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Der Schatz auf dem Meeresboden

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Der Schatz auf dem Meeresboden.

 

W. Belka.

 

Der Schoner „Marie“ trieb steuerlos auf den von kurzen Wellen durchpflügten Wassern des Indischen Ozeans. Die Takelage war zum Teil zerfetzt, der Vordermast mitten durchgeknickt. Zerrissene Segel flatterten im Winde, und der obere Teil des abgebrochenen Mastes schlug in unregelmäßigen Zwischenräumen dröhnend beim Hinundherpendeln gegen den stehengebliebenen Stumpf.

Trotz der frischen Brise lagerte über dem Deck des kleinen Schiffes eine sengende Hitze. Schwerfällig, von keiner kundigen Hand in den Wind gebracht, taumelte der Schoner wie ein Trunkener umher, fortwährend eine unregelmäßige Zickzacklinie beschreibend. Und in die Hitzewellen, die die unbarmherzige Sonne über das verödete Deck sandte, mischte sich ein widerlich süßlicher Verwesungsgeruch, der von den Leichen zweier Männer ausging, die dicht vor der Tür des am Heck befindlichen Kajütaufbaues lagen. Auch neben der Vorderluke ruhte regungslos eine Gestalt, die eines älteren, graubärtigen Mannes, des Eigentümers und Kapitäns der „Marie“ Johann Steffen. Die Gesichter der drei Toten waren fast braunschwarz und boten einen Anblick dar, der auch einen nervenstarken Menschen erschüttert hätte.

Kreischend umflogen Möwen und Albatrosse den Segler, der nichts anderes war als ein schwimmendes Grab. Und wie stolz hatte er vor zwölf Tagen den Hafen von Koepang auf der Insel Timor verlassen mit seinen neuen Segeln, seinem frischen Anstrich und dem weiß gescheuerten Deck …! Mit welchen Hoffnungen war der alte Kapitän Steffen, der es endlich nach jahrelangem Sparen zu einem eigenen, wenn auch kleinen Schiff gebracht hatte, in See gegangen, um jetzt die Perlmuschelfischerei in den Gewässern der Melville-Insel, die der Mitte der Nordküste Australiens vorgelagert ist, im großen zu betreiben und auf eigene Rechnung. An nichts hatte er bei der Ausrüstung seiner „Marie“, die er in der Erinnerung an die längst verstorbene treue Lebensgefährtin so getauft hatte, gespart, an alles hatte er, der seit Jahrzehnten in der Sunda-See und den benachbarten Meeresteilen heimisch war und die Perlfischerei sowohl an den Ufern der großen holländischen Inselkolonie (Sunda-Inseln) als auch bei Ceylon kannte, gedacht. Drei neue Taucheranzüge, die besonders aus Deutschland verschrieben worden waren, lagen wohlverpackt nebst den nötigen Schläuchen und Luftpumpen im Vorschiff. Sie hatten viel Geld gekostet, versprachen das Anlagekapital aber schnell wieder einzubringen, zumal er sich für seinen Schoner nur kräftige, zuverlässige Landsleute als Matrosen ausgesucht hatte, Deutsche wie er selbst, die ihn nicht um die besten Perlen betrogen hätten, was den indischen und malaiischen Tauchern, die nackend sich in die Tiefe hinablassen und die Körbe mit Perlmuscheln füllen, trotz harter Strafen und größter Aufmerksamkeit nicht abzugewöhnen ist. – Ja, der alte Steffen hatte schnell noch am Ausgang seines Lebens reich werden wollen, um daheim im deutschen Vaterlande den letzten Rest seiner Tage in beschaulicher Ruhe zubringen zu können. Aber das Schicksal hatte es anders gewollt …

Eine schmutzige englische Brigg, die aus Indien gekommen war, hatte kurz vor der Abfahrt Steffens die Pest nach dem friedlichen Hafen von Koepang eingeschleppt. Gewiß – die holländischen Behörden taten alles, um ein Weiterumsichgreifen der furchtbaren Seuche zu verhüten. Doch ganz gelang dies nicht. Und der Schoner „Marie“ war ein trauriger Beweis hierfür.

Vier Tage nach der Ausreise, gerade als man die Rotti-Straße zwischen den Inseln Timor und Rotti hinter sich hatte und nun mit südöstlichem Kurs auf Australien durch die Alsuren-See zusteuerte, wurde Jan Bläsing, der lustige Hamburger, krank, fieberte stark und hatte schon am Abend am ganzen Körper beulenartige Anschwellungen, das sicherste Zeichen der entsetzlichen Beulenpest, die zu Zeiten in Indien so verheerend auftritt, daß ganze Landstriche durch sie entvölkert werden.

Als Kapitän Steffen den Hamburger besichtigt hatte, kehrte er, ganz aschfahl im Gesicht, in seine Kajüte zurück, schrieb sein Testament, versiegelte es und befahl dann dem Matrosen Jochem Brüsing, einem gemütlichen Rostocker, der zugleich das Amt eines Schiffskoches versah, fortan das Beste zuzubereiten, was die Proviantkammer herzugeben hatte, und an Rum zu verteilen, so viel die Leute nur trinken mochten. Steffen war eben ein Seemann von der alten Schule, und die denken stets, daß das einzige Vorbeugungsmittel gegen jede ansteckende Krankheit Alkohol ist.

Die kleine Besatzung merkte sehr bald, welches Gespenst seinen Einzug an Bord gehalten hatte. Am nächsten Morgen erkrankten zwei weitere Leute – trotz des reichlich genossenen Rums, von dem auch sie einzig und allein Rettung erhofft hatten. Bald lag die ganze aus sieben Köpfen bestehende Besatzung in wilden Fieberdelirien in den Kojen, bald irrten einzelne schwankende Gestalten auf Deck umher und starben, wo sie umgesunken waren, während zwei sogar, die die Krankheit zuletzt gepackt hatte, in wahnsinnigem Entsetzen über Bord sprangen.

So wurde der schmucke Schoner ein stilles Grab. Wind und Wellen trieben ihr Spiel mit ihm, entführten ihn im Zickzackkurs immer weiter nach Südwesten zu, hinein in die Endlosigkeit des Indischen Ozeans.

Ein Dampfer begegnete einmal dem Segler. Er schickte dem unheimlichen Schiff ein Boot hinüber, das aber schleunigst wieder zurückruderte, als die Bemannung die Leichen sah und den Pesthauch spürte. –

In der ungefähren Kursrichtung des Schoners war schon vor einiger Zeit ein seltsames Gebilde von Insel aufgetaucht. Eigentlich war diese nichts als ein riesiger, kahler Felsblock in Gestalt eines Halbmondes mit nach innen gekrümmten Hörnern, die zwischen sich nur eine kaum fünfzig Meter breite Durchfahrt zu dem beinahe kreisrunden Hafen freiließen. Vor dieser Einfahrt lag eine Barriere von Riffen, über die tobend und brausend die Brandung hinwegdonnerte. In der Mitte dieser Felsensichel gerade an der breitesten Stelle erhob sich ganz schroff ansteigend bis zu etwa 15 Metern Höhe eine zusammenhängende Felsmasse mit glatten Wänden in Form und Farbe eines grauschwarzen Zylinderhutes, dessen Krempe auf dem Eiland ruhte. Ganze Schwärme von Seevögeln hatten auf der Insel ihren Brutplatz, deren Dünger die Ränder der platten Spitze des merkwürdigen Berges stellenweise mit hellem Streifen überzog.

Derartige winzige, einzelne Felseilande, die ihre Entstehung zumeist stärkeren Erdbeben verdanken, sind im Indischen und im Stillen Ozean nichts Seltenes. Emporwachsend aus größten Meerestiefen, stellen sie die Berggipfel unterseeischer Gebirgszüge dar, an denen die Bodengestaltung der großen Wasserbecken der Erde keinen Mangel hat. So wäre hier der Alijos- Felsen westlich der Halbinsel Nieder-Kalifornien zu nennen, weiter die Cartier-Insel im Indischen Ozean, der Hopperton-Felsen im Chinesischen Meere und viele andere.

Der Schoner näherte sich den nach Osten zu vorgelagerten Riffen immer mehr. Jetzt schrammte sein Kiel über die erste Untiefe hinweg, jetzt keilte er sich gerade zwischen zwei größeren Klippen fest, ohne seine Planken dabei zu beschädigen. Und höher und höher schob die Brandung ihn auf diese Felswiege hinauf, bis sein eigenes Gewicht ihn unbeweglich festhielt.

Kurz nach der Mittagszeit war’s, als dies geschah. Zwei Tage lag er dann da, umrauscht von der Brandung, die ihren Gischt oft genug über die starren Körper der auf dem Deck ruhenden stillen Toten aussprengte. Am Morgen des dritten Tages aber kroch eine menschliche Gestalt, abgezehrt und bleich, mühsam die aus dem Mannschaftslogis aufwärtsführende Treppe hinan.

Es war einer der beiden Schiffsjungen der „Marie“, ein Knabe von fünfzehn Jahren, den Kapitän Steffen vor zwei Monaten unter seine Obhut genommen hatte, um ihn zu einem braven Seemann ausbilden. Karl Merkel hieß er. Seine Eltern waren unlängst von Deutschland nach der Hauptstadt der Insel Java, nach Batavia, ausgewandert. Dort hatte Steffen die strebsame Handwerkerfamilie kennen gelernt, und dort traten dann Karl und sein um ein Jahr älterer Bruder Ernst aus Liebe zum weiten, freien Meere in die Dienste ihres Landsmannes, der in Batavia als tüchtiger, zuverlässiger Kapitän und ehrenwerter Charakter gut bekannt war.

Der Schiffsjunge, dessen erste Fahrt einen so traurigen Abschluß finden sollte, war beim Anblick der entstellten Leiche des alten Steffen schauernd auf der obersten Treppenstufe stehen geblieben. Neben ihm tauchte jetzt seines Bruders nicht minder blasses, von der kaum überstandenen Krankheit erschreckend mager gewordenes Gesicht auf. Auch Ernst Merkel sah den Toten, fuhr zurück, faßte sich aber schnell und kroch auf allen Vieren, zum Gehen noch zu schwach, auf die Tür der Kombüse (Schiffsküche) zu. Der Bruder folgte ihm. Und eine Stunde später hatten die Knaben sich durch heißen Tee und etwas Schiffszwieback gestärkt. Doch diese Anstrengung, diese ersten Bewegungen nach dem Erwachen aus tiefer Betäubung waren zu viel für ihre entkräfteten Körper gewesen. Neben einander schliefen sie auf dem Boden der Kombüse ein. Ein Schlaf der Genesung war’s, der sie umfing. Als sie fünf Stunden später wieder munter wurden, spürten sie einen Hunger, der schon nach festerer Nahrung verlangte. Nachdem sie dann den Rest dieses Tages und die folgende Nacht in der Kombüse, abwechselnd schlafend und essend, zugebracht hatten, fühlten sie sich bei Anbruch des neuen Morgens genügend stark, um die erste Wanderung über das öde Deck anzutreten.

Doch der Verwesungsgeruch und das fürchterliche Bild, das die drei Toten darboten, trieb sie zu einem schnellen Entschluß. Nach kurzem Gebet warfen sie die Leichen über Bord, an denen die Möwen bereits eine ekle Mahlzeit gehalten hatten. Darauf durchsuchten sie den Schoner nach weiteren Kameraden, die die Pest dahingerafft hatte. Sie fanden niemanden mehr, waren allein auf dem kleinen, gestrandeten Segler, der es nur dem günstigen, windstillen Wetter zu verdanken hatte, daß er noch nicht in Trümmer zerschlagen war.

Dies erkannte der ältere der Brüder, gleich dem jüngeren ein hochaufgeschossener Bursche, nur zu gut. Er wußte, daß der nächste Sturm den Schoner vernichten würde und daß sie daher so bald als möglich zusehen mußten, alles das nach dem nahen Felseneiland hinüberzuschaffen, was ihnen bei dem Aufenthalt auf dem Inselchen, der vielleicht längere Zeit währen konnte, von Nutzen sein würde.

Die „Marie“ besaß zwei Boote. Das größere zu Wasser zu bringen, überstieg die Kräfte der Knaben. Mithin machten sie die Jolle flott und begannen dann eine Auswahl unter den Sachen zu treffen, die ihnen mitnehmenswert erschienen. Zunächst sollten die nützlichsten Gegenstände geborgen werden. So bestand denn die erste Ladung des kleinen Bootes aus einem Teil der Proviantvorräte, Kochgeschirren, ihren eigenen Schiffskisten und dem Revolver des Kapitäns nebst zwei Schachteln Patronen.

Sie hatten die Jolle nach der Landseite zu festgemacht, wo das Wasser fast völlig ruhig war. Ohne Zwischenfall erreichten sie die runde Bucht, an deren zumeist schroffen Ufern nur eine einzige niedrigere Stelle an der Südseite sich zum Anlegen eignete. Hier brachten sie die Ladung weit auf das Land hinauf, schichteten die Sachen übereinander und bedeckten sie zum Schutz gegen die sengenden Strahlen der Sonne mit einem der Reservesegel des Schoners.

Begierig, die Stätte näher kennenzulernen, die ihnen ein gütiges Geschick als Zufluchtsort gewährt hatte, durchstreiften sie nun ihr winziges, sichelförmiges Eilend, das mit seinen dunklen, zerklüfteten Felsmassen noch trauriger gewirkt hätte, wenn nicht an der flacheren Westseite die Schwärme von Seevögeln, deren Nester hier überall zwischen dem Geröll mit ihren hellen Eiern hervorleuchteten, gewesen wären, die dem eintönigen Bilde etwas Leben gaben. Außer Möwen aller Arten gab es hier Albatrosse, ferner Ententaucher mit braunroten Hälsen und schwarzem Rücken, die die Luft weithin mit ihrem dem Knarren einer Tür ähnlichen Geschrei erfüllten, und besonders Riesenpinguine, die mit ihrem schwarzen Kopf und weißen Bauch bei ihrem aufrechten, watschelnden Gange so überaus komisch wirken und beim Nahen der Knaben ihre grün und braun gefleckten Eier zwischen die kurzen Läufe klemmten und davoneilten, indem besonders ängstliche unter ihnen auf der Brust rutschend und sich mit den Schwimmfüßen abstoßend schneller vorwärtszukommen suchten. Der Pinguin vermag bekanntlich nicht zu fliegen. Er besitzt nur kurze, herabhängende Flügel, die mit schuppenartigen Federn bedeckt sind und beim Rutschen auf der Brust – nur so vermag er sich auf dem Lande größere Geschwindigkeit zu geben – wie ein Paar Vorderfüße benutzt werden. Diese in vieler Beziehung recht merkwürdigen Schwimmvögel werden sowohl ihres Fleisches als auch ihres Federkleides halber gejagt.

Die possierlichen Tiere erregten mehr als einmal die Heiterkeit der Brüder. Karl machte sich ein Vergnügen daraus, einige von ihnen nach dem Wasser hinzutreiben, in das sie sich aber erst hineinwarfen, nachdem sie ihre Eier blitzschnell in einer Spalte verborgen hatten. Dann hatten die Knaben den das übrige Eiland weit überragenden, walzenförmigen Berg erreicht. Umsonst versuchten sie jedoch, ihn an irgend einer Stelle zu erklettern. Die Wände stiegen zu steil an und boten weder Händen noch Füßen den geringsten Halt. Auch der nördliche Bogen der kleinen Insel zeigte nichts als grauschwarzen Stein, riesige Blöcke und hier und da dicke Moos- und Flechtenpolster. Kein Halm wuchs hier, kein noch so dürftiger Strauch. Keine freundliche Quelle sandte ihr trinkbares Wasser dem Meere zu. Einsam, fernab von jeder Küste, lag dieses ungeheure, gekrümmte Felsstück in trostloser Eintönigkeit da.

Jetzt mahnte Ernst zur Rückkehr nach dem Liegeplatz der Jolle. Eine im Süden aufgetauchte dunkle Wolkenwand machte ihn besorgt. Im Laufschritt eilten sie zu dem kleinen Boote hin, um noch schnell vor dem drohenden Unwetter weitere Sachen aus dem Schoner zu bergen.

Während sie hastig ein Faß mit Trinkwasser in die Jolle verluden, dazu noch manches andere, was nicht allzu schwer war und nicht viel Platz beanspruchte, überzog sich der Himmel immer dichter mit schwarzem Gewölk. Jeder Luftzug hatte plötzlich aufgehört. Eine drückende Schwüle, die ihnen den Schweiß in Strömen aus den Poren trieb, lastete über der See.

Dann die ersten Anzeichen des nahenden Sturmes: ein kühlerer Windstoß, ein Kräuseln der wie dickflüssiges Öl daliegenden Wasserfläche, ein ferner heulender Ton …

Höchste Zeit war’s, daß sie ins Boot sprangen. Gerade als sie die Einfahrt erreicht hatten, brach der Orkan los. Knallend hörten sie noch die letzten Segel des Schoners in Fetzen zerreißen. Unwillkürlich schauten sie sich um. Zum letzten Mal sahen sie den Segler mit seinen schlanken Masten, dem hellgestrichenen Kajütaufbau und der grünen Kombüse. Dann senkte sich die Dunkelheit über Schiff und Meer. Gleich darauf begann es zu regnen, so zu regnen, wie man dies nur in den Tropen kennen lernt. Eine wahre Sintflut kam aus den Wolken herab. Im Augenblick waren die Knaben völlig durchweicht, stand auch das Wasser hoch im Boot, so daß sie kaum das Ufer erreichten. Dazu wurde es kälter und kälter. Fröstelnd waren die beiden Jungen nachher unter das Segel gekrochen, das ihre Habe bedeckte.

Große Hagelschlossen lösten jetzt den Regen ab. Und draußen außerhalb der Bucht tobte und brüllte das gierige Meer von Minute zu Minute stärker. Donnergrollen mischte sich in diesen Aufruhr der Elemente, Blitze durchschnitten das pechschwarze Firmament. Dieses Naturkonzert war so ohrbetäubend, daß die Brüder oft genug, wenn ein Donnerschlag das Eiland scheinbar erbeben machte, ängstlich aufschrien. Dann in nächster Nähe der Einschlag eines Blitzes … Steine und Felsstücke flogen umher. Eines davon schmetterte in den Haufen der mühsam geborgenen Gegenstände hinein. Von Entsetzen gepackt flohen die Knaben davon und suchten ein Stück weiter ab unter einem etwas überhängenden Felsen Schutz.

Keinen Augenblick zu früh …! Ein zweiter Blitz, eine wahre Feuergarbe, schoß mitten zwischen die Kisten und Bündel hinein, ließ sie in Flammen aufgehen. Und gerade jetzt hörte der Regen auf, dessen Wassermassen das Unheil noch hätten verhüten können.

Aber nichts löschte mehr die Feuerzungen, die gierig weiterleckten, die die zertrümmerten Kistenbretter zuerst ergriffen, dann das übrige schnell trockneten und weiter und weiter sich ausbreiteten.

Der ganze Haufen brannte bald lichterloh. Noch immer halb betäubt von der furchtbaren elektrischen Entladung, sahen die Brüder mit starren Augen das der Vernichtung anheimfallen, was ihnen das Leben auf diesen kahlen Felsmassen erleichtert, vielleicht erst möglich gemacht hätte.

Dann raffte Ernst Merkel sich auf. Er wollte zu retten versuchen, was noch zu retten war, verließ ihren Schlupfwinkel und eilte auf die qualmende Brandstätte zu. Nur zu schnell stockte sein Fuß …

Drei leuchtende Kugeln von Kindskopfgröße glitten plötzlich, lautlos am Boden hinrollend, ihm entgegen, schwenken dann ohne jede Ursache nach verschiedenen Seiten ab und barsten nacheinander mit einem solchen Knall, daß der Junge zurücktaumelte und von neuer Furcht ergriffen unter den schützenden Felsen zurückflüchtete.

Wieder erschienen, jetzt weiter nach dem Eingang der Bucht zu, zwei der unheimlichen Kugeln, irrten hin und her und zerplatzten. – Diese Erscheinung, für die die Brüder keine Erklärung fanden, bemerkten sie dann in immer größeren Abständen auch auf dem Wasser der Bucht. Es waren Kugelblitze, die bei Gewittern gerade in heißen Ländern recht häufig auftreten, und oft mehr Schaden als die gewöhnlichen Zickzackblitze anrichten. So wurde noch im Sommer 1909 im Hafen von Bombay ein großer Dreimaster von einem Kugelblitz getroffen und durch Feuer teilweise zerstört, da dieser durch eine offene Ladeluke in den Raum glitt und die Frachtgüter entzündete. Merkwürdiger war noch der Unfall einer Bark, die in der Mündung des Niger in Westafrika durch Kugelblitze ihrer drei Masten beraubt wurde, an denen die elektrischen Entladungen in Form großer Kugeln von oben nach unten entlangliefen. – –

Was die Brüder schließlich nachher von ihrer Habe noch zu retten vermochten, war wenig genug: einen halben Sack Reis, etwas Schiffszwieback, gebrannten Kaffee und Tee. Alles übrige an Eßvorräten war verdorben oder verbrannt, außerdem auch ihre Schiffskisten, in denen sich ihre besseren Anzüge, Wäsche und andere Kleinigkeiten befunden hatten. Sie besaßen jetzt nichts als diese spärlichen Nahrungsmittel, die Jolle, die Kochgeschirre, den Revolver, einige verkohlte Holzreste und das, was sie auf dem Leibe trugen.

Jedenfalls war dies ein überaus trauriger Anfang ihres Robinsondaseins. Niedergeschlagen warteten sie nun das Ende des Unwetters, das langsam nachzulassen schien, ab. Es wurde wieder heller und heller. Das dichte Gewölk verzog sich, und im Süden schimmerte schon hier und da ein Stück blauen Himmels durch die grauen Schleier hindurch. Jetzt vermochten sie auch die Stelle zu überblicken, wo draußen auf den Riffen der Schoner gestrandet war. Das unglückliche Schiff mußten die Wogen entführt oder zertrümmert haben. Die Riffe waren leer. Nur die Brandung mit ihren kochenden Wassern und weißen Schaummengen jagte weiter über die Untiefen hin.

Dann leuchtete die Sonne wieder, erwärmte die vor Nässe und Kälte zitternden Knaben, trocknete ihre Kleider und flößte ihnen neuen Lebensmut ein.

Ernst, der ebenso wie sein Bruder eine billige Nickeluhr besaß, wollte sehen, wie spät es war. Aber die Uhren beider Brüder waren längst stehen geblieben. So stellten sie denn die Zeiger nach dem Stande der Sonne auf drei, in der Annahme, daß dies ungefähr stimmen würde.

Nochmals unterzogen sie nun die wenigen Reste ihres Besitzes einer eingehenden Musterung, breiteten die durchnäßten und von Rauch angezogenen wenigen Nahrungsmittel zum Trocknen und Auslüften auf einer tischähnlichen glatten Felsplatte aus und brachten die Kochgeschirre und die angekohlten Teile der Kisten sowie einige größere, erhalten gebliebene Stücke des Segels unter dem überhängenden Steinblock vorläufig in Sicherheit. Mußte ihnen doch gerade hier, wo weder Baum noch Strauch vorhanden war, jedes Teilchen Holz von Nutzen sein.

Bei diesen Aufräumungsarbeiten fiel es Karl, dem jüngeren der Brüder, ein, daß sie unverzüglich mit Hilfe der hier und da noch glimmenden Glut sich ein Feuer anzünden und dieses dauernd unterhalten müßten, da sie weder Zündhölzer noch Feuerzeug besaßen, um eine Flamme entfachen zu können. Ernst war dem Bruder für diese rechtzeitige Erinnerung an ein so wesentliches Erfordernis für die ganze Gestaltung ihres Robinsonlebens von Herzen dankbar. Sofort wurde nun ein Herd aus Steinen unter dem überragenden Felsen erbaut, und darin brachten sie die noch vorhandenen glimmenden Teile des Haufens unter, die sie durch Hineinblasen und Auflegen von Holzstücken bald zu heller Glut entfachten. Um die Hitze nicht unbenutzt zu lassen, gedachten sie sich auch gleich eine Menge Reis auf Vorrat zu kochen. Da sie hierzu nur süßes Wasser, nicht etwa das Seewasser gebrauchen konnten, wurden ihre Gedanken auf die Jolle und deren zweite Ladung gelenkt. An beide hatten sie in ihrer Aufregung und ihrer ersten Verzweiflung über die Schäden des Feuers noch gar nicht gedacht.

Als sie beim Losbrechen des Sturmes noch glücklich mit dem kleinen Boot in der Bucht gelandet waren, hatten sie es eine Strecke weiter ab aufs Ufer geschoben, wo es von hier aus durch hohe Felsen ihren Blicken entzogen war. Jetzt fiel ihnen das zu der zweiten Ladung Bergegut gehörige Trinkwasserfäßchen ein. Und nach kurzer Verständigung eilten sie nun zu dem Liegeplatz der Jolle hinab, froh bewegt in dem Bewußtsein, daß wenigstens diese in dem Boot verstauten Gegenstände, die sie wegen des Platzregens nicht dem großen Vorratshaufen hinzugefügt hatten, ihnen erhalten geblieben seien.

Freilich – viel Wertvolles war nicht darunter. Bei der Hast, mit der sie aus Angst vor der nahenden dunklen Wolkenwand an Bord der „Marie“ ihre Auswahl getroffen hatten, war manches weniger Nützliche mitgenommen worden. Außer dem Faß mit Trinkwasser befanden sich in der jetzt mehr als zur Hälfte mit Regenwasser gefüllten Jolle einige Taue, ein zu einem Ballen zusammengelegtes Segel, einer der aufgerollten Schläuche der Taucherausrüstungen, zwei Kisten Reis, eine Kiste Rauchfleisch, ein kleiner Kasten mit Messern, Gabeln und Löffeln aus der Kombüse und sechs Eßschalen aus emailliertem Blech.

Wie bedauerten sie jetzt, nicht auch die Handwerkszeuge des Schiffszimmermannes, eine Lampe, Petroleum und mehr Nahrungsmittel geborgen zu haben …! Der Schoner war ja so gut verproviantiert gewesen, daß die Vorräte für beide auf lange Zeit gereicht haben würden.

Trotzdem waren sie glücklich, wenigstens das Notwendigste zu besitzen. Und unverzüglich wurde nun auch der Inhalt der Jolle in der Sonne zum Trocknen ausgebreitet und das Boot selbst leergeschöpft. Hierbei fiel ihnen ein, daß sich ja unter dem Steuersitz der Jolle ein kleiner Verschlag befinde, der stets mit einem kleinen Fäßchen Trinkwasser, reichlich Schiffszwieback und Dörrfleisch angefüllt war, damit bei einem plötzlichen Schiffsunfall das kleine Boot sofort bestiegen werden konnte und man sich nicht lange mit dem Verstauen von Nahrungsmitteln aufzuhalten brauchte. Tatsächlich enthielt diese Vorratskammer soviel Eßwaren, abgesehen von dem Wasserfäßchen, daß die Knaben jetzt ganz heiter und zuversichtlich wurden. Beide waren ja noch jung genug, um mehr den Reiz des Neuen, Abenteuerlichen ihrer Lage auf sich wirken zu lassen, als an die fernere Zukunft zu denken. Sie nahmen eben als sicher an, daß in nicht allzu langer Zeit ein Schiff in der Nähe ihres Eilandes auftauchen würde, dem sie Notsignale geben könnten und das sie in bewohnte Gegenden bringen würde.

Nachdem sie so zunächst für die Erhaltung ihres Proviants, den die Nässe verdorben haben würde, gesorgt hatten, machten sie sich auf die Suche nach einem für eine Hütte geeigneten Ort. Diese gedachten sie aus Steinen zu errichten, deren Zwischenräume sie mit Vogeldünger und Moos verstopfen wollten, während das Segel als Dach dienen sollte.

Bei der Auswahl des Bauplatzes für ihre neue Behausung bewies Ernst nun insofern viel Verständnis, als er eine Stelle an der Nordseite des walzenförmigen, unersteigbaren Berges hierzu bestimmte, wo dieser fast den ganzen Tag über Schatten spendete, den man bei der tropischen Hitze, die selbst in den Wintermonaten nicht viel geringer werden würde, als Schutz vor den Sonnenstrahlen sehr gut gebrauchen konnte.

Mit größtem Eifer machten die Brüder sich nun an die Arbeit. Um während des Bauens der Hütte auch gleichzeitig das Kochen des Reises beaufsichtigen zu können, stellten sie neben dem neuen Lagerplatz einen zweiten Herd her und entzündeten auch hier ein Feuer. Die sinkende Sonne fand das Steinhaus vollkommen fertig. Ein kleiner Anbau sollte zur Aufnahme der Vorräte dienen. Mit die meiste Mühe hatte den Knaben die Anbringung des Zeltdaches gemacht. Erst versuchten sie es flach über die viereckige Hütte zu spannen. Dies gelang jedoch so unvollkommen, daß der Regen das Segel bald gefüllt und eingedrückt haben würde. Schließlich halfen sie sich in der Weise, daß sie die Vorder- und Rückwand zu einem spitzen Giebel erhöhten und dann erst das Segeltuch darüber breiteten, dessen Kanten sie mit daran festgebundenen Steinen beschwerten, so daß es sich von selbst glatt zog. Nun konnte der Regen an den Seiten ablaufen und [nicht][1] durch seine Last das ganze Dach zu einer Mulde verwandeln.

Genügend Moos und Flechten hatten sie für Lagerstätten auch bald gefunden, so daß sie daran denken konnten, ihre Vorräte in den Anbau zu schaffen, ihre Abendmahlzeit einzunehmen und sich dann schlafen zu legen. Waren sie doch nach dem anstrengenden, aufregenden Tage inzwischen derart müde, daß sie sich kaum noch auf den Beinen halten konnten.

Der Sturm hatte währenddessen ganz nachgelassen. Die See beruhigte sich zusehends, so daß die Brüder hoffen durften, nächsten Morgen bei stillem Wetter nach der Strandungsstelle des Schoners rudern und feststellen zu können, was aus dem schmucken Segler eigentlich geworden war.

Übermannt von einer bleiernen Müdigkeit schliefen sie dann bis in den späten Vormittag hinein. Nach einem aus Schiffszwieback und gekochtem Reis bestehenden reichlichen Frühstück begaben sie sich nach der Liegestelle ihres kleinen Bootes. Doch zu ihrem großen Schreck gewahrten sie schon von weitem, daß es verschwunden war.

Ernst begann sich jetzt die heftigsten Vorwürfe zu machen, da er sich bereits eine Erklärung für dieses Mißgeschick zurechtgelegt hatte.

„Ich hätte an die Flut denken müssen“, meinte er. „Das Flutwasser, das in der Nacht den Wasserspiegel der Bucht sicher um mindestens zwei Meter gehoben hat, ist die Entführerin der Jolle. Wie konnte ich dies nur übersehen! Gerade hier im Indischen Ozean machen sich ja die Gezeiten, wie man Ebbe und Flut nennt, so sehr bemerkbar, worauf uns der arme Kapitän Steffen bei seinen kurzen belehrenden Vorträgen besonders hingewiesen hat. – Sehen wir zu, ob unser Boot nicht vielleicht irgendwo draußen auf den Riffen gestrandet ist. Hier in der Bucht vermag ich es nicht zu erblicken.“

Doch die Riffe zeigten nichts als ihre weißen Schaumkronen. Vergebens suchten die Brüder von der Südspitze des Eilandes mit den Augen auch den ganzen Horizont ab, so weit dieser von hier nach Westen, Süden und Norden zu überschauen war. Traurig schritten sie nun wieder ihrer Hütte zu. Der Verlust der Jolle ging ihnen sehr nahe. Hätte ihnen diese doch einige Zerstreuung geboten, ganz abgesehen davon, daß das Boot für sie die Möglichkeit in sich schloß, einem in der Ferne vorüberfahrenden Schiffe entgegenzurudern.

Auf dem Rückwege nach ihrer Behausung erstiegen sie am Weststrande eine dicht an dem seltsam geformten Berge liegende kleine Anhöhe, um von hier aus auch nach Westen zu nach der Jolle auszuspähen. An dieser Stelle fiel der enorme Felskoloß in einer Breite von gut zwanzig Meter steil in die See ab wie ein im Wasser errichteter Turm und ließ sich nur auf einem schmalen, kaum ein Meter breiten Grat umgehen, während im übrigen das Westufer flacher als der übrige Strand der winzigen Insel war.

Plötzlich stieß Karl einen hellen Jubelruf aus und deutete mit der Hand auf die kaum merklich hin und her schaukelnde Jolle, die gerade vor dem Berge keine zweihundert Schritt entfernt auf dem Wasser trieb.

Nein – nicht trieb, vielmehr seltsamerweise, wie die Brüder bald merkten, festlag, obwohl es hier keine Riffe gab. Was das Boot auf einem Fleck festhielt, war nicht zu erkennen. Jedenfalls aber mußte es durch eine das Eiland umkreisen Strömung bis an diesen Platz getrieben sein, der dem Eingang der Bucht im Osten ziemlich genau gegenüberlag.

Ernst, ein ausdauernder Schwimmer, hatte schon seine Kleider abgeworfen und stieg jetzt ins Wasser, um die Jolle wiedereinzufangen. Da völlige Windstille herrschte und die See wie ein Spiegel war, konnte es nicht schwer fallen, das Boot zu erreichen. Wirklich befand er sich denn auch wenige Minuten später neben der Jolle, ergriff den Bordrand und schwang sich hinein. Hierbei hörte er ein polterndes Geräusch am Boden des kleinen Fahrzeuges, das sich durch die Last seines Körpers weit auf die Seite gelegt und dann wieder aufgerichtet hatte.

Neugierig beugte er sich nun über den Rand und schaute in die Tiefe des durchsichtig klaren Wassers hinab. Ein Laut nur zu berechtigten Erstaunens drängte sich da über seine Lippen.

Ein dunkler schräger Strich zog sich nach dem Grunde des Meeres hin durch die grünliche Flut, – ein Strich, in dem er schnell den Mast eines Schiffes erkannte, der, jetzt bei Ebbe bis dicht unter die Oberfläche mit seiner Spitze emporragend, der Jolle Gelegenheit gegeben hatte sich auf ihm festzufahren.

Noch tiefer beugte Ernst Merkel sich über den Wasserspiegel. Nun schien es ihm auch, als ob er die Umrisse eines Fahrzeuges wahrnahm, das hier untergegangen war. Wie ein schwarzer Schatten hob sich das Schiff vom Grunde ab. Jetzt unterschied er die Linien des versunkenen Wracks ziemlich deutlich von der anderen Umgebung. Es lag mit der einen Seite parallel zu dem Weststrande. Auch die beiden anderen Masten waren leicht zu erkennen. Die Jolle hatte sich auf der Spitze des mittelsten vor Anker gelegt.

Eine seltsame Erregung packte den Knaben bei diesem Anblick. Das Geheimnisvolle, das jedem Wrack ohnehin schon anhaftet, wurde hier noch durch den Umstand gesteigert, daß Ernst es durch die grünen Schleier des Wassers, in dem seltsame Fische aller Art hin und her schwammen, betrachtete. Außerdem sah er jetzt auch ein weißliches Licht, das sich dort unten in der Tiefe hin und her bewegte und zwar ganz dicht an der Seite des untergegangenen Schiffes. Dieses Licht machte einen geradezu gespensterhaften Eindruck, wie es langsam umherwanderte, verschwand, wiederauftauchte und zuweilen über das Fahrzeug selbst hinwegglitt. – –

Der am Ufer zurückgebliebene Karl wurde schließlich ungeduldig, als sein Bruder nun schon eine geraume Weile wie verzaubert in das Wasser hinabstarrte. Schließlich formte er die Hände zu einem Trichter und rief durch dieses natürliche Sprachrohr dem Älteren zu:

„Ernst – was gibt es denn da zu sehen?! So bringe doch endlich die Jolle an Land!“

Der andere vermochte sich nur schwer von dem seltenen Bilde loszureißen. Dann ergriff er aber doch die Ruder und trieb das Boot dem Strande zu.

„Steig’ ein, Karl“, meinte er, an einer günstigen Stelle landend. „Wir wollen jetzt gleich nach den Riffen an der Ostseite hin, um nach unserem armen Schoner Ausschau zu halten. Unterwegs erzähle ich Dir, was mich eben so lange den Grund des Meeres betrachten ließ.“

Nach einer Viertelstunde waren die Riffe erreicht. Heute, wo die See ruhig war, machten die teilweise über, teilweise unter dem Wasserspiegel liegenden Felsen und Zacken einen durchaus harmlosen Eindruck, so daß die Knaben die Jolle ohne jede Gefahr bis zu dem Punkte hinrudern konnten, wo die „Marie“ gescheitert war. Auch hier war das Wasser klar und durchsichtig wie grünes Glas.

Der Schoner war nicht vom Sturm entführt worden. Das sahen die Brüder jetzt nur zu gut. Das Unwetter hatte ihn vielmehr in zwei Teile auseinandergebrochen und seine Masten dicht über dem Deck geknickt, so daß einzelne Spieren und Taue fast an der Oberfläche schwammen. – Die Bruchstelle befand sich dicht vor dem vorderen Mast. Das Vorderteil des Seglers war über die beiden Riffe, in die sich die „Marie“ wie in eine Wiege festgekeilt gehabt hatte, hinweg in ziemlich flaches Wasser gefallen und zwar mit dem Bug schräg nach unten. Kaum ein Meter unter dem Wasserspiegel lagen daher die Räume des Schiffes, durch die die Bruchstelle hindurchging. Fast jeder Gegenstand war darin zu erkennen, besonders in dem großen Verschlage, wo Kapitän Steffen die Taucheranzüge und die Luftpumpen untergebracht hatte. Der andere Wrackteil lag jedoch in größerer Tiefe nach dem offenen Meere hin. Er hatte sich mit den beiden Maststümpfen auf die Seite gelegt.

Langsam ließen die Brüder die Jolle mit schwachen Ruderschlägen über das Grab des Schoners hintreiben.

Ernst Merkel sprach wenig. Irgend ein besonderer Gedanke schien ihn zu beschäftigen. Desto redseliger zeigte sich Karl, der sofort möglichst viel von dem Tauwerk und den Spieren, soweit diese erreichbar waren und sich losschneiden ließen, bergen wollte, indem er meinte, man könne gelegentlich davon Gebrauch machen. Schließlich fiel dem Jüngeren die Schweigsamkeit seines Bruders auf, zumal dieser jetzt gedankenverloren ohne jeden Zusammenhang sagte:

„Man müßte erst in flachem Wasser probieren …“

„Was denn? – – So rede doch endlich!“ platzte Karl heraus.

„Nun –: ob wir mit einer der Taucherausrüstungen nicht vielleicht zu dem Wrack des unbekannten Schiffes hinabklettern könnten. Das müßte eigentlich ganz interessant sein. – Natürlich wäre es vorher nötig, probeweise einen Taucheranzug anzulegen und dann im Flachen zu sehen, ob die Luftpumpe ihre Schuldigkeit tut. Steigert man allmählich die Tiefe, so würde man sich mit der Zeit an die Sache gewöhnen.“

Karl blieb zunächst der Mund vor Staunen weit offen stehen. Dann aber rief er begeistert:

„Ernst – das ist ein feiner Gedanke …! Ja, wir versuchen’s! Damit vertreiben wir uns auch gleich die Langeweile, denn was sollten wir sonst auf diesem hufeisenförmigen, elenden Felsen anfangen?! – Die Taucherapparate aus dem Vorschiff der „Marie“ herauszuholen, ist ja eine Kleinigkeit, so lange wir Ebbe haben und nur ein Meter Wasser über diesem Teil des Schoners liegt.“

Dann kam ihm ein Bedenken.

„Du, Ernst, aber mit so einem Skaphander-Apparat, wie man die ganze Taucherausrüstung nennt, kann man allerhöchstens in Tiefen bis 60 Meter hinabsteigen. Besinne Dich nur, als Jochem Brüsing zum ersten Mal am zweiten Tage unserer Reise den Anzug anlegen mußte, damit er und die anderen Matrosen dessen Einrichtung kennen lernten, hat der Kapitän alles genau erklärt. Dabei sagte er auch, wie tief ein Taucher hinabgehen könne.“

Der Ältere lächelte überlegen.

„Hast Du schon mal einen Dreimaster gesehen, der 60 Meter lange Masten hat, Karl?! – Ich nicht! – Dort, wo das unbekannte Wrack liegt, kann die Tiefe nur etwa 5 bis 6 Meter größer sein, als die Masten hoch sind. Mithin kommt für jene Stelle eine Tiefe von vielleicht 18 Meter heraus.“

„Richtig – richtig! – Ernst, das wird also dann wirklich ein feiner Spaß! Ich vergaß, daß die Mastspitze dicht unter dem Wasserspiegel liegt, d. h. daß die Tiefe der Länge des Mastes entspricht, wozu noch die Bordhöhe des Schiffes hinzugerechnet werden muß. Und diese Bordhöhe schätzt Du auf 5 bis 6 Meter.“

„Ich habe meine Berechnung in Gedanken soeben wieder verbessert“, meinte Ernst Merkel darauf nach kurzem Besinnen. „Wir müssen berücksichtigen, daß das Wrack nicht gerade, sondern schief liegt. Das habe ich genau gesehen. Die Masten bilden also keine Senkrechte zum Meeresboden hin, sondern mit diesem einen spitzen Winkel. Also kommt, bei 12 Meter Durchschnittshöhe der Masten einer Bark, für die ich das gesunkene Schiff halte, höchstens eine Tiefe von 15 Meter heraus.“ –

Nach diesen Erörterungen, die bewiesen, daß bei dem älteren der Brüder die geistige Entwicklung mit der körperlichen gleichen Schritt gehalten hatte, begannen die beiden Knaben sofort mit der Hebung der Taucherapparate. Zunächst holten sie sich vom Ufer einen schweren Stein, den sie als Anker benutzten. Ernst entledigte sich dann abermals seiner Kleider und befestigte starke Leinen, die sie von der auf dem Wasser treibenden Takelage des Schoners losschnitten, an die einzelnen Zubehörteile der Taucherausrüstungen, soweit diese sich nicht nur durch seine Armkraft an die Oberfläche schaffen ließen. Oft genug mußte er die Taue um die verschiedenen schwereren Gegenstände schlingen, indem er vollständig in den aufgerissenen Verschlag des Vorschiffes hineinkroch und sich unter Wasser mit offenen Augen zurechtzufinden suchte. Da dieser Teil des Wrackes aber nur 1 Meter unter dem Wasserspiegel lag, bot auch diese Arbeit keine Schwierigkeiten. Mit vereinten Kräften wurden dann besonders die drei Druckpumpen in die Jolle gezogen und einzeln an Land geschafft.

Die Brüder hatten bereits alles bis auf zwei der kupfernen Taucherhelme geborgen, als ein Zwischenfall eintrat, der leicht sehr schlimm hätte ablaufen können.

Gerade als Ernst eben wieder unter Wasser verschwunden war, um in das Vorschiff schnell hineinzukriechen und einen der Helme herauszuholen, bemerkte der Jüngere einen gut drei Meter langen, bläulichgrauen Schwertfisch, der langsam, als wolle er die Wrackteile mustern, herbeigeschwommen kam. Es ist bekanntlich eine Eigentümlichkeit dieser auch im Mittelmeer heimischen, schuppenlosen Meeresbewohner, daß sie kleineren Fischen sehr gewandt dicht unter der Oberfläche nachstellen und daß sie in ihrer leichten Reizbarkeit mit ihrer schwertförmig verlängerten Oberkinnlade sowohl Wale als auch badende Menschen angreifen. Ein Kampf mit einem solchen Tiere, das sich seiner harten, langen Stoßwaffe äußerst geschickt zu bedienen weiß, ist für die Fischer, die den wegen ihres Fleisches sehr geschätzten, jungen Tieren an der kalabrischen und sizilischen Küste nachstellen, stets ein höchst gefährliches Abenteuer, da die ausgewachsenen Schwertfische, von denen schon Exemplare von 5 Meter Länge erlegt sind, in ihrer Wut sich oft aus dem Wasser schnellen und über den Rand der Boote hinweg nach den menschlichen Jägern stoßen. Hierbei kommt es des öfteren vor, daß diese gut bewaffneten Meeresbestien ihren Angriff schlecht berechnen, ihr Schwert durch die Planken hindurchrennen und sich dann selbst auf diese Weise festnageln, um nun ein paar Harpunenstichen zum Opfer zu fallen.

Karl hatte von den Matrosen der „Marie“ während seiner kurzen Schiffsjungenzeit an Bord dieses Seglers bereits genug Geschichten über die Angriffslust und Gefährlichkeit der Schwertfische gehört, um sich sofort sagen zu können, daß das Leben seines Bruders ernstlich bedroht sei. Gleich mußte dieser wieder auftauchen, völlig ahnungslos, daß ein so fürchterlicher Feind in der Nähe sich aufhalte.

Blitzschnell überlegte der Junge sich, ob er nicht irgend etwas tun könne, um das mächtige Tier zu vertreiben. Dann trafen seine über die Jolle hingleitenden Augen auf den Bootshaken, dessen eiserne Spitze wohl scharf genug war, um dem Schwertfisch eine ernstliche Verletzung beizubringen.

Ein Griff, und er hielt die lange Holzstange in der Hand. Die Meeresbestie schwamm gerade dicht an der Jolle vorüber. Weit holte er aus und stieß mit aller Kraft zu, indem er nach dem weißlichen Bauch zielte.

Und er traf wirklich, traf so gut, daß er dem Ungeheuer weit den Leib aufriß. In demselben Augenblick erschien auch schon Ernst mit dem Kopf über dem Wasser und schnellte sich, den Taucherhelm im Arm, nach dem Boot hin, erfaßte mit der Rechten dessen Rand und schüttelte sich die herabrinnenden Tropfen aus den Haaren.

Der verwundete Schwertfisch aber hatte kaum in der klaren Flut den hellen Körper des Knaben erspäht, als er sich auch schon zum Angriff anschickte. Ein einziger gewaltiger Schlag seiner Schwanzflosse ließ ihn wie einen von der Bogensehne vorwärtsgetriebenen Pfeil den Zwischenraum zwischen sich und seinem Opfer zurücklegen.

Karl schrie angstvoll auf, drückte aber trotz seiner ihn fast lähmenden Besorgnis um den Bruder mit aller Kraft den im Bauche des Tieres haften gebliebenen Bootshaken nach unten, um diesen Angriff zu vereiteln. Ganz gelang ihm dies nicht. Immerhin aber fand die anfänglich so schnelle Vorwärtsbewegung der Bestie plötzlich einen erheblichen Widerstand, ebenso wie deren Körper auch etwas aus der Richtung gedrängt wurde.

So kam es, daß die Stoßwaffe des Fisches nur den Helm traf, die vorn befindliche dicke Glasscheibe zertrümmerte und das Kupfer der Rückseite zerbeulte.

Jetzt erst, wo der schwere Taucherhelm ihm aus dem Arm gerissen wurde, erkannte Ernst die Gefahr. Da packte ihn der Jüngere auch schon und zog ihn in die Jolle, während der Schwertfisch, den Bootshaken im Leibe und den Helm über die Spitze seiner Waffe gestreift, sich nach diesem mißglückten Angriff davonmachen wollte.

Dies gelang ihm nicht. Nur den Bruchteil einer Sekunde hatte der erste Schreck den älteren Merkel gelähmt. Nun bückte er sich, bekam noch gerade die über Bord gleitende Holzstange zu packen und rief dem Bruder zu: „Festhalten – festhalten!“

Der sich jetzt abspielende Kampf währte nur kurze Zeit. Von den Schwanzschlägen des Fisches, der sich umsonst bemühte in größere Tiefe hinabzugehen, wurden derartige Wellen erzeugt, daß hin und wieder ein Spritzer über den Rand der Jolle hochschwappte und diese wild hin und her gerissen wurde. Das schwertbewaffnete Ungeheuer, sicherlich bestürzt durch die schwere Last des Helmes, der an seiner Waffe wie eine Kugel hing, hielt sich mit einem Mal ganz regungslos. Sein Kopf lag jetzt bedeutend tiefer, und die Schwanzflosse ragte sogar ein Stück aus dem Wasser heraus. Im Nu hatte Ernst Merkel da eine starke Leine ergriffen, die er nun, zu einer Doppelschlinge zusammengelegt, geschickt über die Flosse streifte und dann mit einem Ruck zuzog. Wieder wollte der Schwertfisch auf und davon. Aber die straff gespannte Leine behinderte seine Bewegungen jetzt noch mehr als die in seinem Leibe steckende Stange. Inzwischen hatte sich das Wasser weithin rötlich gefärbt, ein beweis, daß das Tier aus der Wunde stark blutete. Schwächer und schwächer wurde sein Widerstand, bis es Karl dann gelang, den Bootshaken immer höher zu ziehen, und der Kopf über der Oberfläche erschien. Ein Revolverschuß in das eine Auge gab dem gefährlichen Ungeheuer den Rest.

Erschöpft und mit vor Aufregung hochroten Köpfen ließen die Brüder sich auf eine der Ruderbänke ihrer Jolle sinken. Dann sagte der Ältere, und seine Stimme zitterte leise:

„Das hätte böse ablaufen können …! Eigentlich war’s ein Unsinn, daß wir den Schwertfisch nicht ruhig entfliehen ließen. Wie leicht hätte unser Boot umschlagen können …!“

„Und unser Bootshaken und der Taucherhelm …?!“ meinte Karl etwas beleidigt. „Sollten wir beide preisgeben?! – Außerdem – Spaß hat die Sache doch gemacht. Jedenfalls werden wir uns den Kopf des besiegten Feindes als Trophäe aufbewahren. Wenn wir die Bestie an Land bringen, werden die Möwen in kurzer Zeit jeden Fetzen Fleisch sauber abgehackt haben.“

Da sich jetzt bei den Knaben der Hunger recht eindringlich meldete, ruderten sie, den toten Schwertfisch im Schlepptau, nach der Bucht zurück, befestigten die Jolle, damit die Flut sie nicht abermals entführe, mit einem Tau an einer Felszacke und begaben sich nach ihrer Hütte, wo sie sich heute eine Dörrfleischsuppe und auch hinterher einen Schluck Kaffee leisteten.

Nachmittags schafften sie die Taucherapparate dann mit Hilfe des Bootes nach der Westküste des Eilandes. So ersparten sie sich die Mühe, die schweren Druckpumpen über die Felsen schleppen zu müssen. Sorgfältig wurden hierauf alle Metallteile abgetrocknet und mit Schwertfischtran eingerieben.

Den Rest dieses zweiten Tages ihres Robinsondaseins benutzten sie dazu, mehrmals nach dem Wrack der „Marie“ hinüberzufahren und alles an Segeln und Tauwerk zu bergen, was sie mit Hilfe des Bootshakens hochziehen und dann losschneiden konnten. Hierbei nun kam einer der umgeknickten Masten an die Oberfläche, so daß sie ihn gleichfalls nach ihrer Behausung bringen konnten, wo er später als Brennholz verwandt wurde.

Auch heute gingen sie wieder früh zur Ruhe. In der Nacht änderte sich das Wetter jedoch. Der Wind frischte auf und ein Platzregen ging nieder, der den Brüdern zeigte, wie wenig wasserdicht das Segeltuchdach ihrer Hütte war, von dem fortwährend große Tropfen auf ihre Lagerstätten herabfielen, so daß sie schließlich aufstehen mußten, da das Liegen auf dem durchweichten Moose recht ungemütlich wurde. Mit Tagesanbruch klärte sich dann zwar der Himmel auf, aber der Wind nahm an Stärke zu, was freilich den Vorteil hatte, daß die Felsen der Insel im Umsehen wieder trocken wurden.

Eine Besichtigung der mit einem Segel bedeckten Taucherapparate, die trotz dieses Schutzes vor Nässe trieften, gab den Knaben den Gedanken ein, das undichte Segeltuch mit einer Fettschicht zu überziehen, damit es undurchlässig würde. Nach mehreren mißglückten Versuchen, sich aus dem Tran des Schwertfisches unter Hinzufügung von Holzasche eine Anstrichfarbe herzustellen, gelang es ihnen schließlich, eine dicke Mischung aus Tran und zu Pulver zerstoßener Holzasche zuzubereiten, die ihren Zweck zu erfüllen versprach. Auf diese Weise machten sie dann auch das Dach ihrer Hütte wasserdicht.

Über dieser Arbeit war der ganze Vormittag hingegangen. Das Mittagessen bestand heute aus Pinguinsuppe, wozu man mühelos einen jüngeren dieser Vögel erlegt hatte, außerdem aus Möweneiern und kaltem Tee als Getränk. Während der Mahlzeit berieten die Brüder, wo man das erste Probetauchen mit den Skaphander-Apparaten vornehmen solle. Besonders Karl war sehr begierig darauf, die Taucherausrüstungen zu probieren. Zu seiner großen Enttäuschung erklärte der Aeltere jedoch, daß Karl nur für die Bedienung der Druckpumpe in Betracht käme. Um selbst den Anzug anzulegen und unter Wasser zu gehen, dazu sei er nicht kräftig genug.

Der Jüngere fügte sich schließlich, wenn auch widerwillig. Man kam dann überein, mit den Tauchversuchen am Nordufer der Bucht zu beginnen, da hier die Wassertiefe ganz allmählich zunahm. Gleich nach dem Essen wurde ein vollständiger Anzug und eine der Druckpumpen nach jener Stelle geschafft. Dicht am Ufer legte Ernst nun zunächst den wasserdichten Anzug an, schnallte die Schuhe mit den Bleisohlen fest und ließ sich endlich von seinem Bruder den Helm an den mit einem weichen Gummiring versehenen Halsteil des Anzugs anschrauben. Der Helm besaß vorn ein dickes Glasfenster und oben ein Ansatzrohr, an welches der die frische Luft aus der Druckpumpe zuführende starke Luftschlauch aufgeschraubt wurde. Zu der Ausrüstung gehörte weiter noch der Gürtel, an den das Nottau angebunden wurde, mit dessen Hilfe der Taucher, falls ihm unter Wasser etwas zustößt, wieder hochgezogen werden kann, ferner die Signalleine, die dazu dient, durch vorher vereinbarte Rucks eine Verständigung zwischen dem in der Tiefe Befindlichen und seinen Gefährten zu ermöglichen. Die verbrauchte Luft entweicht durch ein Röhrchen, das ebenfalls oben am Helm angebracht ist.

Es sei hier erwähnt, daß die von Kapitän Steffen angekauften Taucherapparate älterer Konstruktion waren. Für die Perlenfischerei hätten sie vollauf genügt. Neuerdings hat man jedoch bedeutend verbesserte Ausrüstungen dieser Art geschaffen, bei denen der Taucher noch einen aus zwei übereinanderliegenden Luftbehältern bestehenden Tornister auf dem Rücken trägt. Diese Behälter nehmen zunächst die eingepumpte Luft auf und gleichen ihren Druck aus, wodurch die Atmungsorgane des in größerer Tiefe Arbeitenden weniger angegriffen werden. Der erste Skaphander-Apparat hat sich bekanntlich aus der schon im Altertum benutzten Taucherglocke entwickelt.

Nachdem Ernst Merkel die ganze Ausrüstung auf dem Leib hatte, wurde von dem Jüngeren die Druckpumpe in Bewegung gesetzt. Sehr bald begann sich der wasserdichte Anzug mit Luft zu füllen, und Karl konnte ein lautes Lachen nicht unterdrücken, als die Gestalt seines Bruders immer unförmiger wurde. Mit der Zeit lernte er dann, in welchen Zwischenräumen er den Hebel der Pumpe auf und nieder drücken mußte, um gerade die richtige Menge Luft in den Helm hineinzubringen. Ebenso verständigten sich die Brüder auch zunächst auf dem Lande durch Zeichen mit der Signalleine.

Dann ließ Ernst sich den Helm wieder abschrauben, um sich etwas auszuruhen und an freier Luft atmen zu können. Nach dieser Pause gingen die Knaben schon einen Schritt weiter, indem Ernst sich ins Wasser begab, bis dieses den Helm völlig bedeckte. So wurden langsam und vorsichtig die Versuche gesteigert, so daß der ältere der Brüder schließlich sich in einer Tiefe von etwa sechs Meter auf dem Grunde der Bucht hin und her bewegte, während Karl sorgsam die Druckpumpe bediente und auf die Rucke achtete, die Ernst der um des Jüngeren linken Arm geschlungenen Signalleine der Übung halber erteilte.

Das Gewicht der Bleisohlen, ohne die der Taucher in seinem luftgefüllten Anzug wie eine Blase auf der Wasseroberfläche festgehalten werden würde, spürte Ernst Merkel unter Wasser in keiner Weise mehr. Auch der schwere Helm verlor hier unten an Gewicht. Mit Leichtigkeit vermochte der Knabe auf und ab zu gehen, sich zu bücken und die Arme zu bewegen. Bald machte ihm die Sache ein solches Vergnügen, daß er wagemutiger wurde und noch größere Tiefen aufsuchte.

Erst bei Sonnenuntergang zog sich Ernst den Anzug wieder aus, schnallte die Schuhe ab und half dann den Tauchapparat zusammenpacken. Da er sich jetzt überzeugt hatte, daß kaum eine Gefahr bei der nötigen Vorsicht mit diesem eigenartigen Sport verknüpft war, versprach er Karl, daß dieser am nächsten Tage ebenfalls die Ausrüstung anlegen und einige Meter unter Wasser sich bewegen dürfe.

Während des Abendessens schmiedeten sie dann allerlei Pläne, wie sie nun, sobald der Wind sich gelegt und die See sich wieder beruhigt haben würde, sich aus dem Wrack „Marie“ noch verschiedenes herausholen wollten, so besonders die Werkzeugkiste des Zimmermanns und die Blechdosen mit den Konserven, die Kapitän Steffen für seinen eigenen Gebrauch in einer Kammer neben seiner Kajüte aufbewahrt hatte. Außerdem mußten sich in dieser Kajüte die großen, dolchartigen Messer mit Scheide befinden, die zu der Taucherausrüstung gehörten, damit die Perlen suchenden Leute sich gegen Haifische nötigenfalls verteidigen konnten.

Vier Tage vergingen jedoch, bevor wieder völlige Windstille eintrat. Inzwischen hatten die Brüder als Taucher weitere Fortschritte gemacht. Die Bucht, deren Wasserfläche bei ihrer windgeschützten Lage selbst der heftigste Sturm nur wenig anhaben konnte, diente ihnen auch fernerhin als Versuchsgewässer. Die Druckpumpe wurde jetzt stets in der Jolle aufgestellt, von der aus der Taucher dann in die Tiefe an einem Tau sich hinabließ. Auch Karl legte verschiedentlich die Ausrüstung an und ging auf dem steinigen Grunde hin und her. Hauptsächlich aber war es der Ältere, der sich mit allen Eigenheiten der Arbeit unter Wasser vertraut zu machen suchte. Aus einer dünnen Leine hatte man auch ein Lot hergestellt, damit man die Tiefe feststellen konnte. Bis zu 12 Meter spürte Ernst Merkel noch keinerlei Beschwerden infolge des Druckes der auf seinem Körper lastenden Wassermasse. Bei 15 Meter – und tiefer war die kleine Bucht selbst in ihrer Mitte nicht, nach der hin der Grund sich unregelmäßig trichterförmig den Lotungen nach senkte – fiel ihm das Atmen nicht mehr ganz so leicht. Trotzdem vermag aber ein kräftiger Mann noch bei 30 Meter zwei Stunden lang ohne Pause zu arbeiten. Bei Ernst Merkel sprach eben mit, daß seine Organe noch nicht voll entwickelt waren. Jedenfalls aber zeigten all diese Probeabstiege in die Tiefe, daß es ihm auch gelingen würde, zu dem Wrack des unbekannten Dreimasters hinabzugelangen.

Nach den vier windigen Tagen trat Windstille mit starker Hitze ein. Vom wolkenlosen Himmel ließ die Sonne ihre Strahlen auf den grauschwarzen, hufeisenförmigen Felsen aufprallen und entwickelte darüber eine wahre Backofenglut. Nur in der im Schatten des unersteigbaren Berges liegenden Hütte der beiden Robinsons und auf dem Wasser war es einigermaßen erträglich. Die Brüder brachten denn auch den ganzen Vormittag damit zu, aus dem Schoner alles das herauszuholen, was Ernst Merkel in seinem Taucheranzug bequem erreichen und an Leinen binden konnte, die nachher hochgezogen wurden. So fand er in der Kajüte des zweiten, in etwa acht Meter Tiefe liegenden Wrackteiles auch die für die Perlentaucher bestimmten, sehr langen und äußerst scharfen Messer. Bis zum Mittagessen waren die Knaben an der Strandungsstelle der „Marie“ vollauf beschäftigt. Karl konnte jetzt seinen älteren Bruder gar nicht genug loben, daß dieser auf den guten Gedanken gekommen war, die Skaphander-Apparate in Gebrauch zu nehmen. Vermehrten sie doch nur durch deren Hilfe ihre Vorräte an allen möglichen Dingen ganz bedeutend.

Die heißesten Stunden des Tages ruhten sie sich dann in ihrer Hütte aus. Erst gegen vier Uhr nachmittags wurden die nötigen Vorbereitungen für einen Besuch des an der Westküste liegenden unbekannten Wracks getroffen.

Die mit dem Taucherapparat beladene Jolle befand sich bald über dem untergegangenen Dreimaster. Auch heute war das Wasser so klar, daß man das Schiff als langen, dunklen Fleck auf dem Grunde erkennen konnte. Und wieder bemerkten beide Brüder jetzt in der Tiefe neben der Bordwand des Seglers das seltsame Licht, das in fahlem Weiß da unten erstrahlte, bald erlosch, bald wieder aufflammte und häufig seinen Platz wechselte.

Nachdem das Boot an zwei schweren Steinen als Anker festgelegt war, zog Ernst Merkel den Taucheranzug an und steckte auch eines der Messer für alle Fälle in den Gürtel. An einem starken Tau ließ er sich dann ganz allmählich hingleiten. Vorher war die Tiefe mit dem Lot bis zum Verdeck des Dreimasters gemessen worden. Sie betrug genau 12 Meter.

Der wagemutige Knabe gelangte jedoch nicht auf das Deck, sondern dicht vor dem Bug auf den Meeresgrund. Dieser war steinig. Nur hier und da standen ein paar fahlgrüne Pflanzen. Die Welt hier unten nahm sich für den jungen Taucher geheimnisvoll genug aus. Das grünliche Dämmerlicht, das hier herrschte, ließ ihn durch das Fenster des Helmes die Gegenstände nur schwer erkennen. Trotzdem genügte es vollauf, um sich zurechtzufinden. Bald hatten sich seine Augen auch mehr an dieses eigenartige Halbdunkel gewöhnt.

Zunächst schritt er nun an der Seite des Dreimasters entlang, die nach der offenen See zu lag. Die Planken des Wracks waren dicht mit Muscheln und Moos bedeckt. Der Segler mußte also schon vor Jahren gesunken sein. Dann kam Ernst an eine Stelle, wo in der Bordwand ein riesiges Loch klaffte, das sich bis zum Kiel hinzog. Ganze Planken waren hier herausgerissen und zwar gerade da, wo sich einer der Laderäume befand, so daß eine Anzahl kleiner Kisten, die jetzt ebenfalls dicht mit Muscheln und Meeresschlamm überzogen waren, infolge der nach der Seeseite zu schrägen Lage des Schiffes wohl gleich nach dessen Untergang ins Gleiten gekommen und herausgefallen waren.

Zwei von diesen Kisten befestigte der junge Taucher jetzt an einer der Leinen, die er mit einem Ende an seinen Gürtel angebunden hatte, während das andere Ende oben um die Ruderbänke der Jolle geschlungen war, damit man nachher die Gegenstände, die er des Heraufschaffens für wert hielt, hochziehen konnte.

Dann setzte er seine Wanderung um das Wrack herum fort, um dieses erst einmal von außen zu besichtigen. Er umschritt das breite Heck, sah, daß das Steuer losgerissen war und nur noch in einem Gelenk hing. Nun befand er sich auf der Backbordseite des Schiffes, die der Insel zugekehrt war.

Plötzlich blieb er stehen. Da war es wieder, dieses eigentümliche Licht … Und – kein Zweifel, es bewegte sich auf ihn zu. Jetzt glaubte er auch etwas wie eine ungeheure Spinne zu erkennen, deren Körper die Helligkeit ausstrahlte.

Furcht empfand der kräftige Junge nicht, der für seine sechzehn Jahre überaus kräftig entwickelt war. Es war mehr Neugierde und erwartungsvolle Spannung bei ihm, die sein Herz etwas rascher schlagen ließen.

Näher und näher kroch das seltsame Wesen mit seinen langen Armen und dem leuchtenden Körper. Unwillkürlich griff Ernst jetzt nach dem Messer und zog es aus der Scheide. Immer deutlicher sah er jetzt die enormen Abmessungen dieses nie geschauten Tieres. Sein eben noch so zuversichtlicher Mut sank. Blasse Furcht packte ihn. Ein schneller Entschluß, und er wandte sich zur Flucht.

Zu spät … – Er ahnte ja nicht, welcher Art das Ungeheuer war, das es auf ihn abgesehen hatte. Die Riesentintenschnecke hatte schon zwei ihrer Fangarme ausgestreckt und diese um seinen Helm geschlungen. Eine unsichtbare Gewalt hielt den Fliehenden zurück. Er fühlte die Fesseln, drehte sich um …

Das Blut gerann ihm in den Adern. Die Furchtbarkeit dieses gewaltigen Tieres lähmte ihn vollkommen. Ein Dutzend Fangarme von gut acht Meter Länge ringelten sich schnell um seinen Körper, die an ihnen befindlichen Saugnäpfe suchten sich an den Stoff des Taucheranzuges festzupressen, und vor seinem Kopf tauchte nun auch der mißgestaltete Körper dieses schrecklichen Bewohners der Meerestiefe auf. Er unterschied den hornigen Mund in Gestalt eines Papageienschnabels, merkte, daß das Leuchten aus der Haut des Ungeheuers hervordrang …

In seiner wahnwitzigen Angst riß er jetzt an der Signalleine – – drei scharfe Rucke – das Notzeichen – abermals – abermals. Und während seine Linke hiermit beschäftigt war, schnitt und stach er blindlings um sich.

Ein Kalmar, eine Riesentintenschnecke war’s also, die Ernst Merkel angegriffen hatte. Diese Tiere gehören zu den Weichtieren. Kleinere, harmlose Arten werden wegen des in ihrem Tintenbeutel befindlichen Farbstoffes, der Sepia, gefangen. Sie wird zu Malerfarben benutzt, aber diese Schneckenart gebraucht sie zu einem anderen Zweck: um sich ihren Verfolgern zu entziehen, indem sie mit der Sepia weithin das Wasser trübt. Der Tintenbeutel ist es auch, der diesen merkwürdigen Geschöpfen den Namen gegeben hat. In der Tiefsee kommen nun aber auch verwandte Arten dieser Tintenfische von einer Größe vor, die ans Fabelhafte grenzt. So ist noch neuerdings auf der Südseeinsel St. Paul ein Kalmar von einer Körperlänge von 7 Meter mit zwölf 13 Meter langen Fangarmen gestrandet. Unsere Phantasie vermag sich die ganze abschreckende Furchtbarkeit dieser einer Spinne ungefähr gleichenden Tiere kaum vorzustellen. Wie viele Bewohner der Tiefen der Ozeane, besitzen auch die Kraken (so nannte man diese Ungeheuer in alter Zeit) unter der nackten, schlüpfrigen Körperhaut Leuchtorgane, die sie willkürlich erstrahlen lassen können. Die Kraft, die ein Kalmar mit seinen Fangarmen entwickelt, genügt vollkommen, um einen erwachsenen Mann aus einem Boot zu ziehen. Vorfälle dieser Art haben sich tatsächlich schon ereignet.

Eine solche Riesentintenschnecke hatte den jungen Taucher also angefallen. Und unter Wasser entspann sich jetzt zwischen Mensch und Tier ein wilder Verzweiflungskampf … – –

Oben auf der ruhigen See aber stand Karl Merkel in der leicht hin und her schwankenden Jolle, bewegte den Hebel der Druckpumpe mit einer Hand gleichmäßig auf und ab und zog und zerrte mit der anderen an der Rettungsleine, die an dem Gürtel des unten in der Tiefe befindlichen Bruders befestigt war.

Er hatte ja nur zu gut die drei Notzeichen gespürt, diese drei scharfen Rucke an der um seinen linken Arm geschlungenen Signalleine. Des öfteren hatten sie sich wiederholt … Jetzt fühlte er ein dauerndes Zerren und Reißen. Signale waren das nicht. Da unten ging irgend etwas Schreckliches vor. Das Leben Ernsts war sicherlich in Gefahr. Und er konnte dem Unglücklichen keine Hilfe bringen. Nur dafür konnte er sorgen, daß stets genügend Luft dem Ärmsten zugeführt wurde.

Wieder zog er mit Aufbietung aller Kräfte an der Rettungsleine. Es half nichts. Und jetzt veränderten der ins Wasser hinlaufende Luftschlauch und die Leinen ihre Lage. Irgend eine unbekannte Gewalt zog den Taucher auf die Insel zu, zog auch das Boot trotz der Anker mit und gerade auf die Stelle zu, wo der hohe Berg steil in die See abfiel. Schrittweise ging’s vorwärts, aber unaufhaltsam. Jetzt mußte Karl die Leinen sämtlich durchschneiden, sonst wäre die Jolle umgekippt. Und dann hätte der Bruder unten elend ersticken müssen, wenn die Druckpumpe ihm nicht mehr die nötige Luft spendete. Nur der Luftschlauch, von dem noch viele Meter unbenutzt aufgerollt am Boden des Bootes lagen, bildete nunmehr die einzige Verbindung für den Bedauernswerten nach der Oberwelt hin, der aus dem Meerengrunde um sein Leben rang.

Immer weiter rollte sich der starke, mit Draht umwickelte Luftschlauch ab. Die Jolle lag jetzt dicht unterhalb des Berges, und aus der Richtung des Luftschlauches war zu erkennen, daß der für den jüngeren Bruder unsichtbare Angreifer sein Opfer bis hierher gezerrt hatte.

Bange Minuten verstrichen. Bleichen Antlitzes, die Augen stets auf den Wasserspiegel geheftet, arbeitete Karl an der Druckpumpe. Dann stiegen aus der Tiefe undurchdringliche Schleier auf. Irgend eine dunkle Flüssigkeit trübte die Flut. Und jetzt rollte der Luftschlauch auch nicht weiter ab.

Wieder verging eine geraume Zeit. Dann wagte es Karl, vorsichtig an dem Luftschlauch zu ziehen. Er wollte feststellen, ob er vielleicht so die Leiche des Bruders heraufbringen könne. Daß dieser noch lebe – die Hoffnung hatte er bereits aufgegeben.

Er zog und zog. Meter für Meter legte er den Schlauch in Windungen auf dem Boden der Jolle wieder zusammen. Er fand keinen Widerstand. Und nun brachte er die letzten Meter nach oben, nun erschien das metallne Ansatzstück, das auf dem Helm festgeschraubt gewesen war.

Karl besichtigte es genau. Er wußte nicht, was er davon halten sollte. Es war nicht etwa abgebrochen, sondern offenbar losgeschraubt – und zwar losgeschraubt, während der Helm sich doch unter Wasser befand.

Schwer ließ der Knabe sich auf die Ruderbank fallen, vergrub das Gesicht in beide Hände und weinte. Lange dauerte es, ehe er sich beruhigte. Aber die dumpfe Traurigkeit und Verzweiflung hielt an. Langsam ruderte er nach der nächsten flachen Uferstelle hin und trug die Druckpumpe an Land, ebenso den Luftschlauch. Dann brachte er die Jolle nach der Bucht zu ihrem gewöhnlichen Liegeplatz.

Inzwischen hatte sich die Sonne bereits dem westlichen Horizont genähert. In der Hütte angelangt, aß der einsame Knabe, gleichgültig gegen alles, ein paar trockene Schiffszwiebacke und trank kalten Tee dazu. Aber eine unbestimmte Unruhe trieb ihn dann wieder nach der steilen Westseite des mächtigen Berges hin, der seine schroff ansteigenden Wände stolz und noch von keines Menschen Fuß bezwungen in die Lüfte reckte.

Auf dem schmalen Felsgrat dicht über dem Wasser stehend starrte er in dessen Tiefen hinab. Aber der Meeresboden gab seine Geheimnisse nicht preis. In den rötlichen Glanz der untergehenden Sonne getaucht lag das weite Meer da. Ganz leise nur brandete hin und wieder eine Welle gegen das kahle Ufer des kleinen Eilandes. Stille ringsum. Nur in den Vogelkolonien am Strande zu beiden Seiten des Berges herrschte noch reges Leben, obwohl auch die Pinguine, Möwen, Albatrosse und die anderen hier brütenden Vögel sich schon zur Nachtruhe rüsteten und nur vereinzelt noch über das Wasser hinstrichen.

Die Abenddämmerung kam. Noch immer stand Karl Merkel unbeweglich da und sann und sann … Er konnte nicht glauben, daß der Bruder wirklich nie mehr zu ihm zurückkehren würde, daß er tot sei … Das Gefühl der Einsamkeit lastete wie ein Zentnergewicht auf ihm, benahm ihm jeden Lebensmut.

Endlich, als es bereits ganz dunkel geworden war, umschritt er wieder den riesigen Felsblock und betrat die Hütte. Müde und verzweifelt warf er sich auf sein Lager. Aber die Gedanken an den Bruder scheuchten den Schlaf von seinen Lidern. Doch die körperliche und seelische Erschöpfung war stärker als sein erregtes Hirn. Ihm fielen die Augen zu.

Er sah den unglücklichen Ernst im Wasser mit einem Schwertfisch kämpfen, hörte dessen Hilferufe, die ihm ordentlich in den Ohren gellten …

„Karl … Karl …!!“ – – – Plötzlich fuhr er empor, lauschte. Noch ganz schlaftrunken, vermochte er sich nicht so schnell in die Wirklichkeit zurückzufinden.

Da – kein Zweifel! – – das war des älteren Bruders Stimme. – Er sprang auf, eilte vor die Hütte. Mit bläulich-weißem Glanz lag das Licht des Vollmondes über der Insel. Es genügte, um weithin alles zu erkennen.

Abermals die Stimme … Sie kam von der Höhe, von der flachen Kuppe des Berges herab. Karls Kopf flog hoch. Er traute seinen Augen nicht … Oben auf dem runden Felskoloß, gerade über der Hütte, zeichnete sich deutlich gegen den Himmel eine Gestalt ab. Es war Ernst – Ernst, der Totgeglaubte …

Ein Jubelschrei löste sich von den Lippen des Jüngeren los. Dann sah er, wie der Bruder verschwand, aber gleich wieder auftauchte. Einige Meter seitwärts der Hütte fielen jetzt ein paar Leinen herab, die der glücklich Gerettete oben um eine starke Felsnase geschlungen hatte. An diesen Leinen ließ er sich jetzt herab. Es waren die, die an seinem Gürtel befestigt gewesen waren …

Dann lagen die Brüder sich in den Armen. Karl perlten vor Freude die Tränen über die Wangen. Und nun ging’s mit vielen Fragen und Antworten an die Aufklärung all des Rätselhaften, das sich heute Nachmittag auf dem Meeresgrunde abgespielt hatte.

Mit unwiderstehlicher Gewalt war Ernst von dem Kraken nach dessen Schlupfwinkel hingezerrt worden. Und dieser Schlupfwinkel war merkwürdig genug. Erst konnte Karl gar nicht begreifen, daß der Berg einen hohlen, dickwandigen Zylinder darstellte, dessen Boden zur Hälfte von Wasser bedeckt war und in den eine unterseeische, große Öffnung hineinführte. Durch diese hatte der Kalmar sein Opfer hindurchgeschleppt. Aber dann war es Ernst mit dem scharfen Messer endlich gelungen, auch die letzten der schlüpfrigen Fangarme zu zerschneiden und sich so zu befreien. Über sich sah er nun seltsam hell das Wasser schimmern. Langsam stieg er immer weiter auf dem aufwärts gehenden Grunde des Kraters hoch, bis plötzlich helles Tageslicht durch das Helmfenster seine Augen blendete. Gleich darauf stand er völlig auf dem Trockenen. Seine letzten Kräfte reichten gerade noch aus, um die Flügelschrauben, mit denen der Helm an den Kragenrand befestigt war, zu lösen und auch den Luftschlauch abzuschrauben. Dann sank er ohnmächtig um. Als er erwachte, stand bereits der Mond am Himmel.

* * *

Bald darauf ertönten aus der Hütte die ruhigen, tiefen Atemzüge der beiden Brüder. Bis in den hellen Vormittag hinein schliefen sie in dem Bewußtsein wieder vereint zu sein. Und ein selten frohes Erwachen gab’s dann. Bei dem ersten Frühstück wurde nun nochmals das Abenteuer mit allen Einzelheiten durchgesprochen. Hierbei erwähnte Karl auch, daß er an die eine Leine, die der glückliche Besieger des Kraken zum Zusammenbinden der beiden Kisten benutzt hatte, den Bootshaken befestigt habe, damit dieser die Leine vor dem Untersinken bewahren solle.

„Daß Du gerade dieses Tau in Gebrauch genommen hast“, erklärte der Jüngere, „merkte ich daran, daß es ein paar Mal scharf angezogen wurde. – Was ist denn eigentlich der Inhalt der Kisten?“

Ernst zuckte die Achseln. „Auf die Frage muß ich Dir die Antwort schuldig bleiben. Jedenfalls sind sie außerordentlich schwer. – Nun, wenn das andere Ende der Leine an dem Bootshaken hängt, so brauchen wir sie ja nur hochzuziehen. Neugierig bin ich auch auf den Inhalt. Wir wollen gleich nachher mit der Jolle nach der Stelle hinrudern, unter der das Wrack des Dreimasters auf dem Meeresboden ruht.“

Dies taten sie dann auch. Der Bootshaken schwamm auf dem Wasser, und die Leine befand sich noch daran, so daß es nicht viel Mühe machte, die beiden Kisten nach oben zu befördern. Am Strande wurden sie geöffnet. Sie bestanden aus einem sehr widerstandsfähigen Holz. Nachdem die Knaben von dem Deckel die anhaftenden Muscheln entfernt hatten, sahen sie deutlich folgende Inschrift, die offenbar eingebrannt war: „Ballarat Gold-Mine-Comp.“

Und der Inhalt der Kisten …? – Es war reines Gold in Form von kleinen Ziegeln. Und in jeder Kiste lagen sechs von diesen schweren, wertvollen Barren des Edelmetalles.

Erst konnten die Knaben gar nicht begreifen, daß sie wirklich einen so kostbaren Fund gemacht haben sollten. Aber die Aufschrift sagte genug. Die Minenfelder von Ballarat in Südaustralien waren Ernst Merkel dem Namen nach sehr gut bekannt. Hatte er doch einmal an Bord der „Marie“ gehört, wie Jochem Brüsing sich mit einem der anderen Matrosen von Ballarat unterhalten hatte.

In freudiger Erregung erklärte der Ältere jetzt sofort, er würde sich durch den Kampf mit dem Meeresungeheuer nicht davon abhalten lassen, abermals nach dem Wrack hinabzusteigen, um auch die übrigen Kisten zu bergen.

„Diese gräßlichen Bestien verraten sich ja durch ihr Leuchten“, meinte er. „Hätte ich dies gewußt, so wäre es mir ein leichtes gewesen, der gefährlichen Riesenspinne aus dem Wege zu gehen. Ein besonderes Wagnis stellt das Heraufschaffen der Kisten also kaum dar. Wenn ich vorsichtig bin, kann mir kaum etwas geschehen. „

Karl redete entschieden ab. Jedoch sein Bruder gab sein Vorhaben nicht auf. Und so begierig war er darauf, die Schätze des gesunkenen Schiffen zu heben, daß er, um das ruhige Wetter auszunutzen, sofort am Nachmittag in der aus dem Krater wieder herausgeholten Taucherausrüstung mit dieser Arbeit begann, die ohne jeden Zwischenfall bereits am Abend beendet war.

Im ganzen hatte der durch irgend ein Riff aufgerissene Laderaum des Dreimasters 32 dieser Kisten enthalten, die die Knaben auf Ernsts Vorschlag sämtlich in einem schwer auffindbaren Versteck verbargen.

„Es ist doch immerhin möglich“, hatte Ernst geäußert, „daß einmal ein Schiff hier anlegt, dessen Besatzung vielleicht habgierig genug ist, uns das Gold abzunehmen und uns dann unserem Schicksal zu überlassen. Dieses edle Metall ist ja nur zu oft die Triebfeder zu den schlimmsten Verbrechen gewesen. Wir müssen daher sehr vorsichtig sein. Am besten ist, wir sagen unseren Rettern überhaupt nichts von den Schätzen und lassen diese dann später durch vertrauenswürdige Leute abholen.“ – –

Diese Zuversicht, daß bald ein Fahrzeug sich bei dem winzigen Eiland einfinden würde, wurde nicht zu schanden. Freilich verging noch ein ganzer Monat, bevor eines Tages am nördlichen Horizont die Segel eines Kutters auftauchten, der auf das Eiland zuhielt.

Inzwischen hatte Ernst bei einigen weiteren Besuchen des gesunkenen Dreimasters, der als Bark getakelt war, auch dessen Namen festgestellt. Er hieß „Australia“ und war in Melbourne beheimatet gewesen, wie die dem Namen hinzugefügte Hafenstadt bekundete.

Mit glänzenden, frohen Augen sahen die Brüder den gedeckten, schnellsegelnden Kutter immer näher herankommen. Aber wie bitter sollten sie nachher enttäuscht werden, welche Leiden hatten sie noch zu bestehen, ehe sie schließlich durch ein anderes Schiff ihren Eltern in Batavia wieder zugeführt wurden. Jedenfalls gereichten die Schätze der gesunkenen Bark der Familie Merkel schließlich doch noch zum Segen und ermöglichten ihr die Rückkehr in die deutsche Heimat.

Wer von den Lesern gern Näheres über die weiteren Erlebnisse der Brüder auf dem Eiland erfahren möchte, der wird in einem der nächsten Bändchen dieser Sammlung alles Wissenswerte finden.

 

Ende.

 

Der nächste Band enthält:

Bill Tipperdey’s Geheimnis.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

 

Anmerkung:

  1. Fehlendes Wort „nicht“ ergänzt.