den schirmenden Fels, und in Herz und Hirn ein Aufruhr wie das wütende Kreisen des Wirbelwindes, des gefürchteten Tornado, der auch in diesen Breiten mit unheimlicher Macht über die Ebene zieht – eine ungeheure Säule von emporgerissenem Sand, Gras und Sträuchern, Baumästen und … lebenden Geschöpfen, die die Saugkraft dieses kraftstrotzenden Phänomens mit emporträgt …

Ich, preisgegeben der Willkür zweier Bestien, von denen sich die eine noch gerühmt hatte, daß selbst ein unschuldiges Kindlein ein Nichts bedeutet, zertreten würde … zertreten …

So hatte Fifo dröhnend gebrüllt: Zertreten – es wäre nicht das erste Würmchen!!

Und diese scheußlichen Worte, dieses widerliche Prahlen mit Kindermord, schlugen in mein wirres Hirn hinein wie ein greller Blitz, der einen bis dahin finsteren Hintergrund jählings in blendende Helle taucht …

Ich erinnerte mich an Elly Mac Intocks Erzählung, an die Schüsse in der einsamen Blockhütte bei Fort Burley, wo das Flugzeug damals niedergegangen war, wo Elly gesehen hatte, wie Morrison, dieser eiserne Schurke, wie eine Leiche ins Freie getaumelt war! Aus jener Hütte hatten sie Habakuk Elias Douglas hervorgeholt, Marias Vater, und in jener Hütte … war ein Kind gemordet worden, Marias Kind, ein Säugling wie meine kleine Ada, – Marias und Morrisons Kind, und deshalb hatte Morrison wie ein Wahnsinniger, vom Grauen gepackt, den Ort des Entsetzens verlassen!

Deshalb!

Und deshalb hatte auch keine der Milchbüchsen gefehlt, deshalb war Ada satt geworden, ohne Flasche, – – weil jene junge Mutter dem fremden Kinde die eigene Brust mütterlich gereicht hatte!

Deshalb auch meines Kindes plötzliche Abneigung gegen die Flasche mit dem Saugpfropfen! Meines Kindes Lippen hatten zum ersten Male die mütterliche Brust eines Weibes berührt, und dieses Kind, verwöhnt durch die Nahrung, die ihm die Natur nach uraltem Gesetz als naturgemäß zuerkannte, hatte die Flasche als dürftigen Ersatz von sich gewiesen!

„… Werfen Sie die Waffen weg – – Pistole und Messer!“, krähte der elende Gockel da oben abermals.

Gehorchen?!

Würde Morrison es dulden, daß noch ein Mord geschähe – – ein Kindermord?!

Niemals!!

So weit hatte ich diesen Verbrecher doch bereits durchschaut. Verbrecher – – ja! Aber nie würde er dulden, daß Sam Fifo dem Kinde etwas zufügte, nachdem schon ein Kind, sein Kind, vor seinen Augen umgekommen war, ob absichtlich, ob durch tückischen Zufall, blieb sich gleich.

Männer von der eisigen Gewissenlosigkeit eines Morrison waren mir nicht fremd. Meine Vergangenheit konnte viele derartige Charaktere aufzählen. Es waren Kerle gewesen, die das Böse als böse nicht anerkannten, die ihre eigene Moral hatten, die hinausragten in ihrer Verderbtheit über die Herdenschar des Alltags. Ungetüme, Giganten des Ruchlosen – – aber in einem Punkte doch weich und zaudernd und inkonsequent. Bei dem einen mochte es die Liebe zu einem Weibe sein, die plötzlich als Hindernis sich unüberwindbar auftürmte und irgend eine neue Brutalität abschwächte zu widerwilliger Nachgiebigkeit. Bei dem anderen war es die Liebe zu einem Tier gewesen, bei einem dritten nur die Erinnerung an seine Kindheitstage, die rechtzeitig noch geweckt wurde. Diese Giganten des Verbrechens haben alle ihre Achillesferse. Und dadurch unterscheiden sie sich von der kläglicheren Sorte der feigen Mordgesellen vom Schlage eines Sam Fifo. Denen ist nichts heilig – nur das eigene Ich. Die stehen tief unter dem mordlustigen Marder, der in den Hühnerstall einbricht und in blinder Mordgier und Gier nach Blut alles tötet, aussaugt, vernichtet, – denn dieser Blutrausch liegt ihm selbst im Blute, ist ererbter Instinkt, ist für ihn Naturgesetz. –

Gehorchen?!

Mochte der Schuft dort droben nur keifen!! Mich erreichte hier keine Kugel …

Aber – sie waren schlau, die beiden, und das Spiel, das sie nun begannen, mochte Morrisons Hirn entsprungen sein.

Vor meinem Felsen weiter hinein ins Tal stand ein zweiter kleinerer, vielleicht fünf Meter entfernt.

Teuflisches Spiel war es …

Schnellfeuer auf jenen Felsen …

Hoffnung, daß das zerspringende Blei mich träfe!

Das war es!

Und Munition mußten sie haben – übergenug … Konnten Patronen verschwenden, feuerten Schuß auf Schuß, – und Kugel auf Kugel zerstiebte am harten Gestein, Bleispritzer trafen mich – zu klein für ernste Wunden, – – ich hatte mich niedergeworfen, hatte Geröll zusammengeschoben als Schutzschild. – Mitunter surrte ein Stahlmantel klatschend gegen meine Brustwehr, – Blut rann mir aus winzigen Wunden über die Wangen, – – und die beiden feuerten – feuerten, sinnlos, zwecklos, – – berauscht von dem Lärm der Schüsse …

Und dieses Sinnlose paßt nicht zu einem Kerl von Morrisons Format.

Was war in ihn gefahren, daß er wie ein Tollhäusler dieses Spiel mitmachte, dessen Zwecklosigkeit er sehr bald erkannt haben mußte?!

Fifo würzte den bleiernen Salat durch unflätige Rufe.

Fifo schwieg, als Morrisons harte Stimme Einhalt gebot.

„Schweigen Sie, Sie … Lump!! Es ist genug, es ist Unsinn!!“

Eine nette Kameradschaft zwischen den beiden.

Lump!! Und der Herr Schreiber dort aus dem Mammoth-Hotel erwiderte nichts, steckte den Titel ruhig ein, war wohl daran gewöhnt, als Stinktier behandelt zu werden.

Was nun?!

Morrison rief …

„Hallo – – Abelsen?!“

Ich … grinste …

„Hallo … Abelsen!!“

„Den hat es erwischt!“, kreischte Fifo frohlockend.

Wieder Stille …

Und wieder Morrisons harte Stimme:

„Abelsen, Antwort …!! Oder – – denken Sie an Ihr Kind!!“

Mochte er drohen …

„Abelsen, glauben Sie nicht, daß ich Ihnen blindlings vor die Pistole laufe …! Ich nehme Ihr Kind mit!!“

Wieder Stille …

Es war so feierlich-still in dem großen, breiten, kahlen Tal. Die Sonne schien, in den Lüften schwebten Krähenschwärme, eine vorwitzige Mauerschwalbe, die noch nicht den Zug gen Süden angetreten hatte, flatterte drüben vor einem Löchlein der Steinwand, ihrem sicheren Nest, schoß wieder empor mit hellem Zwitschern und verschwand.

Ich horchte …

Und lautlos legte ich mich auf den Rücken, zog das eine Bein an, schob die Pistole in den Ärmel …

Wie ein Toter lag ich, blutbesudelt, mit geschlossenen Augen.

Mein Gesicht mußte eine einzige Blutkruste von den kleinen Bleispritzern sein.

Ich horchte.

Ich wußte: Dort oben irgendwo in der Talwand war ein mir unbekanntes, vielleicht bisher verdecktes Loch …

Ich wußte, daß sie kommen würden.

Mochte dann auch Morrison mein Kind im Arm halten, mochte Fifo mit angelegter Büchse bereit stehen: Es gab ein Mittel, die beiden auszulöschen! Die Pistole in meinem Ärmel war entsichert, meine Hand halb in den Ärmel gerutscht – wie zufällig.

Ich wartete …

Ich hörte Stimmen, Wortfetzen …

Die beiden seilten den Lasso fester an.

Wieder das Gemurmel …

Und dann – – zwei seltsame dumpfe Schläge.

Vielleicht keilten sie einen Stein fest.

Ich lag still …

Still lag das Tal.

Die Hundemeute war vor den Schüssen geflüchtet.

Die Sonne stand bereits im Westen, und die westliche Wand, hier noch Wand, warf scharfe Schattenlinien mitten durch das kahle Tal der Horn-Berge am Mackenzie.

Warten, horchen, und jeden Muskel anspannen … dann irren die Gedanken von selbst für Sekunden ab wie Vögel, die im Fluge gestört werden …

Horn-Berge …

Mackenzie …

Nil des Nordens …

Was hatte doch Maria erzählt von der kleinen Stadt Patamak, wo die Dampfer anlegen, und von dem reißenden Bach, der dem Mackenzie zuströmt? – War etwa Morrison in Patamak gewesen, hatte er von dort die Zigarren geholt, die der fette Fifo so protzig rauchte? Hatte dort Morrison etwa Napy und Milli und mein Kind getroffen und irgendwie verraten, daß hier in den Bergen meines Kindes Pflegevater belagert wurde?!

Ich horchte …

Zwang die huschenden Gedanken zurück zu dem, was geschehen würde …

Und vernahm etwas …

Schritte …

Nicht leise Schritte …

Der, der da nahte, gab sich keine Mühe, das Schlurfen seiner Schritte über das Gestein abzuschwächen …

Der, der da nahte, mußte mich bereits sehen, zögerte …

Stand still.

Wenn Morrison jetzt folgerichtig handelte, jagte er mir vorher erst noch eine Kugel in den Kopf …

Aber – nichts geschah.

Nur mein Herz hämmerte.

Mein Plan hatte eine schwache Stelle … Wenn Morrison schlau war, gab er mir den Fangschuß … Und das hatte ich nicht bedacht.

Minuten … Minuten, die sich zu Ewigkeiten reckten …

Und dann eine seltsam hohle, brüchige Stimme:

„Mein Bruder mag aufstehen. Er lebt. Tote atmen nicht …“

 

13. Kapitel.

Der Tiger von Helena.

Diese Worte in englischer Sprache waren mir wie ein Signal des Lebens. Ich sprang auf. Vor mir stand ein uralter Indianer … Ein Greis in der Tracht der wilden Siouxvölker von einst, eine bunte Decke lose um die Schultern gelegt, in der Rechten eine Streitaxt mit buntem Stiel. Sein langes, weißes Haar war in Zöpfe geflochten und mit Federn geschmückt. Um seinen Hals hing eine lange Kette von Bärenkrallen, eine Pfeife, im Gürtel steckte ein breites, langes Messer. Sein Lederanzug, seine Mokassins, die Nähte waren mit Haarbüscheln verziert. Unter der hohen Stirn, die faltenreich war wie eng gekerbtes braunes Leder, lagen tief eingesunkene Augen von mildem Feuer. Es war ein uralter Indianer, wie man sie wohl zuweilen auf Photographien sieht, die einen Empfang einer indianischen Abordnung bei dem großen weisen Vater im Weißen Hause in Washington darstellen.

Und doch nicht ganz so.

In diesen Zügen, die Falte an Falte drängten und in jedem Fältchen ein Lebensjahr kündeten, lag noch etwas anderes, – vielleicht die Reste kriegerischer Erinnerungen, abgeschwächt durch die Weisheit des Alters und die Melancholie der Einsamkeit.

Diese dunklen Augen des Greises ruhten unausgesetzt auf meinem Gesicht, und das endlose, prüfende Mustern, das meine Seele zu entblößen schien, währte mir für meine Sorge um mein Kind zu lange.

„Red Hand, der noch die Büffelherden ziehen sah wie wandernde Hügel“, sprach der alte Mann mit seiner eintönigen, erstorbenen Stimme, „Red Hand, der letzte Häuptling der Dakota-Sioux, begrüßt seinen weißen Bruder.“

Aber meine Aufmerksamkeit war geteilt. Hinter dem Felsen hervor kam Kain, der Wolf, mit schleifendem Riemen, den er wieder zerbissen hatte.

Kam frei und ungezwungen daher und stellte sich neben den greisen Häuptling, schaute mich an, tat einen neuen Schritt vorwärts, zauderte, hielt die eine Vorderpfote hoch, als ob er überlege, tat noch drei Schritt und setzte sich dann zwischen uns.

Ein unmerkliches, schnelles Lächeln glitt um den dünnen Mund des Greises.

„Mein Bruder hat ihn Kain getauft“, sagte Red Hand und nickte. „Ich weiß es … Als dieser Wolf und sein Bruder noch ganz jung waren und meine Einsamkeit teilten, nannte ich ihn nicht Kain, sondern Black Hills – nach den fernen Bergen in denen mein Stamm so oft jagte und mit den Ansiedlern blutige Kämpfe ausfocht. Das ist lange her, länger als ein Menschenalter … – die beiden Wölfe entflohen mir, und ich war wieder allein in den Grotten, die du nicht kennst, mein weißer Bruder. Du hast jetzt Black Hills zu deinem Tiere gemacht, und Kain, der meine Witterung kennt, ist unschlüssig, wenn er sich entschließen soll.[4] Er sitzt zwischen uns, aber er ist dein.“

Red Hand trat näher, griff Kain ins Nackenfell und zwang ihn an meine Seite. „Gib ihm deine Witterung, mein Bruder, und er wird dich nie verlassen. Seine Mutter erschoß ich, und die beiden Jungen zog ich mit der Flasche auf. Ich habe einen Freund am großen Fluß, der mir mancherlei zuträgt. – Gib ihm deine Witterung … Er ist sehr klug.“

„Und – mein Kind?“, fragte ich schnell.

Red Hand winkte gelassen. „Es lebt … Und vielleicht liegt es jetzt bereits in den Armen der weißen guten Frau, die es nähren wird, weil ihr eigenes Kind tot ist. Sei ohne Sorge. Es gibt hier keine Gefahr mehr. Nicht für uns, mein Bruder … Für die, die dein Gesicht zerfetzten, gibt es nur noch den Tod.“

Und so, wie er diesen letzten Satz aussprach, klang es wie ein Urteil, das unabwendbar war. In dem Augenblick gab ich für Morrison und Fifos Leben keinen Ör – keinen Heller. Trotzdem widerstrebte es mir, die beiden von Red Hand etwa niederknallen zu lassen. Ein kurzer fragender Blick in sein Gesicht entlockte dem Greise lediglich jenen allbekannten, knappen indianischen Ausruf, den man am besten mit „Es bleibt dabei!“ übersetzt.

Nun, in dieser Angelegenheit würde auch ich noch ein Wort mitreden. Zunächst befolgte ich des Greises Ratschlag, bückte mich und preßte wieder Kains spitze Schnauze in meine Achselhöhle, sprach zu ihm, streichelte ihn und richtete mich dann auf.

Fortan war der Wolf Kain, der nur in den ersten Monaten seines verwaisten Daseins menschliche Nähe und Hilfe kennen gelernt hatte, mir ein ebenso treuer und kluger Freund, wie Bully es gewesen.

Und Red Hand schritt langsam der Talwand zu. Ich folgte ihm, schaute nach oben, bemerkte zehn Meter über dem Boden ein Loch im Gestein und in dem Loch die Stiefelsohlen zweier Männer. Morrison und Fifo, die gefesselt waren und die Red Hand mit der stumpfen Seite des Beiles niedergeschlagen hatte. Zwei Lassos hingen bis zur Talsohle herab und auf einen Wink des Greises hin kletterte ich empor. Er selbst war nicht mehr imstande, an den Riemen emporzuklimmen, ich zog ihn hoch, ebenso Kain, und wir standen nun in einem geräumigen, nach Südwest verlaufenden Felsengang. In der dunklen Ferne des Stollens erschienen zwei Lichtpünktchen, wurden größer, heller, – es waren Jörn und Justus Napy mit Laterne.

Die Wildnis macht die Menschen wortkarg und hart. Man spielt nicht mit großen Worten, man drückt sich stumm die Hand, schaut sich in die Augen und überläßt Frage und Antwort passenderer Zeit.

Morrison und Fifo waren bei Bewußtsein. Sie wurden noch sorgfältiger gebunden und mußten dann mit ihren Fußriemen, die nur kurze Schritte gestatteten, zwischen uns den Weg bis zu den Grotten zurücklegen.

Napy, ich und Kain schritten hinterdrein. Napys heiteres Temperament offenbarte sich nun doch in hastigen, kurzen Bemerkungen.

„Weiß Gott, Abelsen, mit dem Wiedersehen hatte keiner von uns gerechnet …!“

„Das stimmt, Justus … Es war die größte Freude, die mir je beschert wurde, als ich mein Kind wiederfand.“

„Unser Kind“, verbesserte er stolz. „Hat Ada sich nicht prächtig herausgemacht? Wie ist sie aber auch gepflegt worden! Auf dem Dampfer war Ada Hauptperson, selbst die rauhen Flößer drängten sich dazu, sie einmal in den Armen halten zu dürfen.“

„Und wie kamt ihr hierher?“

„Hm – die Hauptsache, Olaf: Milli und ich haben in Maupherson sofort geheiratet. Es war Zeit …“ Er lachte leise und glücklich. „Die Wildnis hatte uns schon vorher getraut – mit Vogelsang und Sonnenschein[5] … Lieber Himmel: Vierzehn Tage Marsch durch die Wälder, – ein Standesbeamter war nicht da, aber Sergeant Knox behauptete, die kanadische Polizei sei zu allem befugt. In Maupherson holten wir die richtige Amtshandlung nach, und dann schwamm der Dampfer mit uns davon. In Patamak war Kohlenübernahme, Milli und ich gingen in das Grand Hotel, eine Bretterbude, und dort saßen wir ahnungslos mit Morrison zusammen, der eine Zeitung studierte. Ein Bild war darin, und sein Interesse für dein Bild, Olaf, war sehr verfänglich, zumal ein Text darunter stand, der gänzlich erfunden und erlogen war. Der Himmel mag wissen, woher der Zeitungsschreiber aus Edmonton all die Einzelheiten hatte. Jedenfalls wurde ich scharf auf diesen Morrison, und ein paar höhnische Bemerkungen seinerseits veranlaßten mich, die Weiterfahrt aufzugeben und dem Burschen, der weit vor der Stadt ein Hundegespann mit einem Grasschlitten verborgen hatte, zu Pferde zu folgen. Wir verloren seine Spur, und als wir drüben im Tale lagerten, faßten uns die Schufte ab, als ich gerade mit Milli mir die Umgegend anschaute. Das wäre so alles, Olaf. Die Welt ist klein, man rennt sich immer wieder in die Arme, alter Freund …“

„In Morrisons Arme, und die sind nicht gerade sehr angenehm, Justus!“

Der Stollen endete zu meiner Überraschung in jenem westlichen Felsengang, in dem Bully den Tod gefunden hatte.

„Wo ist Bully?“, fragte ich Jörn, der mit den Gefangenen nicht eben zart umsprang.

„In Ehren beigesetzt“, beruhigte er mich. „Er hat ein Grab gefunden, das seiner würdig ist.“ Der blonde Riese sprach leise und betrübt. „Elly hat bittere Tränen vergossen über seinen Tod … – du hast dir ja einen merkwürdigen Ersatz zugelegt, Olaf … Schätze, daß ein Maulkorb nötig ist für das Hündchen … Wolf bleibt Wolf, sage ich dir. Bully war schon ein rauher Bursche, – Kain wird nie seine wahre Natur verleugnen …“

„Stimmt – die Treue des Tieres der Wildnis!“, widersprach ich ohne Schärfe. „Du bist ein Sohn der weißen Wildnis, Jörn, du müßtest deren Geschöpfe kennen. Red Hand war Kains erster Herr, dann verwilderte Kain, aber er vergaß die sorgende Pflege des Menschen nicht. Wir sprechen ein andermal darüber.“

Wir hatten die Grotten erreicht, wir bogen um die letzte Ecke, und unser Wohngemach, mir so vertraut, lag vor mir mit dem Glanz seiner brennenden Laternen, seiner bemalten Wände und den Menschen, die um den großen Ledertisch saßen: Milli, Elly Mac Intock, Habakuk Douglas und … mein Kind, auf Maria Morrisons Schoß.

Als Morrison sein Weib erblickte, blieb er stehen. Seine hagere, sehnige Gestalt straffte sich. In seinen Zügen las man mancherlei. Er, der Tiger, der brutale, selbstherrliche Götze ohne Moral, ohne Gewissen, – er schämte sich seiner Fesseln. Sein schmales Gesicht, das vielleicht trotz der scharfen Linien und trotz des grausam-hochmütigen Mundes und der vorspringenden Kinnpartie eines gewissen Reizes nicht entbehrte, flammte auf in dunkler Glut. Seine sprühenden Augen, sonst so eisig und ohne Gefühl, ruhten unverwandt auf Marias kalt-ablehnendem Antlitz.

Niemand sprach.

Gatte und Gattin, zwischen denen sich Schluchten der Feindseligkeit und Abgründe der Verachtung auftaten, waren Mittelpunkt dieser Szene der Wiedervereinigung mit meinen Gefährten.

In Morrisons Augen erschien ein Ausdruck des Schmerzes, als Maria den Kopf wendete und hinüberblickte zu dem Manne, den ich bisher nicht bemerkt hatte.

Es konnte nur Harry La Grange sein.

Er stand neben dem Steinherd, leicht an die Felswand gelehnt, die Arme über der Brust verschränkt. Er war nicht kleiner als Morrison, aber seine Gestalt besaß jenes Ebenmaß, das Morrison fehlte. In seiner Haltung, in seinen edlen, kraftvollen Zügen lag die Ruhe eines starken Geistes, eines vornehmen Charakters. Er trug einen Lederanzug, unter der Jacke eine Wollweste, darüber den weichen Kragen eines derben Hemdes mit zwanglos geschlungener schwarzer Schleife. Seine ganze Erscheinung wirkte städtisch, etwa wie Napy und Milli, etwa wie James Morrison in seinem praktischen Sportanzug.

Niemand sprach.

Morrisons glühende Blicke folgten denen Marias, und die Erregung ließ ihn erbleichen.

Ich merkte, daß er jetzt erst die Gewißheit erhielt, daß Harry La Grange aus dem Zuchthaus geflüchtet war.

Ein heiseres Stöhnen kam aus seiner Kehle, dann ein kurzes, grimmes Auflachen.

„Sieh da, – – noch ein Zuchthäusler!! Die Polizei wird diese Sache wohl sehr bald einrenken!“

Aber dieser Nachsatz war eine Entgleisung, ein Zeichen von Schwäche.

La Grange blickte nur Maria an und lächelte zärtlich.

Habakuk Douglas – der Himmel mag wissen, wie er zu der Tochter gekommen ist – kroch vor Scham und Angst in sich zusammen. Er schwitzte vor Aufregung, sein Krötengesicht wechselte dauernd die Farbe wie ein Chamäleon.

Red Hand trat bedächtig an den Tisch und hob die runzligen Finger. „Douglas, – – dorthin neben die beiden!! Die Stunde des Gerichts ist da.“

Morrison lachte. „Alter roter Skalpjäger, das Gericht spucke ich an – dich!!“ – Wieder eine Entgleisung … Und sofort ward er sich dessen bewußt. „Entschuldige, Red Hand, deine weißen Haare verlangen Ehrfurcht vor dem Grabe … Ihr braucht nicht Gericht zu halten, ich leugne nichts, mein Unglück war die Besessenheit der Liebe.“ Das Wilde, Tierische, Ungezügelte verlor sich aus seinem steinernen Gesicht, und eine Wolke von Schmerz breitete sich darüber aus.

Heuchelte der Mann?!

Neben ihm kreischte der dicke Fifo in ohnmächtigem Grimm:

Ich leugne, ich leugne – ich leugne alles … Er will die Schuld auf mich abwälzen … Er erschoß das Kind und die Amme, das schwarze Vieh. Ein Feigling sind Sie, Morrison, ein jämmerlicher Patron, der mit Geld alles erreichte, der …“

Morrison blickte ihn an und … spie ihm ins Gesicht.

„Dir gebührt es, du Lump!! Dir ja!! – Wenn ihr mich aufknüpfen wollt, und verdient habe ich es, dann zuerst den da, damit ich sein Winseln noch höre. Ich fürchte den Tod nicht, ich bin bereit. Macht es kurz. Nur dir, Maria, will ich noch das eine beichten, damit du vor dir selbst rein dastehst, weil ich dich zur Liebe zwang: Ich habe dich geliebt, nicht aus Gier, – – hättest du mir auch deine Seele geschenkt, freiwillig, hätte ich je das Glück gekostet, daß deine Arme mich in Liebe umfangen, dann … wäre alles anders gekommen. Und weil ich dich heiß und innig liebte, auf meine Weise, weil unser Kind nicht ein Geschöpf brutalen Triebes war, habe ich deinen Leib nicht entweiht. Das sage ich dir vor dem Manne, dem dein Herz gehört und den ich durch bestochene Richter und Zeugen aus dem Wege räumte … Einer der Geschworenen damals war Samuel Fifo … Und die anderen erhielten ebenfalls ihre zehntausend Dollar, das war so der übliche Preis, einen Unschuldigen schuldig zu sprechen.“

Eine grenzenlose Verachtung klang durch seine Worte. Aber er blieb kühl und traurig, – es war echte Trauer, und die, die dies mit mir empfanden, spürten hier das Wehen der dunklen Fittiche der großen Menschentragödie.

Wieder trat Stille ein.

Man hörte das klingende Aufschlagen der Wassertropfen des Brunnens, und man hörte die schweren, stoßweisen Atemzüge derer, denen dieses Drama die Brust beschwerte.

Menschenschicksale werden enthüllt zwischen starren Steinmauern, Menschenleid und Liebesnot umflattert uns wie Gespenster. Eine seltene dumpfe Stimmung scheint über uns allen zu lasten.

Maria Morrison hat den Kopf tief gesenkt. Etwas Hilfloses drückte sich in ihrer Haltung aus. Sie erinnert mich an irgend eine tragische Gestalt irgend eines Schauspieles, auf das ich mich im Augenblick nicht besinne. Jedenfalls eine Frau, die ihren Haß schwinden fühlt, weil sie Liebe spürt.

Red Hand hat in einem der Jörn-Sessel Platz genommen und beobachtet mit klugen, stillen Augen, aus denen die Reife des Alters milde strahlt.

Harry La Grange hat gleichfalls Miene und Haltung verändert. Die Erwähnung der intimen Beziehungen zwischen Maria und dem Manne, der ein gesetzliches Anrecht auf diese Frau hat, müssen ihn tief getroffen haben. Auch um seinen Mund lagert der Schmerz, und die Augen starren versonnen ins Leere.

Es ist keine Gerichtssitzung mehr, die hier in den Horn-Bergen stattfindet, es ist eine Aussprache starker Seelen. Was dann folgt, darum schert sich niemand. Und um Sam Fifo und Habakuk Douglas schert sich erst recht niemand.

Morrison spricht weiter.

„Ein Zufall führte mich von Helena, meinem Wohnsitz, nach der Salzsee-Stadt. Ein Zufall führte mir Maria Douglas in den Weg, die auf einem klapperigen Auto von der Farm ihres Vaters in die Stadt sauste und wie eine Kunstfahrerin in rasendem Tempo die Hindernisse der Straße überwand. Jene Minuten entschieden mein Schicksal. Ich, den man den ungekrönten König von Helena und insgeheim den Tiger von Helena nannte, hatte meine Meisterin gefunden. Ich erkundigte mich nach Marias Familie, und ihr Vater war leicht käuflich. Das einzig wirklich Hemmende war Harry La Grange, damals Verwalter eines Salzwerkes in den nördlichen Einöden am See. – Du wirst nicht behaupten können, Maria, daß ich dir gegenüber im Anfang zudringlich war. Du hattest mich völlig in der Hand, aber deine ablehnende Haltung und die bewußte Geringschätzung, die du mir bezeigtest, weckten allmählich den Teufel in mir …“

„Sie waren mir von der ersten Minute Ihrer Bekanntschaft an widerwärtig“, warf Maria mit aller Schärfe ein. „Wollen Sie mich hier etwa in eine Verteidigungsstellung drängen? Wollen Sie die Tatsachen so verdrehen, daß ich schuld bin an Ihren ungeheuerlichen Verbrechen?! Was heißt das, ich hätte Sie mit bewußter Geringschätzung behandelt?! Taten Sie nicht so, als ob Ihre Millionen Ihnen das Recht gaben, mich mit Werbungen zu bestürmen, die eine Unverschämtheit waren, da Sie genau meinen Verlobten kannten?! Spielen Sie sich hier als den Mann von Ehre auf?“

Ihre flammenden Blicke riefen bei ihm nur ein erneutes schmerzliches Zucken um die Mundwinkel hervor.

„… Und im übrigen, Mr. Morrison: Ich verbitte mir, daß Sie mich Maria nennen. Ich hasse Sie … Ich hasse Sie, weil Sie mich zur Ehe zwangen, weil Sie und mein Vater, nachdem Sie Harry ins Zuchthaus geschickt hatten, die jämmerliche Komödie einleiteten, daß meine Eltern die Farm bettelarm verlassen müßten! Und meine Mutter war krank, geisteskrank, meine Mutter liebte den stillen Garten, liebte jeden Baum dort, jeden Strauch … – Die Wahrheit muß gesagt werden: Meine Mutter war vor Grauen um den Verstand gekommen, als mein Vater sie in ähnlicher Weise zur Ehe zwang, wie Sie mich!! Und meiner Mutter wegen brachte ich das Opfer, so lächerlich romanhaft das kleingen mag. Weiß Gott …“ – ihre Hand wies in jäher Geste nach oben, ohne jede Theatralik – „weiß Gott, ich habe ein Opfer gebracht, dessen Größe niemand abschätzen konnte! Ich habe Sie angefleht, James Morrison, mich zu schonen, und nicht zugleich mit meinem Leibe meine Seele zu schänden! Sie versprachen alles – und hielten nichts! Erinnern Sie sich an das Mammoth-Hotel in diesem wunderbaren, endlosen Yellowstone-Park?! Dorthin führten Sie mich sofort nach der Hochzeit, dort, wo gerade infolge des Winters die Saison vorüber, haben Sie mich geschändet … geschändet, – es gibt keinen anderen Ausdruck als diesen! Und Sam Fifo war Ihr Verbündeter, auch dort! Erinnern Sie sich, – – wer ließ mir den Tee reichen, der mich so wehrlos machte?! Sie elender Mensch fürchteten, Ihr Opfer könnte Ihnen dorthin entfliehen, woher es keine Wiederkehr gibt! Beim barmherzigen Gott, der mich so unbarmherzig Ihnen auslieferte: Ich hätte mich getötet!! Ihre Berührung war mir das Grauen der Hölle, – – und voller Grauen empfing ich das Kind, das ich … haßte, bevor es geboren war! Und auch das ist Ihre Schuld. Drei Wochen hielten Sie mich mit Ihrem teuflischen Gift in diesem Zustand völliger Apathie, – – und dann … erschien der, der mich rettete, der mich mit sich nahm in seine Einsamkeit, der von meinem Elend Kunde erhalten hatte und meines Verlobten wegen alles aufbot, mich zu befreien, mich verschwinden zu lassen: Red Hand, mein wahrer Vater, – denn nicht die Bande des Blutes begründen das innige Verhältnis von Vater zum Kinde, sondern nur die Tat. Verwandtschaft ist eine leere tönende Phrase, gut für Kanzelredner und für Schreiber von Familienkitsch! Da – schauen Sie meinen … Vater an, meinen leiblichen Vater!! Gab es je außer Ihnen und Sam Fifo ein so klägliches, herzloses, tückisches Geschöpf!! Satanas trat ihm ins Gesicht und kennzeichnete ihn, der Satan kroch in ihn hinein, – er half Ihnen, nach mir zu suchen, er war einer der Spürhunde, die Sie auf meine Fährte hetzten!“

Sie schwieg erschöpft … In dem blassen Gesicht leuchteten eingesunkene Augen …

Und in unseren Herzen, die wir hier Zeugen dieser Abrechnung waren und die wir selbst innerlich erstarrten vor so viel menschlicher Gemeinheit, zum Teil geboren, ausgespien aus dem ewigen teuflischen Hunger nach Geld, – wir wagten uns nicht zu bewegen, nicht zu rühren … Wir hielten die Blicke gesenkt, denn wir schämten uns unseres Menschenseins angesichts dieser unvorstellbaren Niedertracht und Verworfenheit.

Tödliche Stille folgte.

Erregte Atemzüge klangen in die Stille hinein wie das Schluchzen abgeschiedener Seelen.

James Morrison hatte sich wieder straff aufgerichtet. Aus seiner wie im Fieber überhastet arbeitenden Lunge kam ein Pfeifen wie aus dem Ventil eines überhitzten Kessels. Sein aschgraues Gesicht war Sam Fifo zugewandt, und diese klägliche Kreatur wich zurück vor diesen vernichtenden Blicken – Schritt für Schritt – bis zur Wand …

Bis zur Wand, an der in grellroten und weißen primitiven Zeichnungen die letzten Dakota-Sioux die große Vergangenheit ihres gemordeten Volkes in stolzen Kampfbildern verewigt hatten.

Morrisons Atem formte heisere Laute.

„Maria Douglas – so wahr ich dich geliebt habe – – mit meinem Wissen und Willen reichte man dir das Betäubungsmittel nicht!“

Und dieser schreckliche, glanzlos gewordene Blick schweifte zu Douglas hin.

„Aber – ich beginne zu begreifen …! Eine Million versprach ich dem da, sobald du in Wahrheit mein Weib geworden …! Er hatte es eilig damit, das Geld zu … verdienen und … er half nach, und Sam Fifo war sein Werkzeug … – Ich … verstehe nun alles … Und … das habe ich nicht gewollt … Ich verlange nicht, daß du mir Glauben schenkst, Maria Douglas … Ich bin Tiger und habe mich nie um Gesetze und Recht und Moral gekümmert, wenn es galt, meine Millionen zu vermehren … Nicht, als ob das Geld mein Götze gewesen!! Ich verachtete es, aber ich brauchte es, denn Geld ist Macht, und ich wollte mächtig sein … Der Rausch der Macht hatte mich bezaubert … Nur das! Verbrecher – – ja!! Mehr als das, – Schuft, Schurke, doch niemals ein feiger Lump, der mit Apothekertränkchen ein Weib in seine Arme zwingt – – niemals!! Zwingen – – ja!! Denn ich betete dich an! Und Gebet kann Wahnsinn werden, Gebete begleiteten das Knistern der Scheiterhaufen, auf denen verlogene Pfaffen einst die Abtrünnigen verbrannten!“

Er neigte sich etwas vor.

„… Red Hand, du bist ein Häuptling, du bist Richter nach den schlichten Gesetzen deines erloschenen Volkes. Red Hand, ich fürchte den Tod nicht … Das Leben hat auch keinen Wert mehr für mich. Sprich du das Urteil!“

Der greise Indianer saß wie eine Statue da. Seine Hand umklammerte die uralte Friedenspfeife, die ihm an der Kette von Bärenzähnen vor der Brust hing.

Seine halb geschlossenen Augen in diesem braunen, zerkerbten Gesicht blickten unverwandt auf das eine Bild an dem Felsen, auf das Schmachbild für die, die einst den Indianerskalp mit fünf Dollar bezahlt und die eine Horde von Verbrechern auf die rote Rasse losgelassen hatten.

Das Bild: Ein Skalpjäger, der für seine „Ware“ bezahlt wird, und ringsum am Boden der Kreis der Gemordeten!

Der greise Häuptling schaute und schien zu lauschen …

Sein Kopf neigte sich zur Seite, als wollte er besser hören, und seine zerfurchten Züge überflog plötzlich ein hellerer Schimmer … Er lächelte.

„Kommt auf die Terrasse“, sagte er und erhob sich schnell. „Kommt alle … Fünfzig Jahre hause ich hier, und diese Berge sind mein Reich und haben keine Geheimnisse vor mir … Kommt!“

 

14. Kapitel.

Die Hand Manitus.

Draußen fand ich das Landschaftsbild infolge der seltsamen Beleuchtung völlig verändert.

Die Sonne war hinter grauem Gewölk, das einen eigentümlichen Farbenton ins Bräunliche zeigte, fast völlig verschwunden.

Sie stand als lichter Fleck im Westen zwischen den Bergkuppen.

Die ganze Beleuchtung hatte etwas Unwirklich-Gespenstisches an sich. Die kahlen Berge glichen einem schlecht gemalten Panorama in eintönigem Grau. Die Konturen waren verschwommen, die Täler glichen schwarzen Schlünden, und das Wenige, was von Baumbestand zu sehen, erschien wie verblichene Kulissen in die Landschaft hineingestellt.

Anderes kam noch hinzu, die Szenerie mit düsteren Merkmalen einer unbekannten drohenden Katastrophe zu belasten.

Es war am Tage heiß gewesen, aber ein frischer Luftzug hatte diese Wärme des Indianersommers gemildert und erquickend gemacht.

Jetzt war nicht ein Luftzug zu spüren.

Als wir auf der Terrasse unweit des Abhangs standen und Jörn den zeternden Douglas ein paarmal so kräftig schüttelte, daß dem kleinen Glatzkopf Hören und Sehen verging, – als Sam Fifo, den die Beine vor Angst nicht mehr trugen, stöhnend auf ein Felsstück gesunken war und wir anderen, Morrison mitten unter uns, in das kleine Tal hinabschauten, vernahmen wir von Norden her das Heulen und Bellen der Schlittenhunde, die in wahnwitziger Hast den Kanon entlangjagten, als ob der Satan hinter ihnen her wäre.

Ihr Bellen verstummte, – sie hatten sich in Sicherheit gebracht …

Ihr „Instinkt“, – was der anmaßende Mensch Instinkt nennt, hatte sie rechtzeitig gewarnt. Ererbtes Wissen hatte ihnen die nahende Gefahr für ihre feinen Sinne offenbart.

Uns Menschen bewies nur der Himmel, die drückende Schwüle und die beklemmende Stille, daß vielleicht ein Unwetter sich zusammenballte.

Uns – einen ausgenommen. Das war Red Hand, der greise Dakota-Sioux.

Er hatte sich von uns abgesondert, hielt noch den Pfeifenkopf vor seiner Brust mit der hageren, faltigen Rechten umklammert und zog die bunte Decke fester um seine Schultern.

Er horchte, sein Blick war nach Süden gerichtet, wo das Tal sich in eine weite Prärie verlor, deren Abschluß ein dunkler Waldstrich andeutete.

Er mußte schon vorhin in der Wohngrotte etwas gehört haben.

Jetzt hörten auch wir es.

Von Süden her kam ein heller Trompetenton, endlos lang gereckt, – das Heulen eines Orkans.

Es verstummte wieder.

Aber die Schwüle wurde noch drückender. Die Luft war so trocken, daß die Schleimhäute der Nase und des Halses gereizt wurden. Einige von uns husteten, andere niesten.

Plötzlich gewahrte ich an der Mündung meiner Büchse, die ich lose im Arm hängen hatte, einen gelblichen strahlenden Rand.

Die Erscheinung kannte ich. St. Elmsfeuer nennen es die Seeleute. Elektrizität nennen es die Gelehrten. Wenn sich dieser elektrische Niederschlag zeigt, ist die Luft mit unheilvollen Strömen der Ätherelektrizität überladen.

Und diese Lichterscheinung nahm zu, bildete sich an den Fingerspitzen, an den Kanten der Kleidungsstücke und den Huträndern. Auf der Haut erzeugte sie ein sanftes Kribbeln.

Die Beleuchtung wurde immer düsterer. Die Wolkenschicht, völlig gleichmäßig verteilt, ging immer mehr in ein Gelbbraun über.

Nicht einer von uns fand ein Wort für diese Vorgänge, nicht einer von uns wagte zu sprechen.

Aber der Schweiß brach uns plötzlich aus allen Poren, wir bekamen geisterhaft glänzende Gesichter, und jeder spürte, daß irgend etwas Unfaßbares geschehen würde.

Mein Blick streifte James Morrisons aufrechte Gestalt. Ich hatte ihn im Profil vor mir, und ich mußte mir eingestehen, daß dieses eiserne, harte Gesicht seinen bestimmten Reiz hatte, mehr noch, daß er durch seine starre Ruhe imponierte. Es war doch etwas Großes an diesem Schurken. Es war kein schleichender, kriecherischer Schacherer, er war einer der Könige des Goldes, einer der modernen Banditen der Börse und der Trusts, – eine Persönlichkeit.

Dann packte den zusammengesunkenen Fifo wieder die schlotternde Angst.

Wie eine Entweihung war sein winselndes Gekrächze … Die Natur rüstete sich mit ihren Urgewalten zu einem vernichtenden Schlag, und diese stinkende fette Kröte nahm ausgerechnet mich mit ihren schamlosen Ausbrüchen verlogener Reue aufs Korn.

„… Mr. Abelsen, – – Gott ist mein Zeuge, – – ich habe Sie nicht ersäufen wollen, als ich den Strick zerschnitt … Ich habe gedacht, unten im Brunnen wäre nur wenig Wasser …“

Also der war es!

Morrison drehte sich jäh um.

„Lump!! Schweige!!“

Samuel Fifo kroch vollends in sich zusammen.

… Die tiefen Orgeltöne des fernen Brausens schwollen an …

Hinter der schwarzen Waldkulisse erhob sich jäh eine ungeheure Staubwolke, schien durch magische Kraft zusammengedrückt zu werden und formte sich zu einer dunklen Säule …

Über Morrisons Lippen kam halblaut eine Bemerkung:

„Tornado – Windhose …“

Die Säule wuchs, überragte den Wald, wanderte.

Wanderte nach Norden …

Durch den Wald …

Ich stierte hinüber wie gebannt.

Wo soeben noch Wald gewesen, klaffte eine Lücke, und die Säule bekam Flügel, näherte sich über die Prärie mit unheimlicher Schnelligkeit.

Die Natur begleitete diese ihre Kraftentfaltung mit dem höllischen Sang eines Kirchenorchesters von Posaunen.

Ich hatte Taifune erlebt, ich hatte auf dem Meere Wasserhosen hochsteigen sehen, ich hatte in den Pampas des südlichsten Amerika Wirbelwinde kennengelernt, die uralte Bäume pflückten wie Gänseblümchen.

Dies hier war gewaltiger, ergreifender als alles das, – dies hier war Triumph[6] der Natur, war berauschend schön, beklemmend bedrohlich. Man spürte bis in die feinsten Nerven die eigene Nichtigkeit.

Da begann der alte Red Hand zu sprechen.

„In all den Jahren, die ich hier in den Grotten hause, habe ich dieses Schauspiel fünfmal erlebt. Fünfmal hat der große Manitu, der mein Volk dahinsterben ließ, seine Hand zur Erde gereckt und die toten Dinge emporgerissen und mit sich genommen in unbekannte Fernen, das letzte Mal überraschte er die letzten der Reste meines Stammes in diesem Tale des Todes, und ich … ich sammelte nachher die Toten und ließ sie durch die Kraft der Kräuter nicht zu Staub zerfallen. Ihr habt die fünfzehn Mumien gesehen, Männer, Weiber, Kinder … – Der große Manitu hat mir zugeraunt, daß die drei, deren Verbrechen gesühnt werden sollen, nicht durch Menschenhand bestraft werden dürften, – seine Hand naht, Manitu wird euch schonen, wenn in euren Herzen noch etwas Gutes lebt. – Das ist mein Urteil …! – – Laßt sie hinab in das Tal … Nehmt die Lassos, beeilt euch …“

Von der Terrasse hing ein Tau herab.

Fifo und Douglas heulten, brüllten …

Morrison sagte kalt:

„Zerschneidet meine Stricke … Ich klettere allein hinab.“

Harry La Granges Messer befreite ihn. Morrison und La Grange blickten sich fest in die Augen.

„Grüßen Sie Maria …“, sagte Morrison kurz, wandte sich um, packte das Tau und glitt abwärts.

Jörn hatte Sam Fifo bereits an einen langen Riemen gebunden, warf den kreischenden Feigling über den Rand des Abhangs und … Fifo, an den Füßen noch kurz gefesselt, stolperte besinnungslos hinter Morrison her, der auf einen Felsen mitten im Tale zuschritt.

Douglas wehrte sich wie ein Tollhäusler, biß um sich, – – Jörn packte ihn, und im Nu sank auch Marias Vater abwärts in den breiten Kanon …

Mir lief der Schweiß über die Augen, – ich hielt den Atem an …

Die Hand Manitus war ganz nahe, wir spürten den Luftstrom, wir warfen uns nieder …

Und sahen …

Sahen, daß Morrison mit über der Brust gekreuzten Armen hoch aufgerichtet wartete …

Sahen, daß Douglas gen Norden rannte, daß Fifo ganz umgesunken war … Er schrie …

Er heulte …

Aber wir hörten nichts …

Sturmwind fegte über uns hinweg …

Unsere Ohren dröhnten …

Und die Säule glitt weiter.

Nicht in gerader Linie …

Sie tänzelte spielerisch hierhin, dorthin, näherte sich den Talwänden, wich zurück, beschleunigte ihren Lauf, zögerte, schoß abermals vorwärts …

Eine Säule kreisender Luftwirbel, gefüllt mit toten Dingen, so dicht gefüllt, daß sie einem verwitterten Schornstein von gut vierzig Metern Durchmesser glich …

Elly May Intock neben mir bedeckte die Augen mit der Hand …

Milli Napy kroch zurück …

Sie ertrug den Anblick nicht.

Und Morrison stand und wartete.

Fünf Meter von ihm ab krümmte sich Fifo in Zuckungen der Todesangst, unfähig, sich zu erheben und zu fliehen.

Morrison hatte eine Chance für sich: Das Tal war mindestens dreihundert Meter breit – es verengte sich nach Norden zu. Morrison hätte der Hand Manitus ausweichen können.

Er stand still.

Ein Verbrecher, das wohl, aber kein feiger Lump.

Er wartete …

Die kreisende Säule glitt nach Osten, schien dicht an ihm vorüberziehen zu wollen …

Und bog kurz ab …

Stand still …

Wie Morrison …

Sekunden nur …

Bis ein neuer Kraftstrom sie vorwärts trieb, – – auf Morrison zu …

Noch fünf Meter …

Und dann …

Wie weggewischt waren Morrison und Fifo, – wie ein Renner stürmte die Vernichterin gen Norden, – wir reckten die Köpfe, wir sahen Douglas flüchten, aber die rächende Hand war schneller …

Die Säule verschluckte ihn, wandte sich nach links, wo die Felsgruppen vorhin das Blei der Geschosse zerspritzen ließen, und dieses Hindernis genügte.

Wie stets bei diesen Windhosen, so brach auch hier dieser gewaltige lockere Bau aus Luft und toten Dingen mit betäubendem Krachen in sich zusammen.

Fünf Minuten später strömten unendliche Regenfluten, vermischt mit Hagel, begleitet von Blitzen und rollendem Donner, vom schwarzen Firmament herab.

Inmitten dieser Sturzbäche suchten vier Männer in dem Trümmerfeld des eingestürzten gigantischen wandernden Schlotes nach den Toten.

 

15. Kapitel.

Und Friede auf Erden …?![7]

… In der Wohngrotte lag James Morrison mit eingedrückter Brust und zerfetztem Gesicht, das bereits die Schatten des Todes umspielten, auf weichem Mooslager.

Maria kniete neben ihm, und nur ich und Red Hand waren noch zugegen, – so hatte es der greise Häuptling gewollt.

Maria hielt des Sterbenden Hand, und die Tränen fielen langsam auf die farblose Hand ihres Gatten.

James Morrison versuchte zu sprechen.

Man merkte es ihm an, welche Anstrengung es ihn kostete, Worte zu formen.

Sie waren nur ein Röcheln.

„Maria, – – es ist nicht wahr, daß ich … unser Kind erschoß … Fifo tat es … Fifo feuerte auf deinen Vater …“

Er hustete …

Ein Blutstrom floß ihm über die Lippen.

Aber seine Energie erzwang das letzte:

„Maria, – ich habe dich geliebt … und unser Kind … Vergib mir …!“

Seine Augen suchten ihre Augen, und ein seliges Lächeln verschönte seine entstellten Züge.

Dann schlossen sich seine Lider, der einst so kraftstrotzende Leib bäumte sich auf, zuckte, – – und Morrison war tot.

Maria erhob sich mit meiner Hilfe und taumelte in einen der Sessel.

Red Hand trat zu ihr.

„Du tatest recht“, sagte er feierlich. „Er war der einzige der drei, der noch lebte und dem noch Manitu Zeit gönnte, mit dir zu sprechen … Du hast ihm verziehen, und deine Vergangenheit starb mit ihm in Frieden. Nun bist du frei, und deine Liebe wird ihre Erfüllung finden … Komme, meine Tochter, der, der dich liebt, wartet, und der dich liebt, ist ein La Grange, ein Mann, und deiner wert, – ich kenne seine Väter … Sie waren ehrlich, treu und tapfer …“

Er stützte sie, – und dann war ich allein mit dem Toten.

* * *

… Die Gräber drüben im Tale erinnern mich mit ihren plumpen Steinkreuzen an die letzte Ruhestätte der Gondaloors auf der fernen Insel am Rande der Antarktis.

Bullys Grab habe ich sauber mit Moospolstern belegt und auch einen Stein am Kopfende errichtet und mühsam mit einem Schlachtbeil als Meißel eingraviert:

Bully, ein Hund,
mein Hund.

Es besagt genug. –

Gestern haben wir dann nochmals das Geschehene unter uns Männer durchgesprochen und die Fragen geklärt, die noch offen geblieben.

Maria gebar ihr Kind hier in den Grotten, und eine junge Negerin, die Mann und Säugling in den Stromschnellen des Mackenzie verloren hatte, war ihre Pflegerin. Sie stammte aus Fort Burley, und dorthin begab sie sich mit ihrem Kinde, als Red Hand merkte, daß Morrisons Spione auch die Horn-Berge umschlichen. – Douglas entdeckte die Spur des Kindes, benachrichtigte Morrison, und Elly Mac Intock führte Morrison und Fifo zu der Blockhütte, wo Sam Fifo dann Douglas mit der Waffe bedrohte, um auch Marias Versteck zu erfahren. Die Schießerei kostete dem Kinde und der Negerin das Leben, Douglas aber, der Red Hands Rache im Falle eines Verrats fürchtete, weigerte sich, Marias Schlupfwinkel zu nennen und wurde am Fahrgestell des Flugzeuges mit in die Lüfte genommen und gab das Geheimnis schließlich doch preis. –

Nun sind auf den Tag des Schreckens Tage sonniger Freude gefolgt. Auch sie nähern sich ihrem Ende.

Jörn und ich werden bei Red Hand bleiben, alle anderen ziehen morgen früh zum großen Strome. Die Papiere, die wir in Morrisons Tasche fanden, beweisen besser als sein heldenhaftes Ende, daß er – – kein Verbrecher war. Sein Testament ernennt Maria zur Alleinerbin, ein anderes Schriftstück spricht Harry La Grange von aller Schuld frei und enthält die Beweise, daß bestochene Richter einen Unschuldigen ins Zuchthaus schickten. Milli und Justus Napy, ebenso Elly Mac Intock werden Maria und Harry nach der Stadt am Großen Salzsee begleiten und mein Kind mitnehmen. In Helena wollen wir uns dann treffen – nach Monaten, und ich werde mein Kind wiedersehen und werde als Oskar Smith in der Stadt am Felsengebirge ein friedsamer Bürger werden. Jörn Haskielt desgleichen, und auch Red Hand werden wir wohl inzwischen umstimmen, damit er sich uns anschließt. –

… Abermals sind Tage verschwunden …

Der Abschied von denen, die mir teuer geworden, und der letzte sanfte Kuß für mein Kind vor dem Aufbruch der Reisegesellschaft sind mir leicht geworden.

Wiedersehen winkt, und sobald erst drüben am Flusse in Patamak die Gerüchte zur Ruhe gekommen sind, daß ich in den Horn-Bergen mich aufhielte, dürfen auch wir die lange Fahrt gen Süden antreten. Erst dann …

Und erst jetzt, nachdem die schweigende Nacht mir die Müdigkeit in Hirn und Hand zaubert, lege ich die Feder hin, lehne mich zurück und denke nochmals an die buntbewegten Bilder, die ich hier in diesem Sprung ins Nichts mit krauser Schrift festgehalten habe.

Ich habe das Empfinden, daß jedes weitere Wort den starken Eindruck abschwächen müßte, den Morrisons Ende auf die ausgeübt haben dürfte, die Verständnis für die dunklen Abgründe der Menschenseele besitzen. –

Kain, der Wolf, mein unzertrennlicher Begleiter, hebt den Kopf und horcht …

Ganz langsam sträubt sich sein Nackenhaar.

Ganz langsam erhebt er sich, duckt sich zusammen …

Und ein warnender Blick trifft mich.

Ich kenne ihn.

Ich lösche rasch die Laterne …

Greife behutsam nach der Pistole …

Und horche …

Die fallenden Tropfen klingen …

Noch anderes höre ich …

Und fürchte, daß es mit dem friedfertigen Leben als seßhafter Bürger in Helena unter den Freunden noch lange Wege hat.

Wege abseits vom Alltag …

Wie bisher … Denn das, was ich höre und was Kain, den Wolf, hochtrieb, das sind … schleichende Schritte …

Ich schiebe die Sicherung der Pistole zurück und warte …

Dann ein leises Tappen in der Finsternis, – – ein gellender Schrei … –

Mir scheint, Kain hat da einen Fremden erwischt, der hier nichts zu suchen hat …

 

Nächster Band:

Der Geiser der Träume.

 

 

Anmerkungen:

  1. Rudyard Kipling: „Das Dschungelbuch“; allerdings ist Kipling Brite gewesen.
  2. In der Vorlage steht: „lernte“.
  3. In der Vorlage steht: „Zeitweilen“. Das ist eine Kontamination aus „Zuweilen“ und „Zeitweise“ – daher ersetzt durch „Zuweilen“.
  4. Etwas eigenwillige Wortwahl. Gemeint ist damit: „wem er sich anschließen soll“. Vielleicht wollte Kabel damit auch ausdrücken, daß nicht der Wolf, sondern die Menschen diese Entscheidung treffen sollen.
  5. Anspielung auf „Der Zigeunerbaron“ von Johann Strauß (Sohn), „Der Dompfaff, der hat uns getraut …“
  6. In der Vorlage steht: „Triumpf“.
  7. Anspielung nicht zuletzt auf Karl Mays Wendung zum Pazifismus, den dieser durch jenen Romantitel auch als Schriftsteller öffentlich verkündet hatte.