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Bill Tipperdey’s Geheimnis

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Bill Tipperdey’s Geheimnis.[1]

 

W. Belka.

 

„Laßt mich mit Eurem phantastischen Geschwätz in Ruhe, Mann!“ brummte der Gefängniswärter. „Ihr seid wahrhaftig nicht der erste, der mir goldene Berge verspricht, damit ich ihn entschlüpfen lasse. Die Angst vor der Verschickung nach der Sträflingskolonie der Andamanen hat schon manchen allerlei Märchen erfinden lassen. Eine ähnliche Geschichte, wie Ihr sie erzählt, hörte ich bereits mindestens ein Dutzend Mal. So viele Schiffe haben nie die Ozeane mit einer Goldladung im Raum befahren, um jedem Matrosen Gelegenheit zu geben, in den Besitz eines wertvollen Geheimnisses zu gelangen.“

„Möglich, daß andere Euch angelogen haben, – ich spreche die Wahrheit“, erwiderte Bill Tipperdey mit Nachdruck. „Seht Euch doch mal gefälligst meine Papiere durch, die im Bureau dieses verd… Steinkastens von Freiheitsberaubungsanstalt liegen dürften. Da werdet Ihr erkennen, daß ich tatsächlich im Mai des Jahres 1895 für die Bark „Australia“ in Melbourne angemustert worden bin. Und die „Australia“ hatte für gut zwei Millionen Goldbarren im Laderaum, die sie im Auftrage der Ballarat-Gold-Minen-Kompagnie hier nach Singapore bringen sollte. – Das, was ich sage, stimmt alles aufs Tüpfelchen – so wahr ich Bill Tipperdey heiße und mich rühmen kann, der einzige Überlebende des Goldschiffes zu sein. – Ihr zuckt ungläubig die Achseln?! Nun, so geht doch nach dem Hafenamt und laßt Euch die Liste der im Sommer 1895 verschollenen Seefahrzeuge vorlegen. Darunter werdet Ihr auch die „Australia“ finden. Mithin muß wohl was an meinem „Märchen“ daran sein, wie Ihr es zu nennen beliebt.“

Der Gefängniswärter, der sich schon angeschickt hatte die Zelle zu verlassen, blieb nun doch stehen und schaute den alten Matrosen mißtrauisch prüfend an. Dann meinte er mit kurzem Auflachen:

„Das mag schon alles stimmen mit der „Australia“ …! Aber Ihr werdet wahrscheinlich selbst nicht den Ort wissen, wo sie untergegangen ist. Sonst hättet Ihr doch längst das Gold auf irgend eine Weise herausgeholt, Mann! Leute, die das nötige Kapital zu einem solchen Unternehmen hergeben, findet man bald. Eure Geschichte hat also einen großen Haken, den Ihr nicht so leicht weglügen könnt.“

Trotz dieser halb spöttischen Redensarten merkte man dem Wärter an, daß Bill Tipperdeys Andeutungen über die Millionenschätze der „Australia“ hier doch auf einen Boden gefallen waren, der von Habgier nur zu stark gedüngt war. Andernfalls hätte der Gefängnisbeamte sich wohl kaum auf diese längere Auseinandersetzung mit dem Sträfling eingelassen, der wegen eines in der Trunkenheit begangenen Mordes zu lebenslänglicher Verschickung nach den Andamanen verurteilt worden war und mit dem nächsten Transport dahin gebracht werden sollte.

Der alte Matrose, der in einer Zelle zusammen mit einem zweiten Gefangenen hauste, dem das gleiche Schicksal bevorstand, war schlau genug um herauszufühlen, daß er schon halb gewonnenes Spiel habe. Und so entgegnete er denn:

„So – so, – also Leuten mit dem nötigen Kapital hätte ich mich anvertrauen sollen – was Ihr klug seid!! Teilen sollte ich …?! Ne, mein Lieber, so dumm ist der Bill Tipperdey nicht! Der hat all die Jahre gehofft, sich soviel zusammenzusparen, um sich einen kleinen Kutter zu kaufen, mit dem er die „Australia“ besuchen könnte. Aber der verd… Alkohol hat’s dazu nicht kommen lassen! Hatte ich ein paar Goldfüchse in der Tasche, so ruhte ich nie eher, bis sie durch die Gurgel gejagt waren! – Deshalb ist mein Geheimnis bis heute unbenutzt geblieben – nur deshalb!“

Der Gefängniswärter schien für diesen Grund volles Verständnis zu haben. Nachdenklich blickte er vor sich hin. Dann fragte er leise:

„Also genau wißt Ihr nicht die Stelle, wo das Goldschiff auf dem Meeresgrunde ruht? – Nun – dann ist es immer noch möglich, daß die Bark in so großer Tiefe liegt, daß man selbst mit einer Taucherausrüstung nicht zu ihr hinuntergelangen kann.“

Der Sträfling grinste überlegen.

„Ihr wollt mich ausholen, Mann …! Aber dazu hat der Bill denn doch zuviel Grütze im Kopf. – Bevor ich nicht frei bin, bekommt Ihr nichts Näheres zu hören. – Überlegt Euch die Sache und stellt hier in Singapore Nachforschungen an, ob ich die Geschichte von der „Australia“ wirklich erfunden habe.“

Der Beamte, ein hagerer Mensch in mittleren Jahren, nickte gedankenvoll und verließ die Zelle.

Als die beiden Gefangenen allein waren, wandte sich Bill Tipperdey an seinen Gefährten und sagte augenzwinkernd:

„Wetten, Brunner, daß der anbeißt?! – Und – sollte aus der Sache was werden, so nehmen wir Sie mit, schon damit Sie reinen Mund halten.“

Der zweite Zelleninsasse schaute gleichgültig weiter auf die graugestrichene Gefängniswand. In seinen Augen lag ein Ausdruck trostlosester Verzweiflung, um seinen Mund waren die Falten schwerer Seelenkämpfe eingegraben. Er war noch jung, vielleicht 25 Jahre, und sein Gesicht wies edle, offene Züge auf. Einen größeren Gegensatz als den verkommenen Matrosen und den jungen Deutschen konnte man sich kaum denken.

Bill schüttelte jetzt unzufrieden den Kopf.

„Brunner – so reden Sie doch, zum Henker, ein Wort! Freut es Sie denn gar nicht, daß Ihnen die Aussicht winkt, vielleicht schon in nächster Zeit entweichen zu können?! Wenn Sie wirklich unschuldig sind und das Geld Ihrer Bank nicht gestohlen haben, so müßten Sie doch eigentlich bis an die Decke springen, daß Sie die Andamanen wahrscheinlich gar nicht zu sehen bekommen werden!“

Wilhelm Brunner hob wie abwehrend die Hand.

„Ich bin unschuldig! Und wenn ich mich dazu verstehe, mit Ihnen zusammen zu fliehen, so tue ich es nur, um weiter an meiner neuen Lebensaufgabe arbeiten zu können: für meine Schuldlosigkeit die Beweise herbeischaffen!“

– – – – – – – –

Drei Tage später brachten die Zeitungen der Hafenstadt Singapore eine längere Notiz, in der ausführlich die Flucht zweier zur Verschickung nach den Andamanen verurteilten Verbrecher behandelt war. Auffallenderweise hatte einer der Gefängniswärter mit den Sträflingen gemeinsame Sache gemacht.

Dieser Tom Hawkins, der von seinen Vorgesetzten nicht gerade sehr geschätzt wurde, war bei der Befreiung der beiden mit größter Schlauheit vorgegangen und hatte auch alle Vorbereitungen zur Fortsetzung der Flucht so geschickt getroffen, daß es der Polizei nicht gelang, irgend eine Spur der Entwichenen zu entdecken.

– – – – – – – –

Zwei Monate darauf kreuzte ein gedeckter, etwa 12 Meter langer Kutter mit langen Schlägen in jenem buchtartigen Teile des Indischen Ozeans, der im Norden von den Sunda-Inseln und im Süden von der Nordwestküste Australiens begrenzt wird.

Am Steuer saß ein braungebrannter Matrose mit grauem Schifferbart und einer verdächtig blau-rot schimmernden Nase. Neben ihm lag ein Fernrohr, das er von Zeit zu Zeit an die Augen führte, um damit den südlichen Horizont zu mustern.

Der Matrose war kein anderer als Bill Tipperdey, der entsprungene Mörder, und der Kutter suchte, seit einer Woche in diesem Teile des Indischen Ozeans kreuzend, nach der untergegangenen „Australia.“

Jetzt trat eine zweite Männergestalt aus der Tür der kleinen Kajüte heraus, stieg die Treppe zum Deck empor und reichte dem Alten eine mit dampfendem Essen gefüllte Schüssel.

„Wirst da wieder was Rechtes zusammengekocht haben, Tom“, brummte der Alte, der sich offenbar in sehr schlechter Laune befand.

„Ich koche schlecht, und Du steuerst schlecht, da Du das große Felsenriff, an dem die „Australia“ gesunken sein soll, noch immer nicht gefunden hast. Wir haben uns also gegenseitig nichts vorzuwerfen“, erwiderte Tom Hawkins, der frühere Wärter des Gefängnisses in Singapore, nicht minder mürrisch.

„Soll – soll!! Was heißt das: gesunken sein „soll“!!“ polterte der Matrose los. „Glaubst Du mir noch immer nicht? – Ich sage Dir, es ist die volle Wahrheit, daß uns damals der Sturm aus der Alsuren-See auf dem Wege von Melbourne nach Singapore weit nach Westen verschlug und daß das Goldschiff schließlich in einer furchtbaren Gewitternacht auf ein Riff auflief und zu sinken begann, so daß wir schleunigst die Boote zu Wasser bringen mußten. Gerade als wir von der „Australia“, die schon ganz schräg lag und durch ein Riesenleck auf Steuerbordseite Wasser schluckte wie ein Maat, der eine Woche keinen Rum zu sehen gekriegt hat, abzustoßen versuchten, wobei das andere Boot kenterte und die Leute darin wie die Ratten elend ertrinken mußten, zerriß ein ungeheurer Blitz den pechschwarzen Himmel und zeigte uns ein kleines, kahles Felseneiland in nächster Nähe, aus dem so ein merkwürdiges Ding von Berg herauswuchs. Und an diesem Berge würde ich das Felseninselchen sicher wieder erkennen. Er sah aus wie ein riesiger Gasbehälter aus Stein. – Und ebenso wahr ist es, daß unser Boot zehn Tage in einer Windstille bei schrecklicher Hitze umhertrieb und von den Insassen einer nach dem andern vor Durst umkam, bis ich als einziger, freilich auch eine halbe Leiche, von einem Dampfer aufgenommen wurde. Vor dem Seeamt in Batavia habe ich dann schlauerweise die Wahrheit über den Untergang der „Australia“ für mich behalten und ausgesagt, ein großer Dreimaster hätte uns bei jenem Gewitter in den Grund gebohrt. – Daß dies alles den Tatsachen entspricht, Tom Hawkins, versicherte ich Dir schon einmal bei dem Andenken meiner Mutter! Und dies ist bei mir mehr wert als der längste Schwur.“

Der hagere Tom nickte mißmutig.

„Glaub’s Dir ja auch, Bill. Daß man ungeduldig wird, kannst Du einem kaum verargen. Ein Vergnügen ist das Leben auf dieser Nußschale von Boot nicht gerade, besonders wo wir noch auf den verd… Deutschen immer ein wachsames Auge haben müssen. Dieser Mann mit seiner widerlichen Ehrlichkeit ist eine böse Last für uns. Er geriet ja rein aus dem Häuschen, als wir ihm erzählten, daß wir diesen Kutter nicht etwa gekauft, sondern … weggefunden haben. Der Kerl ist wahrhaftig ein richtiger Strohkopf. Uns zu drohen, daß er mit uns „Dieben“ nicht länger zusammenbleiben und daß er sich freiwillig den Behörden wieder stellen wolle – lächerlich!! Nun ist er hier wieder so halber Gefangener. Das hat er davon. Ich wünschte, den Menschen suchte sich mal ein Haifisch zum Frühstück aus.“

Bei den letzten Worten nahm er das Fernrohr zur Hand und blickte lange hindurch, indem er der Horizontlinie folgte.

Plötzlich sagte er sichtlich erregt:

„Bill, – vielleicht täusche ich mich. Aber dort rechts von jener tiefstehenden, kleinen Wolke sehe ich so etwas wie einen dunklen Fleck auf der See.“

Bill Tipperdey riß ihm förmlich das Glas aus den Fingern.

„Her damit, alte Landratte … Mit Deinen Augen wird’s kaum besser bestellt sein wie mit Deiner Kochkunst.“

Eine Weile blickte er scharf nach der angegebenen Richtung hin. Dann brüllte er förmlich:

„Tom, alter Sträflingswächter, – es ist das Eiland – ohne Frage!! Wir haben’s gefunden – endlich – endlich! – Hol’ mir mal schleunigst die angebrochene Rumflasche heraus! Die Sache muß begossen werden!“ – –

Eine Stunde später hatte der Kutter sich dem Inselchen von Norden her bis auf eine halbe Seemeile (925 Meter) genähert.

Bill Tipperdey stand jetzt aufrecht am Steuer, das Glas wieder an den Augen.

Mit einem Male stieß er eine laute Verwünschung aus.

„Ich sehe zwei Menschen auf den kahlen Felsen … Zum Henker, was treiben die da?! Hoffentlich sind’s nur Schiffbrüchige, die von der „Australia“ keine Ahnung haben …! Das wäre ein schlechter Spaß, wenn womöglich andere uns schon zuvorgekommen wären und die Schätze geborgen hätten, die wir uns selbst aneignen wollen. Na – wir werden ja sehen! Sind’s nur zwei, so brauchen wir uns nicht weiter zu sorgen. Mit denen werden wir schon fertig. Um Goldbarren im Werte von Millionen kommt es mir auf einen Messerstich nicht an!“

Mit gerefften Segeln ließ der Matrose den Kutter bis auf hundert Meter an die Küste des Inselchens heranlaufen, wendete dann, fuhr parallel zum Strande entlang und rief den beiden Männern, die von dem Eiland freudig herüberwinkten, zu, ob es hier nicht so etwas wie eine geschützte Bucht gebe, in der man vor Anker gehen könne.

Es war eine jugendliche, helle Stimme, die durch die zum Sprachrohr geformten Hände zurückbrüllte:

„Im Osten liegt die Einfahrt zu einem natürlichen Hafen …!!“

Bill Tipperdey hob die Hand zum Zeichen, daß er verstanden habe, brachte den Kutter wieder in den Wind und steuerte nach Westen zu um das riesige Felsenriff herum. Hier gab es vor der Küste eine langgestreckte Klippenreihe, über die die Wellen schäumend hinwegrauschten. Diese Barriere bildete gleichsam den Wellenbrecher für den Eingang zu einer fast kreisrunden, stillen Bucht, in die der Kutter nun, geführt von des Alten kundiger Hand, hineinlief.

Inzwischen hatten die beiden Abenteurer zu ihrer großen Beruhigung bereits gesehen, daß sie es nicht mit zwei erwachsenen Männern, sondern nur mit langaufgeschossenen, eben erst dem Kindesalter entwachsenen Knaben zu tun hatten. Sonst war auf den öden Felsen kein Mensch zu erblicken. Die einzigen Lebewesen, die sie noch bevölkerten, waren Scharen von Seevögeln, die hier nisteten, darunter viele Pinguine und Möwen aller Art.

Die Knaben standen jetzt am Südufer der runden Bucht und bedeuteten den Insassen des Segelbootes durch Zeichen, an dieser Stelle zu landen, die in der Tat hierzu sehr geeignet war.

Nachdem der Kutter festgemacht war, wobei die Jungen eifrig halfen, sprang Bill Tipperdey als erster an Land. Mißtrauisch hatte er schon vorher bemerkt, daß die Knaben eine hübsche Jolle besaßen, die sie hier ein Stück weiter auf die Felsen gezogen hatten. Jetzt tat er aber sehr freundlich, schüttelte den beiden kräftig die Hand und stellte allerlei Fragen, die teilnehmend klingen sollten, aus denen aber doch deutlich auch allerlei anderes herauszuhören war.

Die Knaben, zwei Brüder namens Ernst und Karl Merkel, hatten zur Besatzung eines kleinen, für Perlenmuschelfischerei ausgerüsteten Schoners gehört, der vor zwei Monaten auf der Fahrt nach den Perlenbänken der Melville-Insel im Norden Australiens von einem furchtbaren Geschick heimgesucht worden war, indem gleich nach der Abreise aus dem Hafen von Koepang auf der Insel Timor (zu den Sunda-Inseln gehörig) an Bord die Beulenpest ausbrach und die ganze Besatzung bis auf die beiden Schiffsjungen, die Brüder Merkel, hinwegraffte. Der Schoner „Marie“ war schließlich auf der Riffbarriere gestrandet, aber bald von einem Sturm zerstört worden. Vorher hatten die Knaben jedoch mancherlei Dinge aus dem Wrack mit der Jolle auf das Eiland hinüberschaffen können, so daß sie bisher nicht Not gelitten und es in ihrer an der Nordseite des Berges gelegenen, selbsterbauten Hütte ganz behaglich gehabt hatten. – –

Dies war es, was Bill Tipperdey zunächst von den Brüdern, die die Söhne eines nach Batavia ausgewanderten deutschen Handwerkers waren, in Erfahrung brachte.

Inzwischen hatte sich auch Hawkins der kleinen Gruppe zugesellt. – Der alte Matrose hielt sich nun für verpflichtet, den beiden Jungen ebenfalls zu erklären, wie es käme, daß der Kutter sich hier so weit ab von jeder Küste auf dem Indischen Ozean umhertriebe. Er entledigte sich dieser Aufgabe in sehr einfacher Weise, indem er erzählte, sie seien Angestellte einer an der Südküste der Insel Sumba (Sandelholz-Insel, zur Sundagruppe gehörig) gelegenen Plantage, die ein Orkan nach Süden verschlagen habe. – Dies hielt er den Knaben gegenüber für völlig genügend. In seiner Annahme, mit ihnen nicht viel Umstände machen zu brauchen, irrte er sich jedoch recht sehr. Besonders Ernst Merkel, der ältere der Brüder, ein kräftiger, geistig sehr reger Bursche, merkte sofort, daß dieser so verkommen aussehende alte Matrose mit der Wahrheit hinter dem Berge halte. Diese Ansicht verstärkte sich noch bei ihm, als Bill Tipperdey dann auf seine Frage, weshalb der Kutter denn nicht nach Abflauen des Orkanes nördlichen Kurs eingeschlagen habe, um die Insel Sumba wieder zu erreichen, unwirsch entgegnete, der Kompaß des Kutters sei in Unordnung geraten und daher hätten sie gerade die falsche Richtung eingeschlagen. Diese Ausrede war so durchsichtig, daß Ernst Merkel nun bestimmt wußte, woran er mit den Fremden war, die ohnedies einen recht fragwürdigen Eindruck machten. Er ließ sich jedoch nichts merken, nahm aber die erste Gelegenheit wahr, um seinem Bruder etwas heimlich zuzuflüstern, worauf dieser nach einer Weile erklärte, er wolle jetzt nach ihrer Hütte vorauseilen, um für die neuen Ankömmlinge eine gute Mahlzeit zuzubereiten.

Bill Tipperdey hatte hiergegen nichts einzuwenden, meinte aber, sein Gefährte Hawkins müsse leider an Bord des Kutters zurückbleiben, da sie noch einen dritten Mann bei sich hätten, der krank im Vorschiff in einem Verschlage liege und sehr der Pflege bedürfe.

Diese Begründung dafür, daß Hawkins nicht mit nach der Hütte kommen würde, klang wieder so unsicher und zögernd, als ob sich auch hier der alte Matrose einer faustdicken Lüge schuldig mache. Kein Wunder, wenn der ältere der Brüder unter diesen Umständen sich vornahm, möglichst auf seiner Hut zu sein, da die beiden Fremden offenbar nicht das geringste Vertrauen verdienten.

Er führte nun Bill Tipperdey allein nach der Hütte, die aus Steinen erbaut und mit einem Segel als Dach versehen war.

Der Alte besichtigte alles sehr genau, lobte den praktischen Sinn der Knaben und äußerte wiederholt sein Erstaunen darüber, daß es ihnen gelungen war, aus dem Wrack des Perlenschoners so viele ihnen höchst nützliche Gegenstände und auch eine derartige Menge Proviant zu bergen.

„Du hast mir doch vorhin erzählt, mein Junge“, meinte er mit aller ihm zu Gebote stehenden Freundlichkeit, „daß der Schoner bald nach Eurer Landung hier auf dem Eiland durch den Sturm zertrümmert worden sei. Da ist es doch merkwürdig, welche Menge von Dingen Ihr noch habt retten können.“

Ernst fühlte, daß der Matrose einen unbestimmten Argwohn gefaßt habe, die Schilderung des Untergangs der „Marie“ könnte in einigen Punkten nicht ganz stimmen.

Er hatte nun aber das größte Interesse daran, den verdächtig nach Alkohol duftenden Tipperdey auf keinen Fall mißtrauisch zu machen. Und so erwiderte er gelassen:

„Sie vergessen, daß der Schoner in zwei Teile auseinandergebrochen ist. Das Vorschiff liegt bei Ebbe kaum ein Meter unter dem Wasserspiegel, und deshalb konnten wir durch Tauchen die meisten dieser Gegenstände, die hier in unserem Vorratsanbau aufgehäuft sind, für uns herausholen.“

Der Alte gab sich mit dieser Antwort zufrieden, blieb aber noch immer in dem Vorratsraum, der sich neben der Hütte befand, stehen und musterte die einzelnen Sachen mit prüfenden Blicken.

„Hm, mein Junge“, begann er dann wieder und zeigte auf einige größere Gegenstände, die im Hintergrunde standen und mit einem Segel zugedeckt waren, „was ist denn das da unter dem Stück Leinwand? Sieht nach den Umrissen so aus wie ’ne Art Pumpe.“

Ernst Merkel klopfte das Herz bis zum Halse hinauf. Von den nächsten Minuten hing es ab, ob sein und seines Bruders Geheimnis sich vor den beiden fragwürdigen Abenteurern würde verbergen lassen oder ob sie es preisgeben müßten.

„Es ist auch eine Pumpe, und zwar eine abschraubbare, um den Kielraum des Schoners von Wasser freimachen zu können“, erwiderte er möglichst gleichgültig. „Eigentlich war’s ja von uns eine höchst überflüssige Arbeit, das Ding zu bergen.“

Bill Tipperdey nickte zerstreut und trat aus dem kleinen Vorratsanbau wieder ins Freie, wo der jüngere der Brüder inzwischen auf einen aus Planken zusammengeschlagenen Tisch ein wirklich appetitlich duftendes Essen aufgetragen hatte, dem der Alte nun mit Heißhunger alle Ehre antat. Er und die Brüder saßen sich dabei auf Holzschemeln gegenüber, die aus dem Mannschaftslogis des Schoners stammten. Während der Mahlzeit fragte Tipperdey noch so mancherlei. Besonderes Interesse zeigte er dafür, in welcher Weise der Besitzer der „Marie“, ein Kapitän namens Steffen, die Perlmuschelfischerei auszuüben sich vorgenommen und ob er vielleicht Taucherausrüstungen mit an Bord gehabt hätte. Worauf der ältere Merkel entgegnete, dies wisse er nicht. Er und sein Bruder seien nur Schiffsjungen, und denen vertraue ein Kapitän über seine Pläne nichts an. – Nach einer Weile wieder meinte der Alte, ob sie in der Nähe des winzigen Felseneilandes vielleicht noch ein anderes Wrack bemerkt hätten. Er erinnere sich, daß man ihm mal in Singapore erzählt habe, ein großer Passagierdampfer sei in diesem Teile des Indischen Ozeans auf Riffen gescheitert, die in der Nähe eines Inselchens mit einem seltsam geformten Berge darauf liegen sollten. – Abermals erhielt er von Ernst eine verneinende Antwort. Von einem zweiten Wrack hätten sie noch keine Spur gefunden.

Sehr bald verabschiedete Bill Tipperdey sich nun, zumal die Sonne längst untergegangen war und die Dämmerung stark zunahm.

Auf dem Rückwege nach dem Kutter machte ihn der ältere der Brüder, der überhaupt die Unterhaltung fast allein führte, auf die merkwürdige Gestalt des Felseneilandes aufmerksam, die etwa der eines Hufeisens entsprach, dessen Öffnung, die Einfahrt in die runde Bucht, nach Osten gerichtet war. Der Einfahrt gegenüber lag wieder der steile Berg, dessen Westseite tief in die See abfiel und von den Wogen bespült wurde. Des Alten Frage, ob man den Berg auch ersteigen könne, beantwortete Ernst dahin, daß er und sein Bruder es wohl versucht, aber sehr bald die Unmöglichkeit dieses Vorhabens eingesehen hätten.

Der riesige Felsblock aus grauschwarzem Granit wuchs in der Tat wie eine ungeheure Steinwalze aus den Felsmassen des Eilandes heraus, war gut 18 Meter hoch und besaß mindestens einen ebenso großen Durchmesser. Aus einiger Entfernung gesehen wirkte er wie ein alter Wachtturm ohne Zinnen. Jedenfalls hatte die Natur in ihm für das Inselchen ein Wahrzeichen geschaffen, wie es eigenartiger kaum sein konnte.

Nachdem die Brüder den alten Matrosen bis zu der Liegestelle des Kutters begleitet hatten, verabschiedeten sie sich und kehrten zu ihrer Hütte zurück. Mittlerweile hatten sich bereits die Schatten der Nacht über das einsame Felseneiland herabgesenkt. Der Himmel war mit leichten Wolkenschleiern bedeckt, die die Sterne neidisch verhüllten. Die Dunkelheit nahm schnell zu. In der Hütte der Knaben brannte jetzt eine Schiffslampe, die sie ebenfalls aus dem Schoner geborgen hatten. Leise unterhielten sie sich, auf den Holzschemeln sitzend, über die Ereignisse des Tages.

Ernst verhehlte dem Bruder nicht, daß er Tipperdey und Hawkins für alles andere nur nicht für harmlose Angestellte einer Plantage halte. Nachdem er ihm alles mitgeteilt hatte, was ihm an den Fremden verdächtig vorgekommen war, fügte er hinzu:

„Es ist unbedingt nötig, daß wir uns über die Absichten Klarheit verschaffen, die diese Leute hier nach unserem Inselchen geführt haben. An den Orkan glaube ich nicht, der sie angeblich gegen ihren Willen schließlich hier landen ließ. Du weißt, was für uns auf dem Spiel steht. Ich werde daher die Oberkleider jetzt ablegen und mich schwimmend dem Kutter mit aller Vorsicht nähern, den der Alte, wie wir gesehen haben, für die Nacht mitten in der Bucht vor Anker gelegt hat. Vielleicht gelingt es mir, die Leute zu belauschen. Zu gern möchte ich auch herausbekommen, wer eigentlich der dritte Mann ist, den sie noch an Bord haben und der so schwer krank sein soll, daß Hawkins ihn betreuen muß. Du siehst, diese Fremden umgibt irgendein Geheimnis, das aufzuklären schon deshalb nötig ist, damit wir unser eigenes bewahren können. Umsonst haben wir nicht mit solcher Ausdauer und solchem Wagemut allerlei Gefahren getrotzt, um uns die Früchte unserer Arbeit von diesen Menschen, die sicherlich zu jedem Verbrechen fähig sind, wenn ihre Habgier erst geweckt ist, entreißen zu lassen.“ – –

Gleich darauf verließen die Brüder die Hütte wieder und schlichen zum Ufer der Bucht hinab. Der Kutter war nur als dunkler Fleck auf dem Wasserspiegel zu erkennen. In seiner Kajüte schien Licht zu brennen. Ein heller Schimmer drang durch die Oberlichtfenster nach außen, der deutlicher zu bemerken war, wenn das vor seinem Anker leicht schaukelnde Fahrzeug sich nach der Richtung überneigte, wo die Knaben standen.

– – – – – – – –

Tipperdey und Hawkins saßen nebeneinander auf der Steuerbank, rauchten ihre kurzen Pfeifen und unterhielten sich. Der Alte hatte neben sich eine Rumflasche stehen, der er eifrig zusprach. Auch der frühere Gefängniswärter nahm hin und wieder einen Schluck.

Erst hatten sie mit gedämpften Stimmen gesprochen. Bald waren sie aber des Flüsterns überdrüssig geworden. Weshalb auch leise reden?! Bis zu der Hütte, wo die beiden jungen Burschen jetzt sicherlich schon fest schliefen, drangen ihre Worte ja auf keinen Fall. Und ihr Gefangener im Vorschiff, der mochte ruhig hören, was sie verhandelten. Aber auch diese Möglichkeit war sehr gering. Der Verschlag, in den sie ihn eingesperrt hatten, lag ganz vorn noch ein Stück vor der Vorderluke, deren Deckel geschlossen war. Mithin war kaum anzunehmen, daß ihre Stimmen ihm vernehmlich wurden. –

Bill Tipperdey lachte eben spöttisch vor sich hin.

„Gleich morgen früh müssen die Jungen zu dem Wrack des Schoners hinabtauchen und zusehen, ob sich im Laderaum vielleicht ein Taucherapparat befindet“, meinte er. „Ersäuft einer von ihnen dabei, so ist’s kein Unglück. Aber die Gefahr besteht kaum. Haben sie doch aus dem zerbrochenen Schoner für sich allerlei Sachen herausgeholt und dadurch bewiesen, daß sie als Taucher sehr gut zu brauchen sind.“

„Und wie denkst Du Dir die weitere Entwicklung der Angelegenheit, Bill?“ fragte Hawkins laut gähnend.

„Das hängt davon ab, alte verschlafene Landratte, ob wir hier in dem Wrack eine vollständige Taucherausrüstung entdecken und durch die Jungen an Land befördern lassen können. Führte der Schoner nichts dergleichen mit sich, so müssen wir uns anderswo erst eine beschaffen. Ich denke, wir werden so einen Apparat, den wir ja notwendig brauchen, schon bei irgend einer Perlenbank ebenso wegfinden können wie unseren Kutter. Nur geschickt muß man’s anfangen. Während der Zeit unserer Abwesenheit lassen wir die Jungen ruhig hier. Ich werde ihnen schon irgend ein Märchen aufbinden, weshalb wir sie nicht gleich mitnehmen. Unbequem wird uns nur der Deutsche werden. Ihn fortwährend als Gefangenen mit herumschleppen zu müssen, geht kaum an. Am besten ist, wir setzen ihn aus. Ich kenne da südlich von Timor eine kleine Insel, nach der sich höchst selten ein Schiff hinverirrt. Dort mag er die Seevögel und das andere Getier, das da haust, zu seiner Ehrlichkeit bekehren, der Narr!!“

Ganz eingehend setzte Bill Tipperdey weiterhin seinem Genossen seine Pläne auseinander, – ahnungslos, daß dicht unter ihnen ein menschlicher Kopf aus dem Wasser herausragte und daß ein menschlicher Arm ein Stück Tau umschlungen hielt, welches vom Flaggenstock am Heck herabhing.

Auf diese Weise hielt Ernst Merkel sich über Wasser. Kein Wort entging ihm, das zwischen den beiden Verbrechern gewechselt wurde.

Jetzt erhob Tom Hawkins sich, reckte sich und sagte abermals laut gähnend:

„Ich bin hundemüde … Gehen wir schlafen. Für morgen haben wir ja viel vor. – Komm’, Bill, die Flasche ist leer.“

Gleich darauf verschwanden beide unter Deck, und bald tönte ein wenig harmonisches Schnarchkonzert durch die offen gelassene Kajütentür in die stille Nacht hinaus.

Der Alte, seit Jahren als Seemann daran gewöhnt auch ohne Wecker zu jeder gewünschten Stunde aufzuwachen, wurde zuerst munter, versetzte seinem Genossen einen liebevollen Rippenstoß, kletterte an Deck, steckte den Kopf in einen Eimer Wasser und war im Handumdrehen mit seiner morgendlichen Körperpflege fertig. Bei Tom Hawkins dauerte dies etwas länger.

Während dieser dann Kaffee auf dem kleinen Herde der Kombüse wärmte, stapfte Bill nach vorne, öffnete die Luke des Vorschiffes und dann auch die Tür des Verschlages, in den die beiden Abenteurer den jungen Kaufmann eingesperrt hatten. Diese Tür war mit zwei festen, eisernen Riegeln von außen verschlossen. Der Alte hatte sie mit starker Faust zurückgeschoben und rief nun in die dunkle Kammer, die kaum eineinhalb Meter hoch war, hinein:

„Morgen, verehrtester Verfechter der Ehrlichkeit! Wünsche gut geruht zu haben! – Ihr dürft Euch jetzt so ein wenig oben bewegen, damit Eure Knochen wieder geschmeidig werden. Aber – keine Dummheiten, mein Lieber! Ihr wißt, ich habe stets meine sechsschüssige Knallbüchse in der Tasche und blase Euch damit erbarmungslos ein Loch durch den Schädel, wenn Ihr etwa zu entfliehen sucht. – Raus also aus dem Loch, Kollege Brunner …! – – Na nu – der Mensch meldet sich nicht? Nichts rührt sich …? – Ich muß doch mal ein Zündholz anreiben. Die Sache kommt mir verdächtig vor …“

Ein kleines Flämmchen blitzte auf. Sein Schein genügte, um Tipperdey erkennen zu lassen, daß der Verschlag leer war. Nur die Kokosmatten lagen noch auf dem Boden, die Brunner als Bett gedient hatten.

Wenige Minuten später war die Flucht des jungen Deutschen eine für die beiden Abenteurer nicht mehr anzuzweifelnde Tatsache. Wie der Entflohene sein Entkommen aber möglich gemacht hatte, blieb selbst dem schlauen Tipperdey zunächst ein Rätsel.

Dann machte ihn Hawkins auf das Fehlen der Jolle der Brüder Merkel aufmerksam, die noch am Abend, als man den Kutter mehr nach der Mitte der Bucht zu verankert hatte, auf dem Trockenen gelegen hatte und aus der der vorsichtige Alte, damit das kleine Boot nicht benutzt werden könne, die Ruder heraus genommen und an Bord des Kutters gebracht hatte.

Bill Tipperdey schwante Böses. – Sollten etwa die Jungen zusammen mit ihrem Landsmann, den sie vorher befreit haben konnten, in der Jolle das Eiland verlassen haben …!? Das wäre zwar ein recht bedenkliches Wagnis gewesen. Aber – die Burschen schienen Schneid zu besitzen, und da konnte man ihnen vielleicht auch dieses zutrauen.

Eilig ließ der Alte den Kutter nun dicht an die Anlegestelle laufen, verankerte ihn hier aufs neue und sprang dann an Land. Hawkins sollte inzwischen an Bord bleiben und auf das Fahrzeug achtgeben.

Tipperdey fand die Hütte leer. Und schnell genug hatte er sich davon überzeugt, daß die Brüder tatsächlich entflohen waren, natürlich gemeinsam mit Brunner, den sie aus dem Verschlag herausgelassen hatten. Anders ließ sich die Sache nicht erklären. Selbst ihre Vorräte hatten die Burschen mitgenommen. Der Anbau der Hütte war jetzt wie ausgefegt.

Der Alte schüttelte immer wieder den Kopf. Verd… noch mal – all diese Dinge konnten die gerissenen Jungen, die er leider allzu gering eingeschätzt hatte, doch nicht in der Jolle verstaut haben?! – vielleicht hatten sie den größeren Teil davon auch irgendwo versteckt oder gar ins Wasser geworfen …!

Nochmals suchte Bill, seine Schritte durch allerlei kräftige Segenswünsche für die Flüchtlinge begleitend, das kleine Eiland genau ab. Doch an der Sache ließ sich nichts ändern: die drei waren verschwunden, und mit ihnen die Jolle und alle Dinge, die einigen Wert besaßen.

Tipperdey rief nun auch Hawkins an Land, der das Fernrohr mitbringen mußte.

„Wollen mal zusehen, ob wir nicht doch den Berg ersteigen können“, meinte der Alte. „Von da oben haben wir eine weite Fernsicht. Vielleicht erspähen wir das Boot noch irgendwo.“

Diese Hoffnung ging nun allerdings nicht in Erfüllung. Sehr bald merkten sie, daß der dunkle Felskoloß niemandem gestattete, seine flache Spitze zu erklimmen. Seine steilen Wände glichen wirklich senkrechten Turmmauern und boten an keiner Stelle Händen und Füßen auch nur den geringsten Halt.

Bill Tipperdey befand sich in einer Laune, die kaum schlechter sein konnte. Natürlich hatten die Burschen noch ein zweites Paar Ruder gehabt …! Und wenn es den dreien nun gelang, irgendwo an einer bewohnten Küste zu landen oder einem Schiffe zu begegnen, das sie aufnahm, so konnten sich daraus für ihn und Hawkins die unangenehmsten Folgen ergeben.

Man kann sich daher die Freude des Alten vorstellen, als kaum eine Stunde später von Osten her ein Unwetter heraufzog, das sich schnell zu einem gefährlichen Orkane steigerte. Grinsend erklärte Bill um die Mittagszeit, daß die Jolle diesem Aufruhr der Elemente unzweifelhaft zum Opfer fallen werde. – „So sind wir auf die einfachste Art und Weise die lästige Gesellschaft losgeworden“, fügte er befriedigt hinzu.

Der Sturm hielt bis zum Abend an. Am nächsten Morgen hatte sich das Meer aber wieder völlig beruhigt. Vom klaren Himmel strahlte die Sonne herab, und nur ein schwacher Südwest ließ bescheidene Wellen gegen die Riffbarriere anlaufen.

Dieses günstige Wetter benutzte Tipperdey dazu, nach dem Wrack der „Australia“ zu suchen, indem er den Kutter langsam um das Eiland steuerte und sich dabei die Ereignisse wieder vergegenwärtigte, die sich in jener Nacht abgespielt hatten, als das Goldschiff den Riffen zum Opfer fiel. Aus der damaligen Windrichtung und anderen Tatsachen kam er zu der Überzeugung, daß die „Australia“ auf das nördlichste der Riffe aufgelaufen und dann mit dem schweren Leck noch etwa bis an die Westseite des Inselchens getrieben sein müsse.

Seine Berechnung stellte sich sehr bald als richtig heraus. In dem klaren Wasser, etwa 150 Meter von der Westseite des Berges entfernt, entdeckte er mit seinen scharfen Seemannsaugen, die selbst der Alkohol nicht hatte verderben können, die Mastspitzen eines Segelschiffes, die ziemlich dicht unter der Oberfläche lagen.

Es konnte nur die „Australia“ sein. Und Bill Tipperdey feierte diesen glücklichen Fund durch eine frische Flasche Rum, die Hawking schleunigst entkorken mußte.

Bei genauem Hinsehen konnte man auf dem Grunde auch die dunkleren Umrisse der Bark erkennen, die parallel zur Küste in vielleicht 15 Meter Tiefe lag. Mit Hilfe eines Taucheranzuges mußte es also ein leichtes sein, die Goldbarren herauszuholen.

Nachher steuerte der Alte den Kutter dann noch nach den Riffen, wo er auch nach kurzem Suchen das abgebrochene, in flachem Wasser liegende Vorschiff des Schoners fand. Da jedoch weder Bill noch Hawkins sich getrauten, in das Wrack der „Marie“ hinabzutauchen und dort nach vielleicht vorhandenen Skaphander-Apparaten (Taucher-Ausrüstung) den jetzt offenen Laderaum abzutasten, beschlossen sie nach kurzer Beratung, sofort die nächsten Perlmuschelgründe anzulaufen, um sich dort von Bord eines der Perlenfischerlogger einen solchen Apparat „wegzufinden“ – wenn nicht anders, dann mit Gewalt.

So kam es, daß der Kutter gegen Mittag das kleine Eiland mit nördlichem Kurse wieder verließ und daß kaum eine halbe Stunde später sein weißes Segel unter dem Horizont verschwand.

Einsam lag die grauschwarze, hufeisenförmige Felsmasse des Inselchens nun wieder da. Kreischend flogen die Möwen und Albatrosse in Scharen hin und her, während die Pinguine ihre Taucherkünste im Wasser bewiesen, andere wieder über das Steingeröll hinweg sich jagten und hierbei oft genug mit ihren kurzen Füßen und aufrechten Leibern stolperten und der Länge nach hinfielen.

Auffallend war, daß die graziös einherschwebenden Seevögel fast ängstlich die flache Spitze des Berges vermieden und sich dort nie zu kurzer Rast niederließen, obwohl große, helle Flecke von Vogeldünger bewiesen, daß der Felskoloß früher als Ruheplatz bei ihnen recht beliebt gewesen sein mußte. Kam eine Möwe oder ein Albatros[2] wirklich einmal der Bergspitze nahe, so bog er stets in kurzem Bogen wieder zur Seite ab. Dort oben war also ohne Frage irgend etwas vorhanden, das die Tiere erschreckte.

Und wirklich, – jetzt richtete sich am Rande des steilabfallenden Felsenturmes eine menschliche Gestalt auf, die bisher lang ausgestreckt dagelegen und mit den Augen den sich immer mehr entfernenden Kutter verfolgt hatte.

Es war kein anderer als Ernst Merkel. Vorsichtig drehte er sich nun auf dem gerade hier sehr schmalen Felsringe, den die Spitze des innen kraterähnlich ausgehöhlten Berges bildete, um und rief zwei anderen Gestalten, die tief unter ihm gerade mit dem Aufschichten von Steinen zu einer Hütte beschäftigt waren, mit lauter Stimme zu:

„Der Kutter ist verschwunden! Vorläufig können wir uns also wieder frei auf dem Eiland bewegen.“

Dann schritt er um den runden Bergrand herum bis nach der östlichen Seite hin, wo das Gestein sich in unregelmäßigen, kleinen Terrassen abwärts senkte. Diese Terrassen wurden immer niedriger. Die unterste wurde von den Wassern bespült, die den Boden des Kraters fast genau zur Hälfte in einen stillen Teich verwandelten, der bei halbkreisförmiger Gestalt mit seinem Durchmesser fast genau von Norden nach Süden ging. Im Gegensatz zu der Ostwand des Kraters fiel die westliche ziemlich steil ab und schien recht tief hinabzureichen. Das Wasser zeigte die Farbe des Meerwassers, war klar und durchsichtig und ließ die Steine und Felsstücke am Grunde des Beckens, das schnell nach der Westwand zu sich senkte, deutlich erkennen, zumal die Sonne jetzt gerade in den hohlen Berg hineinschien.

Dieser Krater bot aber auch in anderer Beziehung ein eigenartiges Bild dar. Während auf dem Eiland selbst weder Baum noch Strauch wuchsen und nur hier und da Moose und Flechten die Felsen mit graugrünen Polstern überzogen, hatte sich auf den Terrassen des Berginnern eine bescheidene Vegetation entwickelt, deren erste Samenkörner sicherlich durch Vögel hierher verschleppt waren und die dann auf dem mehr zermürbten, mit Vogeldünger durchsetzten Gestein allmählich weitergedieh.

Außer verschiedenen Gräsern in einzelnen Büscheln gab es hier auf den untersten Terrassen und sogar noch teilweise im Wasser stehend, ein reichliches Dutzend jener eigenartigen Bäume, die Coccolaba oder Seetraube heißen. Einzelne von ihnen waren gut sieben Meter hoch und bildeten mit ihren lederartigen, stachelspitzigen Blättern schattige Laubdächer, während ihre weißlichen, in langen Trauben herabhängenden Blüten einen angenehmen Duft ausströmten. Die Frucht des Coccolababaumes, der oft im Wasser wächst, ist eine beerenartige, dreikantige Nuß von säuerlich-süßem Geschmack und eßbar.

Ferner fand sich auf den höheren Terrassen noch ein ginsterartiger, dunkelgrüner Strauch mit gelben Blüten vor.

Dieser Pflanzenwuchs verlieh der Krateröffnung ein recht freundliches Aussehen. Und Wilhelm Brunner war denn auch nicht wenig erstaunt gewesen, als seine Retter ihn in dieses hier nie vermutete, kleine, abgeschlossene Paradies brachten, indem sie ihn außen an dem steilen Berge an einer Strickleiter hochklettern ließen. Nicht einmal an einem natürlichen Springbrunnen in Gestalt eines Geisers fehlte es diesem Paradiese, der sein heißes Wasser in Zwischenräumen von etwa fünf Minuten aus einem Loche in der Mitte der breitesten Terrasse in einem einen halben Meter dicken Strahl gut 4 Meter emporschleuderte und dann wieder in sich zusammensank. Das Wasser dieses Geisers mußte bedeutende Mengen von Kieselsäure in gelöstem Zustande enthalten, da sich rund um das Spritzloch ein unregelmäßiges Bassin aus den Niederschlägen der Kieselsäure gebildet hatte. Das Bassin war weiß wie Marmor und erweckte tatsachlich den Eindruck, als ob es von Menschenhand geschaffen sei. Lautlos stieg die Wassersäule, leichten Dampf verbreitend, alle fünf Minuten hoch, füllte dann im Zurücksinken das Bassin und ließ stellenweise kleine Rinnsale nach den tieferen Terrassen hinabfließen, deren steter Lauf scharf durch die weißen Kieselsäureablagerungen gekennzeichnet war.

Einen ähnlichen Geiser besitzt bekanntlich der Yellowstone-Nationalpark in Nordamerika, wo die Wassersäule des sog. Mammutgeisers sich freilich bis 45 Meter Höhe erhebt und ringsum einen hohen, weißen Berg geschaffen hat. Berühmt war auch der ebenfalls stark kieselsäurehaltige Tetaratasprudel auf Neuseeland, der leider durch das Erdbeben vom 10. Juni 1886 vernichtet wurde. Sein Wasser hatte bei seinem Abfluß auf dem Abhang des Hügels, aus dem er hochstieg, mehrere marmorweiße Terrassen erzeugt, von denen jede, mit einem erhabenen Rand versehen, ein mit warmem, herrlich blauem Wasser gefülltes Becken darstellte. – Der Tetaratasprudel war berühmt und wurde von Reisenden viel besucht. Aber dieselben unterirdischen Gewalten, die ihn geschaffen hatten, zerstörten ihn auch wieder. – –

Der ältere der Brüder hatte sich jetzt den beiden Gefährten zugesellt, die eifrig dabei waren, unter einem der Coccolababäume eine Steinhütte zu erbauen. Auch Ernst beteiligte sich an dieser Arbeit, die rüstig vorwärtsschritt.

Da Wilhelm Brunner bisher nicht die Zeit gefunden hatte, sich von seinen Rettern deren sicher recht seltsame Schicksale erzählen zu lassen, bat er den Älteren jetzt, ihm möglichst eingehend ihre Erlebnisse zu schildern. Ernst kam diesem Wunsche gern nach. Er hatte zu dem deutschen Landsmann, den die beiden Abenteurer Tipperdey und Hawkins lediglich seiner ehrenhaften Gesinnung wegen so schlecht behandelt hatten, sofort Vertrauen gefaßt und nach kurzer Rücksprache mit seinem Bruder schon in der Nacht beschlossen, den neuen Gefährten auch in die Geheimnisse einzuweihen, die er jenen Verbrechern klugerweise zu verschweigen wußte.

So erfuhr Brunner denn, daß die Knaben drei vollständige Taucherausrüstungen aus dem Wrack des Schoners „Marie“ geborgen hatten, mit deren Hilfe es ihnen gelungen war, die Kisten mit den Goldbarren aus der von ihnen durch einen merkwürdigen Zufall (Die Erlebnisse der Brüder Merkel sind in einem früheren Bändchen „Der Schatz auf dem Meeresboden[3] geschildert.) entdeckten „Australia“ herauszuschaffen. Weiter vernahm er mit leicht begreiflicher Spannung, welch gefährlichen Kampf Ernst Merkel mit einem Seeungeheuer, einem Riesentintenfisch, auf dem Meeresboden, in dem Taucheranzug steckend, auszufechten gehabt und wie dieser Kalmar mit seinen Fangarmen den Jungen dann in seinen Schlupfwinkel gezerrt hatte, der nichts anderes war als das Wasserbecken des Kraters, das durch eine unterseeische, breite Öffnung mit dem Meere in Verbindung stand.

Auf diese Weise war zum ersten Mal einer der Brüder in das Innere des hohlen Berges gelangt, den die Knaben dann als Versteck für ihre Goldschätze benutzt hatten. Um nun bequem den Felsenturm jederzeit ersteigen zu können, war von ihnen eine Strickleiter angefertigt worden, die sie auf dem Rande an einer starken Zacke befestigten und so einrichteten, daß sie sie mit Hilfe eines dünnen, an der Außenwand bis nach unten entlanglaufenden Strickes hochhissen und wieder zu sich herabziehen konnten. Diesen hatten sie in einer engen Längsspalte so gut verborgen, daß er von einem Uneingeweihten kaum zu bemerken war. So gelangten sie in Besitz eines Zufluchtsortes, wie er kaum besser sein konnte. Hier befanden sich jetzt nicht nur die Goldbarren, sondern auch all ihre übrige Habe, die sie in der verflossenen Nacht mit Wilhelm Brunners Hilfe an Tauen emporgewunden hatten, um sie nicht den beiden Abenteurern überlassen zu müssen, hier lagen auch, mit einem Segel bedeckt, die drei Skaphander-Apparate, die einst der Perlmuschelfischerei hatten dienen sollen und die dann wertvollere Arbeit erhielten.

Der Gedanke, bei Tipperdey und Hawkins den Glauben zu erwecken, als seien sie in der Jolle geflüchtet, stammte von Ernst Merkel. Das kleine Boot lag jetzt mit Steinen beschwert, auf dem Grunde der Bucht in der Nähe der Einfahrt, von wo man es leicht mit Hilfe der Taucherapparate wieder heraufbringen konnte. – Bisher war alles, was die Brüder nach Erscheinen des Kutters zu tun für notwendig befunden hatten, über Erwarten gut geglückt. Nun kam es darauf an, sich nach Rückkehr der beiden Abenteurer des Kutters zu bemächtigen, die Verbrecher dingfest zu machen und in bewohnte Gegenden zurückzukehren. Wie man die Überwältigung Tipperdeys und Hawkins’ am besten durchführen konnte, mußten die Umstände ergeben. Ein bestimmter Plan ließ sich für diesen Zweck nicht entwerfen. Vorläufig hatte man ja auch vor den beiden Ruhe. Ehe sie von ihrer Fahrt nach den nächsten Perlenbänken zurück sein konnten, mußten gut vierzehn Tage vergehen.

Nachdem die neue Hütte auf der Terrasse des Kraters fertiggestellt war, entwickelte sich auf dem kleinen Eiland ein friedliches Leben und Treiben. Die drei Freunde – denn das waren sie schon nach kurzer Zeit geworden – suchten sich die Zeit durch allerlei Zerstreuungen zu verkürzen. Brunner fand ebenfalls an dem Anlegen der Taucherausrüstung viel Gefallen, wagte sich auch einmal zu dem Wrack der „Australia“ hinab, gab aber schon nach wenigen Schritten an der Steuerbordseite der Bark entlang das Notsignal und ließ sich hochziehen, da er in einiger Entfernung ein schwaches Leuchten wahrnahm, das ohne Frage den Leuchtorganen eines Kalmars entstrahlte.

Durch diese Beobachtung zur Vorsicht gemahnt, hüteten die Freunde sich, das Wrack des Goldschiffes zu besuchen. Dem Tauchsport konnten sie ja ebenso gut und ohne jede Gefahr in der Bucht nachgehen.

Außerdem machten sie bei ruhigem Wetter auch auf der Jolle, die sie wieder gehoben hatten, kürzere Ausflüge in die See hinein, ohne sich jedoch jemals allzu weit von dem Inselchen zu entfernen. Schließlich hatte Wilhelm Brunner auch noch vorgeschlagen, sich Angeln anzufertigen, um die gerade in der Bucht sehr zahlreichen Giftflundern zu fangen, die zu den gefürchtetsten Bewohnern des Meeres gehören und in allen Ozeanen anzutreffen sind. Sie zählen zu der Fischgruppe der Rochen, die insofern schon sehr merkwürdig sind, als sie entweder etwa ein Dutzend Eier, Seemäuse genannt, legen oder lebendige Junge zur Welt bringen. Sie haben einen glatten, flunderähnlichen Körper und einen mit einem Stachel bewehrten Schwanz, den sie als Waffe sehr geschickt benutzen. Die Giftflunder wird ein Meter lang (der ihr verwandte Hornrochen oder Meerteufel sogar 7 Meter bei 9 Meter Breite), ist oberseits gelblich-schwarz, unterseits schmutzig weiß. Der Stachel erzeugt so schmerzhafte Wunden, daß es in Italien verboten ist, die Fische, deren Fleisch gern gegessen wird, mit Stachel auf den Markt zu bringen. Diese natürliche Waffe wird auf den malaiischen Inseln gern als Pfeilspitze benutzt und soll ihre giftigen Eigenschaften jahrelang bewahren.

Oft genug fingen die Freunde mit dem mit einem kleinen Fischchen besteckten Angelhaken eine Giftflunder, die ihnen dann stets eine wohlschmeckende Mahlzeit lieferte. Die Überbleibsel warfen sie den Pinguinen hin, von denen einige in der Nähe des Berges nistende bald so zahm wurden, daß sie hingehaltene Bissen aus den Fingern wegnahmen.

Niemals vergaßen die drei Gefährten über diesen Zerstreuungen jedoch die durch die Umstände gebotene Vorsicht. Jede Stunde hielt einer von ihnen von einem erhöhten Punkt des Eilandes Ausschau über das Meer. Doch drei volle Wochen verstrichen, und noch immer zeigte sich kein Segel am Horizont. Dann aber sah Wilhelm Brunner eines Morgens, als er gleich nach dem Erwachen sich aus der Kraterhütte auf den Gipfel des Berges begab, den Kutter in der Bucht vor Anker liegen.

Schnell benachrichtigte er die Brüder von der Rückkehr der beiden Abenteurer. Mit aller Vorsicht stieg dann Ernst Merkel wieder bis zur Höhe des Felskolosses hinauf, legte sich hier lang nieder und spähte nach Tipperdey und Hawkins aus. Zu seinem nicht geringen Schreck gewahrte er dann aber außer diesen noch zwei andere Männer die gerade damit beschäftigt waren, eine Taucherausrüstung in ein offenes Boot zu schaffen, das der während der Nacht eingetroffene Kutter im Schlepptau mitgebracht hatte.

Das Erscheinen von zwei neuen Verbündeten Bill Tipperdeys gestaltete die Lage der nunmehr lediglich auf den Krater angewiesenen Freunde recht unangenehm. Freilich besaßen sie genügend Lebensmittel und auch das ganz leidlich schmeckende Wasser des Geisers, so daß sie es in ihrem Versteck wohl eine Weile aushalten konnten. Aber ihre Hoffnung, mit dem Kutter in bewohnte Gegenden zurückkehren zu können, hatte jetzt sehr wenig Aussicht auf Erfüllung. Gewiß – sich des Kutters zu bemächtigen, dazu würde sich wohl bald eine Gelegenheit bieten. Aber damit allein war nichts gewonnen. Mußte man doch auch die Goldbarren mitnehmen, die man aus dem Krater aber nur herausschaffen konnte, wenn man die Gefahr auf sich nahm, von den Fremden dabei gesehen zu werden, weil die Freunde bei dieser Arbeit notwendig sich oben auf dem Berge zeigen mußten. Jedenfalls war dies höchst bedenklich, wo man es jetzt mit vier Männern zu tun hatte, die sämtlich wohl kaum vor einem schweren Verbrechen zurückschrecken würden, um die Schätze der „Australia“ den Brüdern zu entreißen.

Ernst merkte von seinem Beobachtungsposten aus sehr bald, daß Tipperdeys neue Genossen offenbar mit Skaphander-Apparaten gut umzugehen wußten, da sie sehr fachkundig alle einzelnen Teile prüften und die Druckpumpe probeweise arbeiten ließen. Die Vermutung lag also nahe, daß es gelernte Taucher seien, die Tipperdey bei seinem Ausfluge nach den nächsten Perlenbänken für sein Vorhaben gewonnen hatte.

Weiter wurde es ihm aber auch klar, daß die Fremden ohne Frage alle Vorbereitungen trafen, um sofort das Wrack der „Australia“ zu besuchen und die Goldkisten, die sie noch in dem Laderaum vorzufinden glaubten, zu bergen. Entdeckten sie nun, daß ihnen schon jemand anders zuvorgekommen war, so würden sie wohl bald in der Erkenntnis der Zwecklosigkeit weiterer Bemühungen das Eiland wieder verlassen. Dann aber wurde mit dem Verschwinden des Kutters den drei Freunden auch jede Möglichkeit geraubt, ihr Robinsondasein zu beenden. Wie entlegen das mächtige Felsenriff und wie gering die Aussicht auf das Erscheinen eines Schiffes war, hatten die Brüder ja schon zur Genüge während ihres bisherigen Aufenthaltes auf dem Eiland erkannt.

Solcher Art waren die Gedanken, die Ernst Merkel jetzt beschäftigten. Jedenfalls mußte irgend etwas ins Werk gesetzt werden, um die vier Männer und den Kutter noch länger hier festzuhalten.

Am sichersten würde dies zu erreichen sein, wenn es gelang den Fremden das Verschwinden der Goldbarren zu verheimlichen. Aber – wie sollte man dies tun?! Nur eine Möglichkeit gab es: zu verhindern, daß der mit Tipperdey verbündete Taucher das Wrack des Goldschiffes besuchte …!

Vergeblich zerbrach sich Ernst Merkel den Kopf, um einen zweckentsprechenden Plan zu entwerfen. Doch ihm fiel nichts Passendes ein, da nur mit List, keinesfalls mit Gewalt hier etwas auszurichten war.

Dann durchzuckte plötzlich ein anderer Gedanke sein Hirn. Er erinnerte sich daran, daß Wilhelm Brunner ja letztens durch einen Kraken bei seinem Abstieg zur „Australia“ schnell wieder verscheucht worden war! Ja – in dem Kalmar besaßen sie einen nicht zu unterschätzenden Verbündeten. Weilte der Riesentintenfisch noch in der Nähe des Wrackes des Goldschiffes, so würde der neue Genosse Tipperdeys als erfahrener Taucher es kaum wagen, sich in einen Kampf mit einem so gefährlichen Ungeheuer einzulassen.

Da es vorläufig nichts weiter zu beobachten gab, kehrte Ernst jetzt zu seinen Gefährten zurück, die voller Spannung vor der Hütte im Schatten des Coccolababaumes standen und ihn sofort mit allerlei Fragen bestürmten.

Als Ernst ihnen nun berichtete, was er gesehen hatte und welche Folgen die Entdeckung des Fehlens der Goldkisten für sie haben könnte, gab Wilhelm Brunner ihm völlig recht, daß man jetzt alle Hoffnung auf den Kalmar setzen müsse.

Karl beteiligte sich weniger an der Erörterung dieses Gegenstandes und schien in seinem Geiste mit irgend einer besonderen Idee beschäftigt zu sein. Dann ging er plötzlich nach der Stelle hin, wo unter dem Segel die drei Taucherapparate lagen, holte sämtliche Luftschläuche – zu jedem Anzug gehörte noch ein Reserveschlauch – hervor und begann ihre Länge nachzumessen.

Sein Bruder sah ihm eine Weile schweigend zu. Schließlich fragte er ihn aber mit unterdrückter Stimme (damit ja nicht außerhalb ihres Schlupfwinkels ein Laut zu hören sei, der ihre Anwesenheit verraten könnte), was er eigentlich vorhabe.

Inzwischen hatte Karl das Nachmessen der sechs Schläuche beendigt. Er gesellte sich nun wieder zu seinen Freunden, lächelte pfiffig und erwiderte:

„Die Ansatzstücke der Luftschläuche sind bekanntlich so eingerichtet, daß sich aus den sechs ein einziger, zusammenhängender durch Aneinanderschrauben der einzelnen Teile herstellen läßt. Dieser Schlauch würde dann eine Länge von 240 Meter haben, das heißt, einer von uns könnte von hier aus bis zur „Australia“ vordringen, indem er den Krater durch die unterseeische Öffnung verläßt und auf dem Meeresboden entlangschreitend die Richtung nach dem nur etwa 200 Schritt entfernten Wrack einschlägt. Die Druckpumpe aber könnte von hier aus bequem bedient werden. Mithin sind wir in der Lage, selbst wenn der Tintenfisch den fremden Taucher nicht vertreiben sollte, diesen durch das Erscheinen einer Art von Seegespenst so zu erschrecken, daß er sich schleunigst wieder hochziehen läßt und nicht wagt nochmals das Goldschiff aufzusuchen.“

Wie dieses Seegespenst aussehen sollte, schilderte Karl dann so genau, daß Wilhelm Brunner nachher erklärte, diese Idee verspreche sicherlich Erfolg, besonders wenn man dabei den Aberglauben der Seeleute in Rechnung ziehe.

Sofort begann man nun mit den Vorbereitungen zu dieser Maskerade.

Von den Steinen des Herdes und der Unterseite der Kochtöpfe wurde der Ruß sorgfältig abgekratzt und mit Petroleum zu einer dicken, schwarzen Farbe zurechtgemacht. Dann schneiderte man aus einem Stück Segel mit Hilfe einer groben Nadel aus der Handwerkszeugkiste, die die Brüder aus dem Wrack des Schoners schon früher herausgeholt hatten, und Segelgarn einen Anzug zurecht, der über den Taucheranzug genäht wurde und der auch eine Hülle für den Taucherhelm besaß. In diese schnitt man ein Loch ein, damit das Helmfenster zum Teil freilag. Die schwarze Farbe gab schließlich dem Kopf dieses Seegespenstes geradezu abschreckend häßliche Züge, ebenso wie auch der Segeltuchanzug mit großen Farbklecksen beschmiert wurde. Damit auch dem Charakter dieses Wassergeistes entsprechendes Haar nicht fehle, erhielt die Hülle des Helmes oben ein dichtes Büschel von Seetang, den man festnähte. In gleicher Weise wurde ein lang herabwallender Bart hergestellt.

Als das Werk fertig war, sah auch der von dieser Idee bisher nicht recht begeisterte ältere Merkel ein, daß in der unsicheren Beleuchtung auf dem Meeresgrunde diese Maske ein abergläubisches Gemüt wohl in Angst und Schrecken versetzen könne. Ernst, der als Taucher die meiste Erfahrung besaß, erklärte sich gern bereit, in diesem Aufzuge nach der „Australia“ zu wandern und sein Glück als Gespenst gegenüber dem fremden Taucher zu versuchen.

Inzwischen waren gut zwei Stunden vergangen. Als Karl Merkel jetzt den Berg erklomm, um nach den Leuten des Kutters Ausschau zu halten, stellte er fest, daß Bill Tipperdey mit seinen Genossen das offene Boot bereits im Westen der kleinen Insel gerade über dem Goldschiff verankert hatte und einer seiner neuen Verbündeten soeben dabei war, die Taucherausrüstung anzulegen.

Eile tat also unter diesen Umstünden sehr not. Schleunigst zog nun Ernst Merkel seinen Doppelanzug an, ließ sich den Helm festschrauben, schob noch eines der langen, scharfen Messer, die den Tauchern zur Abwehr von Angriffen durch größere Fische dienen, in den Gürtel unter das Gespensterkostüm, ließ sich die Signalleine und die Notleine hinten am Gürtel befestigen, damit sie nicht so leicht zu sehen sein sollten, und stieg dann in das die Hälfte des Kraters ausfüllende Wasserbecken hinab, aus dem das unterseeische Felsentor in den freien Ozean führte. Den langen Luftschlauch hielt er mit einer Hand fest und zog ihn hinter sich her. So gelangte er nach etwa fünf Minuten in die Nähe des Wracks.

Da der Himmel völlig wolkenlos war und die Sonne das klare Wasser kräftig durchleuchtete, herrschte hier in einer Tiefe von etwa 15 Meter eine lichte, grüne Dämmerung. Je mehr Ernst der „Australia“ nahekam, desto vorsichtiger wurde er. Überallhin ließ er seine Blicke umherschweifen, um rechtzeitig die vielleicht hier noch weilende Riesentintenschnecke gewahr zu werden. Hatte er doch schon einmal mit einem Kraken einen Strauß ausgefochten, an den er stets mit leisem Schauder zurückdachte.

Doch weder von einem Kalmar noch[4] von dem fremden Taucher war irgend eine Spur zu erblicken. Nur allerlei Fische, manche davon von recht abenteuerlicher Form, schwammen um das stille Wrack herum und steuerten zuweilen auch auf den so unheimlich aussehenden menschlichen Besucher zu, der ihre Ruhe hier unten in der Tiefe stören kam.

Ernst Merkel umschritt jetzt das versunkene Schiff, um auf die Backbordseite zu gelangen, an der sich das große Leck befand. Vorsichtig suchte er sich für seinen Weg auf dem steinigen, hier und da auch mit Felstrümmern bedeckten Meeresboden solche Stellen aus, wo er nicht zu fürchten brauchte, daß der Luftschlauch, dessen Gewicht er immer mehr empfand, nicht irgendwie beschädigt würde.

Jetzt näherte er sich dem Leck. Da – mit einemmal merkte er, daß der lange Schlauch irgendwo festgehakt sein müsse. Allzu stark an dem mit Draht umsponnenen Gewebe zu ziehen wagte er nicht. Schon wollte er umkehren und die Stelle suchen, wo der Luftschlauch sich eingeklemmt haben mußte, als er vor sich ein dunkles Etwas sich bewegen sah. Jetzt erkannte er dieses Etwas als den fremden Taucher, der von der anderen Seite her auf das Loch in den Planken langsam zuschritt. Gleichzeitig aber bemerkte er oben auf der Reling genau über dem Leck jenes weiße Licht, das der mit Leuchtorganen ausgestattete Leib einer Riesentintenschnecke ausstrahlt. Nun unterschied er auch den gewaltigen, spinnenähnlichen Körper des Kraken, die meterlangen Fangarme und den Kopf mit dem hornigen Papageischnabel.

Ahnungslos näherte sich inzwischen der Verbündete Tipperdeys dem klaffenden Leck in der Bordwand … Und über ihm hockte angriffsbereit oben an Deck der Kalmar. Der fremde Taucher hatte nur Augen für die aufgerissenen Planken, dachte sicherlich nur an das Gold, das er bald zu finden hoffte …

Ernst Merkels Herz begann schneller zu schlagen. Hier bereitete sich ein Drama vor, wie selten eines Sterblichen Auge es als Zeuge schauen wird … Blitzschnell eilten seine Gedanken … – Sollte, konnte er den Unglücklichen warnen, der da blindlings dem Verderben entgegenschritt …?! Und – waren seine Bewegungen jetzt nicht selbst unfrei infolge des festgeklemmten Luftschlauches, war es unter diesen Umständen nicht das sicherste, schleunigst umzukehren und Bill Tipperdeys Genossen seinem Schicksal zu überlassen …?!

Da – unwillkürlich stieß er einen Schrei aus, der nur ihm selbst in den Ohren gellte – jetzt schwang sich der Kalmar von der Reling herab, jetzt schlangen sich seine zwölf Fangarme blitzschnell um den völlig Überraschten, der nicht einmal mehr dazu kam, sein Messer zur Abwehr des Ungeheuers zu ziehen. Nur die Signalleine fand seine Rechte noch … Er riß daran in verzweifelter Angst …

Doch schon hatte sich des Ungeheuers Schnabel in seiner Brust festgebissen, zerriß den Stoff des wasserdichten Anzugs …

Ohne zu wissen, was er tat, hatte Ernst Merkel mit aller Kraft jetzt an dem Luftschlauch gezerrt, nur getrieben von dem Wunsch, dem Fremden zu Hilfe zu eilen … Und wirklich … Der Schlauch gab nach, und der kräftige Junge war nun mit wenigen Schritten neben der grausigen Gruppe, die Mensch und Tintenfisch in enger Umklammerung bildeten … Sein Messer fuhr mit scharfem Schnitt durch den gallertartigen, weichen Leib des Kraken … Gepackt von wilder Wut stach und schnitt er zu, wohin er traf, trennte Fangarme vom Körper und zerfetzte schließlich auch den mit Farbstoff gefüllten Tintenbeutel, der diesen Ungetümen den Namen gegeben hat. Sofort trübte sich das Wasser ringsum … Nichts vermochte er mehr zu sehen – nichts. – – Er befand sich jetzt in einem völlig undurchsichtigen Element. Und aus Furcht, womöglich den fremden Taucher zu verletzen, mußte er seinem Messer notwendig Ruhe gönnen.

Es dauerte eine geraume Weile, ehe das Wasser wieder klar wurde. Dann konnte Ernst Merkel wieder umsichblicken … Aber die Stelle, an der noch eben dieser entsetzliche Kampf sich abgespielt hatte, war leer. – Nur eine Erklärung gab es hierfür: die Leute oben im Boot hatten auf das Notsignal hin ihren Gefährten an die Oberfläche gezogen.

Zehn Minuten später war der wagemutige Junge wieder in dem Krater. Eilfertige Hände schraubten ihm den Helm ab. Frische Luft, helles Tageslicht umgab ihn wieder.

Erschöpft setzte er sich auf den Boden nieder. Dann sagte sein Bruder, der noch ganz verstört aussah:

„Ernst, denke Dir, soeben hat man den toten Taucher da draußen von den ihn noch umschlungen haltenden Fangarmen eines Kraken befreit, der dem Unglücklichen den Taucheranzug zerrissen hat, so daß der Mann jämmerlich ertrinken mußte. Der Kalmar ist ebenfalls übel zugerichtet und verendet …“

Jetzt hatte sich der ältere Merkel soweit erholt, um berichten zu können, was er soeben erlebt hatte.

Stumm hörten Brunner und Karl zu. Und ersterer meinte dann leise:

„So ist der Kalmar also wirklich unser Verbündeter geworden … Das lockende Gold, – wieviel Unheil hat es nicht schon angerichtet!! Auch dieser Mensch ist ihm zum Opfer gefallen und zwar auf eine Weise, wie sie schauerlicher kaum sein kann.“ – –

Karl Merkel bezog nun oben auf der Spitze des Berges wieder einen Beobachtungsposten.

Mittlerweile war das Boot in die Bucht zurückgekehrt. Tipperdey und seine beiden Genossen schienen durch das furchtbare Ende ihres in der Tiefe umgekommenen Gefährten doch recht niedergedrückt zu sein. Den Rest des Tages über blieben sie zumeist auf dem Kutter und saßen schweigsam auf der Ruderbank. Der alte Matrose sprach fleißig der Rumflasche zu, als ob er sich durch dieses Mittel das lähmende Entsetzen, das ihm wohl noch in den Gliedern steckte, vertreiben wollte.

Dann kam die Dämmerung herbei, die Nacht …

Als es ganz dunkel geworden war, rüstete Ernst Merkel sich zu einer abermaligen Schwimmtour nach dem Kutter, um womöglich wieder wichtiges erlauschen zu können.

Auf der herabgelassenen Strickleiter kletterte er an der steilen Wand des Berges herab, strebte nachher mit ruhigen Schwimmstößen dem Kutter zu und gelangte auch glücklich unbemerkt bis unter das Heck, wo er sich an dem Steuer festklammerte. Heute aber bedeckte nur leichtes, ziehendes Gewölk den Himmel, das zuweilen ganz plötzlich die Mondscheibe freigab, so daß Ernst sehr vorsichtig sein mußte, damit er nicht etwa gesehen wurde. Saßen doch nur zwei Meter von ihm entfernt die drei Leute des Kutters nebeneinander auf der Bank in der Steuervertiefung und unterhielten sich jetzt lebhaft, ein Beweis, daß ihr Geist noch rege genug war, um in dem dunklen, runden Fleck über dem Wasserspiegel den Kopf eines Menschen erkennen zu können.

Soeben sagte der Überlebende der beiden neuen Verbündeten Bill Tipperdeys mit Nachdruck:

„Nie und nimmer hat Smuter den Tintenfisch derart durch Schnitte zerfetzt. Sein Messer steckte noch im Gürtel, als wir ihn tot herausholten. Mithin hat er es gar nicht mehr benutzen können, weil eben der Kalmar ihn zu plötzlich angegriffen haben muß. – Ich frage nun: wer in aller Welt war es, der den Kraken durch Messerschnitte getötet und ihm auch acht seiner Fangarme abgesäbelt hat?!“

Nach einer Weile erwiderte Tipperdey zögernd:

„Hm – wahrhaftig, das ist eine mehr als rätselhafte Geschichte, – ich gebe es zu. Smuters Messer ist nicht in Tätigkeit getreten. Das steht fest. – Wißt Ihr denn keine Erklärung hierfür, Bimpleton?“

Dieser ließ eine geraume Zeit verstreichen, bevor er entgegnete:

„Eine Erklärung gibt’s schon. Es ist eben zugleich mit Smuter noch ein zweiter Taucher bei dem Wrack gewesen.“

Tipperdey lachte ärgerlich auf.

„Macht keine Witze, Mann! Wo sollte dieser zweite Taucher wohl sein Boot gehabt haben, in dem die Druckpumpe aufgestellt gewesen sein müßte, um ihm die nötige Luft zum Atmen zuzuführen …?! Unsinn! Wenn Ihr nichts Gescheiteres vorbringen könnt, so schweigt lieber.“

Bimpleton suchte seine Ansicht weiter zu verteidigen.

„Ein Boot – ein Boot?! Ist das unbedingt nötig?! Ihr vergeßt, Tipperdey, daß die „Australia“ dem Strande ziemlich nahe liegt! Die Druckpumpe kann auch auf dem Lande aufgestellt gewesen sein. Denkt doch mal an den Berg, der gerade dem Wrack gegenüber steil ins Meer abfällt. Wißt Ihr denn, ob nicht vielleicht … – – Holla – mein Strohhut will das Fliegen lernen“, unterbrach er sich, schnell aufstehend und mit der Hand nach seiner Kopfbedeckung greifend, die ein stärkerer Windstoß ihm entführt hatte.

In demselben Augenblick trat der Mond hinter den Wolken hervor. Und so kam es denn, daß Bimpleton den eben unter Wasser verschwindenden Kopf des Lauschers gewahr wurde.

Mit einem Satz war er über Bord und hatte Ernst Merkel gepackt. Gleich darauf stand dieser in triefenden Unterkleidern an Deck des Kutters, hell beschienen von dem Licht der Lampe, die Hawkins auf Tipperdeys Befehl aus der Kajüte geholt hatte.

„Schau an – das ist ja einer der Brüder, die mit dem Perlenschoner hierhergelangt sind!“ entfuhr es dem alten Matrosen. „Ich denke, Ihr seid in der Jolle geflüchtet! Und nun finde ich Dich noch hier vor? – Raus mit der Sprache! Sonst gibt es das Tauende zu kosten. – Wie hängt das zusammen?“

Ernst preßte die Lippen nur fester aufeinander. Aus ihm sollten die Männer kein Wort herausbekommen …!

Da mischte sich Bimpleton, ein stiernackiger Riese mit einem noch ärgeren Verbrechergesicht als Tipperdey es besaß, in das Verhör ein.

„Ihr braucht den Jungen gar nicht auszuforschen, Alter“, meinte er triumphierend auflachend. „Ich weiß schon ohnedies Bescheid. Die beiden Burschen und jener von ihnen befreite Brunner sind überhaupt nicht entflohen, sondern haben sich nur in ein Versteck hier auf der Insel zurückgezogen. Und dieses Versteck kann nur jener anscheinend unersteigbare Felsenberg sein, auf dessen Spitze es vielleicht so etwas wie eine Höhle gibt, in der die drei jetzt hausen.“

Da Tipperdey bald merkte, daß aus dem Jungen wirklich jetzt nichts herauszupressen war, erklärte er sich mit Bimpletons Vorschlag einverstanden. Und eine Viertelstunde später ging nur noch Hawkins, einen Revolver in der Hand, auf dem Deck des Kutters als erste Wache langsam auf und ab.

– – – – – – – –

In sich stetig steigernder banger Erwartung harrten Wilhelm Brunner und Karl auf die Rückkehr des freiwilligen Kundschafters und aufopfernden Gefährten. Aber Stunde auf Stunde schlich dahin, ohne daß unten am Fuße des Felsenturmes der vereinbarte, leise Pfiff ertönte.

Irgend etwas mußte geschehen sein … Sonst wäre jener von seinem nächtlichen Ausfluge längst heimgekehrt. Aber was Ernst zurückhielt, konnten sich die beiden nicht erklären. Alle möglichen Geschehnisse malten sie sich aus. Nur auf das Richtige kamen sie nicht.

Im Westen begann der Horizont sich heller zu färben. Die Nacht war vorüber, und die Sonne schickte sich zum Verlassen ihres Meeresbettes an. In leichte Dunstschleier gehüllt tauchte sie auf, stieg höher und höher.

Noch immer lagen Karl Merkel und der junge, unter so unbegründetem Verdacht verurteilte Bankbeamte oben platt auf dem Felsgürtel der Kraterhöhe und schauten nach dem treuen Gefährten aus. Jetzt zeigte sich an Bord des in der Mitte der Bucht verankerten Kutters neben der Gestalt Bill Tipperdeys, der anscheinend als Wache auf und ab schritt, ein zweiter Mann, ein breitschultriger Riese, der nun durch die Luke ins Vorschiff hinabkletterte und gleich darauf mit einem offenbar gefesselten Gefangenen an Deck zurückkehrte.

Der Gefangene war Ernst Merkel.

Auch Hawkins erschien nun an Deck, um dem neuen Verhör beizuwohnen, das Bimpleton leitete. Ernst schwieg beharrlich, zumal er bald aus den Fragen Bimpletons heraushörte, daß dieser, der an geistigen Fähigkeiten weit über seinen Genossen stand, das Richtige sowohl über die von den Knaben längst geborgenen Goldbarren wie auch über die Eigentümlichkeiten des unersteigbaren Berges vermutete.

Schließlich brachte der Riese den Gefangenen wieder in seinen Verschlag im Vorschiff zurück. Darauf bestiegen er und Tipperdey das Boot, landeten bei der Anlegestelle am Südufer der Bucht und begaben sich, jeder mit einer Büchse bewaffnet, nach dem Felsenturme hin, vor dem sie sich in einiger Entfernung aufstellten. Dann formte Bimpleton die Hände zum Sprachrohr und rief zur Höhe des Steinkolosses hinauf:

„Hallo – Ihr beiden da …!! Hört, was wir Euch zu sagen haben. Wir geben Euch drei Tage Zeit, uns das Gold der „Australia“, das Ihr mit Hilfe der Taucherapparate des Perlenschoners Euch angeeignet habt, auszuliefern. Tut Ihr dies, so lassen wir Euren Freund frei. Wenn nicht, so werden wir Mittel und Wege finden, Euch zu zwingen. Eure Lebensmittel werden bald auf die Neige gehen, und der Hunger wird Euch schon mürbe machen. Außerdem vergeßt nicht, daß uns sehr wohl bekannt ist, daß es an der Westseite des Berges eine unterseeische Verbindung nach dem Meere hin gibt, durch die ich ebenso gut zu Euch hineinkommen kann, wie gestern einer von Euch zugleich mit unserem von dem Kalmar getöteten Genossen sich in die Nähe des Wracks begeben hat. – Ihr seht, wir kennen Eure Geheimnisse. – Antwortet! Was gedenkt Ihr zu tun?“

Doch Brunner und Karl waren viel zu bestürzt, um etwas entgegnen zu können. Nach einer Weile kehrte Tipperdey zum Kutter zurück, um diesen möglichst nahe am Westufer der Bucht zu verankern. Inzwischen schritt Bimpleton mit geschultertem Gewehr um den Berg herum, ein Wachdienst, bei dem die drei Männer sich für die Folge regelmäßig ablösten.

Die beiden auf den Felskrater allein angewiesenen Freunde hatten nun eine richtige Belagerung durchzumachen. Tag und Nacht wurde der Riesenfelsen von Tipperdey und seinen Verbündeten scharf beobachtet. Eine Woche war nun bereits hingegangen, ohne daß eine für die auf dem Berge Eingeschlossenen günstige Wendung der Lage eingetreten wäre. Umsonst grübelten Brunner und Karl darüber nach, wie sie den Freund und Bruder befreien könnten. Karl hatte es eines Nachts ohne Wissen des deutschen Landsmannes gewagt, mit Hilfe der Strickleiter den Berg zu verlassen, in der Absicht, nach dem Kutter hinüberzuschwimmen. Aber Hawkins, der gerade die Wache hatte, bemerkte ihn und nicht viel hätte gefehlt, so wäre die natürliche Festung in die Hände des Feindes geraten, da die Strickleiter noch unten hing.

Dieser Mißerfolg lähmte den Unternehmungsgeist der Belagerten derart, daß sie nichts Neues vornahmen, um eine Änderung der für sie von Tag zu Tag schwieriger sich gestaltenden Lage herbeizuführen. Der Proviant ging trotz größter Sparsamkeit immer mehr auf die Neige. Nach Verlauf von drei Wochen hielt der Hunger einen traurigen Einzug in den Krater, und bald schien es so, als ob Bimpleton mit seiner Annahme recht behalten würde, daß der Mangel an Lebensmitteln die beiden Deutschen zur Übergabe zwingen werde.

Da aber kam gerade noch zur rechten Zeit Hilfe. Ein deutsches Schiffsjungenschulschiff, das auf einer Reise um die Welt begriffen war, näherte sich eines Morgens dem kleinen Eiland. Sofort zündeten Brunner und Karl auf der Spitze des Berges ein stark qualmendes Feuer an, obwohl Tipperdey und seine Genossen aus ihren Büchsen die Höhe des Felskolosses in ohnmächtiger Wut lebhaft mit Kugeln bestrichen. Dann suchte der Kutter, nachdem auf Bimpletons Rat der zum Skelett abgemagerte ältere Merkel freigelassen war, zu entfliehen, wurde aber von einer Dampfbarkasse des auf ihn aufmerksam gewordenen großen Seglers schnell eingeholt und in die Bucht zurückgebracht. – –

Die Leiden und Abenteuer der drei Freunde hatten nun ein Ende. Tipperdey und Hawkins wurden später gemeinsam nach der Strafkolonie auf den Andamanen verschickt. Bimpleton konnte nur wegen Freiheitsberaubung, begangen an Ernst Merkel, zur Verantwortung gezogen werden. Er kam weit glimpflicher davon. Wilhelm Brunner aber stellte sich freiwillig den Behörden in Singapore, setzte die Wiederaufnahme seines Prozesses durch und wurde dann freigesprochen. Die zwischen ihm und den Brüdern begründete Freundschaft blühte weiter im deutschen Vaterlande, wo Ernst und Karl, denen die Reeder der „Australia“ für die Bergung der Goldbarren einen außerordentlich hohen Lohn ausgezahlt hatten, eine Seemannsschule besuchten und später einen eigenen, großen Frachtdampfer erwarben, mit dem sie in gesegneter Arbeit ihre Wohlhabenheit noch vermehrten.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

 

Anmerkungen:

  1. Sowohl im Titelbild als auch in der Hauptüberschrift wird die Schreibweise „Tipperdey’s“ verwendet, dagegen aber (korrekterweise) im gesamten weiteren Text „Tipperdeys“ – Text so belassen.
  2. In der Vorlage steht „Albatroß“.
  3. In der Vorlage steht: „Das Goldschiff“ – vermutlich handelt es sich dabei um den ursprünglich vorgesehenen Titel für den vorhergehenden Band „Der Schatz auf dem Meeresboden“, der dann aber bei Drucklegung – aus welchen Gründen auch immer – noch abgeändert wurde.
  4. In der Vorlage steht „nach“.