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Die Schmuggler-Insel

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Schmuggler-Insel.

 

W. Belka.

 

„Du magst sagen, was Du willst, Fritz: mit dem Schoner hat es doch eine besondere Bewandtnis“, erklärte Heinz Gerber, der fünfzehnjährige Sohn des angesehensten deutschen Großkaufmannes in Barcelona, hartnäckig.

Fritz Scharnhorst, der etwas älter als sein Freund Heinz war, trotzdem aber bedeutend schwächlicher aussah und weit weniger kecken Unternehmungsgeist besaß, zuckte lächelnd die Achseln. Er tat sich auf seine Gelehrsamkeit sehr viel zugute, obwohl er anerkennen mußte, daß sein Schul- und Spielkamerad ihm in allen praktischen Dingen recht überlegen war.

„Weil Du gestern nachmittag am Molo ein Gespräch zwischen dem Kapitän des Schoners und dem schlecht beleumundeten Besitzer der Hafenkneipe „Zum Stierkämpfer“, dem buckligen Alvaro belauscht hast, das Dir wegen seines Inhaltes verdächtig vorkam, weil Du ferner drei Stunden später denselben Kapitän in der Kleidung eines wohlhabenden spanischen Landmannes auf der Rambla, der prächtigen Hauptstraße Barcelonas, mit einigen Engländern zusammengesehen hast, die hier dem deutschen Handel schwere Konkurrenz machen, reimt sich Dein auf alles Abenteuerliche gerichteter Sinn sofort einen ganzen Schmugglerroman zusammen. Die „Esperanza“ ist ein harmloses Handelsschiff aus Palma, dem Haupthafen der Balearen-Insel Malorka, – dabei bleibe ich!“

„So …?! Auch, wenn das erwähnte Gespräch zwischen dem Kapitän und Alvaro sich um eine Ladung kostbarer Chemikalien handelte, für die die spanischen Behörden einen hohen Einfuhrzoll verlangen und wenn ich noch letztens aus einer Unterhaltung meines Vaters mit seinem Prokuristen Gerlach entnommen habe, daß gerade teure chemische Farbstoffe in letzter Zeit in Menge eingeschmuggelt sind und die Steuerbeamten daher sehr scharf auf verdächtige Fahrzeuge achtgeben, – auch dann …?!“

„Laß mich doch nur mit diesen Dingen in Ruhe!“ meinte Fritz Scharnhorst etwas ungeduldig. „Ich will die Sommerferien unserer deutschen Schule zu besserem verwenden, als den ganzen Tag im Segelboot auf dem Wasser zu liegen und ein schmutziges Frachtschiff zu beobachten. Nein – um es Dir nochmals zu sagen! – ich halte nicht mit bei dieser Deiner neuesten Schwärmerei. Mögen die Spanier selbst auf die Schmuggler fahnden …! Mich geht das alles nichts an – gar nichts! Und Dich ebensowenig!“

Die beiden Knaben, die helle, leichte Sommeranzüge und breitrandige Strohhüte trugen, hatten den heutigen zweiten Ferienvormittag dazu benutzt, um das schlanke, jachtartig gebaute Segelboot, das Heinz’ Vater gehörte, in Ordnung zu bringen. Sie waren eben damit beschäftigt, das Verdeck sauber zu scheuern, wozu sie Schuhe und Strümpfe abgelegt und die Beinkleider weit aufgekrempelt hatten. – –

* * *

Barcelona ist bekanntlich die Hauptstadt der gleichnamigen spanischen Provinz und zugleich der wichtigste Hafen der ganzen Ostküste der Pyrenäen-Halbinsel. Die Hafenvorstadt Barceloneta, wo sich die meisten fremden Handelsniederlassungen befinden, liegt auf einer sich in das Meer erstreckenden Landzunge, von deren Spitze aus wieder ein unendlich langer, künstlich aufgeschütteter Hafendamm, der Molo, den ankernden Schiffen noch besseren Schutz gegen die oft recht stürmischen Wogen des Mittelländischen Meeres gewähren soll.

Die kleine Vergnügungsjacht „Else“ des Kaufmannes Gerber lag unweit der riesigen Lager der Firma Gerber und Co. in einem Seitenarme des eigentlichen Hafenbassins vor Anker. Sie besaß Kuttertakelage, eine Kajüte mit vier Schlafkojen und hatte dem reichen Handelsherrn schon zu manchem Ausflug bis nach den Bädern der französischen Südküste hin gedient und dabei trotz ihrer geringen Abmessungen – ihre Länge betrug nur siebeneinhalb und die größte Breite zweidreiviertel Meter – sich als völlig seetüchtig bewährt. Gerber, selbst ein leidenschaftlicher Segler, war ganz damit einverstanden, daß sein einziger Sohn und Erbe frühzeitig auf dem Wasser heimisch wurde und hatte dem kräftigen, aufgeweckten Knaben in letzter Zeit sogar gestattet, mit Fritz Scharnhorst zusammen im Hafen zu kreuzen, ohne daß sie den alten Bootsmann Karsten, der nebenbei noch bei der Firma als eine Art Faktotum verwendet wurde, mitzunehmen brauchten. Er wußte eben, daß sein Heinz zwar in echter Knabenfrische recht unternehmungslustig, aber keineswegs waghalsig oder leichtsinnig war, und daß sein Junge das Steuer und die Segel der „Else“ ebenso sicher bediente wie er selbst. –

Heinz Gerber hatte auf die schroffe Ablehnung seines Planes durch seinen Freund zunächst gar nichts erwidert, sondern ruhig seine Scheuertätigkeit fortgesetzt. Erst nach einer Weile sagte er dann gleichmütig:

„Du magst ja recht haben, Fritz …! – Was gehen uns die Schmuggler an! Außerdem – ganz ungefährlich wäre es wohl auch nicht gewesen, wenn wir, wie ich es vorhatte, den Schoner scharf im Auge behalten hätten. Freilich – ich liebe ja so kleine Aufregungen. Aber Du bist eben aus anderem Holze geschnitzt, bist nicht umsonst der Sohn des deutschen Direktors der hiesigen Sternwarte, dessen wissenschaftliche Arbeiten von allen Astronomen der ganzen Welt hochgeschätzt sind. Du liebst Deine Bücher über alles, ich das freie, ungebundene Leben außerhalb der Stubenwände. Daher will ich auch Seemann werden, obwohl mein Vater es lieber sehen würde, wenn ich mal in unser Geschäft einträte.“

Absichtlich hatte der schlaue Heinz seine Worte so gewählt, daß der Freund etwas wie den Vorwurf mangelnden Mutes herauslesen konnte. Und diese List gelang auch wirklich.

Fritz Scharnhorst war ja nicht nur in bezug auf seine Leistungen in der Schule außerordentlich ehrgeizig, nein, er wollte auch sonst hinter keinem seiner[1] Altersgenossen zurückstehen. Und am empfindlichsten zeigte er sich, wenn jemand seine Unerschrockenheit anzuzweifeln wagte. Leicht erregbar, wie er zuweilen war, brauste er jetzt auch sofort auf:

„Denkst Du etwa, Heinz, daß ich aus Feigheit nicht mithalten will?! Fast scheint es so! Nun, da kennst Du mich doch sehr schlecht! Ich werde Dir den Beweis erbringen, daß es nicht etwa Angst vor den Schmugglern ist, die mich vorhin auf Deinen Vorschlag nicht eingehen ließ! – Gut – wir werden also der „Esperanza“ erhöhte Aufmerksamkeit schenken. Ich fürchte jedoch, daß Dein Vater uns die Erlaubnis nicht erteilen wird, auch bis in die Nacht hinein mit der Jacht im Außenhafen zu bleiben.“

Heinz Gerber frohlockte innerlich. Er hatte erreicht, was er wollte. Und deshalb erwiderte er jetzt ebenso erfreut wie zuversichtlich:

„Papa reist heute abend mit meiner Mutter nach Madrid. Da haben wir also völlig freie Hand. Trotzdem werde ich ihn vorher fragen, ob wir einmal auch eine der jetzigen Vollmondnächte auf dem Wasser genießen dürfen. Er wird sicherlich nichts dagegen haben.“ – –

* * *

Bei der Mittagsmahlzeit rückte Heinz dann wirklich mit seiner Bitte heraus. Herr Gerber nickte den beiden Knaben – denn zur Zeit weilte auch Fritz Scharnhorst, dessen Eltern gerade zur Teilnahme an einem Astronomen-Weltkongreß in Paris waren, als Gast in seinem Hause – freundlich zu und erklärte, sie sollten nur ja vorsichtig sein, damit nicht etwa ein Dampfer oder ein Motorboot die Jacht anrenne. Im übrigen wolle er ihnen den Genuß einer Mondscheinfahrt gern gestatten. Selbstredend müßten sie aber den alten Karsten mitnehmen, da es doch ein Unterschied sei, bei Tage oder bei halber Dunkelheit im Hafen zu kreuzen. –

Das war für Heinz ein böser Strich durch die Rechnung. Karsten liebte die Bequemlichkeit nur zu sehr und würde kaum bereit sein, die ganze Nacht über mit der „Else“ draußen im Außenhafen zu bleiben. Trotzdem – der Alte konnte ja ruhig in eine der engen Kojen der Jacht kriechen und dort der Ruhe pflegen. Gestattete man ihm dies, so würde er ihnen das Spiel wohl kaum verderben. – Heinz’ zunächst recht enttäuschtes Gesicht heiterte sich denn auch sofort wieder auf. Und abends um sieben Uhr, nachdem die Knaben Herrn und Frau Gerber noch zur Bahn begleitet hatten, schritten sie in Begleitung von Peter Karsten, der einen großen, vollbepackten Korb mit Lebensmitteln trug, dem Molo zu und hatten dann in einer knappen Viertelstunde das schmucke Segelboot abfahrbereit gemacht.

Die Sonne wollte gerade hinter den katalonischen Bergen verschwinden, als die „Else“, deren weiße Segel ein frischer Landwind prall füllte, schäumend durch die leicht bewegten Wasser des Hafens schnitt und auf die Außenreede zuhielt.

Es war ein selten prachtvoller Juliabend. Klar und deutlich hoben sich die Häuser Barcelonas von dem Hintergrunde der mit Olivenhainen bedeckten Höhenzüge ab. An Bord der zahllosen Seeschiffe, zwischen denen die Jacht sich durchschlängeln mußte, ruhte bereits die Arbeit. Gesänge erschallten, in die sich der Klang der verschiedensten Instrumente mischte, die von rauhen Matrosenfingern bedient wurden: Mandolinen, Zithern, Geigen, Handharmonikas und hier und da auch eine weichtönende Okarina waren zu vernehmen. Dabei war es hier auf dem Wasser angenehm kühl, ganz anders als in den überhitzten Straßen und Häusern der Stadt.

Peter Karsten allerdings hatte weder Auge noch Ohr für die wunderbare Stimmung dieses Abendbildes des großen Hafens. Gemächlich zurückgelehnt saß er am Steuer, die kurze Holzpfeife zwischen den Zähnen, und schüttelte nur immer wieder beinahe mißbilligend den verwitterten Kopf mit dem kurzen, grauen Vollbart, wenn einer der jungen Herren den anderen ganz begeistert auf die feinen Reize dieser abendlichen Fahrt aufmerksam machte.

In diesem Punkte stimmten Heinz Gerber und Fritz Scharnhorst ja völlig überein: sie liebten beide die Natur mit ihren wechselnden Schönheiten, und beide empfanden heute wie schon so oft mit dankbarer Freude, daß sie ihre Jugend unter spanischer Sonne verleben durften in einer Umgebung, die nicht nur durch die historischen Sehenswürdigsten des berühmten Barcelona, sondern auch durch landschaftliche Bilder von beinahe tropischer Üppigkeit ausgezeichnet war. –

Nachdem man den Innenhafen hinter sich hatte, löste Heinz den Alten am Steuer ab. Er hatte Karsten bereits mitgeteilt, daß man die Nacht auf der Reede zubringen wolle, und dieser war auch ganz damit einverstanden, als er hörte, er könne sich ruhig schlafen legen, da die Freunde bis zum Morgengrauen sich die Zeit durch Angeln vertreiben würden.

In der äußersten Südecke des Hafens lag im Schutze einer halbkreisförmig gebogenen Landzunge der Schoner vor Anker, auf den Heinz Gerber es abgesehen hatte. Die „Esperanza“ sah für einen Unkundigen wie ein halbes Wrack aus. Sie machte einen geradezu verwahrlosten Eindruck. Der Anstrich ihrer Planken war überall längst abgeblättert und ließ das dunkle Eichenholz durchschimmern. Ihre geflickten Segel waren schlecht gerefft, und so ähnelte sie vollständig einem jener englischen Fahrzeuge, die Stockfische nach Spanien einführen und wegen ihrer Unsauberkeit berüchtigt sind. – Aber der Blick eines Seemannes erkannte doch sofort an den schlanken Formen des Schiffskörpers und der besonderen Art der Takelung, daß dieser vernachlässigte Schoner ein Schnellsegler erster Güte sein mußte. Und der alte Karsten war früher nicht umsonst zwanzig Jahre lang durch alle Meere gekreuzt, um als erfahrener Seebär nicht mit vollem Verständnis den einsam daliegenden Schoner zu mustern, auf den Heinz die Jacht jetzt zusteuerte.

„Wollen Sie etwa den Leuten dort einen Besuch abstatten, junger Herr?“ fragte er nach einer Weile, indem er mit der Hand nach der „Esperanza“ hindeutete, an deren Deck man bereits die Gestalten einiger Männer wahrnehmen konnte, die im Vorschiff an der Reling standen.

„Wozu wohl?!“ meinte Heinz gleichgültig. „Nein, wir werden hier, wo so schön ruhiges Wasser ist, vor Anker gehen. Ich habe letztens gerade in dieser kleinen Bucht reiche Beute beim Angeln gehabt. Die Makrelen beißen hier sehr gut.“ –

Der kleine Anker sank in die Tiefe, das Großsegel wurde eingezogen, und bald lag die „Else“ leise schaukelnd vor der starken Stahltrosse, die sie an dieselbe Stelle bannte.

Zwei Stunden später ging der Mond auf. Es wurde jetzt wieder fast taghell, so daß die beiden Knaben, die nebeneinander auf Deck saßen und scheinbar eifrig angelten, die „Esperanza“ ganz deutlich sehen konnten. Der alte Peter Karsten schnarchte bereits in allen Tonarten unten in der Kajüte. Er hatte sehr reichlich dem Abendbrot zugesprochen und jeden Bissen mit einem Schluck aus der Kognakflasche angefeuchtet, die Heinz für den Bootsmann besonders mitgenommen hatte.

Die Art und Weise, wie man an der Ostküste Spaniens nachts mit der Angel den zahlreichen Fischen nachstellt, ist recht eigenartig. Heinz und Fritz hatten schon oft davon gehört und sich mit allem Nötigen ausgerüstet, um auch einmal mit leuchtendem Köder eine Probe zu machen. Winzig kleine Fische werden nämlich auf den Haken gestreift und dann mit einer besonderen Phosphormischung bestrichen, die durch das Wasser nicht abgespült werden kann. Diese leuchtenden Fischlein locken dann unten in der dunklen Tiefe des Wassers hauptsächlich Makrelen in Menge an, so daß der Erfolg für den Angler nie ausbleibt. Enthält doch das Mittelmeer wie alle südlichen Ozeane eine große Anzahl von Lebewesen jeder Größe, die mit Leuchtorganen ausgestattet sind und auf die verschiedene Arten von Fischen gierig Jagd machen.

Auch die Freunde sahen die Schwimmer ihrer Angeln, die mit weißer Ölfarbe angestrichen und daher unschwer zu beobachten waren, oft genug nach unten schießen und zogen manche Makrele heraus, die dann in das im Wasser hängende Netz wanderte. Allerdings blieb ihre Aufmerksamkeit stets eine geteilte. Der Schoner wurde von ihnen mindestens ebenso gespannt beobachtet wie die auf der Flut hin und her tanzenden weißen Schwimmer ihres Angelzeuges. Aber die Zeit ging hin, und nichts ereignete sich, was Heinz Gerbers Verdacht neue Nahrung gegeben hätte.

Dann bemerkte Fritz Scharnhorst jedoch ein Boot, das plötzlich hinter der „Esperanza“ hervorschoß und auf die Jacht zukam. Drei Leute saßen darin, von denen der eine nun, als das Boot sich bis auf wenige Meter genähert hatte, barschen Tones die Knaben auszufragen begann, – wer sie seien, was sie hier trieben und wie lange sie zu fischen gedächten.

Heinz Gerber erteilte jede gewünschte Auskunft, flüsterte aber zwischenein dem Freunde zu, daß der neugierige Spanier da drüben kein anderer als der Kapitän des Schoners sei.

Dieser schien sich jetzt mit seinen Gefährten leise zu beraten. Dann schlug er einen weit freundlicheren Ton an und lud die Knaben ein, an Bord der „Esperanza“ zu kommen, wo er ihnen einen heute nachmittag gefangenen, zwei Meter langen Schwertfisch zeigen und ihnen dessen Kopf mit der schwertähnlichen Stoßwaffe für ein Geringes verkaufen wolle.

Aber Heinz, bereits argwöhnisch geworden durch ein rotes Licht, das soeben am Lande abgebrannt und von dem Schoner durch Schwenken einer Laterne erwidert wurde, lehnte rundweg ab.

Wieder besprachen die drei im Boot sich eine geraume Weile.

Heinz Gerber ahnte, daß das ersehnte Abenteuer jetzt da sei. Das Benehmen der Seeleute war ja auch verdächtig genug.

Auch Fritz Scharnhorst merkte, wie wenig den Männern von der „Esperanza“ zu trauen war. Er wurde unruhig. So kaltblütig er auch jeder Schulprüfung entgegensah, hier versagte sein scharfer, freilich nur auf wissenschaftliche Dinge gerichteter Verstand. Ängstlich schaute er sich nach Hilfe um. Aber das nächste Schiff, ein amerikanischer Dreimaster, war gut achthundert Meter entfernt. Und der Zollkutter, der nächtlich den Hafen bewachte, hatte vor kaum einer halben Stunde erst seine Rundfahrt erledigt und war dabei auch längsseit der Jacht gekommen, um sich von deren Harmlosigkeit zu überzeugen. – Das Gefühl der Verlassenheit; des auf sich selbst Angewiesenseins preßte dem blonden, schmächtigen Jungen jetzt die leise Frage über die Lippen, ob er vielleicht den alten Karsten wecken solle. Aber Heinz erwiderte ebenso leise, daß der Bootsmann ihnen kaum etwas nützen könne, falls die drei Männer wirklich feindliche Absichten hätten.

Dann ertönte auch schon wieder die rauhe Stimme des Schonerkapitäns über das Wasser.

„He, meine jungen Amigos (Freunde), habt Ihr vielleicht einen Schluck Wein an Bord? Wir haben Durst und wollen alles redlich bezahlen.“

Heinz sah, wie ein anderer der Seeleute gleichzeitig das Boot unauffällig mit den Rudern näher an die „Else“ herandrückte. Ihm schwante Böses. Aber – was sollte er tun?! Hier hieß es abwarten, was geschehen würde, und die Fremden möglichst bei guter Laune erhalten.

Der alte Karsten hatte die Kognakflasche erst halb geleert. Deshalb rief Heinz jetzt auch bereitwillig dem Kapitän zu:

„Ich werde Euch eine Flasche hinüberreichen. Das ist alles, was wir vorrätig haben.“

Doch bevor er noch das letzte Wort ausgesprochen hatte, schwangen sich schon zwei der Männer geschickt an Deck der Jacht und ebenso schnell und unerwartet wurden dann den beiden Knaben dicke Decken über die Köpfe geworfen, die jeden Schrei erstickten.

Eine Viertelstunde später befanden die Freunde sich in einem engen, völlig dunklen Verschlag im Vorschiff des Schoners. Fritz Scharnhorst hatte sich gar nicht, Heinz dagegen wie ein Verzweifelter zur Wehr gesetzt, freilich ohne Erfolg. Keuchend vor Aufregung und Anstrengung lag er jetzt mit auf dem Rücken gefesselten Händen auf den harten Planken. Die Decke hatte man ihm erst abgenommen, als die Männer ihn roh in die enge Kammer hineinstießen, die sie dann hinter sich abschlossen.

Nach einer Weile fragte Fritz Scharnhorsts klägliche Stimme:

„Bist Du da, Heinz?“

„Natürlich! Oder denkst Du etwa, ich spuke hier schon als Geist umher?! – O nein! Ich bin sogar sehr lebendig, wie Du gleich sehen wirst. Ich habe meine Hände bereits frei. – Warte – so, nun habe ich die Stricke ganz abgestreift und werde Dir denselben Liebesdienst erweisen. – Die Kerle meinen wahrscheinlich, wir sind rechte Tröpfe, die sich nicht zu helfen wissen. – Ist der Knoten aber auch fest geschlungen …!! Da – nun habe ich ihn doch aufgekriegt … – Jetzt nimm hier mal die Streichhölzer und zünde eins davon an. Ich will mir die Tür unseres Gefängnisses ansehen. Lange dürfen wir hier nicht bleiben. Wir müssen hinaus. Das weitere wird sich dann schon finden.“

Das Hölzchen flammte auf. – Heinz Gerber warf schnell einen prüfenden Blick in die Runde. Halt – da in einer Ecke stand ein großer Holzkasten. Er enthielt aber nur ein paar zerfetzte Flaggen und … einen schweren Bootshaken, dessen Stiel kurz hinter der eisernen Spitze abgebrochen war. – Der schlanke, kräftige Knabe stieß einen unterdrückten Jubelruf aus. Die Tür war ja nur aus dünnen Brettern zusammengeschlagen, zwischen denen breite Ritzen klafften.

Wenige Minuten später huschte Heinz in den dunklen Gang hinaus, um sich droben an Deck umzuschaun, wie man den Schoner am besten verlassen könne. Fritz blieb sehr gern fürs erste noch in dem Verschlage zurück.

Minute um Minute verstrich. Bald wurde der einsame, im Dunkeln dasitzende Junge ungeduldig. Allerlei Befürchtungen stiegen ihm auf. Er hörte auf Deck die Schritte vieler Menschen, hörte das leise Quietschen einer Winde, das Knarren von Tauwerk und dumpfe Stöße gegen die Bordwand des Schoners, als ob an diesen ein schweres Boot angelegt habe.

Aus den Minuten wurde eine Viertelstunde. Dann kamen eilig zwei Männer den Gang entlang, von denen einer eine Laterne trug, und betraten die kleine Kammer. Sie hatten sich Zeugfetzen vor das Gesicht gebunden, zerrten den zitternden Fritz nun wortlos aus dem Verschlage heraus, warfen ihm wieder die übelriechende Decke über den Kopf und brachten ihn eine schmale Treppe hinunter in ein neues Gefängnis, wo sie ihm Arme und Beine banden und dieses wehrlose, menschliche Bündel dann auf eine kalte, feuchte Masse warfen, – auf den Ballastsand des Kielraumes des Schmugglerschiffes.

Hier unten herrschte eine so schreckliche Luft, daß dem armen Jungen fast übel wurde. Und doch vergingen endlose Stunden, bevor er wieder das Tageslicht zu sehen bekam. Wie lange er dort in dem nassen Kielraum zugebracht hatte, wußte er nicht. Vor Erschöpfung schlief er hin und wieder ein. Nur das eine wurde ihm sowohl aus den schaukelnden Bewegungen als aus dem rieselnden Geräusch des an den Bordwänden vorbeistreichenden Wassers klar, daß der Schoner sich in voller Fahrt auf See befand. – Fritz Scharnhorst litt wahre Folterqualen an Hunger und Durst. Niemand kümmerte sich um ihn. Tiefste Dunkelheit, muffige Dünste umgaben ihn. Und er hatte die größte Mühe, durch hastiges Hin- und Herwerfen des Körpers die zudringlichen Ratten zu verscheuchen, die ihm fortwährend über den Leib liefen – Wie verwünschte er jetzt Heinz Gerber und dessen Abenteuerlust! Bange Todesgedanken quälten ihn. Vergeblich hatte er so und so oft den Namen des Freundes erst leise, dann lauter in der Hoffnung gerufen, Heinz könne sich irgendwo in der Nähe befinden.

Und dann, als er schon in halber Bewußtlosigkeit dahindämmerte, hörte er endlich wieder das Knarren einer Treppe, vernahm er Schritte, fühlte sich emporgehoben und roh vorwärtsgestoßen. Frische Luft drang durch die Wolldecke hindurch in seine Lungen. Tief, tief atmete er sie ein … Da schwanden ihm die Sinne.

* * *

Als er wieder zu sich kam und matt die Augen aufschlug, kniete Heinz neben ihm, und hinter diesem wieder stand der alte Karsten mit bekümmertem Gesicht. Dann reichte der Freund ihm aus einem Blechnapf einen Trunk Wein. Gierig schlürfte er das süßliche, feurige Getränk. Gleich darauf sank er aber auch schon erschöpft zurück. Seine Blicke irrten erstaunt, ungläubig über die Umgebung hin. Er lag am Boden eines kleinen, von jäh ansteigenden Felsenwänden eingefaßten, länglichen Tales, über dem sich der blaue Himmel ausspannte. Blendender Sonnenschein gleißte auf der schroffen, wie eine Mauer emporwachsenden gegenüberliegenden Seite dieses seltsamen Kerkers, aus dem es keinerlei Ausweg zu geben schien.

Langsam klärten sich des blonden Jungen wirre Gedanken. Dann formten seine Lippen eine bange Frage:

„Sind wir hier eingesperrt, Heinz?“

Und Heinz Gerber nickte zögernd. „Ja – bis unsere Eltern ein Lösegeld für uns bezahlen“, sagte er mit einem Versuch, recht zuversichtlich zu erscheinen. „Du brauchst also weiter keine Sorge zu haben. Lange wird unsere Gefangenschaft hier nicht dauern, Fritz. Zunächst schlafe Dich mal tüchtig aus, damit Du wieder zu Kräften kommst.“

Diese Mahnung war eigentlich überflüssig. Fritz fühlte, wie ihm von selbst die Augenlider vor Mattigkeit immer schwerer wurden. Und ganz schnell und plötzlich war er in das glückliche Land der Träume hinübergeschlummert.

Da erhob Heinz Gerber sich, machte seine Hand, die die des Freundes noch gehalten hatte, frei und sagte zu Peter Karsten, der traurig an seiner leeren Tabakpfeife sog:

„Benutzen wir die Zeit, mein Alter, um uns hier ein wenig umzusehen. Nun, wo ich weiß, daß Fritz die Schrecken der letzten Tage überstehen wird, ist mir um unsere Zukunft nicht bange. Wir müssen eben zusehen, daß wir uns in diesem steinernen Gefängnis so gut wie möglich häuslich einrichten. – Vorwärts, Peter. Setzen Sie ein anderes Gesicht auf! Sie alter Seebär werden doch nicht so schnell die Flagge streichen, wenn’s Ihnen mal ein bißchen schlecht geht …!“

Der Bootsmann raffte sich auf. „Recht haben Sie, junger Herr! Mir ist aber noch immer ganz dumm im Kopf … – Wenn ich nur Tabak hätte!! Den vermisse ich am meisten.“

„Pfui, alter Peter, wie kann man so selbstsüchtig sein!“ meinte Heinz, dessen Stimmung sich von Minute zu Minute mehr aufbesserte. „Erst haben wir an anderes zu denken, als an Ihren leeren Pfeifenkopf! Los denn – machen wir einen Rundgang durch unser Tal, dessen Länge ich auf zweihundert Meter bei einer größten Breite von fünfzig Meter schätze. – Ein merkwürdiger Ort – nicht wahr? Es sieht aus, wie eine eiförmige, riesige Kuchenform. – Was meinen Sie, Peter, wo wir uns wohl befinden mögen? Auf dem Festlande, auf einer Insel …?“

Sie waren inzwischen am Fuße der Steilwand weitergeschritten und näherten sich nun ein paar Lorbeerbäumen, die in der Ostecke des Tales wuchsen, wo auch eine kleine Rasenfläche sich auf dem sonst sandigen Boden ausbreitete.

„Ich kalkuliere – auf einer Insel“, meinte Peter Karsten bedächtig. „Wir sind genau einen Tag über See gefahren. Das habe ich festgestellt, indem ich im Dunklen die Zeiger meiner Uhr von Zeit zu Zeit mit den Fingerspitzen befühlte.“

Aber Heinz Gerber hörte kaum darauf hin, was der Alte sagte.

„Da – Peter, – eine Quelle zwischen den Bäumen, eine klare, kräftige Quelle!“ rief er jetzt frohlockend aus. „Überhaupt – dieser grüne Platz hier eignet sich vorzüglich zum Aufschlagen unseres Zeltes. Hier werden wir unser Heim gründen, alter Peter! Und, passen Sie nur auf: wir richten uns ganz gemütlich in dieser Steinmulde ein, die uns die Herren Schmuggler als Kerker bestimmt haben.“

„Gemütlich?! – Ohne Tabak!! – Und – ein Zelt …?! Wo nehmen wir das her?!“

„Haben uns die Banditen nicht sechs große Decken neben den Proviantvorräten und den anderen Dingen hiergelassen?! Vier von denen genügen für ein Zelt. Sehen Sie hier diesen dichtbelaubten Lorbeerbaum?! An dessen Stamm befestigen wir die Decken, die wir schon irgendwie zusammennähen werden. Die beiden anderen schneiden wir zu vier gleichgroßen Stücken auseinander, damit wir für unsere Lagerstätten ein Zudeck haben. – Machen Sie nicht so ein verdutztes Gesicht, mein Alter! Traurig genug, wer sich nicht zu helfen weiß! Ich bin hier ganz in meinem Element! Was schadet’s uns, wenn wir hier vielleicht für acht Tage eine unfreiwillige Sommerfrische genießen! – Damit Sie aber durch Arbeit schnell wieder Ihren wirren Kopf etwas klären, lieber Peter, raufen Sie gleich mal von diesem schönen Grase so viel aus, wie wir für drei Betten als Polsterung gebrauchen. Inzwischen hole ich die Decken herbei. Die Sonne wird bald untergehen, und vielleicht wird es nachts in diesem Felsenkessel empfindlich kühl. Jedenfalls haben wir die Pflicht, für unseren armen Fritz ein leidliches Unterkommen zu schaffen, damit er uns nicht krank wird.“ –

* * *

Zwei Stunden später war nicht nur das Zelt unter dem Lorbeerbaume fertig, sondern auch für Fritz Scharnhorst darin ein weiches Lager hergerichtet, auf dem er jetzt ganz behaglich ruhte und durch die zurückgeschlagene eine Zeltdecke zusah, wie Heinz sich abmühte, ein paar halbdürre Zweige mit Hilfe von Streichhölzern zum Brennen zu bringen, die in einem aus Felsbrocken hergestellten Herde aufgeschichtet waren. Endlich flammte das Feuer auf, fraß weiter um sich und leckte bis zu dem Blechnapf empor, der über der Feueröffnung stand und in den Heinz einige harte Schiffszwiebacke sowie reichlich Wasser getan hatte, um daraus für den Freund eine bescheidene, aber warme Suppe zu kochen.

Peter Karsten war in der Nähe damit beschäftigt, aus grünen Zweigen eine zweite Hütte zu errichten, in der die Vorräte untergebracht werden sollten: zwei Kisten Schiffszwieback, ein Fäßchen Stockfisch und zehn große Blechdosen mit Gemüsekonserven, drei mit spanischem Wein gefüllte, plumpe Tonkannen und ein Napf voll Honig sowie eine Büchse Tee.

Außer diesem Proviant hatten die Schmuggler ihren Gefangenen nur noch die bereits erwähnten sechs wollenen Decken sowie drei gewöhnliche flache Blechnäpfe und drei verbeulte, zinnerne Trinkbecher sozusagen als Kerkerausstattung bewilligt. Dann hatte man den Gefangenen aber auch ihre ganze Habe gelassen – mit Ausnahme der Geldbörsen, die einer der Schmuggler angeblich „in Verwahrung nehmen“ wollte, was natürlich nur ein anständigerer Ausdruck für „stehlen“ war. Viel hatten ja Fritz Scharnhorst und Peter Karstens Geldtäschchen nicht enthalten. Nur bei Heinz war dem fürsorglichen edlen Spanier reichere Beute zugefallen. – Mithin verfügten die Gefährten noch über drei Taschenmesser, zwei halbvolle Streichholzschachteln, ihre Nickeluhren nebst Kette, einen Kompaßanhänger und andere weniger wichtige Kleinigkeiten. –

Der Abend brach an. Die Schatten der Dämmerung begannen schnell das Felsental zu füllen, über dem jetzt ein rotgelber Himmel in wunderbarer Sonnenuntergangstimmung lagerte.

Nun war auch die Brotsuppe für den Kranken fertig. Einen Löffel gab es nicht, also mußte Fritz mit einem der Zinnbecher den Napf langsam ausschöpfen. Auch der Bootsmann und Heinz Gerber nahmen jetzt, neben dem Lager ihres Kameraden sitzend, ihr Nachtmahl ein, das aus Zwieback und mit Honig gesüßtem Tee bestand. Von letzterem bekam auch der Patient zu trinken, der sich zusehends erholte und bereits, angesteckt durch die zuversichtlichen Mienen seiner Gefährten und durch des Freundes hoffnungsvolle Schilderung ihrer Lage, die Schrecknisse des Aufenthaltes im Kielraum des Schoners mehr und mehr zu vergessen begann. Auf seine Bitte hin gab Heinz ihm dann auch eine eingehende Schilderung seiner und Peter Karstens Erlebnisse.

Dieser war, nachdem die Schmuggler die Knaben überwältigt und nach der „Esperanza“ geschafft hatten, gleichfalls gewaltsam von Bord der „Else“ herabgeholt und gebunden in die Segelkammer des Schoners gelegt worden, wo man ihm später die Fesseln abnahm als er fest versprach, sich völlig ruhig zu verhalten. Er hatte seine beiden jungen Leidensgefährten dann erst in dem Tale wiedergesehen, in das man ihn, wie auch Heinz und Fritz, an starken Lederlassos mit einer über den Kopf geworfenen Decke herabließ. – Heinz Gerber wieder war, als er auf Deck der „Esperanza“ sich nach einer Gelegenheit zum Entweichen umsehen wollte, sehr bald von den Schmugglern, die eifrig mit dem Beladen zweier neben dem Schoner liegenden, plumpen Frachtböte beschäftigt waren, entdeckt und dann gefesselt in die Kajüte des Kapitäns gebracht worden. Hier mußte er, bevor der Schoner in See stach, einen Brief an seinen Vater schreiben und diesem mitteilen, daß sie in die Hände von nordafrikanischen Riffpiraten gefallen seien, die sie nur gegen Lösegeld freigeben würden. – Im übrigen war Heinz von den Schmugglern leidlich gut behandelt worden, – sicherlich nur deswegen, weil er der Sohn des als reich bekannten deutschen Großkaufmannes war und weil die Banditen durch ihn ein gutes Geschäft zu machen hofften. Auch er wurde schließlich mit umhülltem Kopf von dem Schoner fortgebracht und nach kurzer Fahrt in einem arg schaukelnden Boot durch eine Brandung an Land und dann nach längerem Fußmarsch in das Tal hinabgelassen, wo ein langer Bursche mit einem Tuchfetzen vor dem Gesicht ihm die leicht gefesselten Hände losgeknüpft, und die Decke abgenommen hatte, der dann mit Hilfe des Lassos von unsichtbaren anderen Schmugglern wieder nach oben gehißt worden war. Und hier fand Heinz zu seiner großen Freude auch seine Gefährten wieder. – Was mit der Jacht geschehen war, wußte weder der alte Karsten noch Heinz. Ersterer vermutete aber, daß die Schmuggler das hübsche Segelboot, welches sie nur verraten konnte, wahrscheinlich ruhig auf der Reede von Barcelona zurückgelassen hätten.

An diese Schilderung ihrer gegenseitigen Abenteuer knüpfte man dann auf Heinz Gerbers Vorschlag eine Art Beratung an, wie man sich das Leben in dem Felskessel einrichten und sich weitere Bequemlichkeiten schaffen wollte.

Der alte Bootsmann hatte inzwischen den Herd mit neuem Holz versorgt, so daß der Schein des flackernden Feuers das Zelt innen vollkommen erleuchtete. Die Befürchtung, es könne nach Sonnenuntergang in dem Talkessel vielleicht empfindlich kühl werden, traf nicht zu. Tagsüber hatten die Felswände soviel Wärme aufgesogen, daß die Temperatur zwar etwas abnahm, aber doch sehr angenehm blieb.

Peter Karsten zeigte jetzt bei der Beratung, daß er ein höchst nützliches Mitglied der kleinen „Kolonie“, wie Heinz sich scherzend ausdrückte, zu werden versprach. Er war es, der gleich am nächsten Tage Löffel und Gabeln zu schnitzen versprach und der auch darauf drang, daß der Proviant in Portionen geteilt wurde, die einen Monat vorhalten mußten.

„Sicher ist sicher!“ meinte er, schon wieder an seiner kalten Pfeife saugend. „Wir können nicht wissen, wie lange wir hier festgehalten werden. Es können immerhin Vorfälle sich ereignen, die unsere Auslösung in die Länge ziehen.“

Heinz und Fritz gaben dem Alten völlig recht. – Wie trefflich sein umsichtiger Vorschlag gewesen war, sollte sich denn auch später zeigen. –

* * *

Nach einem festen Schlaf bis in den anderen Vormittag hinein erhoben der alte Peter und Heinz sich neugestärkt, um sofort mit der Zubereitung des Morgenimbisses zu beginnen. Fritz mußte noch liegen bleiben, da er seine Kräfte schonen sollte. Er war aber bereits wieder vollkommen frisch und plauderte eifrig mit den Gefährten, die sich vor dem geöffneten Zelt hin und her bewegten.

Nachher wusch er sich dann aber ebenfalls in der kalten Quelle, wie dies schon seine Kameraden vor ihm getan hatten, und reinigte sich auch nach dem Beispiel des Bootsmannes mit einem an einem Ende zerkauten Lorbeerzweig die Zähne, eine Art der Zahnpflege, die Karsten auf seinen Seereisen als Matrose bei verschiedenen, ihrer Sauberkeit wegen bekannten Naturvölkern, so den Malaien auf Sumatra, beobachtet hatte.

Nach dem Morgentee, zu dem es wieder Zwieback gab, wurde zunächst die Vorratshütte durch Zweige und Stücke der Rinde eines abgestorbenen Lorbeerbaumes möglichst wasserdicht gemacht, damit der Proviant bei Eintritt von Regenwetter nicht Schaden leide. Dann begann Peter Karsten mit dem Anfertigen der Holzlöffel und -gabeln. Mittlerweile hatte auch Fritz Scharnhorst sich wieder fertig angezogen und machte nun mit Heinz zusammen einen Rundgang durch das Tal, um dieses einmal ganz genau zu besichtigen.

In lebhaftem Gespräch schritten die Freunde zunächst an der südlichen Wand nach Westen zu entlang. Fortwährend schweiften ihre Augen suchend über steil emporstrebende, stellenweise gut dreißig Meter hohe Felsenmauern hin, ob diese nicht vielleicht irgendwo die Aussicht böten, an ihnen emporklimmen zu können. Doch diese Hoffnung war mehr als eitel. Glatt stiegen die grauschwarzen, hier und da von rötlichen Adern durchzogenen Granitwände wie die Mauern eines Gefängnishofes empor und gingen dann hoch oben in felsige Hügel über, die kahl und unwirtlich ihre phantastisch geformten, zerrissenen Spitzen in die Luft reckten.

Der Boden des Tales war zumeist mit Sand und auch mit Steingeröll bedeckt, zwischen dem aber doch ein paar armselige Kräuter in spärlicher Anzahl Wurzel geschlagen hatten.

Fritz Scharnhorst, der vorhin wieder den alten Bootsmann traurig über den Mangel an Rauchtabak klagen gehört hatte, wechselte jetzt mit dem Freunde ein paar Worte, worauf sie eine niedrige, breitblättrige Pflanze mit kleinen, gelben Blüten einzusammeln begannen, die in der Ostecke des Tales zwischen Geröll ziemlich üppig wucherte. Jeder nahm einen großen Strauß davon mit. Dann setzten sie ihren Weg an der nördlichen Wand in Richtung auf ihren Lagerplatz wieder fort, schritten über diesen hinaus und gelangten so auch an die Stelle, wo der Quelle vor der Felswand einen von grünem Rasen und niedrigen Sträuchern umgebenen Tümpel bildend, durch ein kaum ein halbes Meter hohes Loch in den Granitmassen als unterirdischer Wasserlauf verschwand.

Der kleine Teich hatte ungefähr die Form eines Halbkreises, dessen Sehne ein vielleicht zwölf Meter langes Stück der Felswand bildete. Ziemlich in der Mitte dieser Sehne lag die Abflußöffnung, die jedoch so schmal war, daß selbst ein Kind sich nicht hätte hindurchzwängen können. Im Innern der Felswand senkte sich die Decke dieses engen Kanals sofort fast bis auf den Wasserspiegel herab, so daß Heinz Gerber den blitzartig in ihm aufgetauchten Gedanken, den Tunnel vielleicht zur Flucht benutzen zu können, schnell wieder aufgab.

Der Teich, der durch eine von der Quelle ausgefüllte, recht tiefe Bodensenkung entstanden war, hatte trübes milchiges Wasser. Dies war auf eine Tonschicht zurückzuführen, über die der Quell kurz vor seinem Eintritt in das natürliche Bassin hinwegrieselte, wobei eine Menge Tonschlamm mit fortgeführt wurde.

Während Heinz Gerber mit einem langen Ast die Tiefe des Tümpels maß, war sein Freund Fritz in den Büschen, die kaum halbe Mannshöhe hatten und nur an einer Stelle ein bescheidenes Dickicht bildeten, umhergestreift. Er glaubte, hier auf dem fruchtbareren, stets feuchten Boden vielleicht noch diese oder jene nützliche Pflanze zu finden, die eine Abwechslung in den Speisezettel bringen könnte. Doch was an diesem Orte wuchs, war lediglich Unkraut, darunter auch einige Giftpflanzen, von deren Vorhandensein auf der Pyrenäenhalbinsel der auch in der Botanik sehr bewanderte Knabe noch nie etwas gehört hatte. Gerade diese Giftgewächse, unter denen besonders der Giftlattich und das gemeine Bilsenkraut, die auch in Deutschland häufig anzutreffen sind, recht zahlreich waren, brachte ihn auf die Vermutung, daß dieser Felsenkerker außerhalb des spanischen Festlandes liegen müsse. Als er diesem Gedanken noch weiter nachging und sinnend vor sich hinblickte, gewahrte er zufällig unter den Sträuchern halb verborgen eine Art Steinplatte von quadratischer Form, die, von Gras bereits überwuchert und stellenweise mit Erde und Sand bedeckt, trotzdem noch eingegrabene Schriftzeichen erkennen ließ.

Ganz erregt über diesen merkwürdigen Fund gerade in diesem von der Außenwelt völlig abgesperrten Talkessel rief er Heinz herbei, mit dessen Hilfe er dann die Platte nach dem Quellbache schleppte, da er sie bei ihrer Größe von gut einem Meter im Quadrat allein nie hätte bewältigen können. Nachdem die Freunde sie sauber abgespült hatten, traten die eingegrabenen Buchstaben ganz deutlich hervor, ebenso wie sich jetzt auch wahrnehmen ließ, daß die Tafel aus Ton hergestellt und dann im Feuer gehärtet worden war.

Neugierig knieten die Knaben neben der Platte im Grase und beugten sich tief über die Schrift herab, um diese zu entziffern.

Es waren lateinische Buchstaben, und die Inschrift selbst war in spanischer Sprache abgefaßt. Sie lautete in deutscher Übersetzung folgendermaßen:

Im Herbst des Jahres 1882

Seit acht Jahren hier von den Parteigängern des Kronprätendenten Don Karlos gefangengehalten, habe ich vor drei Tagen einen Ausweg aus meinem Gefängnis entdeckt. Um Leuten, die ein ähnliches Schicksal erleiden wie ich, ebenfalls die Möglichkeit zur Flucht zu geben, habe ich aus dem Ton am Rande des kleinen Teiches diese Tafel geformt, die Inschrift eingeritzt und die Platte dann in den Flammen dauerhafter gemacht.

Wer nachzudenken weiß, wird das Untenstehende zu enträtseln wissen:

„Manches, das verschlossen scheint, ist dennoch offen. Beuge Dich, o Mensch, auch wenn Du noch so stolz bist! Scheue nicht die Kälte der Quelle. Es wird nur ein erfrischendes Bad werden, und hinterher winkt die Freiheit.“

Graf Pablo d’Armasato.

„Hm“, meinte Heinz, der das Spanische ebenso gut wie Fritz Scharnhorst beherrschte, „das klingt ja beinahe so, als ob man in die Quelle hineinsteigen müßte, um dort unter Wasser ein Mauseloch zu entdecken, durch das man diese Sommerfrische verlassen könnte. – Das ist natürlich vollkommen unmöglich. Also wird es sich wohl nur um eine Mystifikation handeln, die irgend ein Witzbold unter den Schmugglern sich zum Zeitvertreib gelegentlich geleistet hat.“

„Vielleicht hast du recht, Heinz“, erklärte Fritz Scharnhorst nachdenklich. „Jedenfalls wollen wir die Platte aber mit nach unserem Zelt nehmen. Vielleicht können wir sie zu irgend etwas benutzen.“

Der alte Bootsmann, der inzwischen mit seiner Schnitzarbeit fertig geworden war, schüttelte sehr erstaunt den Kopf, als die Freunde mit der Steintafel anmarschiert kamen, auf die sie die vorher gesammelten breitblätterigen Pflanzen gelegt hatten. Sein verwittertes, faltiges Gesicht erstrahlte aber sofort in höchster Wonne, als Fritz, auf die Pflanzen deutend, sagte:

„Wissen Sie auch, was das ist, lieber Peter?! – Na, raten Sie mal! – – Also Sie kennen dieses wunderbare Kraut nicht, das die Bewohner der katalanischen Berge Tabacetto, kleine Tabakstaude, nennen?! Und doch wird es Ihnen gerade den Genuß vermitteln, den Sie so sehr entbehren. Wenn Sie die Blätter der Tabacetto erst eine Weile in Wasser einweichen, dann übereinanderschichten und in der prallen Sonne trocknen lassen, so erhalten Sie einen Ersatz für echten Rauchtabak, wie er gar nicht besser sein kann.“

Peter Karsten wußte gar nicht, wie sehr er sich bei Fritz für dieses „Geschenk des Himmels“ bedanken sollte. „Man sieht, die Gelehrsamkeit hat doch auch ihre guten Seiten“, sagte er frohlockend. „Sofort mache ich einen Versuch – sofort! Zum Glück brennt die Sonne ja mit aller Kraft in unseren Gefängnishof hinunter.“ –

Und tatsächlich – bereits am Nachmittag schmauchte der Alte mit größtem Behagen sein Pfeifchen. Er war jetzt ein ganz anderer Mensch geworden, beinahe ausgelassen vergnügt, und abends, als man nach der Mahlzeit um die gemütliche Flamme des Herdes herum im Grase lag, erzählte er sogar allerlei Abenteuer aus seinem reichbewegten Seefahrerleben, was höchst selten vorkam, da er nicht gerade zu den geschwätzigen Naturen gehörte.

Heinz Gerber lauschte den Erzählungen des Bootsmannes mit atemloser Spannung. Fritz jedoch saß mehr in sich gekehrt da und hatte zumeist die Augen auf die seltsame Tonplatte gerichtet, die ein Stückchen weiter an einen Baum lehnte. Daß die Inschrift der Tafel nicht lediglich eine Mystifikation war, hatte er sofort erkannt, als er den Namen Pablo d’Armasato darunter las. Dieser hatte in der Politik Spaniens um das Jahr 1870 eine gewisse Rolle gespielt, wie Fritz Scharnhorst sehr wohl wußte, war dann eines Tages spurlos verschwunden und erst nach einem Jahrzehnt plötzlich wieder aufgetaucht, wurde aber schon wenige Tage später auf geheimnisvolle Weise ermordet, bevor jemand noch erfahren hatte, wo er sich während seiner langen Abwesenheit aufgehalten haben mochte. – Verglich man nun diese geschichtlichen Tatsachen mit den Angaben auf der Tontafel, so konnte man mit Recht zu der Überzeugung gelangen, daß die Platte endlich ein Rätsel löste, dem man besonders in spanischen Regierungskreisen bisher vergeblich nachgespürt hatte. Jedenfalls glaubte Fritz hiernach alle Veranlassung zu haben, der Inschrift erhöhte Beachtung zu schenken. Das tat er denn auch. Den ganzen Nachmittag hatte er schon darüber nachgegrübelt, was die mehr als merkwürdigen letzten Sätze bedeuten könnten. Aber sosehr er auch alle Möglichkeiten erwog – keine einzige paßte auf die eigenartigen Anweisungen, die Graf d’Armasato zur Auffindung des Weges in die Freiheit gab.

Auch als die drei Gefährten sich dann in das Zelt zur Ruhe begeben hatten, blieb Fritz Scharnhorst noch lange wach. Endlich schlief er ein. Aber selbst in seine Träume hinein verfolgte ihn die geheimnisvolle Inschrift. –

* * *

Der nächste Morgen brachte bei klarem Himmel, aber stark abgekühlter Luft, einen heftigen Sturm, der in allen Tonarten droben um die Felszacken der Granithügel heulte und pfiff. Unten in dem Talkessel merkte man von dem Orkan freilich so gut wie nichts. Nur das Konzert der Windsbraut in den zerklüfteten Felsen oberhalb der Steilwände war deutlich zu vernehmen. Schwieg der Sturm einen Augenblick, so hörten die drei Gefangenen trotzdem noch ein fernes, ununterbrochenes Brausen und Donnern, das Peter Karsten als das Geräusch einer starken Brandung deutete, woraus er abermals schloß, daß man sich auf einer Insel befinden müsse, eine Vermutung, die ja auch mit Fritz Scharnhorsts Annahme, wonach das Tal wegen der darin vorkommenden Giftpflanzen nicht auf der Pyrenäen-Halbinsel selbst liegen könne, in Einklang stand.

Völlige Sicherheit über diese Frage sollten die Gefährten dann am Nachmittag auf eine recht eigentümliche Weise erhalten. Der Sturm hatte sehr bald wieder nachgelassen, und dafür machte sich eine Schwüle bemerkbar, die auf ein nahendes Gewitter hindeutete. Aber nirgends zeigte sich an dem Teil des Äthers, den man aus dem Felsenkessel überschauen konnte, auch nur das kleinste Wölkchen. Die drei Kameraden hatten dann gerade mit der Herrichtung ihrer Abendmahlzeit begonnen, als Heinz Gerber plötzlich einen lauten Ruf der Überraschung ausstieß und mit der Hand nach Osten, also in der Längsrichtung des Tales, hindeutete.

Dort stand am Himmel eine Fata Morgana, eine Luftspiegelung, die klar und in allen Einzelheiten scharf zu erkennen eine Insel darstellte, allerdings so, daß deren Bild von oben aufgenommen und als Schmuck in den unendlichen Himmelsraum verpflanzt zu sein schien. Eine Insel war es eigentlich nicht, die die Gefährten schräg über sich auf einer leicht bewegten, hie und da mit weißen Wogenkämmen betupften Wasserfläche herausragen sahen. Mehr ein aus dunklen Felsmassen aufgetürmtes Eiland von ausgesprochen herzförmiger Gestalt, durch das sich wie ein dunkler Strich ein offenbar recht tiefer Taleinschnitt hindurchzog.

Jede Luftspiegelung hat bekanntlich ihre Ursache in der ungleichen Erwärmung der übereinander lagernden Luftschichten, wodurch diese bisweilen geradezu wie ein Spiegel wirken, in dem man nicht nur nahegelegene, sondern auch sehr weit entfernte Landschaftsbilder, Städte, Dörfer und anderes mehr erblicken kann.

Eine ganze Weile starrten die Gefährten das Bild des auf den Kopf gestellten Eilandes dort über sich mit einem Gemisch von neugierigem Staunen und abergläubischer Scheu an. Dann war es Peter Karsten, der zuerst das Schweigen brach, indem er laut erklärte:

„Jetzt weiß ich, was das Geisterbild darstellt: es ist die Insel, auf der wir uns zurzeit befinden. In dem eiförmigen Tale sind ja ganz deutlich die Lorbeerbäume als grüner Fleck zu erkennen und auch daneben die grüne Rasenfläche, die sich an dem Lauf der Quelle entlangzieht.“

Heinz und Fritz mußten dem Alten recht geben. Bei genauem Hinsehen war jeder Zweifel ausgeschlossen.

Leider wurde die Luftspiegelung dann sehr bald wieder undeutlich. Die Umrisse verschwammen, das ganze Bild verzerrte sich, wurde schwächer und schwächer, bis es ganz verschwand.

Und wieder war es der alte Bootsmann, der jetzt auch näheren Aufschluß über das kleine Felseneiland zu geben vermochte. Er war schon so manches Mal daran vorübergesegelt, wenn er mit Heinz’ Vater längere Kreuzfahrten nach der Balearen-Gruppe unternommen hatte. Diese Inseln, die schon im Altertum ihrer Fruchtbarkeit wegen berühmt waren und deren größte Malorka heißt, liegen östlich von Spanien im Mittelmeer und sind von Barcelona aus mit einem guten Segler in einem Tage zu erreichen. Die Bewohner der Balearen waren früher als tapfere Krieger sehr geschätzt und wußten besonders gut mit der Steinschleuder, der Balea, umzugehen. Als „balearische Schleuderer“ taten sie sowohl im Heere des großen karthagischen Feldherrn Hannibal als auch später im Solde Roms Dienst.

„Ich kenne dieses Eiland sehr gut, wenigstens aus der Ferne“, erklärte Peter Karsten eifrig. „Es erhebt sich mit völlig steil aus dem Meere emporwachsenden Felsenufern nördlich von Malorka wie ein riesiger Felsblock aus den Fluten. – Allgemein glaubt man, daß man dort überhaupt nicht landen könne. Die Balearen nennen es Roka Desierta, den einsamen Felsen.“

Heinz Gerber klopfte jetzt dem[2] Freund übermütig auf die Schulter. „Siehst du, Fritz, also ganz regelrechte Robinsons sind wir geworden …! Ein besseres Ferienabenteuer hätten wir uns kaum wünschen können.“

Doch der erwiderte nur ernst: „deine Sucht nach merkwürdigen Erlebnissen läßt dich völlig übersehen, daß unsere Eltern vielleicht schon jetzt in schwerer Sorge um uns sind und daß dieses Abenteuer auch durch die Lösegelder recht kostspielig werden kann.“

Da senkte Heinz beschämt den Kopf, zumal auch der alte Peter noch hinzufügte: „Es ist noch nicht aller Tage Abend! – Wollen erst mal abwarten, wie diese Geschichte hier eigentlich ausläuft.“ –

* * *

Leider sollte die Zukunft zeigen, wie berechtigt die Bedenken des Bootsmannes und Fritz Scharnhorsts gegen Heinz’ ein wenig allzu jugendlich-leichtfertige Auffassung dieses Erlebnisses gewesen waren. Vier Wochen gingen hin, ohne daß auch nur eine Menschenseele sich auf dem Eiland blicken ließ. Von Tag zu Tag hatten die drei Gefährten auf das Erscheinen der Schmuggler und auf die endliche Befreiung mit steigender Ungeduld gehofft. Mit Schrecken sahen sie ihre Vorräte an Lebensmitteln immer mehr dahinschwinden. Ihre anfänglich so zuversichtliche Stimmung war völlig umgeschlagen. So sehr sie jetzt auch mit den Resten des Proviants[3] sparten, so klein auch die täglichen Portionen bemessen wurden, – sehr lange würde es nicht mehr dauern, dann standen sie dem drohenden Hungertode gegenüber.

Langsam, eintönig schleppten sich die Tage hin. Heinz Gerber hatte das frohe, übermütige Lachen völlig verlernt. Der Gedanke, daß er allein an diesem ganzen Unheil schuld sei, bedrückte ihn aufs schwerste. Umsonst hatte er eine halbe Woche dazu benutzt, um mit Hilfe von Steinen an einer günstigen Stelle der Talwand Stufen in den harten Granit einzumeißeln. Erst nachdem er sich die Hände arg zerschunden hatte, sah er ein, daß er auf diese Weise – und das hatten ihm der alte Peter und Fritz gleich gesagt! – nie einen Weg in die Freiheit für sich und die Gefährten bahnen würde.

Am Ende der fünften Woche ihrer Gefangenschaft besaßen die drei Kameraden dann gerade noch so viel Lebensmittel, um bei äußerster Sparsamkeit noch vier Tage sich leidlich durchhelfen zu können.

Niedergeschlagen und wortkarg lagen sie jetzt zumeist im Schatten des kleinen Lorbeerhaines im Grase und hielten die Blicke wie magnetisch auf jene Stelle der Talwand gerichtet, von der aus die Schmuggler sie seinerzeit an dem geflochtenen Lederriemen in den Felsenkessel herabgelassen hatten. Jeder von ihnen lebte der stillen Hoffnung, daß dort oben plötzlich ein mit einem Tuchfetzen verhülltes Gesicht auftauchen könne … – aber nichts war zu sehen als die grauschwarzen Felsmassen und darüber der klare, blaue Himmel, der in diesen fünf Wochen sich nur an wenigen Tagen mit dunklen Regenwolken bedeckt hatte.

Wieder war ein neuer Morgen angebrochen. Ein halber Zwieback für jeden – das war der erste Imbiß. Heinz und Fritz sahen jetzt auch äußerlich wie armselige Robinsons aus. Ihre leichten Anzüge waren recht schadhaft geworden, ihre Gesichter, Nacken und Hände von den Sonnenstrahlen braunrot gebrannt. Dabei magerten sie immer mehr ab. In ihre vorher noch so knabenhaften Züge war ein ganz anderer Ausdruck hineingekommen. Diese Wochen hatten sie um Jahre älter gemacht.

Besser stand es um den alten Bootsmann, der die Entbehrungen leichter ertrug, und dessen blauer, derber Matrosenanzug alle Strapazen weit besser aushielt. Jetzt war er derjenige, der den Mut seiner jugendlichen Gefährten immer aufs neue wiederaufzurichten suchte. Aber seinen Worten fehlte hierbei die Kraft der inneren Überzeugung. Und daher sagte auch an diesem neuen Morgen Heinz etwas ungeduldig, als Peter Karsten abermals im Hinblick auf die kläglichen Reste des Proviants erklärt hatte: „Kommt Zeit, kommt Rat …! Wir werden uns schon irgendwie weiterhelfen.“

„Auf dieses „wie“ bin ich wirklich neugierig …! – Lassen Sie doch diese Redensarten, Peter, an die Sie ja selbst nicht glauben! Wir sind keine Kinder mehr, der Fritz und ich! – Oder – haben Sie vielleicht so lange Arme, um sich aus den Scharen von Zugvögeln, die allnächtlich flügelrauschend und alle möglichen Schreie ausstoßend über unser Tal hinweg gen Süden fliegen, ein paar fette Enten herausgreifen zu können?!“

Der Alte blickte traurig und ein wenig verlegen zu Boden. Plötzlich hob er dann aber wie elektrisiert den Kopf und rief:

„Junger Herr, Sie haben mich eben auf einen guten Gedanken gebracht!“

Der Plan, den er dann entwickelte, wie man vielleicht einige Zugvögel in das Tal locken und durch Steinwürfe töten könne, fand schließlich die Zustimmung der beiden Knaben, obwohl diese recht große Zweifel an dem Erfolge hegten.

Nach Einbruch der Dunkelheit wurde mitten in dem Talkessel ein großes Feuer angezündet. Um dieses längere Zeit unterhalten zu können, hatten die Gefährten vier verdorrte Lorbeerbäume dadurch gefällt, daß sie rings um den Stamm an der Erde trockene Zweige aufgehäuft und in Brand gesteckt hatten, so daß der Baum langsam verkohlte und schließlich wirklich umstürzte.

Peter Karsten hoffte eben, durch den hellen Feuerschein ermüdete Vögel anzuziehen, wie man dies ständig bei den Leuchttürmen beobachten kann, deren Scheinwerferlampen jährlich unzähligen gefiederten Wanderern das Leben kosten.

Doch so gut der Alte es auch gemeint und so sehr er reiche Beute mit Sicherheit erwartet hatte: sein Plan mißlang vollständig. Der einzige Erfolg bestand darin, daß die armen Robinsons viel Brennholz unnütz geopfert und eine ganze Nacht umsonst gewacht hatten.

Müde und verzagt krochen sie schließlich in ihr Zelt, streckten sich auf ihr Graslager hin und verfielen bald in einen tiefen Schlaf – wenigstens der alte Peter und Heinz Gerber.

Fritz Scharnhorst dagegen blieb noch eine lange Weile munter. Ihm wollte heute wieder einmal die geheimnisvolle Inschrift auf der Tontafel des Grafen d’Armasato nicht aus dem Sinn. Fortwährend mußte er an die rätselhaften Anweisungen denken. Mit den beiden Kameraden hatte er darüber ernsthaft nie wieder gesprochen. Jetzt, wo das Gespenst des Hungers schon im Hintergrunde auf sie lauerte, begann das nutzlose Grübeln von neuem.

Draußen graute bereits der Morgen, als er dann endlich doch einschlief. Aber auch heute nahm er die Gedanken an die merkwürdigen Sätze der Inschrift mit in seine Träume hinüber, setzte noch im Schlaf die Versuche fort, eine Lösung für jenes Rätsel zu finden.

Und da ereignete sich etwas, das auch manchen Gelehrten vor ihm schon begegnet war: das traumbefangene Hirn leistete bessere Arbeit als in wachem, bewußtem Zustand.

Fritz Scharnhorst träumte, daß der Graf d’Armasato in prächtigen, altertümlichen Gewändern vor dem Zelte stand, ihm befehlend zuwinkte, ihn dann an der Hand nahm und zu dem kleinen Teiche hinführte. Hier blieb er stehen und sagte: „Der unterirdische Kanal, durch den die Quelle abfließt, erscheint zwar auf den ersten Blick für einen Menschen völlig unpassierbar, ist aber doch zu betreten, wenn man nur das Geheimnis kennt, das sich unter dem milchigen Wasser des Teiches verbirgt. Die Öffnung in der Felswand erweitert sich nämlich unter dem Wasserspiegel derart, daß man in gebückter Haltung, auf dem Grunde des Teiches vorwärtsschreitend, bequem mit über dem Wasser befindlichen Kopf ein Stück in den Tunnel eindringen kann, der dann sehr bald breiter wird und bis zum Meeresstrande hin gangbar ist.“ – Nach diesen Worten schien sich die Gestalt des Grafen in schnell zerflatternde Nebelschleier aufzulösen, und Fritz Scharnhorst erwachte.

Ja – er saß jetzt aufrecht auf seinem Lager, rieb sich die Augen und suchte sich alle Einzelheiten seines Traumes ins Gedächtnis zurückzurufen. Das gelang ihm wirklich – genau so wie den berühmten Mathematikern Bradley und Gauß, die ebenfalls im Traum die Lösung schwieriger Probleme gefunden haben, ein Vorgang, der beweist, daß unser Hirn tatsächlich im Schlaf oft mit erhöhter Leistungsfähigkeit arbeitet. –

Kaum zehn Minuten später weckte Fritz Scharnhorst vorsichtig den Freund, um nicht auch den alten Peter munter zu machen, und eilte mit ihm, nachdem er ihm seine wichtige Entdeckung kurz mitgeteilt hatte, nach dem kleinen Tümpel hin.

Fritz’ Kleider trieften vor Nässe. Hatte er sich doch nicht einmal die Zeit gelassen, sie abzulegen, bevor er feststellte, ob das Traumgesicht ihn den richtigen Weg gewiesen habe.

Heinz war heute ausnahmsweise der ruhigere, überlegendere. Er zog seinen Anzug aus, ehe er in den Teich hineinwatete und dann, bis zum Halse im Wasser, Schritt für Schritt und sich möglichst zusammenduckend in das enge Felsenloch eindrang. Dessen niedrige Decke wölbte sich jedoch sehr bald höher und höher, bis der Tunnel sich zu einem drei Meter hohen und ebenso breiten Gange erweitert hatte, in den freilich nur ganz vorn äußerst spärliches Licht eindrang und der von dem Quellabfluß knapp zur Hälfte ausgefüllt wurde, so daß bald an dieser, bald an jener Seite ein Streifen trockenen Felsbodens sichtbar blieb.

Gleich darauf gesellte Heinz sich dem draußen seiner harrenden Freunde wieder zu. Beide waren freudig bewegt, und Heinz dankte dem anderen mit warmen Worten für die Eröffnung dieses Rettungsweges, was Fritz jedoch mit dem Hinweis auf sein Traumgesicht als unverdient ablehnte. – Hierauf suchten sie sich aus den Resten des Riesenfeuers der vergangenen Nacht, das ihnen einige Zugvögel als Beute hatte bescheren sollen, mehrere übriggebliebene starke Holzscheite heraus, die sich als Fackel benutzen ließen. – –

* * *

Peter Karsten erwachte eine halbe Stunde später. Als er sah, daß die Lagerstätten neben ihm bereits verlassen waren, erhob er sich nun auch selbst schleunigst, um zu sehen, was seine Leidensgefährten trieben, die gewöhnlich länger als er zu schlafen pflegten. Doch – das Tal war leer. Nirgends erblickte er eine Spur der beiden Knaben. Er rief sie bei Namen, durchstreifte den ganzen Talkessel – alles vergeblich. Sie waren spurlos verschwunden. Da packte den alten Mann die Angst. Was konnte hier in der Zwischenzeit nur vorgegangen sein? Waren etwa die Schmuggler zurückgekehrt und hatten die Freunde mit sich genommen …?!

Verzweifelt warf er sich schließlich vor dem Zelte in das Gras, stopfte sich seine Pfeife und suchte Trost in den scharf duftenden Rauchwölkchen der Tabacetto. – So verging eine gute Stunde. – Dann von der nördlichen Felswand her ein Ruf, übermütig, fröhlich wie er ihn seit langem aus des jungen Herrn Heinz Kehle nicht mehr vernommen hatte:

„Morgen, Peter! – Gut geschlafen, alter Seebär?“

Er schnellte förmlich empor. Seine Augen weiteten sich vor Staunen. Soeben entstieg Heinz Gerber in triefenden Unterkleidern, seinen Anzug zusammengerollt über dem Kopfe haltend, dem kleinen Teiche, und jetzt tauchte auch Fritz Scharnhorst in dem engen Felsenloche auf.

„Die Überraschung ist uns fein geglückt, mein lieber Alter, nicht wahr?!“ meinte Heinz dann, als er auf den noch wie eine Bildsäule sprachlos und starr dastehenden Bootsmann zutrat. „Absichtlich hatten wir unsere Anzüge mitgenommen und im Tunnel niedergelegt. Sie sollten ein wenig raten, wo wir geblieben seien, falls Sie inzwischen aufwachten.“

Immer wieder ungläubig den Kopf schüttelnd, lauschte Peter Karsten darauf der Schilderung der unterirdischen Wanderung der beiden Freunde.

„Der Tunnel ist ganz bequem zu passieren“, berichtete Fritz. „Er läuft in einigen großen Windungen immer nach Norden zu und mündet nach einer Viertelstunde in eine weite Grotte, von der aus man an eine von steilen Ufern eingeschlossene Felsenbucht gelangt. Das Wasser dieser Bucht reicht bis in die Grotte hinein, die einen breiten, hohen Eingang besitzt. Und dort haben wir außer ganzen Bergen von Schmugglerwaren auch eine liebe Bekannte wiedergefunden – unsere „Else“, die ganz unbeschädigt und heil ist und nur darauf zu warten scheint, daß wir in See stechen und nach Barcelona zurückkehren.“ –

Es ist leicht zu verstehen, wie sehr Peter Karsten förmlich darauf brannte, sich persönlich von all dem Wunderbaren zu überzeugen, das die beiden Freunde in Gestalt dieses Fußmarsches durch den die Granitmassen durchschneidenden Felsengang erlebt hatten. Er drängte ungeduldig zum Aufbruch, packte selbst eilig die noch vorhandenen Lebensmittel zusammen und stellte aus Holzstücken, die er zur Hälfte dick mit dürrem Gras umwickelte, eine Anzahl Fackeln her.

Inzwischen trockneten Heinz und Fritz in der Sonne ihre naßgewordenen Kleidungsstücke. Die frohe Stimmung, in der die drei Gefährten sich jetzt befanden, äußerte sich in reger Unterhaltung, manchem harmlosen Scherzwort und heiterem Gelächter, zumal die beiden Freunde eine ganze Weile nur im Hemde sich hin und her bewegten.

Endlich war man dann zum Aufbruch bereit. Um in trockenen Sachen die Wanderung durch den unterirdischen Kanal antreten zu können, stiegen die drei nun im Adamskostüm in den Teich hinein und legten ihre Kleider erst wieder auf der von dem Wasserlauf nicht überspülten Seite des breiten Felsenganges an.

Während der rötliche Schein der Fackeln vor ihnen hertanzte, drangen sie immer tiefer in das Bergmassiv ein, wo es bald empfindlich kühl wurde. Friedlich murmelte neben ihnen, bald zur Rechten, bald zur Linken, der kleine Bach. Sonst war nur noch das Geräusch ihrer eigenen Schritte und das Knistern des brennenden Holzes zu hören.

Dann tat sich vor ihnen die weite Grotte auf, die den Schmugglern als Versteck für ihre Waren diente. In dieser geräumigen, gut vierzig Meter breiten Höhle standen in einer Ecke Kisten und Ballen von jeder Größe und Form aufgestapelt. Daneben fanden sich auch mehrere Lagerstätten, ein eiserner Kochherd und in einem Holzverschlage eine Menge Nahrungsmittel aller Art, außerdem auch verschiedene Schuß- und Hiebwaffen. Der alte Peter meinte, hier liege ein ganzes Vermögen an Paschergütern verwahrt. Und damit hatte er nicht zu viel gesagt.

Nachdem man diesen Teil der Grotte kurz besichtigt hatte, eilten die Gefährten dem Eingang des Schmugglerverstecks zu, der sich wie ein riesiges Bogenfenster scharf gegen das Wasser der Felsenbucht abzeichnete und den vorderen Teil der Höhle genügend mit Tageslicht versah, um jetzt die Fackeln auslöschen zu können.

Eine tiefe, aber schmale Wasserzunge der Bucht erstreckte sich etwa zehn Meter weit wie ein überdachter kleiner Hafen in die Grotte hinein. Und hier lag die Gerbersche Jacht wohlerhalten neben zwei plumpen Booten, die den Schmugglern wahrscheinlich als Leichterfahrzeuge gedient hatten.

Der alte Peter hatte beim Anblick seiner geliebten „Else“, die er tatsächlich stets wie ein Kind behütet und versorgt hatte, einen unterdrückten Freudenruf ausgestoßen. Schon wollte er sich auf das weiße Deck schwingen, als Heinz ihn mit hartem Griff zurückriß und mit der Hand nach draußen auf die Bucht deutete, an deren Biegung soeben ein großes Segelboot sichtbar geworden war. Drei Personen saßen darin, darunter eine Frau. Sie waren wie die arme Fischerbevölkerung der Balearischen Inseln gekleidet, sahen recht harmlos aus, mußten aber doch zu den Schmugglern gehören, und deshalb schien Vorsicht geraten.

Eiligst zogen die drei Gefährten sich in den Hintergrund der Höhle zurück, holten sich aus dem Verschlage für alle Fälle jeder einen der schweren Säbel als Waffe und verbargen sich dann hinter dem Warenstapel.

Bald darauf vernahmen sie eine helle Stimme, die in spanischer Sprache rief: „Hier müssen vor kurzem Leute gewesen sein. Ich rieche noch ganz deutlich Rauch von verbranntem Holz.“

Worauf ein kräftiger Männerbaß erwiderte: „Du wirst Dich irren, Eskamillo. Wer sollte wohl imstande sein, den Zugang zu der Bucht zu finden und hier einzudringen!! Es könnte nur ein Eingeweihter sein, und von denen bin ich der letzte Überlebende und damit der alleinige Eigentümer all jener teuren Waren dort, die wir jetzt nach und nach unauffällig veräußern werden.“ –

Heinz, der vorsichtig hinter einem Ballen hervorlugte, sah jetzt die beiden Leute – die Frau war im Boot zurückgeblieben – mit brennenden Laternen in den Händen gerade auf den Warenstapel zukommen. Eine Entdeckung war so gut wie unausbleiblich. Und gerade wollte Heinz den Gefährten zuraunen, sich der beiden Männer nötigenfalls mit Gewalt zu bemächtigen, als der mit Eskamillo Angeredete sagte:

„Und doch riecht es hier nach Rauch, Vater! Vielleicht ist doch jemand …“

„Ah – jetzt merke ich’s auch!“ unterbrach der Ältere ihn hastig. „Sollten etwa unsere Gefangenen den verborgenen Ausgang aus dem Tale gefunden haben?! Dann wäre ja auch meine Sorge, daß sie aus Mangel an Lebensmitteln inzwischen umgekommen oder doch schwer erkrankt sein könnten, überflüssig.“

Heinz verstand jedes Wort. Unfreundliches oder sogar feindseliges Verhalten brauchte man also nach dem eben Gehörten von dem Schmuggler und seinem Sohne nicht zu befürchten.

Die drei Gefährten verließen denn auch jetzt ihr Versteck, dem die beiden Männer sich inzwischen auf wenige Schritte genähert hatten. Mit einem Schreckensruf fuhr der vordere, ein kleiner untersetzter Mann mit grauem Bart, beim Anblick der in der Dunkelheit nur undeutlich zu erkennenden Gestalten zurück. Aber Heinz beruhigte ihn schnell, indem er ihm zurief, sie hätten nichts Böses zu erwarten, wenn sie den bisherigen Gefangenen behilflich sein wollten, möglichst schnell wieder nach Barcelona zurückzukommen.

Der Schmuggler, der sich Estropedo nannte, versicherte denn auch sofort mit allen ihm geläufigen Eiden, er würde den Herren ganz zu Diensten sein. Er sei froh, daß er sie gesund und munter vor sich sähe. Wäre er doch nie damit einverstanden gewesen, die drei Sennores (Herren) in das Tal einzusperren. Dies habe der Kapitän der „Esperanza“, der zugleich der Anführer der Schmugglerbande gewesen sei, aber doch gegen den Willen mehrerer seiner Leute durchgesetzt.

Jedenfalls war dieser Estropedo ein harmloser, gutmütiger Mensch, der wie alle Bewohner der spanischen Küstenstädte und der Balearen in der Pascherei nichts Ehrenrühriges sah. Er berichtete den Gefährten dann auch, daß der Schoner bereits am zweiten Tage, nachdem man die drei Deutschen vorläufig auf Roka Desierta untergebracht hatte, in einem schweren Sturm am Nordkap von Malorka gescheitert war und daß dabei die ganze Besatzung bis auf ihn den Tod gefunden hatte. Er selbst war von der wütenden Brandung ohnmächtig auf den Strand geworfen, später von Fischern aufgenommen und gesund gepflegt worden, was über einen Monat gedauert hatte, da er mit drei Rippenbrüchen seine Rettung bezahlen mußte.

Weiter erfuhr man auch von ihm, daß der Kapitän der Schmuggler nicht wie seine sämtlichen übrigen Leute auf den Balearen zu Hause, sondern vielmehr ein Engländer gewesen war, der einmal zufällig diese verborgene Höhle auf Roka Desierta entdeckt und sie nachher für sein im großen betriebenes Paschergeschäft benutzt hatte. –

* * *

Die Gefährten beschlossen hierauf, sofort am Nachmittag in See zu gehen. Die Jacht wurde reichlich mit Proviant und Trinkwasser versehen und dann von Estropedo als Lotsen durch die tief in das Land einschneidende und von haushohen Felswänden eingeschlossene, schmale Bucht auf das offene Meer gebracht. Der Eingang zu der Bucht war durch vorgelagerte Klippen und Riffe so vortrefflich verdeckt, daß ein Unkundiger sich durch dieses Labyrinth von unzähligen, engen Wasserstraßen nie hindurchgefunden hätte. Mithin mußten die drei Kameraden der Vorsehung überaus dankbar sein, die ihnen den alten Schmuggler gerade rechtzeitig in den Weg geführt hatte.

Der Abschied von Estropedo und den Seinen – die dritte, weibliche Person war des Alten Tochter Juanita – hatte einen fast herzlichen Anstrich. Heinz versprach, daß er und seine Gefährten den Namen des Schmugglers nicht verraten würden, damit dieser nicht von den Behörden noch gerichtlich belangt werden könne. Und der alte Baleare wieder gelobte feierlichst, sich nie wieder an ähnlichen lichtscheuen Unternehmungen zu beteiligen. Die Schmuggelwaren wollte er sofort aus der Höhle wegschaffen und den späteren Erlös mit den Hinterbliebenen seiner umgekommenen Kameraden teilen. – Ob er dies wirklich getan, konnte man nicht feststellen. Man sah Estropedo niemals wieder, obwohl besonders Heinz und der alte Peter noch recht oft die kleinen Häfen auf Malorka bei längeren Segeltouren besuchten. –

Ein günstiger, steifer Südwest entführte die kleine Jacht dann schnell aus der Nähe des einsamen, unwirtlichen Felseneilandes, auf dem die drei Deutschen beinahe anderthalb Monate in dem tiefen Felsenkessel gehaust hatten.

Wohlbehalten langten sie am nächsten Vormittag in Barcelona an.

Dort waren die Knaben und der alte Bootsmann bereits als tot aufs schmerzlichste betrauert worden. Allgemein hatte man angenommen, der „Else“ sei ein plötzliches Unglück zugestoßen und sie liege mit ihrer kleinen Besatzung irgendwo auf dem Grunde des Meeres. Von dem wahren Sachverhalt hatte niemand eine Ahnung, da der Schmugglerkapitän offenbar nicht mehr dazu gekommen war, mit den Eltern Heinz Gerbers des Lösegeldes wegen in Verbindung zu treten.

Um so größer war jetzt die Freude, als die Vermißten so unerwartet wiederauftauchten und dazu noch so sonnverbrannt aussahen, als kämen sie wirklich soeben aus einer Feriensommerfrische.

Die Vorwürfe und Ermahnungen, die Heinz als der Anstifter dieses Abenteuers von seinem Vater zu hören bekam, waren nicht allzu streng, da der unternehmungslustige Knabe wiederholt versicherte, dieses aufregende Erlebnis habe ihn für alle Zeit von seiner übertriebenen Sucht nach allem Außergewöhnlichen geheilt.

Auch für Fritz Scharnhorst waren letzten Endes die in dem Felsentale von Roka Desierta verbrachten Wochen nur segensreich gewesen. Das ungebundene, eigenartige Leben während seiner Gefangenschaft hatte aus dem stillen, etwas zu versonnenen und zu lerneifrigen Stubenhocker einen frischen, heiteren Jungen gemacht, der gern und mit Stolz von den Tagen auf dem Felseneiland erzählte, wo die Tontafel des Grafen d’Armasato ihm und seinen beiden Gefährten auf so merkwürdige Weise den Weg in die Freiheit gewiesen hatte.

Und der alte Peter wieder dachte ebenfalls mit einer gewissen Dankbarkeit an den stillen Felsenkessel zurück. Sparte er jetzt doch viel Geld, da er sich fortan selbst seinen Rauchtabak aus den Tabacetto-Pflanzen herstellte, die in den nahen Bergen Kataloniens an einsamen Abhängen leicht zu finden waren.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Das versteinerte Schiff.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „seinen“.
  2. In der Vorlage steht: „den“.
  3. „Proviantes“ / „Proviants“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Proviants“ geändert.