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Die Gespensterbrigg

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Gespensterbrigg.

 

W. Belka.

 

Eine wahre Backofenglut lag über der nur unter einer leichten Dünung träge hin und her schwappenden See. Und der Motorkutter „Phönix“ taumelte auf der im Sonnenglast flimmernden Wasserfläche wie ein Trunkener hin und her. –

Auf dem kleinen, von einem Sonnensegel überspannten Hinterdeck saßen zwei Herren in weißen Leinenanzügen. Ein dritter hantierte in dem Maschinenraum mit Schraubenschlüssel und anderen Werkzeugen herum.

„Na, Manhard, haben Sie den Motor wieder zurechtgedoktert?“ fragte jetzt einer der beiden auf Deck, indem er sich vorbeugte, um durch die Luke in den Verschlag hinabzusehen, wo der vierzylindrige Benzinmotor aufgestellt war, der dem schlanken „Phönix“ eine Geschwindigkeit von gut fünfzehn Seemeilen in der Stunde zu geben vermochte.

Der mit Manhard Angeredete tauchte jetzt mit schweißtriefendem Gesicht in der Luke auf.

„Leider nein!“ meinte er ärgerlich. „Es wird nichts helfen, – ich muß den einen Zylinder herausschrauben.“

„Mit der Jagd auf Seekühe (die Seekuh oder Dugong, 3–5 Meter lange Tiere mit fischähnlichem Körper, bläulichgrauer Haut und einem Maule, das dem der Rinder gleicht, bewohnen den Indischen Ozean. Fleisch und Fett sind sehr geschätzt) ist’s dann wohl vorbei?“ fragte der erste Sprecher wieder. Es war dies ein blonder, schlanker Herr mit recht jugendlichem, braungebranntem Gesicht.

„Für heute ja“, gab Manhard Bescheid. „Sobald etwas Wind aufkommt, müssen wir zusehen, daß wir mit Hilfe der Notsegel nach Kolombo zurückgelangen. – Eine ganz verwünschte Geschichte ist das! Der Motor hat noch nie versagt.“

Dann wandte er sich der offenstehenden Kajütentür zu.

„Ramana“, rief er laut, „ich brauche Deine Hilfe. Auf die Kocherei wird einer unserer Gäste freundlichst acht geben.“

Ottenstedt, der blonde Herr, erklärte sich sofort bereit, den Singhalesen (die Singhalesen, ein Mischvolk der Ureinwohner Ceylons, der Drawidas, und der Hindus, machen den Hauptbestandteil der Bewohner Ceylons aus. Sie sind gutgebaut, mittelgroß, die Frauen sogar auffallend hübsch) in der kleinen Kombüse (Küche) abzulösen.

Ramana, ein hübscher, hellbrauner Bursche in einem blauleinenen Matrosenanzug kam jetzt aus der Kajütentür heraus und verschwand in der Luke zum Maschinenraum, während Ottenstedt sich nach der Kombüse begab, um die Fertigstellung des Mittagessens zu überwachen.

Der dritte der auf dem „Phönix“ anwesenden Weißen, ein sehr dicker Herr mit bereits graumeliertem Spitzbart, hatte sich inzwischen kaum gerührt. Er saß in dem Klappstuhl mit weit vorgestreckten Beinen da und trocknete sich nur hin und wieder stöhnend den Schweiß von der Stirn. Jetzt, wo er auf dem Hinterdeck allein war, schloß er sogar die Augen, lehnte sich an den Kajütenaufbau und versuchte ein Schläfchen zu machen.

Der Motorkutter taumelte weiter träge auf dem gleißenden Wasser hin und her. Zuweilen erklang das Hämmern und das Klirren von Werkzeugen aus dem Maschinenraum gedämpft nach oben, in das sich auch das Klappern von Geschirr, aus der Kombüse hervordringend, ebenso wie der gelegentliche Schrei eines vorüberstreichenden Seevogels mischte.

Der „Phönix“ war Eigentum Manhards, eines begüterten, in Kolombo auf Ceylon ansässigen deutschen Kaufmannes. Vor drei Tagen hatte dieser im deutschen Klub die beiden anderen Herren kennen gelernt und sie dann zu einem Jagdausfluge nach den Riffen von Dugamore, die westlich von Kolombo liegen und häufig von Seekühen besucht werden, eingeladen.

Der dicke, jetzt fest schlafende Herr, ein Breslauer, millionenschwerer Fabrikbesitzer namens Selbing, unternahm zur Zeit zu seinem Vergnügen und unter dem Schutze des trotz seiner Jugend weitgereisten Ottenstedt, eines früheren Offiziers, eine Weltumsegelung. – Die kleine Jagdgesellschaft war am Morgen von Kolombo abgefahren und hatte die Riffe um die Mittagszeit zu erreichen gehofft. Auf dem halbem Wege war dann aber der Motor plötzlich in Unordnung geraten und streikte jetzt gänzlich. Über eine Stunde bemühte sich Manhard nun schon, den Schaden herauszufinden und auszubessern. Mittlerweile hatte die Sonne ihren höchsten Stand erreicht und verwandelte bei dem windstillen Wetter den Kutter zu einem keineswegs angenehmen Aufenthaltsort. Das unter dem Sonnensegel hängende Thermometer ließ seine Quecksilbersäule beharrlich höher und höher klettern. Die von den Sonnenstrahlen getroffenen Holz- und Eisenteile des kleinen, aber seetüchtigen Fahrzeugs aber waren derart heiß, daß sie sich nicht mehr berühren ließen. Und noch immer wollte kein erquickender Luftzug die drückende Hitze auch nur etwas lindern.

Der schlafende Selbing schnarchte jetzt so laut, daß Manhard unten im Maschinenraum die rasselnden Töne hörte und den Kopf zur Luke heraussteckte, um einen lächelnden Blick auf den in sich zusammengesunkenen, wohlgenährten Körper seines Gastes zu werfen. Auch Ramana, Manhards eingeborener Bootsmann, benutzte diese Arbeitspause und eilte nach der Kombüse hin, wo Ottenstedt jedoch zu seiner Zufriedenheit für das auf dem großen Petroleumkocher dampfende Mittagessen sorgte.

Als der Singhalese wieder an Deck erschien, schaute er sich prüfend den Himmel an. Schon wollte er in der Luke verschwinden, als ihm am östlichen Horizont eine winzige, dunkle Wolke auffiel, die sich gegen den klaren Himmel scharf abzeichnete.

Ramana schien diesem Wölkchen, dem ein Unkundiger kaum Beachtung geschenkt haben würde, nicht recht zu trauen. Aufmerksam verfolgte er ihr schnelles Anwachsen. Und wie nun plötzlich, grauen Fäden gleich, sich seltsame Gebilde wie Strahlen aus der Wölke loslösten und sich über den ganzen Himmel hinzuziehen begannen, stand er mit ein paar Sätzen an der Luke und rief dem unten Arbeitenden zu:

„Sahib Manhard – schnell mit den Segeln heraus! Ein Olho de Boy (portg., gleich Ochsenauge, die Wolke, die einen Zyklon, einen Wirbelsturm, ankündigt. In Nordamerika, besonders im Mississippigebiet, sind ähnliche Stürme (Landtornados) so sehr gefürchtet, daß die Bewohner vor ihnen in feste, sog. Tornadokeller flüchten) kommt von Osten …!“

Im Nu schwang sich Manhard an Deck. Und wenige Minuten später waren alle Hände an Bord damit beschäftigt, an dem Mast des Kutters die nötigen Segel hochzubringen.

Inzwischen hatten sich die grauen Fäden immer weiter ausgedehnt, und bald war der ganze Himmel mit dichtem, schwarzem Gewölk bedeckt. Dabei wurde die Hitze immer stärker. Kein Luftzug regte sich.

Der dicke Selbing, der sich nach Möglichkeit nützlich zu machen suchte, schien nicht recht zu begreifen, weshalb seine drei Gefährten mit so ängstlichen Gesichtern hin und her eilten. Von der Furchtbarkeit eines Zyklons besaß er zu seinem Glück nicht die geringste Vorstellung. Daher wandte er sich jetzt auch mit der Frage an Manhard, wann man denn eigentlich zu Tisch gehen werde. Er finde, es rieche höchst verlockend da unten in der Kombüse.

Manhard und Ottenstedt wechselten einen schnellen Blick. Sie verstanden sich. Es war besser, man klärte den Millionär nicht darüber auf, was ihnen bevorstand. Und so erwiderte der erstere denn scheinbar sorglos, Selbing möge nur in die Kajüte hinabgehen. Ramana werde ihm etwas zu essen bringen. Er selbst und Ottenstedt hätten noch an Deck zu tun und kämen später nach.

Da, bevor der Fabrikbesitzer noch auf der Kajüttreppe die ersten Stufen hinabgestiegen war, brach auch schon urplötzlich der Sturm los. Ein gellendes Heulen kam von Osten über die See her wie der Ton einer Riesentrompete. Gleichzeitig fühlte man einen kalten Luftzug, unter dem das Wasser sich zu kräuseln begann.

„Bleiben Sie auf jeden Fall unten, Herr Selbing!“ rief Manhard dem Millionär zu. „Hier können wir Sie jetzt nicht brauchen. – Vorwärts, Ottenstedt, – runter mit dem Sonnensegel! Und werfen Sie auch die Stühle unter Deck.“

Er selbst sprang an das Steuer, band sich mit einer Leine, die er sich um den Leib schwang, fest, und drückte den Kutter, der bereits in Fahrt kam, mit dem Bug nach Westen zu.

Brüllend raste da der erste stärkere Windstoß über die aufschäumende See hin, faßte das Großsegel und drückte den Kutter tief nach Steuerbord über. Aber Manhard begegnete diesem Angriff so geschickt durch schnelles Umlegen der Ruderpinne, daß der „Phönix“ sich sofort wieder aufrichtete und nun pfeilschnell vor dem Sturme nach Westen zu davonjagte.

Die Dunkelheit war jetzt so dicht, als ob man sich mitten in stockfinsterer Nacht befinde. Keine zwanzig Schritt weit vermochte man zu sehen. Die Wellen nahmen von Minute zu Minute an Größe zu. Bald wälzten sich wahre Wasserberge mit leuchtenden Schaumkronen hinter dem fliehenden Kutter her. Aber der hielt sich wacker. So oft auch gurgelnd eine Woge über das Deck und die jetzt fest geschlossenen Luken hinwegging, stets richtete er sich stolz und beharrlich wieder auf.

Auch Ottenstedt und der Singhalese hatten sich mit Stricken festgebunden. Ohne diese Vorsichtsmaßregel wären sie längst über Bord gespült worden. In der kleinen Kajüte aber lag auf einer der Polsterbänke der arme, dicke Selbing und kämpfte verzweifelt gegen die Seekrankheit an, die ihn in dem heftig auf und nieder gehenden Kutter immer stärker packte. Er hörte das Heulen des Sturmes, das krachende Anschlagen der Wellen gegen die Bordwände, das Gurgeln der das Deck entlangjagenden Wogen, das Klirren des Geschirrs und der Flaschen und Gläser in den Schränken neben der Treppentür, – aber ihm war alles so gleichgültig … Er verwünschte heute zum ersten Mal seine Reisewut, verwünschte auch Manhard, der ihn zu dieser Segelpartie eingeladen hatte. – Oben auf Deck riefen sich die drei Gefährten allerlei zu. Ihre Stimmen klangen laut und frisch. Die Glücklichen waren nicht seekrank … Wie er sie darum beneidete …! – Mit zitternden Fingern tastete er jetzt wieder nach dem Blechbecken, beugte sich darüber und … opferte dem Meergott. Sein grünliches Gesicht sah spitz wie das eines Toten aus. Und halbtot war er auch schon. Schließlich schlief er dann vor Erschöpfung ein. Endlose Stunden vergingen – endlos für die drei Männer, die verzweifelt mit dem Zyklon um ihr Leben kämpften. Selbing ahnte nichts von all der Angst, all den Schrecken, die seine Gefährten durchmachen mußten. Als er erwachte, stand Manhard vor ihm. Die Pendellampe der Kajüte brannte. Der Kutter schwankte nicht mehr so fürchterlich, und das Toben und Heulen des Sturmes schien erheblich nachgelassen zu haben.

„Da, trinken Sie, Herr Selbing, – das wird Ihnen guttun“, sagte Manhard teilnehmend und hielt ihm ein mit Kognak gefülltes Weinglas hin.

Der Millionär goß den Inhalt wie Wasser hinunter.

„Mir ist noch hundeelend“, meinte er. „Wie steht es draußen? Und – welche Tageszeit haben wir eigentlich?“

Er setzte sich aufrecht und strich sich das wirre, spärliche Haar aus der Stirn.

„Der Morgen wird bald heraufdämmern, und der Zyklon ist vorüber“, erwiderte Manhard, indem er sich jetzt selbst das Glas aus der Kognakflasche füllte. „Freilich – der Wind bläst noch recht kräftig. Das macht aber nichts. Die Gefahr ist jedenfalls überstanden.“

„Der Morgen …?“ fragte Selbing ungläubig.

„Habe ich denn wirklich all die Stunden fest geschlafen? – Das kann doch nicht sein.“

In demselben Augenblick ertönte oben die Stimme des braunen Bootsmannes:

„Sahib – schnell, schnell – – die Gespensterbrigg!!“

Und auch Ottenstedt rief durch das Oberlichtfenster, das man vorhin etwas geöffnet hatte, um frische Luft in die Kajüte zu lassen:

„Manhard – auf Deck! Hier gibt’s was zu sehen! So eine Neuauflage des fliegenden Holländers …!“

Schon stürzte der Besitzer des Kutters die Treppe hinan. Und Selbing raffte sich gleichfalls auf und kam eilig hinter ihm drein.

Der Himmel war noch immer mit dichten Wolken bedeckt, aus denen jetzt ein feiner Sprühregen herunterrieselte. Die Dunkelheit lastete nicht minder tief als zu Beginn des Zyklons über den schäumenden Wogen. Nur die Wellenkämme leuchteten in der Finsternis wie weiße, wandernde Striche.

Und über diese aufgewühlten Wassermassen kam jetzt von Nordwest her unter dem Druck weniger Sturmsegel ein seltsames, unheimliches Schiff herangeflogen.

Es war eine Brigg mit zwei vollgetakelten Masten, die sich mit ihren in phosphoreszierendem Glanz strahlenden Umrissen, mit den nicht weniger stark leuchtenden Mastbäumen, Rahen, Spieren, Tauwerk und Sturmsegeln wie ein mit Kreidestrichen auf eine schwarze Tafel gezeichnetes Bild von der dunklen See abhob.

Das Schiff gewährte einen wahrhaft geisterhaften Anblick und hatte etwas so Übernatürliches an sich, daß Selbing entsetzt ausrief:

„Es ist der fliegende Holländer …!“

Und wie ein Echo kam’s aus des Singhalesen Munde:

„Die Gespensterbrigg …! Buddha schütze uns!“

Manhard und Ottenstedt waren mehr überrascht als erschreckt von dem plötzlichen Auftauchen des merkwürdigen Fahrzeugs, das pfeilschnell daherrauschte und den Kutter überrennen mußte, falls dieser nicht sofort nach Steuerbord abfiel. (Einen Bogen nach rechts beschrieb.)

Noch hundert Meter etwa war die Gespensterbrigg entfernt. Da legte Manhard die Ruderpinne um, und der „Phönix“ wandte sofort den scharfen Bug zur Seite, um dem fremden Schiffe auszuweichen. Merkwürdigerweise aber machte dieses sofort dasselbe Manöver, nur nach der Backbordseite hin, so daß sein Kurs abermals gerade auf das Motorboot zulief.

Ottenstedt brüllte vor Wut laut auf.

„Backbord jetzt, Manhard, – Backbord – sonst übersegeln die Schufte uns!“

Wieder drehte der Kutter sich unter dem Druck des herumgeworfenen Steuers.

Ganz nahe war die Gespensterbrigg jetzt, so daß man ihr schräg liegendes Deck bequem überblicken konnte. Und das, was man dort drüben schaute, trieb den vier Männern auf dem Kutter das Blut aus dem Gesicht und jagte ihnen blasses Entsetzen in das Herz – – –

Am Steuerrad des Geisterschiffes lehnte ein menschliches Gerippe und hielt die Speichen in den Knochenfingern. Auch von diesem Skelett ging das seltsame Leuchten aus … Nichts Lebendes war an Bord – nichts, keine Seele. Leer das Deck, leer die Wanten, leer der Mastkorb …

Und doch war die Brigg wie durch Zauberhand gelenkt in demselben Augenblick ebenfalls nach Steuerbord abgefallen, als Manhard den Kurs des Kutters wiederum änderte, um das drohende Unheil zu verhüten. Immer kürzer wurde jetzt der Abstand der beiden Fahrzeuge. Nochmals versuchte Manhard den Zusammenstoß zu vermeiden.

Zu spät … – Mit furchtbarem Krach traf der Bug des Gespensterschiffes das Motorboot dicht hinter dem Heck. Planken splitterten, der Mast knickte um, und die vier Männer wurden wie die Bälle weit durch die Luft geschleudert und versanken in den Wellen … –

Als Ottenstedt, der noch im letzten Moment in Voraussicht des Kommenden drei der auf dem Oberlichtfenster festgebundenen Rettungsringe losgerissen und dann krampfhaft festgehalten hatte, wieder auftauchte, war das erste was er in den gurgelnden Wassermassen erblickte, ein nur mit einzelnen Haarsträhnen bedeckter Schädel, der nur dem dicken Millionär gehören konnte. Mit ein paar Schwimmstößen schoß er nun auf Selbing zu und drückte ihm einen der Rettungsringe in die Hand.

Dann sah er sich nach Manhard und dem Singhalesen um. Bald hatte er sie erspäht. Ramana versuchte seinen offenbar ohnmächtigen Herrn über Wasser zu halten. Mit vereinten Kräften zwängten sie den Bewußtlosen einige Minuten später in den dritten Rettungsring.

Fünfzehn Meter seitwärts trieb der Kutter, den seine Luftkästen vor dem Versinken schützten, kieloben auf den Wogen. Das Gespensterschiff aber war spurlos verschwunden … – –

Im Osten wurde der Himmel lichter und lichter. Das Gewölk verschwand langsam, und die Sonne schickte sich an aus dem Meere aufzusteigen und ihren Tageslauf für diese Erdhälfte zu beginnen.

Auf dem Kiel des am Heck völlig zusammengedrückten Kutters ritten die vier Schiffbrüchigen, denen es nach vielen Anstrengungen gelungen war, ihr Boot zu erreichen und hinaufzuklettern. Inzwischen war auch Manhard wieder zur Besinnung gekommen, so daß er mit Hilfe seiner Leidensgefährten gleichfalls den unsicheren Sitz oben auf dem umgekippten Boot einnehmen konnte.

Ein starkes Brandungsgeräusch hatte ihre Blicke jetzt auf eine Insel gelenkt, die in der Richtung des stetig mehr abflauenden Windes im Dämmerlichte des herannahenden Tages mit ihren von Mangrovendickichten umsäumten Ufern und den vorgelagerten Riffen, über die die Wogen donnernd hinwegstürmten, ganz deutlich zu erkennen war.

Neue Hoffnung belebte ihre Herzen. Sie, die sich bereits verloren wähnten, die bereits hier und da die Rückenflosse eines den Kutter beutelüstern umschwärmenden Haifisches bemerkt hatten und sicher auch bald, ermattet von Hunger und Durst, diesen gierigen Räubern des Meeres zum Opfer gefallen wären, sahen jetzt, wie ihr kieloben schwimmendes Boot von einer starken Strömung durch einen Zwischenraum in der ersten Riffreihe hindurchgeführt wurde und der Insel näher und näher rückte. Freilich, noch war die Brandung als gefährliches Hindernis zu überwinden. Aber die Hoffnung hatte ihnen frische Kräfte gegeben, und keine Viertelstunde später fanden sie sich, wenn auch mit allerlei Hautabschürfungen und Beulen, an einer schmalen, sandigen Stelle des Strandes wieder zusammen, wo die Mangroven mit ihren meterhohen Luftwurzeln zufällig einen geeigneten Boden für ihre Ausbreitung nicht gefunden hatten.

Bald strahlte dann auch die Sonne mit wärmendem Schein auf die vier durchnäßten Gestalten herab, die sich nebeneinander in den Sand gestreckt hatten, um sich zunächst etwas zu erholen, bevor sie weitere Entschlüsse faßten. Ohne daß sie es recht wußten, schliefen sie ein, und mehrere Stunden ungestörter Ruhe erfrischten sie genügend, um sie zu neuen Taten fähig zu machen. Nur Manhard, der beim Zusammenstoß der Gespensterbrigg mit dem Kutter erst gegen den Deckaufbau des letzteren und dann in die See geschleudert worden war, mußte sich noch schonen, weil er in der Brust starke Schmerzen verspürte.

Der Platz, wo sie sich jetzt befanden, war rings von Mangrovendickicht eingeschlossen, das wie immer so auch hier aus einem salzhaltigen Sumpf emporwucherte. Wenn sie sich nicht der schweren Gefahr einer Erkrankung an Fieber aussetzen wollten, durften sie an dieser Stelle die Nacht über, wo verderbliche Nebel den Schlammassen[1] entstiegen, nicht bleiben. Ihre erste Sorge war also, den feuchten Uferstreifen zu durchdringen und im Innern der Insel einen vorläufigen Aufenthaltsort zu suchen.

Bei der Erörterung dessen, was nun geschehen solle, wurde auch die Frage angeschnitten, welche Insel es sein könne, auf der man sich jetzt befinde. Manhard erklärte, daß die nächste Inselgruppe im Westen Ceylons die Malediven seien. Um eines dieser Koralleneilande dürfte es sich aber kaum handeln, da man zwar nach Westen zu vor dem Sturme geflohen sei, die Malediven aber so weit entfernt lägen, daß man noch nicht in ihre Nähe gelangt sein könne. Er habe zwar gehört, es solle weit südlich von Kap Kamorin, der Südspitze Vorderindiens, eine einsame Insel geben, zweifelte aber sehr an der Richtigkeit dieser Erzählungen der eingeborenen Fischer in Kolombo, auf deren Angaben er sich lediglich berufen könne.

Hier mischte sich nun Ramana in die Unterhaltung, der sich bescheiden etwas abseits niedergesetzt hatte.

„Sahib Manhard kann meinen Landsleuten, die auf See ihrem Fischergewerbe nachgehen, schon glauben“, meinte er. „Mein Vater, der vor zwei Jahren mit dem Logger (Logger, auch Lugger, zweimastige, niedrige, aber lange Fahrzeuge, die viel zur Seefischerei und von Perlmuschelsuchern benutzt werden), auf dem er als Steuermann tätig war, verunglückte, hat mir selbst von dieser Insel erzählt, die wir Sola Dschinn, Geisterinsel, nennen, weil Leuten, die dort zu landen wagten, allerlei Unerklärliches zugestoßen ist.“

Manhard lächelte zweifelnd.

„Ich will gewiß Deinem Vater nichts Schlechtes nachsagen, Ramana, – aber Deine Landsleute sind sämtlich als abergläubisch nur zu bekannt. Ihr glaubt ja doch auch steif und fest an das Vorhandensein einer Art Gespensterschiff in diesen Gewässern – nicht wahr?!“

Der Singhalese nickte eifrig.

„Wir glauben nicht daran, – wir wissen vielmehr bestimmt, daß es ein solches gibt. Und ich denke, Sahib Manhard hat sich in der verflossenen Nacht selbst davon überzeugen können, wie es aussieht und wie es Fahrzeuge, die ihm begegnen, einfach übersegelt. Mein Vater ist dem geheimnisvollen Schiffe ebenfalls zwei Mal begegnet, wie er mir berichtet hat. Und er hat es mir genau so geschildert, wie die weißen Sahibs und ich es erblickt haben: eine Brigg mit leuchtender Reling und Takelage, an deren Steuerruder ein Gerippe lehnt. Deshalb habe ich auch, als es auf uns zukam, ausgerufen: „Buddha schütze uns!“ – Ich weiß eben von meinem Vater, daß die Gespensterbrigg jedes ihr begegnende Schiff in den Grund zu bohren sucht. Auch er ist damals jene beiden Male dem Unheil nur mit knapper Not entronnen, und vielleicht ist er deshalb seit zwei Jahren mitsamt dem Logger verschollen, weil er ein drittes Mal den Kurs der Gespensterbrigg kreuzte und dabei den Tod fand.“

Manhard lächelte nicht mehr. Er wandte sich jetzt an Selbing und Ottenstedt und sagte achselzuckend:

„Ich besinne mich jetzt, daß Ramana, der nun schon sieben Jahre in meinem Dienst steht, mir genau dasselbe, was er hier soeben über das Geisterschiff zum Besten gab, schon früher einmal mitgeteilt hat. Ich gebe auch zu, ebenfalls von anderer Seite verschiedenes über diesen merkwürdigen Segler gehört zu haben. Mithin scheint die Brigg dann also schon längere Zeit in den Gewässern Ceylons ihr Wesen zu treiben. Natürlich glaube ich nie und nimmer an übernatürliche Dinge! Es wird eben eine Brigg sein, die zu ganz bestimmten Zwecken das Gespensterschiff spielt. Vielleicht handelt es sich gar um ein Piratenfahrzeug, obwohl nie mehr Überfälle von Schiffen vorgekommen sind, seitdem man den malaiischen Freibeutern, die zuweilen von Sumatra herüberkamen, gründlich das Handwerk gelegt hat. Seltsam bleibt die Geschichte, das ist klar. – Doch wir sind ganz von unserem eigentlichen Thema abgekommen, – von der Insel, die uns aufgenommen hat. Sag’ mal, Ramana, weißt Du denn genaueres über dieses Eiland südlich von Kap Kamorin, das auf keiner Seekarte zu finden ist?“

„Nur das eine, Sahib Manhard, daß kein Fischer und kein Perlenlogger, der nach neuen Perlmuschelbänken sucht, sich seit Jahren in die Nähe dieser Insel wagt, nachdem bekannt geworden ist, daß die Gespensterbrigg gerade hier am häufigsten auftaucht. Meiner Ansicht nach ist dies Sola Dschinn, die Geisterinsel, und die weißen Sahibs werden gut tun zu versuchen, möglichst bald von hier fortzukommen.“

Ottenstedt, der wegen eines Lungenleidens den bunten Rock hatte ausziehen müssen und dann in allerlei Stellungen sich in Ländern mit mildem Klima aufgehalten, manches erlebt und viele Erfahrungen gesammelt hatte, war diesem Gespräch zwischen seinem Landsmann und dem klugen Singhalesen, der in einer Missionsschule in Kolombo einen guten Unterricht genossen und sich dann allein noch weiter fortgebildet hatte, mit lebhafter Teilnahme gefolgt. Jetzt wandte er sich an den Millionär, der schon verschiedentlich vorhin betont hatte, daß er gewaltigen Hunger habe und daß die Hauptsache sei, die nächste menschliche Niederlassung aufzusuchen und Eßwaren einzukaufen.

„Wie Sie eben gehört haben, dürfte es hier mit Nahrungsmittelläden schlecht bestellt sein, Herr Selbing. Trotzdem freue ich mich, daß Sie nun endlich ein Abenteuer erleben, nach dem Sie ja so große Sehnsucht hatten, damit Ihre Weltreise auch einen etwas stark gewürzten Beigeschmack erhielte. Ich als Ihr Reisemarschall habe mir die redlichste Mühe gegeben, dieses Abenteuer heraufzubeschwören. Nun ist es von selbst gekommen. Und gleich was für eins …!! Geisterinsel – Gespensterbrigg – – mehr können Sie nicht verlangen! Ich werde für diese Sache ein besonderes Honorar in Rechnung stellen, wenn Sie nichts dagegen haben.“

Ottenstedt war nie aus seiner guten Laune zu bringen und nickte dem verdrossen dasitzenden Millionär jetzt aufmunternd zu. Doch der brummte weiter unzufrieden vor sich hin. Wenn er hungrig war, wurde er zuweilen sogar unliebenswürdig.

Als sein Reisemarschall sah, daß jener zur Zeit für harmlose Neckereien nicht das richtige Verständnis hatte, erhob er sich, winkte dem Singhalesen zu und sagte zu Manhard, der trotz seiner Schmerzen ganz vergnügt schien:

„Wir werden jetzt einmal ein Stück am Strande entlanggehen und sehen, ob wir nicht irgendwo eine Stelle finden, wo wir trockenen Fußes und bequem durch die Mangroven hindurchkommen. Außerdem möchte ich auch feststellen, was aus unserem Kutter geworden ist. – Auf Wiedersehen also. – Sie, Herr Selbing, bleiben wohl bei Manhard zurück.“ –

Ottenstedt und Ramana verließen den sandigen Platz und näherten sich der Küste, an der jetzt bei Ebbe das Wasser einen breiten, teils felsigen, teils sumpfigen Streifen freigelegt hatte. Der Singhalese war es, der mit seinen scharfen Augen dann sehr bald den Kutter entdeckte. Der arme, halbzerstörte „Phönix“ lag auf der Seite mitten auf einer Sandbank, die sich in der Mündung eines vielleicht fünfzehn Meter breiten Flusses gebildet hatte.

Nachdem die beiden den Kutter genau besichtigt und auch am Ufer des Flusses entlang ein Stück ins Innere der Insel eingedrungen waren, kehrten sie schleunigst zu Manhard und Selbing zurück, denen Ottenstedt nun den Vorschlag machte, sofort aus dem Kutter alles herauszuschaffen, was für sie von Wert sein könne, und die Sachen nach einer felsigen Anhöhe zu tragen, die am Ufer des Flusses etwa fünfhundert Meter vom Seestrande entfernt liege und sich zum Lagerplatz sehr gut eigne. Mit dieser Arbeit müsse man sich nach Möglichkeit beeilen, da in drei Stunden die Flut den „Phönix“ wieder vollständig unter Wasser setzen würde.

Als Ottenstedt dann noch hinzufügte, daß sich auf dem Kutter auch eine ganze Menge Konserven befänden, zeigte Selbing sofort den lebhaftesten Eifer, sich nach Kräften an der Bergung der Gegenstände zu beteiligen. Manhard wollte zwar auch nicht müßig sein, mußte aber bald einsehen, daß sein körperliches Befinden keine Anstrengungen zuließ.

Zunächst holte man aus der Kajüte, in der noch gut zwei Fuß hoch das Wasser stand und alles wild durcheinandergeworfen war, die Gewehre und die Munition heraus, mit denen man unter den Seekühen der Dugamore-Riffe hatte aufräumen wollen. Dann wurde der Handwerkszeugkasten geborgen und so nacheinander alles an einer Stelle des Flußufers zusammengetragen, was in dem Kutter nicht niet- und nagelfest war. Die Sachen gleich nach dem zukünftigen Lagerplatz zu schaffen, unterließ man, da der Singhalese auf den guten Gedanken gekommen war, nachher aus Bambusrohr, das in großer Menge jenseits des sumpfigen Mangrovengürtels in teilweise bis zu 12 Meter hohen Schößlingen wuchs, ein Floß zu bauen und auf diesem die ganze Fracht auf einmal flußaufwärts nach der Felshöhe zu überführen.

Kurz nach der Mittagstunde war der „Phönix“ vollständig ausgeplündert. Inzwischen hatte Manhard, der sich im Schutze eines schnell errichteten Sonnensegels neben dem stetig anwachsenden Haufen der verschiedensten Gegenstände niedergelassen hatte, eine der nassen Zündholzschachteln an der Sonne getrocknet, ein Feuer angemacht und darüber eine kräftige Mahlzeit bereitet. Bevor man nun mit dem Bau des Floßes[2] begann, wurde eine Eßpause eingelegt. Dem Millionär mundete die einfache, aus Erbskonserven und Büchsenfleisch bestehende Kost so gut, daß seine Stimmung sich schnell wieder aufbesserte und er dann eifrig mithalf, die Bambusstangen, die man an der weichen Wurzel mit Beilen abhieb, zu einem Floß zusammenzubinden, dessen Tragfähigkeit man durch dem Kutter entnommene Luftkästen verstärkte. Jedenfalls war gegen sechs Uhr nachmittags die gesamte Fracht in zwei Fahrten nach der felsigen Anhöhe geschafft.

Diese erhob sich dicht am Flußufer und bildete ein unregelmäßiges Viereck von vielleicht 100 Quadratmeter Oberfläche. An drei Seiten fiel der Fels als steile Wand beinahe haushoch ab, während die vierte Seite allmählich nach Osten zu in eine mit hohem Gras bestandene Lichtung überging, die von einem dichten Urwald begrenzt war.

Auf dieser kleinen Hochebene wuchsen in den Spalten des Gesteins einige Sträucher, und an einer Stelle nahe dem Flusse hatte sogar eine Eiche in dem hier gerade recht zermürbten Fels Wurzel geschlagen und es zu einer ganz ansehnlichen Größe gebracht. Unter der Eiche wurden denn auch nebeneinander aus den Segeln des Kutters zwei Zelte errichtet, eins für die vier Männer, das andere als Schutz für die geborgenen Sachen, unter denen man die, die vielleicht durch die Nässe hätten verderben können, so auch die vier Gewehre, schleunigst sorgfältig reinigte.

Als der Abend nahte, hatte man es sich auf dem hochgelegenen Lagerplatz bereits recht gemütlich gemacht. Manhard, der sich noch weiter schonen mußte, spielte auch jetzt den Koch. Da zwei Kannen Petroleum und die Kajütlampe, ebenso der Petroleumkocher aus der Kombüse in leidlich brauchbarem Zustand das Unheil überstanden hatten, fehlte es nach Eintritt der Dunkelheit weder an Beleuchtung noch an einem steifen Glase Grog, zu dem man den vorhandenen Kognak unter Zusatz von Zucker und heißem Flußwasser verdünnte.

Ottenstedt schlug dann vor, man solle während der Nacht abwechselnd wachen, da man nicht wissen könne, ob die Insel nicht doch von irgend welchen diebischen Eingeborenen bewohnt sei. Natürlich käme aber Manhard für diesen Dienst nicht in Frage.

Die erste Wache von 10–12 Uhr erhielt Selbing. Mit der geladenen und gesicherten Doppelbüchse im Arm schritt er unablässig im Kreise um die Zelte herum, machte auch zuweilen halt, um sich auf einem Felsblock auszuruhen.

Der Millionär war durchaus kein Feigling. Und der genossene Grog hatte seinen Mut noch um ein beträchtliches erhöht. Außerdem war er ein guter Schütze, und das Gewehr in seiner Hand ließ ihn beinahe wünschen, daß irgend etwas geschehen möchte, damit er dem spottsüchtigen Ottenstedt beweisen könnte, wie wenig berechtigt dessen Zweifel an seiner Schießfertigkeit seien.

Der Mond war inzwischen aufgegangen, und sein Licht im Verein mit dem Schimmer der Sterne schuf eine Beleuchtung, die Selbing alles ganz deutlich auf einige fünfzig Meter erkennen ließ. Um die Krone der Eiche flatterten riesige Fledermäuse, wie sie nur in den Tropen zu finden sind. Einmal erkor sich auch eine Schar von fliegenden Hunden, die von ein paar nahen Sykomoren im Gleitflug (die Flugfähigkeit dieses merkwürdigen Tieres, das z. B. seine 1–2 Jungen stets auf dem Rücken mit sich herumträgt, ist nicht groß. Auch die Flattereidechse benutzt ihre Flughäute dazu, sich von höheren Ästen auf benachbarte Bäume hinüberzuschwingen) herüberkam, die Eiche als Zwischenstation und erfüllte für Minuten die Luft mit ihrem widerwärtigen Geschrei. Hin und wieder verirrte sich auch vom Urwalde ein Schwarm von Leuchtkäfern jener großen Art herüber, die von den Eingeborenen des südlichen Asiens, zu mehreren in dicht geflochtenen Körbchen gefangen gehalten, geradezu als Nachtlicht für ihre Hütten benutzt wird. Jedenfalls gab es für den Millionär so viel zu sehen und zu beobachten, daß ihm die Zeit sehr schnell verstrich.

Seine Wache näherte sich bereits ihrem Ende, als er dann durch ein klägliches Stöhnen nach dem nördlichen Abhang der kleinen Hochebene gelockt wurde. Unterhalb der Felswand standen hier einige Büsche, aus denen die klagenden Töne, die wie das Gejammer eines schmerzgepeinigten Menschen klangen, hervorzudringen schienen.

Als Selbing noch lauschend und scharf nach den Büschen hinlugend dastand, richtete sich plötzlich von der Erde langsam ein weißes Etwas auf, – ein menschliches Skelett, das dann wie drohend den rechten Arm erhob und sich schrittweise der Felswand näherte.

Obwohl der Millionär im ersten Augenblick entsetzt zurückgeprallt war, gewann doch schnell die ruhige Überlegung bei ihm die Oberhand. Er sagte sich, daß das Gerippe jedenfalls von den Büschen aus irgendwie vorwärtsbewegt werde und daß eine Kugel für den Mann, der auf diese Weise hinter der Szene sich betätigte, um die Schiffbrüchigen in Schrecken zu setzen, gerade die richtige Medizin sei. So brachte er denn jetzt ruhig sein Gewehr in Anschlag und zielte auf das Gestrüpp, ohne sich um das Skelett weiter zu kümmern. Da seine Gestalt gegen den mondhellen Himmel deutlich zu erkennen sein mußte, verfehlte schon dieses Hochbringen der Büchse seine Wirkung nicht. Urplötzlich versank das Gerippe wieder im Grase und ließ sich auch nicht nochmals blicken. Den Schuß wirklich abzufeuern, davon nahm Selbing nur aus Rücksicht auf seine Gefährten Abstand, die er unnötig dadurch in Aufregung gesetzt haben würde.

Gleich darauf kam der Singhalese herbei, um ihn abzulösen. Auch ihm teilte der Millionär nichts von dem eben Geschauten mit, da er mit Ramanas Neigung zum Aberglauben rechnete. Er sagte ihm nur, er habe in den Büschen da unten ein verdächtiges Rascheln gehört, das wahrscheinlich von einem Schuppentier herrühre, welches vorhin einem Termitenbau einen Besuch abgestattet habe. – Letzteres war keineswegs gelogen. Tatsächlich hatte er eines dieser mit Hornschuppen gepanzerten, 70 Zentimeter langem Säugetiere kurz vor dem Auftauchen des Gerippes bemerkt und dabei recht bedauert, daß es ihm nicht am Tage vor die Büchse gekommen war, da er den Panzer sich gern als Andenken aufgehoben hätte.

Nachdem er dem Singhalesen noch eine angenehme Wache gewünscht hatte, begab er sich nach dem Zelt, trat leise ein und streckte sich auf sein weiches Graslager hin.

Doch Ottenstedt hatte ihn kommen gehört und fragte nun flüsternd, ob etwas Besonderes sich während Selbings Wache ereignet habe, worauf dieser wahrheitsgetreu die mehr lächerliche, als aufregende Gespenstergeschichte erzählte. Er war damit noch nicht ganz zu Ende gekommen, als man draußen des Singhalesen gellende Stimme hörte, der laut um Hilfe rief.

Im Nu hatten Ottenstedt und der Millionär ihre Gewehre ergriffen und stürmten ins Freie.

Inzwischen war draußen wieder alles still geworden. Da aber Ramanas Angstrufe aus derselben Richtung erklungen waren, wo Selbing ihn am Rande des Plateaus zurückgelassen hatte, so eilten die beiden dorthin, fanden jedoch von dem Singhalesen keine Spur mehr vor. Ebensowenig antwortete er auf die gellenden Pfiffe, die Ottenstedt mit Hilfe der in den Mund gesteckten Finger ausstieß.

Jetzt wurden die drei Männer – auch Manhard war mittlerweile mühsam herbeigehumpelt – doch ängstlich. Unschlüssig standen sie noch am Rande des Abhanges beieinander und berieten, wo und wie man den so plötzlich Verschwundenen suchen solle, als Ottenstedt mit einem Mal seine Gefährten mit so kräftigem Ruck zurückriß, daß sie stolperten und lang zu Boden fielen, wobei Selbing sich den linken Ellbogen auf den harten Steinen blutig schlug, wie sich nachher zeigte.

„Liegen bleiben – liegen bleiben!“ brüllte der frühere Leutnant dann, als die beiden sich wieder aufraffen wollten. „Hier ist irgend eine Teufelei im Werk. Später erkläre ich alles.“

Auch er hatte sich lang hingeworfen und schob sich nun kriechend nach einem Felsstück hin, das seitwärts von ihm halb über dem Rande des Abhanges schwebte und ihm gute Deckung bot.

Eine Weile spähte er nun hinter dem Steine verborgen in die Tiefe hinab. Dann winkte er den beiden anderen zu, gleichfalls näher zu kommen. Vorsichtig krochen Manhard und der Millionär herbei und drückten sich neben Ottenstedt flach auf den Boden nieder. Nur die Köpfe reckten sie hoch.

Wieder stand da unten vor dem Gebüsch das bereits von Selbing beobachtete Skelett und schüttelte drohend den Knochenarm.

Das war dem Millionär denn doch zuviel. Blitzschnell riß er die Büchse, gleichzeitig sich auf die Knie aufrichtend, an die Backe und feuerte beide Kugelläufe nach dem Gestrüpp ab. Auch Ottenstedt und Manhard hatten denselben Gedanken gehabt, und ihre vier Schüsse dröhnten kurz hintereinander durch die nächtliche Stille. – Und der Erfolg? – – Das Gerippe stand noch ebenso aufrecht da, hob wieder den Arm und drohte herüber.

„Verd… Schurkerei!“ brüllte der Leutnant in heller Wut. „Hinlegen, Selbing, hinlegen, – oder einer von den vergifteten Blasrohrpfeilen trifft wirklich noch …“

Der dicke Millionär warf sich schleunigst wieder auf den harten Fels hin.

„Was tun wir nur?!“ meinte Ottenstedt, vor Aufregung keuchend. „Die Schufte, die dort in jenem Gebüsch stecken, müssen wir haben – um jeden Preis!“

Wieder hob er den Kopf und spähte hinunter. Das Skelett war verschwunden.

„Aha – die Herrschaften empfehlen sich“, flüsterte er. „Da – jetzt bewegt sich rechts von dem Gestrüpp das Gras … Manhard, Sie haben ja gute Augen. Passen Sie genau auf die Halmspitzen auf. Wo die sich rühren – dort hin mit einer Kugel …“

Gleich darauf feuerte er. Und auch Manhard schoß beide Läufe ab. Wieder waren vergeblich drei Patronen verschwendet: Unten in der Lichtung kündete kein Aufschrei, kein Stöhnen einen Treffer an.

„Schonen wir lieber unsere Munition“, meinte Ottenstedt da. „Vielleicht wollen die Kerle uns absichtlich zu nutzloser Schießerei verführen.“

So beschränkten sie sich jetzt aufs Beobachten. Bisweilen glaubten sie auch noch eine Bewegung im Grase zu erkennen. Aber ihre Büchsen schwiegen. Dafür teilte der Leutnant den beiden Gefährten nun endlich näheres über den von ihm durchschauten Anschlag der unbekannten Feinde mit.

„Dieses Gaukelspiel mit dem Skel[ett][3], das die Halunken natürlich mit Hilfe von dunkelgefärbten Bambusstäben von hinten aus dem Gebüsch die nötigen Bewegungen ausführen ließen“, erklärte er, „hat nur den Zweck gehabt, uns gleichzeitig an dieser Stelle hier als Ziel für die Giftpfeile ihrer Blasrohre zu vereinen und dann wegzuputzen. Ein Glück, daß einer der Blasrohrschützen seine Mordgier nicht zügeln konnte und zu früh auf mich schoß. Der Pfeil traf den Schaft meiner Büchse dicht hinter dem Schloß und blieb im Holze stecken. Ich hörte den Aufschlag, sah hin und wußte genug. Ein halbes Zentimeter weiter nach links, und ich hätte den gefiederten Dorn im rechten Arm gehabt und wäre verloren gewesen. Die Wirkung dieser Giftpfeile kenne ich von einem Besuch auf den Andamanen (Inselgruppe im Golf von Bengalen an der Westküste von Hinterindien. Die Ureinwohner, Minkopies, bis 140 Zentimeter groß, leben auf allerniedrigster Kulturstufe. England hat auf den A. eine Verbrecherkolonie eingerichtet, die 1909 etwa 18 000 meist lebenslänglich verurteilte Sträflinge besaß) her, wo die hinterlistigen Ureinwohner, ein wildes Zwergvolk, manchen Engländer heimlich damit beseitigt haben. Deshalb also riß ich Sie beide so plötzlich zu Boden. Und kaum war’s getan, als auch schon eine ganze Anzahl von diesen gefährlichen Geschossen über uns hinwegschwirrte.“

Der Millionär, der jetzt erst merkte, wie nahe ihm der Tod gewesen, murmelte einen frommen Wunsch für die Blasrohrschützen vor sich hin, der mehr als rachedurstig sowohl dem Inhalt als der Betonung nach war. Und Manhard wieder fragte unsicher:

„Meinen Sie denn, Ottenstedt, daß wir es hier mit Minkopies, so heißen ja wohl die verd… Andamanenleute, zu tun haben? Ich begreife nicht, wie die hierher kommen sollten.“

„Ist mir auch unklar. Aber wir werden schon dahinterkommen. Jedenfalls müssen wir fortan außerordentlich vorsichtig sein. Am Tage werden die Schufte ja keinen Angriff wagen. Aber nachts, da können sie uns leicht aus dem Hinterhalt beschießen. Die unten mit Flaumfedern versehenen, sehr spitzen, vergifteten und glasharten Dorne fliegen bis vierzig Meter weit, und auf zwanzig trifft so ein elender Minkopie damit jeden Finger einzeln, wenn er will.“

Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, begaben die drei Gefährten sich jetzt kriechend wieder nach dem Zelt, zündeten vor demselben ein großes Feuer an und setzten sich mit den Büchsen in der Hand in der Nähe nieder, jeder nach einer anderen Richtung hin die kleine Hochebene scharf beobachtend. Aber die Nacht verging ohne jede weitere Störung. Dann begann der Morgen zu dämmern, und bald war es hell genug, um jeden Feind auf weite Entfernung zu erkennen. Da erst wagte man sich freier zu bewegen. Während Manhard den Morgenimbiß zubereitete, gingen Ottenstedt und Selbing nach dem Nordrande des Plateaus, wo sie nach einigem Suchen nicht weniger als elf Blasrohrpfeile fanden, die dann sofort ins Feuer geworfen wurden.

Ottenstedt schritt dann gerade auf das Vorratszelt zu, um die Teebüchse zu holen, als das lose vor dem Eingang hängende Segel sich bewegte und … der Singhalese mit schuldbewußter Miene heraustrat. Einige an ihn gerichtete Fragen genügten, um die Sachlage aufzuklären. Der abergläubische Ramana, dem sich das Skelett ebenfalls gezeigt hatte, war nach den ersten Angstrufen in das Zelt geschlüpft und hatte sich dort unter einen Haufen von Ölanzügen und Segeln verkrochen.

Manhard sagte nur ein Wort: „Feigling!“ – Aber diese Zurechtweisung traf den Singhalesen mehr als eine lange Strafpredigt. Er gelobte reumütig Besserung, und nachher wurde ihm dann auch schnell vollständig verziehen, als er den Vorschlag machte, oben in der Krone der Eiche eine Bambuslaube zu errichten, in der man nachts völlig sicher sein würde, besonders wenn man noch rund um den Baum ein paar große Feuer anzündete, die die Nacht über vorhielten. – Dieser Gedanke war so gut, daß man beschloß, sofort mit den Bau dieser luftigen Wohnung zu beginnen. Ramana wußte genau, wie seine von der Kultur noch weniger beleckten Landsleute an den sumpfigen Küsten Ceylons derartige Hütten mit den primitivsten Mitteln errichten, und bereits gegen Mittag war die Bambuslaube, die einen doppelten Boden aus Bambusrohr erhalten hatte, durch den kein Pfeil zu dringen vermochte, vollständig fertig.

Manhard ging es heute schon bedeutend besser, so daß er sich gleichfalls eifrig an den Arbeiten beteiligte. Nachdem die Baumhütte, die etwa zehn Meter über dem Boden lag, errichtet war, blieb er als Wache auf der Hochebene zurück, während die übrigen drei Männer sich auf dem Floß nach der Sandbank in der Flußmündung begaben, um zu versuchen, den Kutter auseinanderzuschlagen, damit man später vielleicht aus den Planken ein neues, kleineres Boot bauen könne.

Bis zur Abenddämmerung waren die drei eifrig tätig und hatten auch den Kutter fast vollständig auseinandergenommen, das gewonnene Holz an einer geschützten Stelle aufgeschichtet und alle Eisenteile unter einem Segel geborgen. Als sie dann das Floß wieder besteigen und es mit Hilfe langer Bambusstangen nach dem Lagerplatz zurückbringen wollten, tauchte vor dem äußeren Riffgürtel der Insel plötzlich ein Segelschiff auf, das unschwer als Brigg zu erkennen war und in dem die seemännisch geschulten Augen Ramanas bestimmt die Gespensterbrigg wiedererkennen wollten.

Ottenstedt, der eines der Fernrohre des Kutters, ein selten scharfes Glas, bei sich hatte, richtete dieses nun auf das Schiff, das in einer Entfernung von einer halben Seemeile mit südlichem Kurse vorübersegelte. An Bord war kein Mensch zu erblicken. Das Deck war wie ausgefegt. Und am Steuerrad lehnte wieder der weiße Knochenmann als unheimlicher Führer des Geisterschiffes. – Schnell verschwand es in einer im Süden lagernden Nebelwand.

Der frühere Leutnant ließ das Glas sinken.

„Es war tatsächlich die Gespensterbrigg“, meinte er zu Selbing. „Und ich gebe offen zu, daß das Fahrzeug bei dieser seltsamen Aufmachung selbst am Tage recht unheimlich wirkt. Kein Wunder, wenn die eingeborenen Fischer davor einen Heidenrespekt haben.“

In der nächsten Nacht ereignete sich nichts Auffälliges. Um die Eiche herum brannten vier Holzstöße, die fast das ganze Plateau erleuchteten, so daß die sich alle zwei Stunden in dem Wachdienst ablösenden Schiffbrüchigen vor jeder Überraschung sicher waren. Dieser wurde in der Weise versehen, daß der, der gerade dazu heran war, sich lang auf den Bauch in den Eingang der Baumhütte legte und nach unten hin beobachtete. Äste und Zweige, die die Aussicht zu sehr beeinträchtigten, hatte man weggeschnitten.

Nachdem dann am folgenden Vormittag der Kutter völlig auseinandergenommen war, baute man ein kleines Floßboot mit einer Schanzverkleidung aus Brettern, auf dem Ottenstedt und der Singhalese einen Ausflug in das Innere der Insel unternehmen wollten, soweit sie eben den Fluß befahrbar fanden. Es lag ihnen daran, deren Größe und sonstige Verhältnisse nach Möglichkeit festzustellen, insbesondere zuzusehen, ob sie nicht irgend eine Niederlassung entdecken könnten.

Absichtlich traten sie ihre Fahrt dann gleich nach Dunkelwerden an, da Ottenstedt erklärte, er sei der festen Überzeugung, daß jede ihrer Bewegungen von den unbekannten Feinden belauert würde, und es daher ratsamer scheine, sich dem schmalen Flusse nicht bei Tage anzuvertrauen, weil sonst vielleicht sofort eine Schar von Verfolgern sich ihnen an die Fersen heften und sie mit den Blasrohren aus dem Hinterhalt belästigen dürfte.

Mond und Sterne spendeten ihnen nachher genügend Licht, um sich zurechtfinden zu können. Lautlos trieben sie ihr leichtes Fahrzeug mit den Stoßstangen vorwärts, und bald waren sie den beiden Zurückbleibenden hinter einer Biegung entschwunden. Hier lenkte der Wasserlauf in denselben Urwald ein, der die Lichtung vor der Felshöhe einschloß. Unter den riesigen Bäumen, deren Kronen sich über dem Flusse vereinigten, herrschte tiefe Dunkelheit. Nur Schwärme von Leuchtkäfern strichen hin und wieder über das Wasser hin, und faulende Baumstümpfe (bei allen Lichtausstrahlungen von Tieren und Pflanzen handelt es sich stets um das Vorhandensein einer phosphorhaltigen Substanz. Während Leuchtkäfer besondere Leuchtorgane haben (ebenso einige Krebsarten, Tintenschnecken und Tiefseefische), ist das Leuchten von faulendem Fleisch und das des Meerwassers auf bestimmte Leuchtbakterien zurückzuführen, die sich auf günstigem Nährboden schnell entwickeln. Holz leuchtet bei Vorhandensein von sog. Leuchtpilzen, die in den Leuchtkörpern Phosphor enthalten) strahlten in geisterhaftem Licht und in den wunderbarsten Formen hier und da im Uferdickicht. – Dann strömte der Fluß durch eine weite, von einzelnen Baum- und Strauchgruppen bestandene Grassteppe dahin. Bevor er dann in einen neuen Urwald einlenkte, teilte er sich in mehrere gleich breite Arme, so daß schwer zu bestimmen war, welchen von diesen man als den Hauptarm anzusehen habe. Da sich inzwischen auch der Mond hinter dichtes Gewölk versteckt hatte, wodurch diese nächtliche Fahrt sich immer schwieriger gestaltete, beschloß Ottenstedt auf einer kleinen Insel, die nur wenig bewachsen war, zu lagern und den Morgen abzuwarten. Kaum hatte aber Ramana als erster das winzige, mitten im Fluß liegende Inselchen betreten, um das Floßboot ein Stück aufs Land zu ziehen, als er mit einem unterdrückten Angstschrei sich schleunigst wieder über die Schanzverkleidung zurückschwang.

„Sahib – Krokodile!“ meinte er atemlos und wies dabei auf mehrere dunkle Körper hin, die regungslos halb im Wasser, halb auf dem Ufer lagen und die Ottenstedt für angeschwemmte Baumstämme gehalten hatte.

Diese Nachbarschaft war denn doch zu gefährlich. Das Fahrzeug wurde also noch ein Stück flußaufwärts getrieben und hier an einem weit überhängenden Baum mit einer Leine festgemacht, so daß die leichte Strömung es nun nach der Mitte des Flusses lenkte, wo es gegen einen Überfall leidlich geschützt war. Diese vorsichtige Verankerung erwies sich jedoch als überflüssig. Nichts störte den Schlaf der beiden Männer, die sich, so gut es gehen wollte, auf dem Boden ihres kleinen Bootes ausgestreckt hatten und auch bald eingeschlummert waren.

Bei Tagesgrauen setzten sie ihre Reise fort, indem sie in den Flußarm eindrangen, der die stärkste Strömung zu haben schien. Nach Verlauf einer Stunde, die sie recht gut vorwärts brachte, war es dann jedoch mit der Wasserfahrt vorbei. Der Arm hatte sich zum Bach verengert, dessen Tiefe für das Fahrzeug nicht mehr genügte.

Hier nun zeigte die Pflanzenwelt bereits den ausgesprochenen Charakter einer tropischen Höhenregion. Weite Eichenhaine wechselten mit Nadelhölzern ab; die Duftsträucher waren verschwunden und hatten kräftigeren Arten Platz gemacht, ebenso wie der Boden steinig geworden war und nur spärliches Gras und wenige Blumen ernährte.

Als nächstes Ziel setzten die beiden Männer sich eine im Südwesten emporragende Hügelkette, von der sie endlich einen Überblick über die ganze Insel zu gewinnen hofften. Eine Wanderung von einer halben Stunde genügte, um eine kahle, von Felsblöcken bedeckte Kuppe zu erreichen, die eine weite Fernsicht bot. So konnten sie denn feststellen, daß die Insel bei vielleicht zwei Meilen Durchmesser ziemlich kreisrund war und außer dieser einen, in der Mitte gelegenen Hügelkette keine anderen Erhebungen besaß. Größtenteils war sie mit Urwäldern bestanden, aus denen nur einzelne hellgrüne Lichtungen wie Farbtupfen hervorleuchteten. Der Fluß strömte in unzähligen Windungen von West nach Ost und entsprang offenbar am Nordrande der Felshügel. Nur infolge seines vielfach gekrümmten Laufes hatten Ottenstedt und sein Begleiter eine so lange Zeit gebraucht, um bis an sein Quellgebiet zu gelangen.

Was die Aufmerksamkeit des früheren Offiziers aber am meisten in Anspruch nahm, war eine Bucht, die sich von Südwest nach Nordost bis in die Nähe der letzten Ausläufer der Hügelkette, also bis mitten in die Insel hinein erstreckte. Vor deren eingebogener Mündung lag eine Unmenge winziger, bewaldeter Eilande, so daß für den mit all diesen Wasserstraßen nicht Vertrauten der Eingang der Bucht nur schwer zu finden war. Daß es sich um eine Salzwasserbucht und keinen Binnensee mit Abfluß nach dem Meere hin handelte, erkannte Ottenstedt an den üppigen Mangrovendickichten, die die Ufer dieses ziemlich breiten Einschnittes umsäumten, der im übrigen ebenfalls von hohen Urwäldern zumeist umgeben war.

Und dann das Wichtigste: keine tausend Meter von dem jetzigen Standorte der beiden Männer ragten über die Kronen der Bäume zwei Mastspitzen hinweg, die nur zu einem größeren Schiffe gehören konnten.

Unwillkürlich dachte Ottenstedt sofort an die Gespensterbrigg. Und auch der Singhalese sagte jetzt ganz scheu, indem er mit der Hand nach jenen Masten deutete:

„Sahib – – Sola Dschinn, die Geisterinsel, und die Gespensterbrigg …“

Aber der junge Deutsche lachte nur vergnügt auf.

„Ich wünschte, es wäre der unheimliche Segler! Zu gern möchte ich mir den einmal aus nächster Nähe ansehen …!“

Mit diesen Worten zog er das Fernrohr, das er für die Erkundungsfahrt mitgenommen hatte, auseinander, stellte es ein und schaute aufmerksam nach der Bucht hinüber, in deren äußerstem Winkel das Schiff vor Anker lag. Doch der Urwald versperrte jeden Blick auf die niedrigeren Teile des Seglers. –

Eine Stunde später näherten sich Ottenstedt und Ramana dem Ostufer der Bucht. Um sich zu ihrem Floßboot zurückzufinden, hatten sie auf ihrem Wege alle zwanzig Schritte ein paar Zweige geknickt. – Seit sie die Felskuppe verlassen hatten, waren ihren Augen auch die Mastspitzen durch die dazwischenliegenden Wälder entzogen worden, so daß sie sich lediglich nach dem Taschenkompaß richten mußten.

Mit äußerster Vorsicht drangen sie nun in das Mangrovendickicht ein, um die Bucht überschauen zu können. Bisher hatten sie nirgends auch nur das geringste Anzeichen für die häufigere Anwesenheit von Menschen entdeckt. Und doch mußten solche außer der Besatzung des Schiffes vorhanden sein. Das wußten sie ja nur zu gut. Es fragte sich allerdings, ob jene nächtlichen Blasrohrschützen mit den Leuten des Seglers unter einer Decke steckten oder ob dieser jetzt nur zufällig hier vor Anker gegangen war.

Hierüber sollten sie sehr bald auf eine ganz zuverlässige Art und Weise Aufschluß erhalten. Über die schlüpfrigen Luftwurzeln der Mangroven hinturnend, erreichten sie eine Stelle, die gerade an einer scharfen Biegung der Bucht lag, so daß sie diese sowohl aufwärts wie abwärts überblicken konnten. Zu ihrer nicht geringen Überraschung wurden sie nun Zeugen, wie die Brigg – es war tatsächlich eine solche, was sie aus den Mastspitzen allein nicht hatten feststellen können – von zwei Booten, die mit schwarzbraunen, sehr kleinen und nur mit Rindenschurzfellen bekleideten Menschen besetzt waren, nach der offenen See hingeschleppt wurde.

Langsam und in kaum fünfzehn Meter Entfernung glitt die Brigg an dem Versteck Ottenstedts und Ramanas vorüber. Ob sie wirklich das Gespensterschiff vor sich hatten, ließ sich schwer sagen. In der allgemeinen Bauart, der Lage der Deckaufbauten und anderen wesentlichen Merkmalen zeigten sich zwischen dieser und der Geisterbrigg keinerlei Verschiedenheiten. Aber in derselben Art waren sicherlich noch unzählige Zweimaster ausgeführt. Das hatte mithin nicht viel zu bedeuten. Wesentlicher war schon der Anstrich. Und hier gab es bei beiden Schiffen recht in die Augen springende Unterschiede. Die Gespensterbrigg war mit Ausnahme des hellgescheuerten Decks ganz schwarz gestrichen. Dieses Schwesterschiff hier besaß dagegen sowohl am oberen und unteren Rande der Reling als auch am Bug und Stern über der schwarzen Farbe weißgraue Zierstreifen; ferner war auch in großen Buchstaben am Bug der Name aufgepinselt – „Alexandra“; und schließlich – auf dem Deck bewegte sich eine Anzahl weißer Matrosen hin und her, während das Steuerrad ein graubärtiger Mann mit einer kurzen Pfeife im Munde bediente.

Für den weniger nachdenklichen Beobachter hätte dies genügt, um sein Urteil dahin abzugeben, daß das soeben die Bucht verlassende Schiff nicht die geheimnisvolle Gespensterbrigg sei. Aber für Ottenstedt kamen hier noch andere Dinge in Betracht. Zunächst waren die dunklen Zwerggestalten mit den häßlichen Wollköpfen in den beiden Ruderbooten, die sich vor den Segler gespannt hatten, ohne Zweifel Minkopies, deren hinterlistige Waffe das Blasrohr ist. Und jene Blasrohrschützen, die die vier Schiffbrüchigen mit den vergifteten Pfeilen hatten beseitigen wollen, hatten ihre Opfer durch ein Skelett in Schußnähe heranzulocken gehofft. Mit einem menschlichen Gerippe als Steuermann arbeitete aber auch die Gespensterbrigg. Diese Benutzung eines Skeletts, einmal als Abschreck-, dann wieder als Anlockmittel, konnte keine zufällige sein. Besonders wären die auf so niedriger Kulturstufe stehenden Minkopies nie auf diesen Gedanken von selbst gekommen, vielmehr war ihnen der sicherlich von Europäern eingegeben worden. Diese Minkopies standen nun aber in Diensten von Weißen, wie sich eben zeigte, und zwar von Weißen, die die Besatzung einer Brigg bildeten.

Ein Zusammenhang zwischen beiden Schiffen war mithin schon gegeben. Weiter noch: am Abend vorher war das Geisterschiff mit südwestlichem Kurse an der Strandungsstelle vorbeigekommen. Und heute befand sich ein äußerlich doch recht ähnlicher Segler hier in dieser Bucht, deren Eingang nach Süden zu lag …! – –

* * *

Dies waren die Gründe, die Ottenstedt zu dem Ergebnis führten, die Brigg „Alexandra“ und jener unheimliche Zweimaster mit der leuchtenden Takelage und den leuchtenden Bordumrissen sei ein und dasselbe Schiff. –

Inzwischen war die „Alexandra“ um die nächste Biegung verschwunden. Drei Stunden warteten die beiden Männer dann noch, ob die Minkopies vielleicht zurückkehren würden, von denen zum mindesten doch einige auf der Insel hausen mußten. Als die Boote nicht wieder auftauchten und auch kein Mensch sich sehen ließ, umschritten sie das äußerste, seeartig erweiterte Ende der Bucht und suchten nach Spuren am Ufer, die sie nach vielleicht vorhandenen Baulichkeiten hinführen sollten.

Das, was sie fanden, übertraf bei weitem die Vorstellungen, die sich Ottenstedt in seinem Geiste von dem hiesigen Schlupfwinkel der Besatzung der Gespensterbrigg gemacht hatte. Dank Ramanas Spürsinn entdeckten sie am Westufer der Bucht inmitten einer absichtlich möglichst unzugänglich gemachten großen Lichtung des Urwaldes nicht nur eine Reihe von barackenähnlichen Holzgebäuden, sondern auch eine Anzahl von jetzt freilich schon wieder verwilderten Kaffee- und Kakaoanpflanzungen, ferner einen parkähnlichen Garten, dessen Wege von Unkraut überwuchert waren. Die meisten der Baulichkeiten, die offenbar hier schon jahrzehntelang standen, waren leer und unverschlossen. Nur das größte Haus, ein zweistöckiger, etwas ansehnlicherer Bau, zeigte sich versperrt. Hier besaßen die hochgelegenen Fenster des Erdgeschosses sogar feste Laden aus Mahagoniholz, und alle Versuche der beiden Männer, in das Gebäude einzudringen, schlugen infolge Mangels geeigneter Werkzeuge fehl.

So machten sie sich denn wieder auf den Rückweg nach ihrem Floßboot, das sie auch unberührt vorfanden. Die Heimfahrt nach dem Lager in der Nähe der Ostküste verlief gleichfalls ohne jede Störung. Jetzt am Tage merkten sie erst, wie viel Krokodile in dem an Krümmungen so reichen Flusse vorhanden waren. Sie erspähten von ihrem Fahrzeug aus auch eine ganze Anzahl von Vögeln und Säugetieren, die sämtlich auch auf Ceylon vorkamen. In den Urwalddomen, in denen ihr Boot dahinglitt, lärmten außer Papageien ganze Scharen von Affen. Sehr häufig waren auch die Nashornvögel mit ihren riesigen, mit Höckern versehenen Schnäbeln. Die Weibchen lagen zumeist dem Brutgeschäft in Baumhöhlen ob, die bis auf eine kleine Öffnung von dem Vogelpaare selbst zugemauert werden (die auf Ceylon heimische Art der Nashornvögel ist der sog. Doppelhornvogel mit zwei Höckern auf dem Schnabel. Er wird 102 Zentimeter lang, nährt sich von Früchten und kleinen Vögeln und verschlingt die Nahrung, indem er sie emporwirft und wieder auffängt). Die Ufer wieder bewohnten verschiedene Rattenarten, an denen Indien überhaupt keinen Mangel hat und die stellenweise geradezu zur Landplage werden.

Als das Fahrzeug sich dann der kleinen Hochebene näherte, stieß Ottenstedt einen gellenden Jagdruf aus, auf den Manhard oben von der Baumhütte aus in gleicher Weise antwortete.

Die wiedervereinten Gefährten hatten sich gegenseitig eine ganze Menge Neuigkeiten zu berichten, denn auch für die beiden Zurückgebliebenen war dieser sich jetzt bereits seinem Ende zuneigende Tag nicht ohne Aufregungen vorübergegangen. Nachdem zunächst Ottenstedt über die Erfolge des Ausfluges eingehend Bericht erstattet hatte, wobei Manhard und Selbing ihm völlig beipflichteten, daß die Brigg „Alexandra“ sicherlich das Gespensterschiff sei, erzählte dann der Kolomboer Kaufmann seine und des Millionärs Erlebnisse.

Kurz nach dem Mittagessen waren sie, um sich eine Zerstreuung zu schaffen, auf dem Bambusfloß, mit dem man damals die aus dem Kutter geborgenen Sachen nach dem Plateau geschafft hatte, ein Stück den Fluß hinuntergefahren. Obwohl sie sich nun vorgenommen hatten, sich nicht zu weit vom Lager zu entfernen, ließen sie sich doch durch den Anblick von drei Seekühen, die auf den Sandbänken der Flußmündung sich sonnten, dazu verleiten, Jagd auf die Tiere zu machen. Es gelang ihnen auch, einen männlichen, jungen Dugong von drei Meter Länge durch zwei Schüsse zu erlegen. Beim Abhäuten des Tieres, dessen wohlschmeckendes Fleisch sie als wertvolle Ergänzung ihres Nahrungsmittelvorrates mitnehmen wollten, hielten sie sich recht lange auf. Während sie dann noch mit dieser Arbeit beschäftigt waren, bemerkten sie draußen auf See einen Dampfer, der etwa drei Seemeilen vom Lande ab seine Maschine stoppte und Anker warf. Obwohl sie nun sofort ein Feuer anzündeten, das sie durch nasses Holz zu starker Rauchentwicklung brachten, kümmerte der Dampfer sich nicht im geringsten um dieses Notzeichen. Gleich darauf begann er allerlei Signalflaggen zu hissen, und als Manhard nun einen in der Nähe stehenden, sehr hohen Rasamalabaum erkletterte, die bekanntlich bis 50 Meter hoch werden und mit ihren runden Kronen über die Urwälder hinausragen, erblickte er im Süden der Insel eine Brigg, die gleichfalls eifrig die Signalwimpel auf und nieder gehen ließ. Plötzlich lichtete der Dampfer die Anker, fuhr auf den Segler zu und setzte Boote aus, die, wie Manhard durch das Glas feststellte, mit Ballen und Kisten schwer beladen waren und ihre Fracht dann an die Brigg abgaben. Beide Schiffe entfernten sich nach einer halben Stunde wieder in verschiedener Richtung. Der Dampfer schlug den Kurs nach Osten ein, während der Zweimaster nach Westen zu verschwand. – Nachdem man aus dem Dugong dann die besten Stücke herausgeschnitten hatte, traten Manhard und Selbing eiligst die Rückfahrt nach dem Lager an, stark beunruhigt in dem Gedanken, daß während ihrer Abwesenheit vielleicht die heimtückischen Blasrohrschützen dort sich eingefunden und das Vorratszelt geplündert haben könnten. Diese Sorge war nicht ganz überflüssig, wie sich sehr bald herausstellte. Tatsächlich überraschten die Heimkehrenden etwa zwölf zwerghafte Geschöpfe, die zum Glück soeben erst die kleine Hochebene betreten zu haben schienen und nun beim Nahen der beiden Weißen schleunigst über die Grasebene nach dem Urwald flohen. – –

* * *

Das war es, was Manhard zu berichten wußte. – Hiernach unterlag es keinem Zweifel, daß die Brigg, die die Fracht von dem Dampfer übernommen hatte, die „Alexandra“ gewesen war, die nach dem Verlassen ihres Schlupfwinkels offenbar auf Verabredung die Zusammenkunft mit dem anderen Schiffe gehabt hatte. Und ebenso war leicht zu durchschauen, weshalb der Dampfer auf die Signale der Brigg hin seinen ersten Ankerplatz gegenüber der Flußmündung aufgegeben und nach Süden zu um die Insel herumgedampft war, nachdem er die Notzeichen der Schiffbrüchigen ganz unbeachtet gelassen hatte: Der Verkehr zwischen den beiden Fahrzeugen sollte vor den vier Männern, die auf der Geisterinsel gelandet waren und die man als gefährlich dann schnell zu beseitigen gesucht hatte, geheimgehalten werden. – Weiter war es dann auch klar, daß dieselben Minkopies, die mit Hilfe der beiden Boote die Brigg aus der Bucht herausgeschleppt hatten, nachher auf höheren Befehl, eben den der Besatzung des „Gespensterschiffes“, diesen abermaligen, durch die Rückkehr Manhards und Selbings aber vereitelten Anschlag auf das Lager hatten unternehmen wollen. –

Bei der nun folgenden Erörterung der Frage, welchen dunklen Geschäften die Brigg wohl nachgehen mochte, erklärte der mit den Handelsverhältnissen in den indischen Gewässern vertraute Manhard mit aller Bestimmtheit, es könne sich hier nur um Schmuggel im großen handeln, eine Ansicht, die durch die bisherigen Beobachtungen vollauf bestätigt wurde. Betrachtete man die „Alexandra“ als Schmugglerschiff, so war auch gleich die einleuchtende Erklärung dafür gefunden, weshalb der Kapitän der Brigg diese zuweilen zu einem Gespensterfahrzeug verwandelte und so erbarmungslos alle Fischer- und Perlenlogger in den Grund segelte, die sich der Insel zu nähern wagten. Der Schlupfwinkel in der schwer auffindbaren Bucht sollte eben um jeden Preis vor Fremden verborgen bleiben, und dieser Zweck wurde auch sehr gut durch die abergläubische Furcht vor der Gespensterbrigg erreicht, deren Ruf unter den Eingeborenen der benachbarten Küsten bereits seit Jahren seine Wirkung nicht verfehlte, wie Ramanas Angaben über das Geisterschiff deutlich erkennen ließen.

Unerklärlich blieb bei dieser ganzen Geschichte nur, daß die indische Kolonialregierung sich um diese zwar entlegene, aber an Naturschätzen recht reiche Insel so gar nicht kümmerte. Freilich zeigten die Gebäude in der Nähe der Bucht, daß sich hier einmal eine größere Niederlassung befunden habe. Aus welchem Grunde diese dann aber aufgegeben worden war, erschien recht rätselhaft. – Immerhin wußten die vier Schiffbrüchigen jetzt, weshalb man ihnen nachstellte und wer ihre Feinde waren. –

Der Singhalese hatte sich während der zwischen den drei weißen Sahibs stattfinden Besprechung in seiner bescheidenen Weise abseits gehalten. Jetzt jedoch wandte er sich an seinen Herrn und äußerte, es würde vielleicht ganz angebracht sein, wenn man sofort mit dem Floßboot an der Küste nach Süden zu entlang fahre und nach den beiden Booten der Minkopies Ausschau halte, deren Wegnahme sehr von Vorteil sein könnte. –

Dieser Vorschlag war so vortrefflich, daß Manhard und Ramana dann unverzüglich aufbrachen, den Fluß abwärts verfolgten und nachher dicht an dem Mangrovenstreifen entlang ihr Fahrzeug weiterschoben. Kurz vor Sonnenuntergang entdeckten sie wirklich hinter einer kleinen Halbinsel die beiden Boote, die die Minkopies ein Stück auf das hier sandige Ufer gezogen hatten. Vorsichtig näherten sie sich der Stelle, da man nicht wissen konnte, ob die häßlichen Andamanen-Zwerge inzwischen nicht zurückgekehrt seien und mit ihren Blasrohren im Gebüsch lauerten. Während der Singhalese die Stoßstange handhabte, hielt Manhard sich schußbereit. Immer kürzer wurde die Entfernung zwischen dem Floß und dem Ufer. Plötzlich gab Ramana dann dem kleinen Fahrzeug eine so hastige Bewegung nach der Seite hin, daß es fast umgekippt wäre. Und in demselben Augenblick flog auch schon eine Anzahl der Giftpfeile aus dem grünen Gestrüpp heraus, von denen jedoch nicht ein einziger traf, da der Singhalese zum Glück noch rechtzeitig in dem Gesträuch einen dunklen Körper erkannt und sofort das Floßboot gewandt zur Seite gedrückt hatte.

Gleichzeitig rief er auch seinem Herrn ein warnendes: „Achtung – Minkopies!“ zu. Dies genügte. Blitzschnell hatte Manhard sich hinter die Brustwehr geduckt. Bald war das Floßboot aus der Schußweite der Blasrohre gelangt, und nun feuerte der Deutsche nacheinander sechs Kugeln nach den Büschen ab, von denen eine getroffen haben mußte, da hinter dem Blattgewirr ein lauter Aufschrei ertönte, dem ein wildes Rachegeheul folgte. Dann wurde alles still. Nach einer Weile schickte Manhard nochmals zwei Kugeln in das Gestrüpp, und dann schob der Singhalese langsam das Floßboot wieder näher an das Ufer heran.

Die Minkopies hatten tatsächlich die Flucht ergriffen. Ein paar Blutflecke am Boden aber bewiesen, daß dieser Überfall einem der Zwerge schlecht bekommen war. – Eine Stunde später näherte sich das Floß mit den beiden Booten im Schlepptau dem Lager, wo Ottenstedt und Selbing die erfolgreichen Gefährten freudig begrüßten. – –

* * *

Eine Woche dauerte es dann, bis die vier Schiffbrüchigen das größere der erbeuteten Boote, das offenbar früher einem Ozeandampfer als Rettungsboot gedient hatte und das acht Meter lang war, mit einem Verdeck und einem Mast versehen sowie die nötigen Vorbereitungen für eine längere Fahrt getroffen hatten. Inzwischen ließen sich die Minkopies nicht wieder blicken. Die Büchsen flößten ihnen jetzt den nötigen Respekt ein. Bei günstigem Winde stach man dann eines Morgens in See und zwar mit nördlichem Kurse, da man in der Nähe von Kap Kamorin, der Südspitze Vorderindiens, am ehesten einem größeren Schiffe zu begegnen hoffte. Kaum war die Geisterinsel unter dem Horizont verschwunden, als Ottenstedt, der mit dem Fernrohr Ausschau hielt, die Rauchsäule eines von Westen kommenden Dampfers meldete, der nachher auch die vier Männer an Bord nahm.

Der Dampfer war die österreichische, einem Grafen Warteck gehörige große Privatjacht „Dalmatia“ und auf der Reise nach Kalkutta unterwegs. Kaum hatte der Graf, ein noch junger Mann, der zusammen mit vier Freunden in Indien Tiger und Elefanten jagen wollte, all die merkwürdigen Einzelheiten über die Gespensterbrigg gehört, als er auch sofort beschloß, mit seiner Jacht die Geisterinsel anzulaufen und die Schmugglerbande unschädlich zu machen. Da er genügend Schußwaffen für seine Matrosen an Bord hatte und außerdem über ein Salutgeschütz verfügte, das nötigenfalls auch mit Bleikugeln geladen werden konnte, versprach er sich von diesem Abenteuer eine etwas aufregende, aber doch ungefährliche Abwechslung.

Gegen Mittag kreuzte die Jacht dann bereits vor der durch die kleinen Inseln gedeckten Mündung der Bucht. Bald hatte die ausgesetzte Motorbarkasse, die eine Durchfahrt suchen sollte, den richtigen Kanal zwischen den Eilande gefunden, der genügend Tiefe besaß, um der „Dalmatia“ das Einlaufen zu gestatten. Diese dampfte dann zwischen den Mangrovenufern der Bucht entlang bis zu deren seeartiger Erweiterung, entdeckte aber die Brigg nicht, die offenbar unterwegs war, um irgendwo an der indischen Küste ihre Fracht heimlich zu landen.

Nachdem die Barkasse wieder nach dem Eingang der Bucht geschickt war, wo sie sich verborgen halten und nach der „Alexandra“ ausspähen sollte, wurde das verschlossene Haus auf der Urwaldlichtung gewaltsam erbrochen und durchsucht. Man fand darin mehrere wohnlich eingerichtete Zimmer, während die anderen Räume allerlei Waren als Lager dienten, für die Indien einen beträchtlichen Ausfuhrzoll erhebt. Die Schmuggler übten also ihr Handwerk in doppelter Weise aus: einmal schafften sie nach Indien europäische Erzeugnisse unter Vermeidung des darauf lastenden Einfuhrzolles hinein, dann aber schmuggelten sie auch solche Sachen auf nach Europa bestimmte Schiffe, für die Ausfuhrzoll zu bezahlen gewesen wäre. – Bücher und Briefe, die man in einem Schranke aufstöberte, gaben einen genauen Einblick in die verbotenen Geschäftsbeziehungen der Schmuggler, die als Mithelfer hauptsächlich englische Dampferkapitäne hatten und mit ihrem lichtscheuen Treiben viel verdienen mußten.

Zwei Tage vergingen, ohne daß die Brigg zurückkehrte. Diese Zeit benutzten die acht Herren, die sich schnell miteinander angefreundet hatten, dazu, um die Insel nach den Minkopies unter Anwendung aller möglichen Vorsichtsmaßregeln abzusuchen. Auch einzelne Matrosentrupps wurden zu diesem Zweck ausgeschickt. Und eine dieser Abteilungen, der sich Ramana angeschlossen hatte, gelang es wirklich, die wollköpfigen Zwerge in einem Kokospalmenwäldchen zu überraschen, zu umzingeln und nach ein paar Schreckschüssen, auf die hin die Minkopies ihre Blasrohre wegwarfen, gefangenzunehmen. Unter ihnen befand sich auch einer, der leidlich englisch sprach, so daß man nun über die Schmuggler näheres erfuhr. Bei diesem Verhör kamen recht überraschende Dinge zu Tage. – Die Schmuggler waren sämtlich Sträflinge der Andamanen-Verbrecherkolonie und von dort vor etwa zehn Jahren geflohen, wobei ihnen die Minkopies behilflich gewesen waren, die zusammen mit den Weißen in einem erbeuteten Perlenlogger glücklich die Geisterinsel erreichten, auf der sich früher eine große Lepra- (der Aussatz ist eine im Orient recht häufige Krankheit. Nicht nur in Indien, sondern auch in französischen und holländischen Kolonien vereinigt man die Leprakranken zu Stationen auf entlegenen Inseln. Wegen der Ansteckungsgefahr benutzt man diese Inseln nie zu anderen Zwecken) Station der indischen Regierung befunden hatte. Hier lebten die Flüchtlinge fünf Jahre in der Verborgenheit. Dann gelang es ihnen durch einen richtigen Piratenhandstreich die Brigg zu erbeuten, mit deren Hilfe der schlaue Anführer der Sträflingshorde sehr bald den Schmuggel im großen zu betreiben begann, nachdem er sich neue Schiffspapiere für einen auf den Namen „Alexandra“ getauften Zweimaster beschafft hatte, die es ihm ermöglichten, als harmloser Frachtkapitän in den indischen Häfen zu verkehren. Während die Schmuggler dann nur gelegentlich noch die Insel besuchten, blieben die Minkopies hier als Wächter zurück. – –

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Kaum hatte man dies und noch andere Einzelheiten aus dem geistig sehr stumpfen Zwerge herausgeholt, als die Motorbarkasse die Nachricht brachte, daß ein zweimastiges Schiff weit draußen in See vor der Mündung der Bucht hin und her kreuze. Es war ohne Frage die Gespensterbrigg, die sich jedoch nicht näher herantraute, da das mit den Minkopies vereinbarte Rauchsignal diesmal ausblieb und die „Alexandra“ daher annehmen mußte, daß auf der Insel etwas nicht in Ordnung sei.

Inzwischen war die Abenddämmerung hereingebrochen. Manhard entwarf nun einen fein ausgeklügelten Plan, wie man das Geisterschiff auf frischer Tat abfassen könne, wobei dann der Graf auch gleich Gelegenheit haben würde, das unheimliche Fahrzeug bei Dunkelheit zu bewundern.

Die Motorbarkasse wurde schleunigst mit ihren Notsegeln ausgerüstet, verließ dann nur mit Hilfe des Windes die Einfahrt zu der Bucht und fuhr in die See hinaus. An Bord befanden sich außer den vier Schiffbrüchigen auch Graf Warteck mit seinen Freunden und ein halbes Dutzend Matrosen. Es war immerhin noch hell genug, daß man von der Brigg aus das langsam segelnde Boot erkennen mußte, auf dessen kleinem Hinterdeck sich jedoch nur einzelne Leute blicken ließen, um die Besatzung der „Alexandra“ nicht allzu mißtrauisch zu machen.

Der Plan glückte vollkommen. – Eine halbe Stunde später, als bereits tiefe Dunkelheit über der See lagerte, kam die Gespensterbrigg mit vollen Segeln auf die scheinbar so schwerfällige Barkasse zugeschossen.

Wieder leuchteten ihre Takelage und die Umrisse des Schiffskörpers in gelblichem Glanz, wieder war außer dem Gerippe am Steuer das weite Deck völlig leer. Und auch heute versuchte sie es, das ihr unbequeme Boot zu überrennen. Doch die Barkasse, auf der plötzlich der Motor zu knattern begann, war flinker. In kurzem Bogen wich sie dem Geisterschiff aus, und gleichzeitig stiegen von ihrem Hinterdeck ein paar Raketen in die Luft, die die Jacht herbeiriefen. Umsonst wollte die „Alexandra“ jetzt im Schutze der Dunkelheit entwischen. Die flinke Barkasse blieb dicht hinter ihr, bis die „Dalmatia“ heran war und zunächst einen blinden Kanonenschuß als Aufforderung zum Beidrehen abfeuerte. Der Schmuggler jagte weiter. Da ließ der Graf das Salutgeschütz mit einem Stück Eisenkette laden und auf die Takelage der Brigg zielen. Der Erfolg blieb nicht aus. Die Segel des Flüchtlings wurden an mehreren Stellen zerfetzt, und weitere vier Schüsse dieser Art genügten, um die „Alexandra“ manövrierunfähig zu machen. Jetzt ergab die aus zwölf Köpfen bestehende Besatzung sich auf Gnade und Ungnade. Und eine halbe Stunde nachher waren die Geheimnisse des „Geisterschiffes“ aufgedeckt. Wollte dieses „Gespensterbrigg“ spielen, so wurde ein Teil des Tauwerks durch in Phosphorlösung getauchte Stricke ergänzt, während wieder schwarze Leinwandstreifen mit demselben Anstrich an die Vorderseite der Masten und Rahen und an die Reling befestigt wurden. Außerdem ließ sich das Schiff auch von der Kajüte des Kapitäns aus steuern, ebenso wie die Stellung der Segel vom Innern des Fahrzeugs geändert werden konnte. – –

* * *

Die Schmuggler wurden in Kalkutta zumeist [zum][4] Tode durch den Strang verurteilt. Der dicke Her[r Sel]bing aber zahlte seinem Reisemarschall für [dieses] Abenteuer gern ein anständiges besonderes H[onorar] aus, indem er stolz erklärte:

„Es wird nicht viele Weltreisende geben, [die der]artiges erlebt haben wie ich. Gespensterschif[fe sind] dazu doch zu selten!“

 

Ende.

 

Der nächste Band enthält:

Die Gold-Insel.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Schlammmassen“.
  2. In der Vorlage steht: „Flosses“ – Sowohl der Brockhaus von 1911 als auch die Regeln der Deutschen Rechtschreibung von 1938 geben „das Floß / die Flöße“ als korrekte Schreibweise an. Daher geändert auf „Floßes“.
  3. Ein Teil des Wortes ist in der Vorlage unleserlich.
  4. Bei sechs Zeilen ist in der Vorlage jeweils das letzte Stückchen der Zeile unleserlich / überklebt. Der Inhalt wurde sinngemäß ergänzt.