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Der „Zyklop“ auf der Katzeninsel

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Der „Zyklop“ auf der Katzeninsel.

 

W. Belka.

 

1. Teil.

Mein Tagebuch.

Auf einer unbekannten Insel.

am 15. Mai 1915.

Ein seltsames Riesengeschenk hat mir heute der Himmel beschert, ganz unerwartet, obwohl Weihnachten noch lange nicht da ist und mein Geburtstag schon zwei Monate zurückliegt.

Ich betrachte dieses Riesengeschenk als ein Paket von enormer Größe, das eine Unmenge mir höchst nützlicher Dinge enthält und das mir daher nur eine gütige Vorsehung gesandt haben kann.

Unter anderem fand ich darin auch ein Buch mit starkem Pappdeckel. Der Deckel und die erste Seite trugen den Aufdruck: „Tagebuch des Kommandanten“, freilich nicht auf Deutsch, sondern auf Englisch.

Aber dieser unbekannte Kommandant hat nicht eine einzige Zeile hineingeschrieben. Der Grund hierfür ist aus den ganzen Umständen, wie das Tagebuch in meinen Besitz gelangte, leicht ersichtlich: Jener Engländer hat nie Gelegenheit gefunden, wichtige Eintragungen zu machen. Er hat eben in seiner Eigenschaft als Führer des „Zyklop“ nichts erlebt, abgesehen von dem Unfall, der ihm sein Fahrzeug entriß und mich auf so sonderbare Art bereicherte. –

Als ich das dicke Buch sowie ein Päckchen Tintenstifte in Händen hielt, kam mir sofort der Gedanke, meine merkwürdigen Erlebnisse aufzuzeichnen. Ich weiß ja nicht, ob es mir je gelingen wird, diese Insel zu verlassen. Sterbe ich hier eines einsamen Todes als Robinson und wird mein Tagebuch dann später zufällig entdeckt, so können wenigstens meine Angehörigen darüber aufgeklärt werden, was ich alles durchgemacht habe. –

* * *

Ich bin jetzt sechzehn Jahre zwei Monate alt. Mein Name ist Erwin Schrader. Aufgewachsen bin ich in Wilhelmsburg bei Hamburg, wo mein Vater Lehrer an der Volksschule war. Ich besitze noch zwei ältere Schwestern, von denen die eine mit dem Kaufmann Merten in Hamburg, die andere mit dem Landmesser Schneider in Hannover verheiratet ist.

Von früh an schwächlich und kränklich, wurde ich von meinen Eltern etwas zu sehr verwöhnt. Dazu kam, daß ich in der Schule sehr gute Fortschritte machte. Auch aus diesem Grunde waren die Meinen sehr nachsichtig gegenüber meinen dummen Streichen, mit denen ich die ganze Welt neckte, ohne jedoch je aus Böswilligkeit zu handeln, sondern lediglich aus Übermut und aus einem Gefühl der Überlegenheit heraus, dem ich bei meiner Jugend nicht anders Ausdruck zu geben vermochte als durch allerlei fein ausgeklügelte Schelmentaten, durch die ich niemandem ernstlich schadete. Trotzdem kam ich bald in den Ruf eines Jungen, der einen schlechten Charakter haben und äußerst rachsüchtig sein sollte. Hiermit hat man mir bitter Unrecht getan. Ich kenne meine Fehler sehr gut, aber so, wie halb Wilhelmsburg den Erwin Schrader beurteilte, war ich nie. Erwachsene haben ja häufig nicht das geringste Verständnis für kindlichen Übermut, und diese Verständnislosigkeit machte aus mir den schlimmen „Lausbuben“, wie man mich häufig nannte. Dieser Lausbub hatte nun eine wahre Lesewut, die ihn wahllos alle Bücher verschlingen ließ, die ihm unter die Finger kamen. Besonders bevorzugte ich freilich Reiseschilderungen und Beschreibungen fremder Sitten und Gebräuche, so daß ich mit vierzehn Jahren bereits über allgemeine Kenntnisse verfügte, die meine Lehrer in Staunen setzten.

Dies mag über meine Kindheit genügen.

Ich komme nun zu der traurigen Vorgeschichte meiner späteren Erlebnisse als zweiter Robinson Krusoe. Die Abenteuer dieses Mannes sind jedoch im Vergleich zu den meinen beinahe harmlos und alltäglich zu nennen.

Am April 1914 starben meine Eltern kurz hintereinander an einer Typhusepidemie, die in Wilhelmsburg zahlreiche Opfer forderte. Mein Vater hinterließ keinerlei Vermögen, so daß ich das Gymnasium von Obertertia verlassen und daran denken mußte, irgend einen Beruf zu ergreifen, in dem ich möglichst schnell Geld verdiente. Meine beiden verheirateten Schwestern lehnten es ab, den „Lausbuben“ bei sich aufzunehmen, da auch sie mich für ein böses Früchtchen hielten und da sie in recht bescheidenen Verhältnissen lebten. Ich hätte mich also unter fremden Leuten herumstoßen müssen, wenn nicht ein Bruder meiner Mutter, der vor Jahren nach Südamerika ausgewandert war und in Carakas in Venezuela ein Geschäft besaß, mir den Vorschlag gemacht haben würde, zu ihm zu kommen und in seine Holzhandlung als Lehrling einzutreten, die ich dann vielleicht später übernehmen könnte, weil er keine eigenen Kinder besaß. Ich schrieb ihm zurück, daß ich mit Freuden einwillige, worauf er mir das Reisegeld und zugleich einen Empfehlungsbrief an einen seiner Freunde schickte, der einen kleinen Frachtdampfer besaß und der mich bei nächster Gelegenheit mit nach Carakas hinüberbringen sollte.

Am l8. Juli 1914 fuhr dieser Dampfer von Hamburg ab. Kapitän Jensen, der Freund meines Onkels, behandelte mich, seinen einzigen Fahrgast, vom ersten Augenblick an mit warmer Herzlichkeit und hatte auch nichts dagegen, daß ich meinen damals drei Jahre alten Wolfshund Hasso, von dem ich mich nicht trennen wollte, mit an Bord nahm.

Die Liebe zu Tieren habe ich sicherlich von meiner Mutter geerbt, die mir auch Hasso an meinem elften Geburtstage schenkte. Hasso entwickelte sich bald zu einem überaus kräftigen und klugen vierbeinigen Freunde. Und der Lausbub und der große, schöne Hund mit dem prächtigen Fell und den dunklen, verständigen Augen waren schnell in Wilhelmsburg als unzertrennlich berühmt oder meinetwegen auch berüchtigt. Daß Hasso mir meine Liebe in gleicher Weise vergalt, brauche ich nicht erst zu erwähnen.

Die ersten Tage der Überfahrt nach Carakas verliefen ohne Zwischenfall bei ruhigem Wetter. Dann, als wir uns den Azoren, jener westlich von Spanien im Atlantischen Ozean liegenden Inselgruppe näherten, traten schwere Stürme auf, die dem „Herkules“ böse zusetzten und ihn bei heftigen Regenböen weit aus dem Kurse drängten. Jetzt wurde ich seekrank, und zwar gleich so arg, daß sich infolge der Erschöpfung bei mir auch wieder Krampfanfälle einstellten, an denen ich schon als Kind gelitten hatte.

Einer dieser Anfälle ging schließlich in einen Starrkrampf über, der alle meine Glieder lähmte und mir das Aussehen eines Toten gab. Trotzdem hörte ich alles, was um mich herum geschah. Mit namenslosem Entsetzen mußte ich es dulden, daß Kapitän Jensen, der eine Leiche vor sich zu haben glaubte, mir die Augen zudrückte und alle Vorbereitungen für meine Bestattung auf Seemannsart treffen ließ. Man weiß, wie abergläubisch Seeleute sind. Einen Toten an Bord dulden sie nicht lange. Er soll dem Schiffe Unglück bringen. In meinem Falle kam noch hinzu, daß der Sturm ihre Gemüter ohnehin schon in Schrecken gesetzt hatte. Gegen Abend war ich anscheinend gestorben, und bereits vier Stunden später verlangten sie, daß ich in das Meer versenkt werden sollte, damit der Dampfer nicht mit einer Leiche an Bord dem Orkan zum Opfer falle. Kapitän Jensen gab nach, um die Stimmung der Mannschaft nicht noch mehr zu verschlechtern.

Über das Entsetzliche, was dann geschah, will ich schnell hinweggehen. Ich lebte, und war doch tot, mußte alles mit mir geschehen lassen, ohne mich wehren, ohne auch nur mit einer Wimper zucken zu können.

Man nähte mich, so wie ich war, in ein altes Flaggentuch ein. Das Fußende dieses Bündels beschwerte man mit einem Stück Eisen, das zum Glück nicht allzu schwer gewählt wurde.

Dann trug man mich an Deck, Jensen sprach noch ein Gebet und darauf sollte ich, auf einer Planke entlanggleitend, die Reise in die Tiefen des Meeres antreten.

Da trat jedoch eine Verzögerung ein, an der mein Hasso schuld war. Das treue Tier mochte ahnen, was man mit seinem regungslosen Herrn, von dessen Seite er auch jetzt nicht fortzubringen war, vorhabe. Als die Matrosen meinen starren Körper auf das Brett legten, hörte ich plötzlich den Wolfshund jenes kurze Bellen ausstoßen, das bei ihm ein Zeichen höchster Wut war. Gleich darauf fiel ich hart auf die Planken des Decks auf. Hasso hatte also offenbar die Matrosen, mit seinem starken Gebiß drohend, verjagt.

Dann vernahm ich Schreien und Schimpfen, wobei besonders der stets halb betrunkene Steuermann mit seiner Baßstimme die andern übertönte.

„Schlagt das Vieh tot – weg mit der Leiche von Bord – haut dem Köter mit der Handspeiche eins über die Nase …!!“

Das und noch rohere Rufe waren es, die mein Hirn in einen wilden Aufruhr brachten.

Meinen Hasso wollte man töten, meinen einzigen Freund …!! – Die wahnwitzigste Angst, größer als die um mein eigenes Leben, zerrte an meinen Nerven. Wieder heulte der Hund auf, – – – und dann flog ich ganz plötzlich, von ein paar Armen über die Reling geworfen, in den leeren Raum hinaus …

Gleich mußte das beschwerte, lange Bündel, zu dem man mich gemacht hatte, die Wogen berühren und in ihnen untertauchen … für immer!

Da, in diesem Augenblick, wo Furcht und Entsetzen mich dem Wahnsinn nahebrachten, wo mein letzter Gedanke war: „Was geschieht mit Hasso?“ ging’s durch meinen Körper wie ein schmerzhafter Ruck und mit einem Male merkte ich, daß ich die Finger, die Arme, – alle Glieder wieder bewegen konnte. Ein heißes Gefühl der Freude flutete mir zum Herzen, doch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Dann kam mir zum Bewußtsein, daß der Starrkrampf zu spät gewichen, daß ich verloren, zum Tode des Ertrinkens verurteilt war, obwohl ich jetzt die volle Gewalt über meinen Körper zurückerhalten hatte.

Und … da glitt ich auch schon in die Wogen hinein. Mit der rechten Körperseite berührte ich zuerst mit lautem Platschen das Wasser … Nun würde ich gleich untersinken, tiefer, immer tiefer, bis hinab auf den Grund, auf den riesigen Friedhof so vieler braver Seeleute, – auf den Meeresboden …

Es kam anders …

Dicht neben mir ein zweites, lautes Aufschäumen in den Wellen. Dann fühlte ich gerade an meiner Schulter einen schmerzhaften Druck, fühlte mich über Wasser gehalten und hörte dazu die keuchenden Atemzüge eines lebenden Wesens.

Mein Hasso nur konnte es sein, der mir nachgesprungen war und mich mit seinen Zähnen gepackt hatte.

In winzigen Sekunden hatte sich dies alles abgespielt. Jetzt erwachte jäh mit einer Macht, die mir ungeahnte Kräfte verlieh, der Selbsterhaltungstrieb in mir. Ich versuchte die Flagge, in die man mich eingenäht hatte, zu zerreißen, krallte die Finger in den morschen Stoff und … fühlte ihn unter meinem Griff nachgeben, zerrte und zog, bis ich die Arme und den Kopf wirklich freibekam Das Weitere war jetzt ein Kinderspiel. Bald sank auch die Hülle mit dem Eisenstück von meinen Beinen herab.

Eine halbe Stunde haben wir beide dann, mein Hund und ich, noch gegen die Wogen angekämpft. Von dem Dampfer sah ich nur in weiter Ferne noch ein paar Lichter. Ich hatte mit der Linken Hassos Lederhalsband erfaßt und ruderte mit der Rechten, indem ich mich vollständig von meinem vierbeinigen Freunde führen ließ, der offenbar eine bestimmte Richtung einzuhalten sich bemühte. Seine scharfen Sinne hatten ihn das nahe Land wittern lassen, an dessen Küste uns schließlich eine mitleidige Welle warf, indem sie uns weit auf den flachen Strand trug.

So gelangten wir auf diese Insel, beide mehr tot als lebendig. Wir hatten soviel Seewasser geschluckt, daß wir es jetzt, nebeneinander liegend, gleichzeitig von uns gaben. Tiefe Nacht umhüllte uns. Die Brandung, die vor uns wie ein weiter Streifen leuchtete, brüllte und tobte. Bald ging dann auch ein heftiger Regenschauer nieder. Doch – was tat das?! Nasser, als wir es schon waren, konnten wir nicht mehr werden.

Ich war so erschöpft, daß es mir auch völlig gleichgültig blieb, ob diese oder jene der auslaufenden Wellen uns teilweise überflutete. Nur die Köpfe hoben wir dann jedes Mal wie auf Kommando hoch, um das salzige Wasser nicht ins Gesicht zu bekommen.

Hasso leckte mir hin und wieder die Hände. Aus seinen dunklen, klugen Augen las ich die Freude über unsere Rettung so deutlich heraus. Was ich empfand, zeigte ich dem treuen Tiere dadurch, daß ich ihm den Arm um den Hals gelegt hatte und leise mit ihm sprach. Ich war nicht allein, ich besaß ein Wesen, das an mir hing mit rührender Hingebung, – dieses Bewußtsein ließ mich alle Zukunftssorgen vergessen. –

* * *

Nachdem wir uns etwas erholt hatten, strebten wir einigen buschbewachsenen Hügeln zu, die sich unmittelbar an das kahle, allmählich ansteigende Ufer anschlossen und die ich erst bemerkt hatte, als einmal der Mond hinter den dichten, jagenden Wolken für kurze Zeit hervortrat und die Umgebung in sein Silberlicht tauchte.

Hier verbrachten wir in einer Vertiefung, die uns vor dem Winde schützte, die Nacht. Trotzdem ich zunächst jämmerlich fror, schlief ich schließlich doch ein, da Hasso sich dicht an mich herangedrängt hatte und mir etwas Wärme abgab. Sein nasses Fell hatte er sich ja bald durch Schütteln und Umherjagen leidlich getrocknet.

Ich erwachte dann erst nach vielen Stunden durch meines vierbeinigen Retters wütendes Gebell, richtete mich schlaftrunken auf und schaute um mich. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Die Wolken waren verschwunden, und auch der Sturm hatte nachgelassen. Eine milde, warme Luft, durch einen schwachen Wind bewegt, fächelte mein von dem salzigen Wasser und dem Anprall der Wogen brennendes Gesicht.

Wieder hörte ich meinen Wolfshund erregt kläffen. Sehen konnte ich ihn nicht, da er sich außerhalb der von Büschen umstandenen Sandgrube befand, in der wir gelagert hatten.

Neugierig und auch leicht beunruhigt durch das Anschlagen Hassos erhob ich mich, stieg aus der Vertiefung heraus und lugte durch die Sträucher hindurch.

Was ich jetzt erblickte, überraschte mich derart, daß ich einen Moment ganz starr vor Staunen war.

Etwa zwanzig Meter landeinwärts erhob sich mitten auf einer freien Stelle ein alter, verwitterter Eichenstamm mit nur wenigen niedrigen Ästen und dürftigem Blätterschmuck. Auf dem stärksten dieser Äste, der sich wagerecht zum Erdboden langstreckte, standen mit gekrümmten Rücken drei merkwürdige Tiere, die in ihrem Äußeren ihre Zugehörigkeit zum Katzengeschlecht nicht verleugneten und die doch wieder so anders gebaut waren, daß ich sie zunächst nicht recht unterbringen konnte.

Sie waren etwas größer als unsere heimische Hauskatze, der sie bis auf den fehlenden Schwanz und die unverhältnismäßig hohen Hinterbeine völlig glichen. Aber gerade diese beiden Merkmale im Verein mit dem rostbraunen, schwarz gefleckten Fell gaben ihnen eine an einen Luchs erinnernde Gestalt und verliehen ihnen auch mehr das Aussehen eines kleineren Raubtieres.

Dann fiel mir ein, daß ich von diesen seltenen Geschöpfen bereits einmal irgendwo etwas gelesen hatte. Es waren wirklich Katzen und zwar jene nur auf der in der Irischen See gelegenen Insel Man vorkommende schwanzlose (auch auf Sumatra gibt es eine schwanzlose Katze, die insofern besonders interessant ist, als bei den Jungen noch ein vollentwickelter Schwanz vorhanden ist, der aber nach den ersten sechs Monaten vertrocknet und abfällt), sehr kräftige Spielart, die dort als gefährlichste Feindin der Vogelwelt gefürchtet ist. Ich besann mich nun auch, daß diese sehr leicht verwildernden Katzen in letzter Zeit auf der Insel Man derart überhand genommen haben sollten, daß die englische Regierung einen großen Teil abschießen ließ und weiter bestimmte, allen übrigen sollten die Sehnen an einem der Hinterfüße durchschnitten werden, damit die Vögel sich leichter vor ihnen schützen könnten.

Drei Exemplare dieser merkwürdigen Vertreter des Katzengeschlechtes sah ich nun hier vor mir.

Unter der alten Eiche aber stand mit gesträubtem Rückenhaar mein Hasso, bellte und winselte vor Jagdeifer, lief auch zuweilen bis an den Stamm heran und suchte diesen zu erklettern.

Mein Erscheinen bewirkte, daß die Tiere wie ein Blitz in einem Loch der offenbar hohlen Eiche verschwanden, wo ich sie vorläufig nicht weiter belästigte. Mir lag weit mehr daran, schleunigst etwas Eßbares und womöglich auch Trinkwasser zu finden. So rief ich denn meinen vierbeinigen Freund, der sich nur schwer von der Eiche wegbringen ließ, energisch an und schritt einem nahen Walde zu, dessen glänzend grüne Blätter, die einen gewürzigen Duft weithin verbreiteten, mir bald verrieten, daß ich Lorbeerbäume (es gibt zwei Arten von Lorbeerbäumen, den kanarischen und den „edlen Lorbeerbaum“. Letzterer liefert die auch bei uns als Gewürz bekannten Blätter) vor mir hatte, die ja auch in bescheidener Größe in meiner deutschen Heimat aufgezogen werden. Hier waren einzelne der Stämme bis zu 18 Meter hoch und besaßen sehr astreiche Kronen, in denen ich zu meiner Freude außer grüngelben, wilden Kanarienvögeln noch mehrere taubenähnliche Vögel bemerkte, die dort vergnügt lärmend ihr Wesen trieben.

Ich will an dieser Stelle gleich bemerken, daß meine Insel außer Eichen und Lorbeerbäumen, die zumeist in geschlossenen Gruppen auftraten, noch mehrere Arten von Nadelhölzern aufzuweisen hatte, ferner in ihrem südlichsten Teile auch einen Hain von Dattelpalmen und einige Kastanien- und Walnußbäume von riesigem Umfange. An Sträuchern waren vorhanden eine weidenähnliche Art mit sehr saftreicher Rinde, wilde Brombeeren, eine dem Kandelaberkaktus gleichende, hochstämmige Pflanze, die besonders am Strande in ganzen Feldern wucherte, und verschiedene auch in Europa vorkommende Straucharten. Unter den Blumen entdeckte ich ebenfalls viele, die mich an die Heimat erinnerten (die Insel besaß mithin die Flora (Pflanzenwelt) der Azoren und der Kanarischen Inseln, auf denen sich sowohl europäische wie tropische Pflanzen vorfinden).

Nachdem ich den Lorbeerwald durchschritten hatte, traf ich stellenweise auf felsigen, unfruchtbaren Boden, wo mir gewaltige Blöcke den Weg versperrten und tiefe Spalten mich oft zu Umwegen zwangen.

Dann betrat ich nach Durchquerung eines Waldes von Eichen und Nadelbäumen eine kleine Grasebene, die langsam anstieg und im Hintergrunde von einer kahlen, steinigen Hügelkette begrenzt wurde, aus der fünf niedrige, abgestumpften Kegeln gleichende Bergkuppen hervorragten.

Der nördlichste dieser Felslegel war höher als die übrigen, und dorthin lenkte ich nun meine Schritte in der Hoffnung, daß ich von der Spitze dieser Erhebung aus das Land weithin würde überschauen können.

Eine Viertelstunde später hatte ich diesen Aussichtspunkt erklommen, was nicht ganz leicht vonstatten ging, da die glatten Wände der Bergkuppe ziemlich steil abfielen. Schon vorher war mir aus der Beschaffenheit des Bodens klar geworden, daß ich mich auf vulkanischem Terrain befinden müsse. Deutlich waren noch hier und da Lavamassen zu erkennen, die der Verwitterung bisher getrotzt hatten. Als ich nun aber oben auf dem Felskegel angelangt war, sah ich, daß ich einen kreisrunden Kraterkessel vor mir hatte, der eine vielleicht zwölf Meter tiefe, nach unten sich verbreiternde Höhle darstellte. Später fand ich dann, daß auch die anderen vier Kuppen nichts als Krater erloschener, kleinerer Vulkane waren.

Bevor ich mir aber diesen ersten Kraterkessel genauer ansah, warf ich einen neugierigen Blick in die Runde. Die durchsichtig klare Luft enthüllte mir von diesem erhöhten Standpunkte aus alle Einzelheiten der Insel, auf die mich eine gütige Vorsehung geführt hatte.

Sie hatte die Form einer kurzen Keule, deren Griff nach Süden gerichtet war. Die größte Breite schätzte ich auf fünf, die Länge auf vielleicht zwölf Kilometer. Die Vulkankrater, die untereinander etwa hundert Meter Zwischenraum hatten und in einer Linie von Norden nach Süden lagen, befanden sich gerade in der Mitte der breitesten Stelle, und die Hügellandschaft, die sie überragten, war auch die einzige auf der ganzen, im übrigen ziemlich ebenen Insel.

Weiter stellte ich fest, daß mehr südlich aus den Hügeln mehrere Quellen in Gestalt von kleinen Rinnsalen heraustraten, die sich bald zu einem Bache vereinigten, der sich wie ein silbernes Band zwischen den Wäldern und Hainen hindurchschlängelte und schließlich an der Ostküste des Südteiles ins Meer floß, wo er eine ziemlich breite Bucht zu bilden schien.

Nachdem ich so alles Sehenswerte in mich aufgenommen hatte, suchte ich mit den Augen den Horizont ab. Doch nirgends vermochte ich die weißen Segel eines Schiffes oder den Rauch eines Dampfers zu erspähen, nirgends bemerkte ich weitere Inseln, auf deren Vorhandensein ich bestimmt gehofft hatte, da ich wußte, daß der „Herkules“ sich in der Nähe der Azoren, dieser aus neun Inseln bestehenden Gruppe, befunden hatte, als der Sturm über uns kam und mich dem Tode nahebrachte.

Mit der Gewißheit, auf eine einsame, unbekannte Insel verschlagen zu sein, schwand auch meine Hoffnung, daß ich hier Menschen vorfinden würde, die sich meiner angenommen hätten. Einen Augenblick wollte mich das Gefühl der Verlassenheit mit Mutlosigkeit und Verzweiflung erfüllen. Unwillkürlich seufzte ich tief auf. Da aber schob sich in meine herabhängende Rechte eine kalte Hundenase wie schmeichelnd hinein, und niederblickend schaute ich in die treuen Augen meines Hasso, der schweifwedelnd neben mir stand.

Da war die Niedergeschlagenheit schnell verflogen. Meine Finger streichelten liebkosend den schönen Kopf des starken Wolfshundes, der mir sicher ein lieber Gefährte sein würde – vielleicht ein besserer als mancher Mensch! – –

* * *

Die nächsten Tage und Wochen vermag ich in meiner Erinnerung nicht mehr im einzelnen auseinanderzuhalten. Jedenfalls beschloß ich, nachdem ich die Insel in allen ihren Teilen durchstreift hatte, wobei ich auf auffallend viele schwanzlose Katzen stieß, mir eine Hütte am Rande des Baches im Südteile des Eilandes unter einigen Eichen zu errichten, in deren Nähe sich ein Hain von Dattelpalmen und fünf mächtige Walnußbäume befanden, deren Früchte neben Eiern von Möwen, die ich am Strande sammelte, zunächst meine Hauptmahlzeit ausmachten, während Hasso sich mit dem rohen Fleisch der Tiere begnügen mußte, von denen auch die verwilderten und sicher vor langen Jahren durch ein Schiff hier eingeführten Katzen lebten. Diese Tiere waren Fledermäuse, die auf der Insel in Unmenge hausten und am Tage in ganzen Reihen an den Innenwänden der Kraterkessel hingen, während sie nach Eintritt der Dämmerung ihre Jagd auf Insekten begannen und dann überall in lautlosem Fluge um die Kronen der Bäume flatterten.

Freilich, die Katzen fingen sich die Fledermäuse, von denen es hier zwei Arten gibt, selbst mühelos ein, während ich gezwungen war, sie täglich aus den Kratern herauszuholen, in die ich mit Hilfe von Stricken, welche ich aus Weidenrinde flocht, hinabturnte. Zunächst verschmähte Hasso diese ekle Nahrung. Aber der Hunger war auch bei ihm der beste Koch.

Meine Hütte hatte ich zunächst nur aus Zweigen hergestellt, merkte dann aber bei dem ersten Regen, daß sie eine recht unzureichende Wohnung darstellte. Ich siedelte deshalb bald einige dreißig Meter weiter nach einer hohlen Rieseneiche über, deren Stamm am Boden ein breites Loch aufwies, welches ich erweiterte und zu einer Tür für meine trockene Baumbehausung umgestaltete.

Allmählich fertigte ich mir dann als echter Robinson allerlei Werkzeuge an, – eine Axt, einen Hammer und einen Meißel, wobei ich passende Steine verwandte. Diesen Werkzeugen folgte die erste Waffe, – eine Lanze, mit der ich den Katzen, die von Tag zu Tag frecher und zudringlicher geworden waren, nachzustellen gedachte. Die Spitze der Lanze bestand in einem langen, scharfkantigen Steinsplitter, den ich mit Weidenbast am Schafte befestigte.

Aber welche List mußten wir anwenden und wie geduldig mußten wir, mein Hasso und ich, sein, um hin und wieder auch nur eines dieser schlauen, schnellen Tiere zu erlegen, die sich sofort in die Kronen der Bäume flüchteten, wo sie für uns so gut wie unerreichbar waren. Nur wenn es uns gelang, bei einer dieser Treibjagden ein paar Katzen auf einen alleinstehenden Baum zu hetzen, hatten wir Aussicht auf Erfolg. Dann erkletterte ich den Stamm, während der Wolfshund unten Wache hielt und die schließlich notgedrungen auf den Boden herabspringenden Tiere mit den Zähnen zu fassen suchte. Meine Lanze jedenfalls, von der ich mir soviel versprochen hatte, nützte mir hierbei sehr wenig.

Gewiß, oft genug hatte ich auch den Gedanken erwogen, mir einen Bogen und Pfeile anzufertigen. Diese Idee war jedoch so lange ganz unausführbar, als es mir an einer festen Schnur für eine Bogensehne fehlte. Dann – inzwischen waren ungefähr drei Monate verstrichen – fiel mir eines Tages ein, daß man Katzendärme in der Chirurgie zum Vernähen von Wunden in Form sehr starker, dünner Fäden verwendet. Viele Stunden verwandte ich nun zu Versuchen, aus den gereinigten Därmen Schnüre zu drehen. Endlich, als ich die Därme mit dem Nierenfett der Katzen stark durchtränkte, erzielte ich einen befriedigenden Erfolg. Gleichzeitig hatte ich dann auch einige Felle mit den scharfen Kanten von Muscheln ihres Haarschmuckes beraubt und sie ebenfalls mit Fett zu gerben versucht, damit sie nicht hart und brüchig wurden. Die Felle zerschnitt ich in dünne Riemen, deren Haltbarkeit jedoch lange nicht an die der Darmschnüre heranreichte. Daher benutzte ich denn auch letztere als Sehne für den Bogen, den ich mir nunmehr arbeitete, nachdem ich verschiedene Holzarten auf ihre Brauchbarkeit durchprobiert hatte. Am geeignetsten war Walnußholz. Welche Mühe es mir machte, diesen Bogen lediglich mit Hilfe eines Steinmessers, das ich mir inzwischen ebenfalls gearbeitet hatte, zurechtzuschnitzen, kann sich jeder wohl selbst sagen. Aber meine Ausdauer wurde schließlich reichlich belohnt. Selbst die Pfeile gelangen mir recht gut, für die ich als Spitzen zugespitzte Röhrenknochen von Katzen benutzte.

Jetzt, als ich mich mit meiner Waffe erst eingeschossen hatte, erging es dem Katzengesindel schon schlechter. Da ich die Pfeile auch gefiedert hatte, um ihre Flugbahn gleichmäßiger zu gestalten, traf ich bald auf fünfzig Schritt selbst das kleinste Ziel. Ich besinne mich, daß ich nun an einem besonders glücklichen Tage nicht weniger als ein Dutzend der schwanzlosen Tiere erlegte, deren Felle ich sorgfältig reinigte, gerbte und aufhob und deren Fleisch Hasso bald den Fledermäusen vorzog.

So verging ein weiterer Monat. Meine Nahrung bestand noch immer in rohen Eiern und Früchten, da alle meine Versuche, mir auf irgend eine Art ein Feuer zu entzünden, fehlschlugen. Um meinen blauen, doppelreihigen Tuchanzug, der inzwischen von der Sonne schon völlig ausgezogen war und grünlich schimmerte, zu schonen, begann ich mir Kleider aus Fellen zu nähen, indem ich mit unendlicher Geduld an den Rändern der einzelnen Fellstücke, die vereinigt werden sollten, Löcher bohrte und feine Därme hindurchzog. Auch hierbei machte Übung den Meister, und bald besaß ich sogar zwei Lederanzüge, die leidlich gelungen waren.

Daß mir der stete Aufenthalt in der frischen Luft gesundheitlich sehr gut bekam, merkte ich von Tag zu Tag mehr. Ich wurde fast zusehends kräftiger und gewandter, und gerade dieses Gefühl körperlicher und geistiger Frische spornte mich dazu an, allmählich mir mein Leben immer behaglicher zu machen, indem ich einmal meine Baumwohnung mit kleinen Einrichtungsgegenständen, – Tisch, Stuhl und kastenähnlichem Bett, wobei ich die abgelöste Rinde eines Nadelbaumes, die ich gerade bog, als Bretter benutzte, versah, dann aber auch meine Werkzeuge und Waffen vervollkommnete, mir Trinkbecher und Schalen schnitzte und – auf diesen Gedanken war ich besonders stolz! – mir vor dem Eingang meiner Baumbehausung eine Art offenes Zelt aus Fellen errichtete, so daß ich auch bei Regenwetter im Freien sitzen konnte.

Ich kann nicht sagen, daß ich mich in diesen ersten vier Monaten auch nur einmal gelangweilt habe. Ich war ja nicht allein. Hasso war mein unzertrennlicher Begleiter, mit dem ich lange Gespräche führte, wobei seine Antworten freilich nur in einem Schweifwedeln bestanden. Mein Tag begann regelmäßig mit einem Bade in dem nahen Bach. Dann schnitt ich in meinen Kalender, eine Dattelpalme, die Tageskerbe ein. Die Sonntage kennzeichnete ich durch Kreuze, und die einzelnen Monate rahmte ich durch lange Schnitte ein. Nach dem Frühstück folgte ein längerer Spaziergang, entweder am Strande entlang oder nach dem Innern der Insel. Während der heißen Stunden, etwa von elf Uhr vormittags bis vier Uhr nachmittags, blieb ich zunächst in der Nähe meiner Wohnung, beschäftigte mich mit allerlei Arbeiten oder übte mich im Gebrauch meiner Waffen. Gegen Abend wanderte ich regelmäßig nach dem nördlichsten Kraterkessel, um auf das Meer hinauszuschauen. Hin und wieder bemerkte ich auch ein Schiff, aber stets in solcher Entfernung, daß ich es nicht um Hilfe anrufen konnte. Gleich nach Dunkelwerden ging ich dann zur Ruhe. Eine Lampe besaß ich nicht, und so mußte ich notgedrungen früh mein Graslager aufsuchen, von dem ich mich meist schon vor Sonnenaufgang erhob.

Am 28. Juli 1914 war ich auf der Insel gelandet. Am 29. November desselben Jahres begann dann ein Zeitabschnitt, der mehrere wichtige Ereignisse kurz hintereinander brachte.

An diesem 29. November war ich morgens am Oststrande entlang nach der Nordspitze der Insel gewandert, wo ich mich eine ganze Woche nicht hatte sehen lassen. Hier fand ich nun einen jungen Walfisch (in der Nähe der Azoren werden jährlich allein 150 Wale gefangen) angeschwemmt, der bereits stark in Verwesung übergegangen war und weithin die Luft verpestete. Trotzdem näherte ich mich ihm bis auf wenige Schritte. Da gerade Ebbe herrschte, lag er ganz auf dem Trockenen, und nur der Ruderschwanz ragte noch ein Stück in die See hinein. Das Tier war gut zwölf Meter lang. Was mich so nahe heranlockte, waren zwei lange Holzschäfte, die aus dem Rücken des Tieres herausragten. Es konnten nur Harpunen sein, mit denen man den jungen Wal zu fangen versucht hatte.

Das Ekelgefühl überwindend, kletterte ich auf den Rücken des mächtigen, wasserbewohnenden Säugetieres und wollte gerade die eine der Harpunen herausziehen, als unter dem Leibe des Wales plötzlich zwei schlangenähnliche Geschöpfe hervorkrochen, die sich schnell nach dem Wasser zu davonmachen wollten.

Die Harpune, die ich schon umklammert hatte, herausreißen und mit ihr hinab in den Sand springen, war eins. Einige Schläge mit der scharfen, langen Spitze genügten, um das Gewürm in mehrere sich wild krümmende Stücke zu verschneiden.

Jetzt sah ich, daß ich nicht Schlangen, sondern vielmehr jene Riesenwürmer[1] vor mir hatte, die zu den Ringelwürmern gehören, länger als ein Meter werden und ausschließlich im Meere hausen. Daß es Würmer (diese erst kürzlich entdeckten Riesenwürmer kommen auch in der Südsee (Sailopo-Wurm, Leichenfresser) und im Meerbusen von Kalifornien vor. Der ebenso lange Palolo-Wurm wird auf den Fidschi-Inseln geröstet und gegessen) waren, erkannte ich sofort an der dunkelbraunen, mit helleren Borsten bedeckten Haut und. an den am Kopfende befindlichen Freßkiefern. Diese häßlichen Geschöpfe hatten sich in den Leib des Wales hineingefressen, wie sie sich überhaupt von Fischkadavern aber auch von lebenden Wasserbewohnern nähren, an die sie sich festsaugen um dann mit ihren Freßkiefern schnell in das Innere ihres Opfers einzudringen.

Nachdem ich die zerfetzten Körper in die See geschleudert hatte, erkletterte ich den Walfisch wieder und zog auch die zweite Harpune heraus, an der noch eine gut fünfzehn Meter langem Leine, die offenbar von den Walfischfängern durchschnitten war, hing. Aus den Hautöffnungen trat in Menge dickflüssiger Tran hervor, zu dem die Sonnenhitze die Oberschicht des Speckes des toten Tieres inzwischen verwandelt hatte. – Wie sehr bedauerte ich es jetzt, daß ich kein Feuer besaß. Sonst wäre es mir ein leichtes gewesen, mir eine Tranlampe herzustellen. Trotzdem konnte ich jedoch mit dem Erfolge dieses Ausfluges sehr zufrieden sein. Ich hatte ja die beiden Harpunen gefunden, deren starke, scharfe Eisenspitzen ich recht gut als Axt benutzen konnte.

Erst als ich dann vor meiner Baumwohnung unter dem Zeltdach meine Mittagsmahlzeit einnahm, fiel mir ein, daß ich eigentlich die Haut des Wales ganz gut gebrauchen könnte und daß es vielleicht praktisch wäre, auch einen Teil des Speckes zu sammeln und aufzubewahren. Dieser Gedanke gelangte sofort zur Ausführung, und eine Arbeit von drei Stunden brachte mich, wobei ich selbst meine Überwindung des Ekels vor dem scheußlichen Geruch des Walfisches bewunderte, in Besitz der ganzen Haut und einer Unmenge Speck, den ich in die möglichst groß gelassenen Hautstücke einpackte und vorläufig in einer tiefen Felsspalte verbarg, wo es recht kühl war und auch die Katzen nicht herankommen konnten.

Sehr müde von der anstrengenden Arbeit dieses Tages ging ich dann noch früher als sonst zu Bett. Mitten in der Nacht weckte mich Hassos lautes Knurren, der neben meinem Lager auf dem Boden zu schlafen pflegte.

Als ich eine Weile aufmerksam gelauscht hatte, vernahm ich von der See her kurz hintereinander ein paar dröhnende Knalle, die ich für Kanonenschüsse hielt. Hasso bellte jetzt schon ärgerlich und mißtrauisch auf, wurde aber von mir zur Ruhe verwiesen. Nach einer Weile dann wieder zwei Schüsse, die so nahe klangen, daß ich schnell aufsprang, eine der Harpunen ergriff, die Rindentür meiner Wohnung öffnete und an dem Bache entlang zum Oststrande lief, der kaum dreihundert Meter entfernt war, jedoch durch einen dichten Lorbeerwald meinen Blicken entzogen wurde.

Es war eine dunkle Nacht. Der teilweise mit Wolken bedeckte Himmel zeigte nur hier und da ein paar Sterne. – Kaum hatte ich den Strand erreicht, als ich wie angewurzelt stehen blieb.

Ein seltsames Schauspiel bot sich meinen Augen dar. Draußen auf dem Meere, wohl reichlich einen Kilometer weit weg, lagerte ein glänzender weißer Lichtkegel auf dem Wasser und beschien einen Dampfer, der mit dem Heck hoch emporragte und dann urplötzlich versank. Weiter bemerkte ich in dem Scheinwerferkegel noch vier Boote, die jetzt nach einem zweiten Schiffe hinruderten, von dem ich nur die Umrisse erkennen konnte und das seinen Scheinwerfer spielen ließ, um diese Meerestragödie zu beleuchten. Bald darauf verschwand der weiße Lichtschein. Ich bemerkte nur noch die Positionslaternen (seemännisch Positionslichter, d. h. ein weißes Licht vorn am Fockmast, ein grünes auf Steuer-, ein rotes auf Backbordseite) dieses niedrigen Dampfers, die ebenfalls in kurzem verschwanden.

Dunkel und einsam lag die weite See wieder da. Und enttäuscht kehrte ich zu meiner Behausung zurück, indem ich mir auf dem Wege vergebens den Kopf darüber zerbrach, was die Schüsse und das ganze Schauspiel zu bedeuten gehabt haben könnten. Über diesen Gedanken schlief ich bald wieder ein.

Der Morgen war kühl und regnerisch. Ein scharfer Südost verursachte eine starke Brandung an der nahen Küste. Das Donnern der Wogen mischte sich in das Rauschen der Bäume, deren Blätter bisweilen ganze Tropfenladungen trommelnd auf mein Zeltdach herabschickten, wenn ein besonders heftiger Windstoß sie schüttelte. Erst gegen Mittag konnte ich meine Wohnung verlassen. Die ungewisse Hoffnung, daß vielleicht Teile des untergegangenen Dampfers an den Strand geworfen werden könnten, trieb mich nach der Mündung des Baches hin. Der Himmel hatte sich inzwischen völlig aufgeklärt. Die Sonne blitzte und blinkte in Tausenden von Regentropfen, die auf den Gräsern und Blättern wie Diamanten funkelten.

Suchend streiften meine Augen das Ufer ab, über welches immer wieder eine auslaufende Welle gurgelnd und schäumend mit letzter Kraft ihre Wassermassen hinwegschickte. Irgend etwas von dem gesunkenen Schiff mußte doch an Land gespült werden, irgend etwas … Der Wind wehte ja gerade aus jener Richtung, in der ich in der verflossenen Nacht die beiden Fahrzeuge beobachtet hatte.

Meine Erwartungen wurden nicht getäuscht. Als erstes sah ich einen hellgelbgestrichenen Rettungsring in der Brandung auf und ab tanzen. Dann trug ihn eine besonders kräftigte Welle mir bis fast vor die Füße. Ich hob ihn auf und las den mit schwarzer Ölfarbe darauf gepinselten Namen des Schiffes, von dem er stammte: „Kaiserin Elisabeth, Fiume“.

Der Rettungsring hatte für mich keinen besonderen Wert. Immerhin aber war es ein Anfang. Doch die Fortsetzung schien nicht kommen zu wollen. Vielleicht würde ich aber an der Südspitze der Insel, wo eine Reihe von hohen Klippen eine schmale Landzunge bildete, glücklicher sein. Ich durchwatete daher den Bach an einer flachen Stelle und suchte dann auch den südöstlichsten Teil des Strandes und die Klippen ab.

Und hier war es, wo ich zunächst ein halb zertrümmertes, kleines Boot fand, das ebenfalls mit demselben Namen wie der Rettungsring gezeichnet war und in dessen Planken ich nachher ein Metallstück tief eingebohrt bemerkte, dessen Zugehörigkeit zu einem Artilleriegeschoß unschwer zu erkennen war. Überhaupt war dem Boote anzusehen, daß ein Kanonenschuß es zerstört hatte. Bei näherer Untersuchung entdeckte ich noch mehrere, bedeutend kleinere Sprengstücke in den Bootswänden. – Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Waren es etwa Seeräuber gewesen, die den Dampfer in Grund gebohrt hatten …?! – Doch nein – das erschien ganz ausgeschlossen. Piraten gibt es heutzutage ja nur noch in den chinesischen und malaiischen Gewässern, richtige Piraten. Strandräuber, die es auf wrack gewordene Fahrzeuge abgesehen haben, trifft man freilich noch häufiger an, wie ich mal in einer Seemannszeitung gelesen hatte. Jedenfalls blieb die Sache recht rätselhaft und geheimnisvoll.

Das Boot, von dem lediglich noch das Holz und die wenigen Eisenbeschläge zu verwerten waren, zog ich soweit als möglich auf das Trockene. Dann betrat ich die Klippen. Schon von weitem leuchtete mir hier ein zweiter Rettungsring entgegen, der jedoch meine Neugier insofern bedeutend mehr reizte, als ein kleines, blechbeschlagenes Kistchen mit starken Tauen daran festgebunden war. Dieses mochte etwa vierzig Zentimeter lang und fünfzehn hoch und breit sein. Nachdem ich mich überzeugt hatte, daß außer drei Riemen (Rudern) nichts weiter auf die Klippen geworfen war, nahm ich die Gegenstände – Riemen, Ring und Kistchen – mit nach meiner Behausung.

Letzteres war verschlossen. Da der Schlüssel fehlte, brach ich es mit einer Harpune auf. Als der Deckel sich löste, bemerkte ich, daß es durch Gummistreifen an den abgeschrägten Rändern des Deckels völlig wasserdicht gemacht war. Der Inhalt bestand in einem in ein paar Zeitungen gehüllten, verschnürten Päckchen. Unter die Bindfadenverschnürung war ein Zettel geschoben, der folgende Aufschrift in deutscher Sprache hatte, die mit Bleistift anscheinend sehr eilig geschrieben war:

29. November 1914, nachts 11 Uhr.

Wir sind soeben von einem feindlichen Kreuzer angehalten worden. Um die Kasse des österreichischen Konsulates von Madeira, die ich an Bord habe, nicht in die Hände des Feindes fallen zu lassen, übergebe ich das Geld dem Meere. Sollte es in die Hände eines Angehörigen einer verbündeten Macht oder aber eines neutralen Staates geraten, so bitte ich, es aufbewahren und einer österreichischen Behörde Nachricht geben zu wollen.

Joseph Steidel,

Kapitän der „Kaiserin Elisabeth“,
Fiume, Reederei Grebner u. Komp.

Mit ungläubigem Staunen las ich immer wieder diesen Zettel. Endlich begriff ich …

Da draußen in der Welt war Krieg … Krieg …! Und ich wußte nichts davon, lebte hier ahnungslos, fern von allen Zwistigkeiten, die die Völker jetzt mit den Waffen austrugen.

Immer klarer wurde es in mir … Der Mord an dem österreichischen Thronfolgerpaar in Serajewo[2], Serbiens Unterstützung durch das mächtige Rußland – – daß ich nicht schon vorher an diese Ereignisse gedacht hatte und an die Kriegsgefahr, die durch sie heraufbeschworen war!! Alle Zeitungen waren ja voll davon, als ich Hamburg vor vier Monaten auf dem „Herkules“ verließ.

Mit bebenden Händen strich ich jetzt die Zeitungen glatt, in die das Geldpäckchen eingehüllt gewesen war. Zwei Nummern eines deutschen New-Yorker Blattes vom l2. und 13. Oktober 1914 waren es, und ihr Inhalt gab mir dann einen Begriff von den welterschütternden Geschehnissen, die zur Zeit das ganze Erdenrund in Spannung hielten … – Weltkrieg …!! Frankreich, England, Rußland gegen die Zentralmächte …!!

Jeder wird begreifen, daß ich alles um mich her vergaß, daß ich weder an Essen noch Trinken dachte. Erst mußte ich die Zeitungen durchfliegen.

„Die Kämpfe in Belgien“ … „die Marne-Schlacht“ … „die Niederlage der Russen bei Tannenberg“ … „die Unterbringung der Deutschen in englischen Konzentrationslagern“ …, diese und andere fettgedruckte Überschriften fand ich spaltenlangen Artikeln vorangesetzt.

Erst als die Sonne sich dem westlichen Horizont zuzuneigen begann, legte ich die Blätter aus der Hand. Mir war ganz wirr im Kopf. Mein deutsches Vaterland im Kampf gegen eine Übermacht seit vier Monaten, unzählige Schlachten und Gefechte bereits geschlagen, große Siege von uns errungen – – – und ich hatte nichts, nichts geahnt …

Jetzt waren mir auch die Ereignisse der vergangenen Nacht klar: Das feindliche Schiff hatte den österreichischen Dampfer versenkt, und die Boote, die ich im Lichte des Scheinwerfers beobachtet hatte, führten die Besatzung der „Kaiserin Elisabeth“ an Bord des Kriegsfahrzeuges … – –

* * *

In der kommenden Nacht fand ich wenig Schlaf. Ich träumte alles das in lebendigen Bildern nochmals durch, was ich am Tage gelesen und was sich meinem Geiste besonders fest eingeprägt hatte. Und diese Träume zerrten an meinen Nerven und machten mich immer wieder munter.

Das Geld – es war fast eine halbe Million in Banknoten – hatte ich unter meinem Lager vergraben. Dort hat es bis heute unberührt gelegen. Und wer weiß, ob ich je in der Lage sein werde es abzuliefern.

Die nächsten Tage verstrichen schnell bei allerlei Arbeiten, die ich an dem zertrümmerten Boot vornahm. Sorgfältig entfernte ich alle Nägel, Schrauben und Eisenbeschläge aus den Planken und brachte dann die Teile des auseinandergenommenen Bootes nach meiner Wohnung, wo ich das Holz in einem nahen Gebüsch aufstapelte, während ich alles Metall in meiner Behausung aufbewahrte. Aus den Nägeln fertigte ich mir Pfeilspitzen an, und aus anderen passenden Eisenbeschlägen Spitzen für zwei Wurfspeere. Überhaupt verfügte ich jetzt sehr bald über eine ganze Auswahl von eisernen Werkzeugen, die, obwohl nur mit Steinen zurechtgehämmert, ihren Zweck vollständig erfüllten.

Dann – es war nach meinem Kalender am 5. Dezember – bemerkte ich vormittags, als ich gerade mit Hasso zusammen in den Felshügeln wieder einmal den Katzen nachstellte, ein dunkelgestrichenes Kriegsschiff, das auf die Westküste der Insel zudampfte, etwa auf der Höhe der Kraterkegel Anker warf und zwei Boote aussetzte, die sich dem Strande näherten. Der Kreuzer – wenigstens glaubte ich einen solchen vor mir zu haben – lag nur etwa fünfhundert Meter vom Lande ab, und sehr bald betraten etwa zwanzig Matrosen meine Insel. Sie hatten große Wasserfässer bei sich, und offenbar sollen sie den Trinkwasser-Vorrat ihres Schiffes ergänzen.

Für mich ergab sich jetzt die schwierige Frage, ob ich, auch wenn die Leute Angehörige einer Deutschland feindlichen Nation waren, mich ihnen zeigen und auf diese Weise mein Robinsondasein beenden solle. Jedenfalls mußte ich, falls ich Engländer oder Franzosen vor mir hatte, darauf gefaßt sein, bis zur Beendigung des Krieges gefangengehalten zu werden.

Ich beschloß, zunächst die Matrosen heimlich zu beobachten und festzustellen, mit wem ich es zu tun hatte. Da ich das Gelände vorzüglich kannte, fiel es mir nicht schwer, den Trupp stets im Auge zu behalten und mich schließlich sogar den inzwischen bis an die Quellen des Baches Gelangten soweit zu nähern, daß ich einige Worte ihrer Unterhaltung und einige Zurufe deutlich verstand. Sie sprachen englisch. Vielleicht hätte ich mich ihnen selbst auf die Gefahr hin, in eines ihrer Konzentrationslager gebracht zu werden, ausgeliefert, aber der Gedanke an Hasso gab hier den Ausschlag. Wußte ich doch nicht, ob sie ihn an Bord dulden und wie sie ihn behandeln würden. Nein – meinen vierbeinigen Freund durfte ich ihnen nicht auf Gnade und Ungnade mitübergeben. Vielleicht schossen sie ihn gar tot, um ihn loszuwerden. Außerdem – was fehlte mir eigentlich hier auf meiner Insel? Hatte ich nicht alles, was ich brauchte?! Und – würde der Tausch nicht ein allzu schlechter sein, wenn man mich in ein Gefangenenlager einsperrte …?!

Meine Unschlüssigkeit währte nicht lange. Ich wollte bleiben, wo ich war. – Sechs Stunden lang fand nun zwischen dem Kriegsschiff und dem Lande ein äußerst lebhafter Bootsverkehr statt. Der Kreuzer nahm große Mengen von Trinkwasser an Bord, und die Leute, die dazu bestimmt waren die Fässer aus den Quellen zu füllen, hatten sich sogar ein Feuer angezündet und kochten darüber in einem großen Kessel die Konserven, die man sich[3] von Bord mitgebracht hatte. Zum Glück entfernte sich keiner der Leute allzu weit von dem Bache. Die ganze Zeit über schwebte ich ständig in der Angst, man könnte Spuren meiner Anwesenheit oder gar meine Baumwohnung entdecken und dann eine allgemeine Treibjagd nach dem unbekannten Inselbewohner veranstalten. Meine Furcht war jedoch überflüssig. Gegen Mittag stieß das letzte der Boote vom Lande ab, und zehn Minuten später dampfte der Engländer davon.

Kaum sah ich, daß das Schiff sich in Bewegung setzte, als ich auch schon eiligst dem Platze zurannte, wo die Matrosen abgekocht hatten. Die Hoffnung, vielleicht noch etwas glühende Asche zu finden, die ich zu neuen Flammen durch Aufwerfen von trockenem Gras entfachen könnte, trieb mich zu einem wilden Dauerlaufe an.

Nun – es gab an der Feuerstelle nicht nur noch genügend Glut, um meine Hoffnung wahrzumachen, sondern auch sieben leere Konservenbüchsen von verschiedener Größe, die mit ihren aufgeschnittenen Deckeln von den Engländern als wertlos bei Seite geworfen worden waren.

Meine Freude war unaussprechlich. Jetzt besaß ich nicht nur Feuer, sondern auch gleich Gefäße, in denen ich mir eine Mahlzeit zubereiten konnte. Abends schon aß ich eine wohlschmeckende Taubensuppe. Ich hatte gleich drei von diesen Vögeln, die auf der Insel recht zahlreich waren, mit dem Bogen erlegt, und ehrlich teilte ich das Fleisch mit Hasso, dem diese Kost bedeutend besser mundete als die bisherige. Einen Herd aus Steinen hatte ich mir in einem vollständig hohlen, abgestorbenen Walnußbaum errichtet, der etwa dreißig Meter von meiner Behausung entfernt stand und dessen Stamm unten ein breites Loch aufwies, das aber doch nicht groß genug war, um dem Regen den Zutritt zu gestatten. Sorgsam gab ich dann stets acht, daß auch während der Nacht das Feuer nie erlosch. Zu diesem Zwecke legte ich vor dem Schlafengehen stets große Stücke trockenen, faulen Holzes auf, die dann ohne Flamme weiterschwelten.

Daß meine ganze Lebensführung jetzt, wo ich Feuer besaß, einen wesentlich anderen Zuschnitt bekam, ist selbstverständlich. Meine Werkzeuge gestaltete ich völlig um. Ich wurde schnell ein geschickter Schmied, und mir fehlte es schließlich eigentlich an nichts mehr. Sogar eine Gabel und einen Löffel hatte ich mir gearbeitet. Und abends brannte jetzt auf meiner Veranda, wie ich den überdachten Platz vor meiner Wohnung stolz nannte, regelmäßig eine Tranlampe.

So ging auch der Winter, den ich nur an häufigeren Regenfällen und an einer geringen Temperaturabnahme merkte, in beschaulicher Ruhe dahin. Manches, was ich in diesen Monaten erlebte, wäre noch erwähnenswert. Aber zur Zeit verspüre ich nicht die Lust dazu, all diese Einzelheiten niederzuschreiben. Vielleicht hole ich dies später einmal nach.

Anfang April 1915 begann sich dann bei mir das Heimweh zu regen. Ich merkte, das Robinsondasein war mir etwas Altes geworden. Es hatte jeden Reiz für mich verloren, und alle meine Gedanken galten jetzt der Möglichkeit, wie ich die Insel verlassen und eine der nächsten Inselgruppen erreichen könnte.

Schließlich faßte ich den Entschluß, mit dem Bau eines Bootes zu beginnen. Am 10. April tat ich den ersten Axthieb, um einen mir geeignet erscheinenden Lorbeerbaum, der dicht am Ufer des Baches stand, zu fällen. Nach einem Monat war ich mit dieser neuen Arbeit soweit gediehen, daß der Baumstamm ungefähr die Form eines Bootes von 10 Meter Länge und eineinhalb Meter Breite angenommen hatte. Nun sollte das Aushöhlen beginnen, wobei ich Feuer zu Hilfe nehmen wollte. Am 11. Mai morgens jedoch vermochte ich nicht aufzustehen. Ich mußte mich erkältet haben, und ein starkes Fieber warf mich für vier Tage krank danieder. Erst am 15. Mai gegen Mittag unternahm ich wieder meinen ersten Spaziergang. Ich hatte die Absicht, in einem Eichenwäldchen, das sich mitten in einer kleinen Ebene südlich der Hügelkette erhob, ein paar Tauben zu schießen. Hasso umsprang mich mit einem wahren Freudengeheul, als wir aufbrachen. Nach einer guten Viertelstunde Marsch näherte ich mich jener Ebene. Ich hatte nur noch einen kleinen Lorbeerhain zu durchschreiten, als mein vierbeiniger Freund, der mir ein Stück vorausgeeilt war, plötzlich in voller Jagd zurückkam und winselnd und mit deutlichen Zeichen höchster Erregung mich zu einer schnelleren Gangart anzutreiben suchte.

Daß das kluge Tier etwas Besonderes bemerkt hatte, war klar. Unwillkürlich beschleunigte ich daher meine Schritte, obwohl ich mich noch recht schwach fühlte.

Kaum aber hatte ich die letzten Lorbeerbäume hinter mir, kaum bot sich mir jetzt die freie Aussicht über die Ebene nach dem Eichenwäldchen hin, als ich wie versteinert stehen blieb.

Zuerst glaubte ich allen Ernstes, das Fieber habe mich wieder gepackt und gaukle mir ein Trugbild vor. Aber ebenso schnell verwarf ich auch diese Annahme. Ich rieb mir die Augen, schaute wieder hin … Das, was ich für eine Sinnestäuschung gehalten hatte, war noch immer da, lag regungslos auf der Seite, unverkennbar in seiner Gestalt, seiner gelben Hülle …

Es war ein Luftschiff. Wie ein riesiges Ungeheuer ruhte es quer vor dem Eichenwäldchen, die Spitze mir halb zugekehrt.

Eine geraume Weile dauerte es, bis ich wieder Herr wurde über meinen Körper und meine Gedanken. Langsam, mit einer gewissen ängstlichen Scheu, näherte ich mich nun diesem seltsamen Besucher. Fortwährend spähte ich umher, ob ich nicht irgendwo Leute entdecken könnte, die mit diesem Luftfahrzeug hier gelandet waren. Keine lebende Seele war zu bemerken. Nicht einmal ein Vogel zeigte sich hier. Alles Getier schien vor dem gelbbraunen Ungetüm geflüchtet zu sein.

Dann stand ich dicht vor diesem regungslosen Gast, der wie eine tote Masse auf der rechten Seite lag, so daß ich deutlich die Gondel mit übersehen konnte. An der Spitze des Ballonkörpers, der Torpedoform hatte, war mit blauen Buchstaben der Name „Zyklop“ auf die straffe, gelbbraune Leinwand aufgemalt. Am Heck aber bauschte sich, von dem leichten Winde hin und her getrieben, eine Fahne auf, – eine englische Fahne.

Das Luftschiff war, wie ich nachher durch Abschreiten feststellte, 62 Meter lang und besaß einen größten Durchmesser von vielleicht 12 Meter. Die einzige Gondel, die durch Stahlröhren mit dem Gerippe dieses den Zeppelinen ähnlichen, starren Typs (Starrer Typ, mit einem festen Gerippe aus Holz oder Metall, im Gegensatz zum unstarren, der kein Gerippe besitzt, wie z. B. die Parseval-Luftschiffe) verbunden war, bestand aus starkem Aluminiumblech, hatte eine Länge von 24 Meter und war vorn und hinten geschlossen, wo zwei Kabinen für die Besatzung eingerichtet waren. Zwei Motoren sollten vier Propeller in Gang setzen, die ähnlich wie bei den Zeppelinen außerhalb der Gondel am Ballonkörper angebracht waren. Auch die Steuervorrichtung am Heck ähnelte der unserer deutschen Z.-Schiffe, von denen ich die „Hansa“ mehr als einmal aus größter Nähe betrachtet hatte.

Nachdem ich den gestrandeten „Zyklop“, der mit der rechten Seite des Ballonkörpers fest gegen drei uralte Eichen gedrückt dalag, umkreist und nachdem ich die Überzeugung gewonnen hatte, daß er sich irgendwo in England losgerissen haben und dann ohne Besatzung bis hierher getrieben sein mußte (der von dem „Zyklop“ zurückgelegte Weg ist durchaus nicht etwa unwahrscheinlich weit. Am 29. November 1905 riß sich z. B. bei Verdun das französische Luftschiff „La Patrie“ los und wurde von einem Orkan entführt. Zuletzt erblickte man es über Irland, dann noch von einem Dampfer aus, der westlich der Hebriden dem Fischfang auf hoher See ablag. Die dem Ausreißer nachgeschickten Torpedoboote kehrten unverrichteter Sache zurück. Der Ozean hatte die „Patrie“ längst verschlungen), betrat ich die Gondel mittelst einer abklappbaren Leiter. In den Kabinen fand ich dann eine Unmenge von Dingen, die für mich einen unschätzbaren Wert hatten. Sie alle aufzuzählen, ist unmöglich. Es genügt, wenn ich sage, daß das Luftschiff offenbar für seine erste Dauerfahrt vollständig ausgerüstet war, bevor es davonflog und mir als seltsames Geschenk beschert wurde. Daß ich auch das bisher unbenutzte Tagebuch des Kommandanten zu den wertvollen Dingen rechnete, zeigt der Eifer, mit dem ich es nachher mit meinen Erlebnissen füllte.

Aus der Mitte der Gondel führte eine eiserne Leiter in den Ballonkörper hinein und durch einen engen Schacht bis oben auf die Hülle, wo eine kleine Plattform mit Geländer und ein Mast und Drähte für drahtlose Telegraphie angebracht waren. Auch diese Einrichtung sah ich mir an, obwohl das Erklettern der Plattform bei der schrägen Lage des „Zyklop“ recht mühsam war.

Nachher setzte ich mich ein Stück von der Gondel entfernt in das Gras und starrte geradezu mit zärtlichen Blicken meinen „Zyklop“ an, – denn jetzt war er ja mein Eigentum! – so, wie etwa ein Kind ein Schaukelpferd oder eine Puppe betrachten wird, die es eben zum Geschenk erhalten hat. Dann kehrte ich nach meiner Wohnung zurück. Das Tagebuch und einen Militärkarabiner nebst Patronen nahm ich mit. Bereits am Abend begann ich mit der Aufzeichnung meiner Erlebnisse. Heute, acht Tage später, bin ich soweit, daß ich alles eingetragen habe, was mir wichtig erschien. Nunmehr gedenke ich am Ende jeder Woche die Geschehnisse dieses Zeitabschnittes niederzuschreiben.

Sonnabend, den 29. Mai 1915.

Ich lebe jetzt wie ein Fürst. Ich besitze Korbsessel, einen hübschen Klapptisch, Tiegel, Pfannen, Konserven aller Art, Waffen, Werkzeuge in Menge, sogar ein Revolvergeschütz und zwei Maschinengewehre, – kurz, mit fehlt nichts. Meine Veranda habe ich inzwischen mit einem etwas erhöhten Holzfußboden und einem Geländer umgeben. Ich schlafe auf einer Roßhaarmatratze, habe mir meine inzwischen überlang gewordenen Haare vor einem richtigen Spiegel mit einer richtigen Schere kurz geschnitten und entbehre nichts mehr – nichts. Vielleicht hat aber gerade deswegen die Sehnsucht nach bewohnten Gegenden in mir zugenommen, eben weil die Entbehrungen und der Kampf mit dem Dasein diesem Robinsonleben seinen Hauptreiz verliehen.

Gestern habe ich mir die Aluminiumgondel, die die Form eines langen, flachen Bootes hat, genau daraufhin angesehen, ob sie wasserdicht gearbeitet ist. Dies trifft zu. Vielleicht hat man sie absichtlich so konstruiert, daß sie schwimmfähig ist. In dieser Ansicht wurde ich noch dadurch bestärkt, daß sie aus den sie tragenden Stahlröhren unschwer ausgehakt werden kann und daß sie eine vollständige Segelausrüstung mit zwei wie Fernrohre zusammenschiebbaren Stahlmasten besitzt. Bei dieser Besichtigung der Gondel habe ich mich gleichzeitig auch im Innern des Ballonkörpers umgesehen. Dieser hat ein Holzgerippe, das aus unzähligen kleinen Brettchen zusammengesetzt ist. Ich weiß, daß das deutsche Schütte-Lanz-Luftschiff ebenfalls eine Holzkonstruktion besitzt. Der ganze „Zyklop“ erscheint mir aus deutschen Ideen zusammengestohlen zu sein. Besonders die Anordnung der Motoren und die Steuereinrichtung sind sicherlich den Zeppelinen nachgeahmt. Der Ballonkörper hat ebenfalls wie der Schütte-Lanz, von dem ich einmal eine genaue Beschreibung gelesen habe, eine doppelte Haut. Innen befinden sich sechs kugelförmige Ballonets, die das Gas aufnehmen sollen. Sie sind sämtlich leer. Das Gas ist deshalb so schnell entwichen, weil das Gerippe an der rechten Seite stellenweise zerbrochen ist und die Ballonets aufgerissen hat. Wahrscheinlich ist dies geschehen, als der sinkende „Zyklop“ gegen die Bäume trieb und dann sich festrannte. Von außen verdecken Äste diese eingedrückten Stellen.

Ich habe mich entschlossen, die Gondel vollständig auszuräumen, von den Stahlrohren loszuhaken und sie dann mit Hilfe runder Baumklötze, die ich als Rollen benutzen will, nach dem Bache zu schaffen. Die zurückzulegende Strecke beträgt bei einigen Umwegen, die ich machen muß, 2000 Schritte. – Morgen ist Sonntag. Der bleibt wie immer arbeitsfrei. Montag beginne ich dann. Das Wetter ist wunderbar. Der Thermometer zeigt heute im Schatten 24 Grad. Aber ich habe mich an die Hitze schon recht gut gewöhnt. Daß ich braungebrannt bin wie ein rechter Insulaner, brauche ich wohl kaum zu erwähnen. Überhaupt – von dem schwächlichen, blassen „Lausbuben“ ist nicht viel übriggeblieben. Obwohl ich erst etwas über sechzehn Jahre alt bin, sehe ich wie zwanzig aus. – Für diesmal genug. Ich will noch mit dem Karabiner auf Katzenjagd gehen. Unter diesem Gesindel habe ich inzwischen gehörig aufgeräumt.

Sonntag, 30. Mai.

Ich schreibe auf meiner Veranda. Den heutigen Tag muß ich besonders erwähnen. Er hat mir einen bösen Schreck gebracht. Viel hätte nicht gefehlt, und ich säße jetzt auf einem englischen Kriegsschiff als Gefangener. Kurz nach dem Mittagessen war ich einmal wieder nach der Nordspitze der Insel gewandert. Dort wäre ich beinahe einigen Matrosen in die Arme gelaufen, die zwei ihrer Kameraden unter einer Eiche begruben. Draußen auf See bemerkte ich dann auch ihr Schiff, einen langen, niedrigen Kreuzer mit drei Schornsteinen. Zu meinem Glück rettete Hasso mich noch im letzten Augenblick. Er hatte die Leute gewittert, knurrte leise und sträubte das Haar. Das mahnte mich zur Vorsicht. Ich schlich, mich stets gedeckt haltend, weiter, und kaum hundert Schritte vor mir sah ich dann die Engländer, die eben zwei Holzkreuze auf den Grabhügeln befestigten.

Dieses abermalige Erscheinen von Feinden auf meiner Insel hat mir den Gedanken eingegeben, alles zu tun, um meine Anwesenheit hier vor zufälligen Besuchern zu verbergen. Es wäre doch ein harter Schlag für mich, wenn ich das Pech haben sollte, gerade jetzt gefangengenommen zu werden, wo ich die sichere Aussicht habe, entweder die zu Portugal gehörigen Azoren oder die spanischen Kanarischen Inseln, vielleicht auch Madeira zu erreichen. Ich werde also meine Baumwohnung dicht mit Kakteen und Brombeeren umpflanzen. Die Veranda will ich durch hohes Gebüsch verbergen. Der Ballonkörper muß ebenfalls verschwinden. Er ist ja von den Kraterkegeln und auch von andren Punkten der Insel aus nur zu deutlich zu sehen. Den Stoffbezug gedenke ich teilweise zu entfernen, bevor ich den verräterischen gelbbraunen Riesenleib verbrenne. Dies muß am Tage geschehen. Nachts würden die Flammen meilenweit zu sehen sein. Die Propeller und die Antriebsketten, die zu ihnen von den Motoren hinaufführen, werde ich ebenso wie den gesamten Inhalt der Gondel irgendwo gut verstecken. Man kann nicht wissen, ob sie nicht noch benutzt werden können. Wenn ich nur etwas von Benzinmotoren verstünde …! Dann könnte ich das Gondelboot mit Luftschraubenantrieb versehen. Aber leider – mit dem komplizierten Mechanismus dieser Kraftmaschinen bin ich gar nicht vertraut.

Jetzt will ich noch ein abendliches Erfrischungsbad nehmen. Und morgen beginne ich ganz früh mein Tagewerk.

Sonnabend, 12. Juni.

Ich habe doch vierzehn Tage verstreichen lassen, bevor ich wieder zum Bleistift greife. Die verschiedenen Arbeiten nahmen mich jedoch so in Anspruch, daß ich mir für mein Tagebuch keine Zeit ließ. – Der Ballonkörper ist vernichtet. Bevor ich ihn anzündete, habe ich doch noch ein paar der Holzrippen herausgesägt, da ich sie dazu benutzen will, das Aluminiumboot mit einem leicht gebogenen Verdeck zu versehen. Über die hierzu verwandten Rippenteile gedenke ich eine doppelte Lage des Ballonstoffes zu spannen, den ich dick mit geschmolzenem Harz und darüber gestreutem feinen Sand bestreichen will. Auf diese Weise wird der Stoff so fest wie Dachpappe werden. – Meine Baumbehausung mag man jetzt getrost suchen. Ich habe ein undurchdringliches Dickicht ringsum angelegt, durch das ein versteckter Gang hindurchführt. Auch die Sachen aus der Gondel sind verschwunden. Die schweren Motoren vermochte ich jedoch nicht weit fortzuschaffen. Ich habe sie mit Ballonstoff bedeckt, Erde darüber gehäuft und den Hügel mit Grasnarbe belegt. Vorgestern ging ein anhaltender Regen nieder, der mir sehr willkommen war. Die Asche des Ballonkörpers ist weggeschwemmt, und die ausgestochenen Grasstücke werden sich jetzt über den Motoren schnell zu einem üppigen grünen Rasen vereinen. – Im übrigen ist nichts geschehen, was ich niederschreiben könnte. Übermorgen beginne ich mit dem Fällen von Bäumen für die Rollen.

 

2. Teil.

Mit diesem 12. Juni 1915 hört Erwin Schraders Tagebuch auf. Und das hatte seine besonderen Gründe.

Am Mittwoch, den 16. Juni, arbeitete er morgens eifrig mit Axt und Säge in einem kleinen Nadelbaumgehölz, das unfern der Strandungsstelle des „Zyklop“ lag. Plötzlich schlug Hasso, der eine Katze aufgestöbert hatte und ihr nachgejagt war, laut an. Immer wütender wurde das Bellen des Hundes. Und nun vernahm Erwin auch menschliche Stimmen, die aus derselben Richtung herüberklangen.

Erst lauschte er noch einen Augenblick. Jetzt wieder ärgerliche Ausrufe aus einer rauhen Kehle. Gleich darauf heulte Hasso jämmerlich auf.

Wie ein gehetztes Wild flog Erwin davon, indem er sich stets hinter Bäumen und Gebüsch zu verbergen suchte. Atemlos, in Schweiß gebadet, langte er bei seiner Wohnung an, schlüpfte durch das Dickicht und entfernte nun sofort das Zeltdach seiner Veranda, das für scharfe Augen doch vielleicht zu bemerken war.

Keuchend ließ er sich dann in den leichten Rohrsessel fallen, den er aus der Offizierkabine des „Zyklop“ hierher gebracht hatte.

Kein Zweifel – abermals waren Engländer auf der Insel gelandet. Der arme, brave Hasso …!! Das treue Tier hatte ihn wieder rechtzeitig gewarnt und vielleicht dafür mit seinem Leben gebüßt. – Die Gedanken an seine eigene Sicherheit wurden jetzt bei ihm völlig durch die Sorge um den vierbeinigen Freund zurückgedrängt. Regungslos saß er da und lauschte. Daß die Leute, die sicherlich die Gondel entdeckt hatten und die auch die frisch gefällten Bäume gesehen haben mußten, nach ihm suchen würden, war mit Bestimmtheit anzunehmen.

Tiefe Mutlosigkeit bemächtigte sich seiner. Selbst wenn sie ihn nicht fanden, würden sie doch ohne Frage das Aluminiumboot entweder zerstören oder an Bord ihres Schiffes bringen. Daß er die Gondel nicht auch ebenfalls versteckt hatte!! Welche Unvorsichtigkeit! Er hätte Zweige darüberschichten sollen und stachlige Sträucher herumpflanzen …! – Überhaupt – wie unverantwortlich leichtsinnig war er gewesen …! Wenn er alle drei Stunden eine der alten Eichen an seiner Arbeitsstelle erklettert und von dem Gipfel aus das Meer überblickt hätte, wäre er vor jeder Überraschung sicher gewesen.

Doch diese Einsicht kam jetzt zu spät. So saß er denn mit gespannten Sinnen da. Oft glaubte er in der Ferne Stimmen zu hören. Aber es waren nur seine erregten Nerven, die ihn narrten. Die Bäume rauschten friedlich, die Vögel tummelten sich lustig in den Zweigen und der nahe Bach murmelte leise. Nichts deutete darauf hin, daß über ihm das Verhängnis schwebte – nichts.

Dann – eine halbe Stunde mochte inzwischen vergangen sein – vernahm er tappende Schritte außerhalb seines grünen Walles und ein japsendes Keuchen. Gleich darauf drängte sich der Körper des Hundes durch das Gestrüpp hindurch.

Erwin traten die Tränen in die Augen. Hasso lahmte etwas auf einem Bein, war aber sonst frisch und munter. Wer sich von den beiden mehr über das Wiedersehen freute, war schwer zu sagen. Jetzt mochte die Zukunft bringen was sie wollte …! Erwin hatte seinen treuen Gefährten wieder, und das war ihm die Hauptsache.

Die Stunden schlichen hin. Schließlich litt es Erwin nicht länger in seiner Wohnung. Er wollte sich überzeugen, was auf der Insel vorging. Schon hatte er den Karabiner zur Hand genommen, da er sich unbewaffnet nicht hinauswagen mochte, als Hasso ganz leise zu knurren begann.

Jetzt ganz deutlich drüben am Bache Stimmen. Sie kamen näher und näher. – Plötzlich zuckte Erwin freudig zusammen.

Wie – war’s eine Täuschung …?! Das waren doch deutsche Laute, das war seine Muttersprache …!

Und nun hörte er folgende Sätze aus einer rauhen Kehle:

„Hannes, wir möten (müssen) den Kierl finden, der sich för (vor) uns vorkriepen und dem sien Köter mich die scheenen Büchsen verschandelt heft! Dunner noch eens – zwei Maate von Seiner Majestät Hilfskreuzer „Altona“ wer’n doch woll den Schlingel upstöbern können!!“

Worauf eine hellere, jugendlichere Stimme erwiderte:

„Dat schient mi hier sone Art Robinson zu sein, vielleicht gar son Englishmen oder Franzoske, der för uns bannige Angst heft!“ –

Da konnte Erwin nicht länger an sich halten. – „Hurra – Landsleute!“ rief er jubelnd und eilte ins Freie hinaus, wo er sich zwei kräftigen Männern in Matrosenanzügen gegenüber sah. Der ältere trug den silbernen Winkel eines Maschinistenmaates am Ärmel, der andere das Abzeichen eines Obermatrosen.

Die Händedrücke wollten kein Ende nehmen, Fragen und Antworten flogen hin und her, bis der Maat zufällig erwähnte, daß er mächtigen Hunger habe. Da erst besann Erwin sich auf seine Pflichten als Gastgeber, führte die beiden nach seiner Behausung und tischte ihnen alles auf, was er gerade vorrätig hatte.

Während dieser fröhlichen Mahlzeit tauschte man gegenseitig nun ganz eingehend die Erlebnisse aus. – Friedrich Hausen und Johannes Völling gehörten zur Besatzung des Hilfskreuzers „Altona“, der, von englischen Torpedojägern verfolgt, sich in den Hafen von Rosario auf der nördlichsten der Azoreninseln namens Corvo hatte flüchten müssen, wo er dann von den portugiesischen Behörden entwaffnet, während die ganze Besatzung vorläufig in einem leerstehenden Gehöft interniert wurde. Von hier waren die beiden Leute bei guter Gelegenheit in einem kleinen Boot entwichen und dann heute nach dreitägiger Irrfahrt auf der Katzeninsel gelandet, nachdem ein Sturm es ihnen unmöglich gemacht, die südlich von Corvo gelegene Insel Flores zu erreichen, auf der sie so lange verborgen zu leben sich vorgenommen hatten, bis ein amerikanischer Walfischfänger sie aufnehmen würde, dessen Kapitän sie durch Geld bestechen zu können hofften. –

Hausen, der Maschinistenmaat, spitzte gewaltig die Ohren, als er dann von Erwin näheres über den „Zyklop“ und über die gut versteckten Motoren und die anderen Maschinenteile hörte. Und so begierig war er, das alles in Augenschein zu nehmen, daß die Deutschen, die ein glücklicher Zufall hier zusammengeführt hatte, nach der Mahlzeit sofort aufbrachen und der Strandungsstelle des Luftschiffes zuschritten. Die Aluminiumgondel hatten die beiden Seeleute bereits vorhin, als Erwin vor ihnen flüchtete, gesehen. Schweigend musterte Hausen nun ganz eingehend auch alles übrige, und nach kurzem Nachdenken erklärte er hierauf in seiner wortkargen Art:

„Die vier Propeller lassen sich ganz gut mit ihrem Gestänge an der Gondel anbringen. Wir werden uns also ein richtiges Motorboot bauen. Benzin ist ja übergenug vorhanden.“ –

* * *

Von jetzt an übernahm der Maat den Oberbefehl. Zunächst wurden die Gondel, die Motoren und alle Maschinenteile nach einer Lichtung in einem Lorbeerwalde dicht am Nordufer der buchtartig erweiterten Mündung des Baches geschafft. Diesen Platz richtete man als Werft ein, versäumte dabei aber nicht, ihn durch Anpflanzen von Gebüsch völlig undurchdringlich zu machen. Ferner wurde ein regelmäßiger Beobachtungsdienst auf dem höchsten der Lorbeerbäume eingerichtet und zwar in der Weise, daß jede Stunde einer der drei Genossen mit einem der vorzüglichen Fernrohre des „Zyklop“ bewaffnet, hinaufkletterte und den Horizont nach verdächtigen Schiffen absuchte. An einem besonders klaren Tage konnte der Obermatrose dann im Südwesten deutlich eine Insel erkennen, die das Azoreneiland Corvo sein mußte. Hierdurch wurde Erwins schon längst gehegte Vermutung, daß die Katzeninsel zu dieser Gruppe gehöre, vollauf bestätigt. – Am 14. Juli bereits war das Luftschraubenboot fix und fertig. Es ruhte auf einer Art Wagen, der es ermöglichte, das Fahrzeug bequem zu Wasser zu bringen.

Die frühere Luftschiffgondel hatte ihr Äußeres gänzlich verändert. Zunächst besaß sie jetzt ein vollständiges Deck, aus dem die beiden zusammenschiebbaren Masten sowie die Auspuffrohre der Motoren und einige andere Maschinenteile hervorragten. Hausen hatte weiter für ein kräftiges Steuer gesorgt und am Boden auch einen aus Brettern zusammengefügten, spitz zulaufenden Holzkiel angebracht, der innen mit Steinen als Ballast ausgefüllt war. Dieser Kiel stellte das Gegengewicht für die vier Propeller dar, die zu zweien hinten und vorn über das Deck seitwärts hinausragend angebracht waren und dem Fahrzeug ein recht abenteuerliches Aussehen gaben. Die Motoren hatte man wiederholt probeweise laufen lassen. Sie arbeiteten tadellos und gaben den Propellern eine Umdrehungszahl, daß diese so starke Zugkraft entwickelten, daß das Boot auf seinem Wagen einmal beinahe sich in Bewegung gesetzt hätte. – Am 16. Juli wurde bei leichtem Seegang die erste Versuchsfahrt unternommen. Sie verlief so gut, daß Hausen beschloß, den geplanten feierlichen Taufakt des Bootes am nächsten Mittag vorzunehmen und dann die Insel zu verlassen.

Der 17. Juli brach an. Noch vor Sonnenaufgang erkletterte Erwin den Lorbeerbaum. Zu seinem Schrecken bemerkte er sofort zwei Kreuzer, die, von Nordosten kommend, genau auf die Bachmündung zusteuerten. Das Fernrohr zeigte ihm die englische Flagge. Nun galt’s! Im Nu war er wieder unten, rannte nach der Wohnung zu und brüllte schon von weitem seinen Gefährten die Unglücksmär entgegen. Doch Hausen nahm die Sache recht kaltblütig auf. Die „Deutschland“, so hatten sie ihr Boot taufen wollen – lag ja vollständig ausgerüstet am Ufer der Bucht. Man brauchte also nur noch die Banknoten mitzunehmen, an Bord zu gehen und ins offene Meer hinauszufahren. Dann würde es sich ja zeigen, wer schneller war, die Kreuzer oder das Luftschraubenboot (derartig konstruierte Fahrzeuge sind vielfach als Vergnügungsboote im Gebrauch. Die Idee Hausens lag also ziemlich nahe).

Fünf Minuten später verließ die „Deutschland“ den kleinen, natürlichen Hafen, schwenkte jenseits der heute nur schwachen Brandung sofort nach Süden ab, umfuhr die Landzunge und lief dann mit nordwestlichen Kurse weiter, indem sie so die Insel zwischen sich und die Kreuzer brachte, die das Boot natürlich bemerkt und durch ein paar Schüsse hatten zum Anhalten zwingen wollen. Dieses auf vier Seemeilen etwa (Seemeile gleich 1852 Meter) eröffnete Feuer blieb jedoch ohne jede Wirkung. Und als erst die Insel sich zwischen die Verfolger und den Flüchtling schob, mußten die Schiffsgeschütze notgedrungen schweigen.

Bei der Versuchsfahrt hatte Hausen die Motoren nur ihre halbe Kraft entwickeln lassen. Jetzt, als er bemerkte, daß der Feind langsam aufkam, ließ er sie die höchste Tourenzahl geben. Das Surren der Propeller gestaltete sich nun zu einem wahren Höllenlärm. Und die „Deutschland“ durchschnitt jetzt mit einer Geschwindigkeit den Ozean, die der Maat stolz lächelnd aus mindestens 30 Knoten (Knoten heißt, das Schiff legt in einer Stunde 30 Seemeilen zurück) schätzte.

Die Aufmerksamkeit der drei Deutschen hatte sich bisher lediglich auf die beiden Verfolger beschränkt. Der Obermatrose war es dann, der plötzlich in der Fahrrichtung zwei Dampfer erkannte, die mit ihren schrägstehenden Schornsteinen nur Torpedojäger sein konnten. Jetzt wurde die Lage mehr als kritisch. Das Verhalten dieser beiden Kriegsschiffe zeigte deutlich, daß sie von den Kreuzern auf drahtlosem Wege auf das flüchtende Boot aufmerksam gemacht worden waren. Die Engländer versuchten dieses jetzt einzukreisen. Doch Hausen erkannte die Gefahr noch rechtzeitig und brach nach Norden hin durch. Bange fünf Minuten folgten dann, in denen die „Deutschland“ innerhalb des Feuerbereichs der Kreuzer ihre Flucht fortsetzte. Ein Hagel von Artilleriegeschossen ließ das Meer rings um das wackere Boot in hohen Fontänen aufschäumen. Endlich war man aus dieser gefährlichen Zone hinaus. Und nun begann ein aufregendes Wettrennen zwischen den schnellen Torpedojägern und der „Deutschland“, das jedoch sehr bald zu Gunsten der letzteren entschieden war. – –

* * *

Nachdem man den Feind aus den Augen verloren hatte, nahm der Maat seine Mütze ab und brachte drei jubelnde Hurras auf das deutsche Vaterland aus. Dann wandte er sich an seine beiden Gefährten.

„Kameraden“, sagte er feierlich, „die Vorsehung hat uns, wie wir eben gesehen haben, in den Besitz eines seetüchtigen, windschnellen Fahrzeugs gebracht. Wir haben ein Revolvergeschütz, zwei Maschinengewehre, andere Schußwaffen und reichlich Munition an Bord. Wäre es unter diesen Umständen von uns nicht geradezu ein Verrat am Vaterlande und eine elende Feigheit, wenn wir einen neutralen Hafen anlaufen und uns der Gefahr, bis zum Kriegsende dort festgehalten zu werden, aussetzen wollten …! Wäre es nicht deutscher Männer würdiger, auf eigene Faust gegen die Kauffahrteischiffe der Feinde Krieg zu führen und ihrem Handel nach Möglichkeit Abbruch zu tun?!“

Wie des Obermatrosen und Erwins Antwort lautete, braucht nicht erst erwähnt zu werden. Wieder klang ein dreifaches Hurra über den unendlichen Ozean hin. Und damit begann der dritte Teil von des einstigen „Lausbuben“ wechselvollen Abenteuern.

Seine Erlebnisse auf der Katzeninsel sind hiermit zu Ende. Er ist später glücklich mit seinem Hasso in die Heimat zurückgekehrt, nachdem er noch genügend erlebte, um damit ein paar Tagebücher füllen zu können. (Wer von den Lesern Interesse für die weiteren Schicksale der kleinen Besatzung der „Deutschland“ hat, möge die nächsten Hefte dieser Sammlung verfolgen.)

 

Der nächste Band enthält:

Das Kastell im Stillen Ozean.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Verlagswerbung:

 

Erlebnisse einsamer Menschen.

Von der Sammlung „Erlebnisse einsamer Menschen“,
sind bisher folgende Bände erschienen:

 

1. Das Eiland der schwarzen Diamanten.

2. Die Insel im Sargassomeer.

3. Das weiße Eiland.

4. Die Zauberinsel.

5. Kapitän Merling und seine Familie.

6. Die Überlebenden der „Skandinavia“.

7. Die Pirateninsel.

8. C. 15.

9. Unter dem Meeresboden.

10. Die Perleninsel.

11. Die Piraten des Mississippideltas.

12. Das Geheimnis der Sunda-See.

 

 

Urteile maßgebender Personen über die „Erlebnisse einsamer Menschen“.

Herr Prof. Dr. V. in M. schreibt:

„… Ich halte sie für durchaus geeignet, den weitesten Kreisen des Volkes, besonders auch der Jugend, in die Hand gegeben zu werden … Die Erzählungen sind auch sehr geeignet, die Charakterbildung der Kinder günstig zu beeinflussen …“

Herr Pfarrer und Ortsschulinspektor H. in B.:

„… Der Inhalt, völlig einwandfrei, ist geeignet, die Persönlichkeit namentlich der jugendlichen Leser zu selbständiger, ernster Betätigung anzuregen und die Lebensanschauung sittlich zu heben und zu fördern. Ich würde daher die Hefte ohne Bedenken der hiesigen Jugend- und Volksbibliothek einverleiben.“

Herr Rechtsanwalt H. in F.:

„… Die von mir gelesenen Robinsonaden stellen meines Erachtens eine durchaus einwandfreie Lektüre dar, die man getrost der Jugend in die Hand geben kann. Sie haben noch den Vorteil, reichlich belehrenden Stoff zu bringen …“

Herr Direktor G. in W.:

„… Sie sind unterhaltend und belehrend. Der richtige Lesestoff in der Hand der ernstgerichteten Jugend.“

Herr Lehrer B. in B.:

„Die mir zur Beurteilung übersandten Bändchen sind eine einwandfreie Unterhaltungslektüre für Knaben von 12 Jahren an.“

Herr Landrichter V. in B., früher Untersuchungsrichter in S.:

„… Die Erzählungen habe ich mit großem Interesse gelesen. Als Unterhaltungsschriften für die Heimat sowohl als auch für das Feld würde ich die billigen und dabei guten Heftchen empfehlen können …“

 

 

Anmerkungen:

  1. Schon 1913 wurde ein Artikel von Walther Kabel unter dem Titel Riesenwürmer in: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Band 6, Seite 224–228 veröffentlicht.
  2. „Serajewo“ – zu der damaligen Zeit völlig korrekte Schreibweise für „Sarajevo“, da Bosnien damals noch zur K. u. K. Monarchie gehörte.
  3. In der Vorlage steht: „ihnen“. Der Satz ergibt so keinen Sinn. Entweder: „… die man sich mitgebracht …“ oder: „… die man ihnen mitgegeben …“. Geändert auf „sich“.