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Der Geisterfelsen im Baikal-See

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Der Geisterfelsen im Baikal-See.

 

W. Belka.

 

Der Zug, der den Gefangenentransport nach dem Gouvernement Irkutsk im südlichen Sibirien bringen sollte, hielt mitten in der Nacht auf einer kleinen Station.

Tagelang war er vorher durch endlose Steppen gerollt, auf denen die Frühlingswärme das erste Grün hervorgelockt hatte.

Von all den wackeren deutschen und österreichischen Soldaten, die diese qualvolle Reise, eingepfercht in übelriechende Güterwagen ältester Bauart, mitmachen mußten, ahnte niemand, wo man sich eigentlich befand. Die russischen Wachmannschaften, die den Zug begleiten, ungebildete, halb vertierte Kosaken einer älteren Jahresklasse aus den Kirgisen-Steppen nördlich des Kaspischen Meeres, verstanden nicht ein Wort deutsch. Und auch das Zugpersonal hatte allen Fragen gegenüber nur ein unfreundliches Achselzucken oder ein rohes Schimpfwort bereit.

Der vorletzte Wagen war der einzige, der früher einmal, als die russischen Eisenbahnen ihre Schienenstränge noch nicht bis zum Stillen Ozean durch ganz Sibirien vorgeschoben hatten, zur Personenbeförderung gedient hatte.

In seinen engen Abteilen waren einige zwanzig kriegsgefangene Offiziere untergebracht worden, die besonders streng bewacht wurden. Auch diese wußten nicht, ob die Marter dieser Eisenbahnfahrt bald ein Ende nehmen würde. Niedergedrückt von dem Gedanken, in Gefangenschaft – wenn auch ohne eigene Schuld – geraten zu sein und dem bedrängten Vaterlande während des Krieges jetzt nichts mehr nützen zu können, gedemütigt durch eine Behandlung, wie man sie in einem wahren Kulturstaate nicht einmal Verbrechern zuteil werden läßt, verbrachten sie zumeist in trostloser Gleichgültigkeit ihre Tage.

Das letzte Abteil dieses Personenwagens, der derart rüttelte und stieß, daß an schlafen kaum zu denken war, hatte der Führer der Wachmannschaft, ein ständig betrunkener, aufgeschwemmter Hauptmann, einem zu früh aus dem Lazarett als geheilt entlassenen deutschen Leutnant namens Petersen eingeräumt, wo dieser allem Anschein nach trotz der treuen Pflege seines gleichzeitig mit ihm gefangengenommenen Burschen Fritz Markull dem Tode entgegensiechte. Kein Arzt kümmerte sich um den Kranken, der bleich und regungslos auf dem mit Stroh bedeckten Gange zwischen den beiden Sitzreihen ruhte, nur eingehüllt in ein paar zerlumpte Mäntel, in denen Ungeziefer in Menge hauste. Bei der unzureichenden, unregelmäßigen Verpflegung und den körperlichen und seelischen Martern dieser Reise, die nun schon zwei Wochen dauerte, mußte wohl stündlich mit dem Ableben Petersens gerechnet werden. Fritz Markull hatte denn auch in den letzten Tagen die teilnehmenden Kameraden seines Herrn stets mit dem Bemerken ferngehalten, der Leutnant schlafe gerade ein wenig. Und, da der russische Hauptmann und seine Untergebenen das Abteil, wahrscheinlich aus einem Gefühl der Scham heraus, gleichfalls mieden, waren die beiden Deutschen ganz sich selbst überlassen. –

Fritz Markull, ein kleiner, fixer Berliner Schuhmacher, war, ohne weiter um Erlaubnis zu fragen, nach dem Stationsgebäude hinübergegangen, um dort irgend etwas Eßbares aufzutreiben. Die Wachmannschaften kannten ihn schon und ließen ihn gewähren. Vielleicht rührte selbst diese brutalen Mongolen die aufopfernde, nie ermüdende Sorgfalt, mit der der deutsche Infanterist seinen Leutnant umgab.

Markulls Gang über die Geleise hinweg war jedoch vergeblich gewesen. So energisch er auch durch Gesten den Russen klarmachte, er müsse für seinen Herrn wenigstens ein paar Bissen Brot haben, – das, was er erhielt, waren wieder nur Flüche, Schimpfworte und das gleichgültige Achselzucken der weniger Verrohten.

Schließlich gab er die Sache auf und wollte schon wieder in der Finsternis nach dem Wagen zurücktappen, als ein in einen langen Schafpelz gehüllter Junge sich aus der Menge der die Station neugierig umlagernden Bewohner der nächsten Nomadendörfer loslöste und an ihn herandrängte.

Zu Markulls nicht geringer Überraschung sprach der kleine, hagere Bursche deutsch.

„Hier – nehmen Sie – – schnell, ehe jemand es sieht …!“ flüsterte er hastig.

Dabei drückte er dem Berliner ein Bündel in die Hand, das er unter dem Schafpelz verborgen gehalten hatte. Markull eilte denn auch sofort mit einem herzlichen Wort des Dankes von dannen.

Die übrigen Gefangenen hatten die ohnehin verschlossenen Wagen nicht verlassen dürfen. Auf jeder Seite des Zuges schritten von zehn zu zehn Schritt Posten auf und ab. Unglücklicherweise hielt einer von diesen den Berliner an, leuchtete ihm mit einer stinkenden Öllaterne ins Gesicht, sah das Bündelchen – und entriß es Markull, indem er diesem gleichzeitig einen Stoß vor die Brust versetzte und ein paar greuliche Flüche ausstieß.

Der Berliner wäre dem Kosaken am liebsten an die Kehle gesprungen. Aber er bezwang sich und ging, kochend vor ohnmächtiger Wut, dem Ende des Zuges zu, kletterte in das unverschlossene Krankenabteil hinein und wollte gerade die Tür hinter sich schließen, als der Junge im Schafpelz sich an ihm vorbei in den engen, dunklen Raum drängte.

„Hätten Sie den Mut, einen Fluchtversuch zu wagen, Landsmann?“ fragte er leise und atemlos. „Ich könnte Sie vorläufig in Sicherheit bringen …“

Markulls kühnes Herz begann schneller zu klopfen. Sollte sich hier wirklich eine Möglichkeit bieten, den lange gehegten und mit so viel schlauer Berechnung vorbereiteten Plan auszuführen …?! – Aber er war vorsichtig. Nicht jedem, der deutsch sprach konnte man trauen.

Nach einigem Hin- und Herreden hatte er aber doch die Überzeugung gewonnen, daß der Junge es völlig ehrlich meine.

Jetzt mischte sich auch Leutnant Petersen in die Unterhaltung, dessen Gestalt in der Dunkelheit nur undeutlich zu erkennen war.

„Fritz – was gibt’s? – So einiges von Eurem Gespräch habe ich verstehen können … Der Knabe ist aus Ostpreußen nach hier verschleppt, nicht wahr?“

„Jawohl, Herr Leutnant …“ Markull schob sich näher an das Kopfende des Lagers seines Herrn heran, beugte sich über ihn und flüsterte ihm kurz alles Nötige zu. Dann fragte er: „Ob wir’s wagen …? Wir sind hier dicht am Baikal-See, und der Junge behauptet, uns nicht nur die erste Zeit sicher verbergen, sondern später auch weiterhelfen zu können.“

Hans Petersen überlegte nicht lange.

„Der kleine Landsmann scheint ein aufgeweckter Bursche zu sein. Die Vorsehung hat ihn uns in den Weg geschickt. Da soll man denn auch zugreifen … Wir wagen’s, Fritz!“ –

Der Posten auf der einen Seite des Zuges ließ sich gerade von seinem nächsten Kameraden Feuer für seine Pfeife geben, als drei Gestalten lautlos das Abteil verließen und in der Dunkelheit verschwanden. Der todkranke Leutnant war jedenfalls mit einem Mal wunderbar schnell gesund geworden.

Verborgen hinter einem nahen Schuppen machten die Flüchtlinge zunächst einmal halt. Sie wollten feststellen, ob sie vielleicht von dem Posten auf der anderen Seite des Zuges bemerkt worden waren. Doch alles blieb still. Kein Ruf, kein Alarmsignal ertönte.

Nun übernahm der Knabe die Führung. Viel gesprochen wurde nicht. Nur nach dem Namen fragte Petersen ihren kleinen Retter.

Er hieß Karl Schimeikat, war fünfzehn Jahre alt und im August 1914 bei dem ersten Russeneinfall in Ostpreußen zusammen mit seinen Eltern nach Sibirien und zwar nach einem Dorfe in der Nähe des Südufers des Baikal-Sees verschleppt worden. Bereits unterwegs war seine Mutter der Cholera zum Opfer gefallen. Aber auch sein Vater siechte langsam dahin und starb schon nach ein paar Wochen fern der deutschen Heimat in dem elenden Erdloche, das ihm und zehn weiteren Leidensgenossen als Wohnung angewiesen worden war. Um den Jungen hatte sich dann niemand mehr recht gekümmert. Bald hier, bald da hatte er sich in den nächsten Ortschaften umhergetrieben, allerlei kleine Arbeiten verrichtet und sich dadurch nicht nur seinen Lebensunterhalt, sondern auch einige Sprachkenntnisse erworben. So war er auch im Sommer 1915 mit ein paar Fischern viel auf dem Baikal-See gewesen, wußte auf diesem drittgrößten Binnensee Asiens recht gut Bescheid und wollte, wie er kurz erklärte, die beiden Landsleute zunächst auf eine Insel schaffen, die ganz unbewohnt war und sich zu vorübergehendem Aufenthalt leidlich eignete. Später, wenn sich die erste Aufregung über das Entweichen der beiden deutschen Soldaten gelegt haben würde, sollte die Flucht dann fortgesetzt werden.

In großem Bogen umging Karl Schimeikat die Stationsgebäude und schlug nun die Richtung auf einen sich gegen den Horizont deutlich abzeichnenden Gebirgszug ein, die Tunka-Alpen, die den Westrand des sichelförmigen, von Nordosten nach Südwesten sich erstreckenden riesigen Binnensees begrenzen.

Schweigend eilten die drei Gefährten weiter. Da, gerade als die dichten, schwarzen Wolken sich zerteilten und der Vollmond zwischen ihnen hervortrat, erklangen Hornsignale, zwar nur noch schwach zu vernehmen, aber doch bedeutungsvoll genug: das Fehlen der beiden Deutschen war bemerkt worden.

Trotzdem blieb der Knabe völlig ruhig. Er kenne hier jetzt Weg und Steg, und hätten sie erst die Ausläufer der Berge erreicht, so seien sie geborgen, meinte er mit einer Bestimmtheit, die die nur zu berechtigte Angst des Leutnants und seines treuen Burschen schnell wieder zerstreute.

Mitten durch die Steppe ging’s jetzt immer in gerader Richtung auf das Gebirge zu. Staunend sah Hans Petersen, daß zur Rechten ein mächtiger Berg sein zackiges Haupt hoch emporreckte, – der selbst im Sommer schneebedeckte Chamar-Dawan, dessen Gipfel das Mondlicht in bläulichem Glanz erstrahlen ließ. – Totenstill war’s ringsumher. Nur in einem nahen Tungusendorfe heulten ein paar Hunde, und in der Ferne gellte noch immer das Signalhorn, dessen Töne der leise Nachtwind weit über die mit frischem Grase bedeckten Hügel trug. Dann verbarg der Mond sich abermals hinter den Wolken. Kleine Bäche, die von den Tunka-Alpen herabkamen und eiskaltes Wasser hatten, mußte man durchwaten. Und in einem dieser flachen Rinnsale wanderte Karl Schimeikat aus Vorsicht wohl eine halbe Stunde aufwärts. „Man wird uns mit Hunden verfolgen“, erklärte er. „Die müssen wir von unserer Fährte ablenken.“

Hans Petersen merkte bald, daß die Rolle als Schwerkranker, die er so vortrefflich gespielt hatte, seine Körperkräfte keineswegs gehoben hatte. Er wurde müde; keuchend eilte er neben seinem braven Markull her, der ihn immer wieder ängstlich beobachtete. Eine gute Stunde mochten sie so ihrem kleinen Führer gefolgt sein, der mit seinem weiten, ihm viel zu großen Schafpelz und der zerdrückten, schmutzigen russischen Soldatenmütze auf dem Kopf recht abenteuerlich aussah, als der junge Offizier plötzlich zur Seite taumelte und umgesunken wäre, wenn Fritz Markull ihn nicht gestützt haben würde.

Karl Schimeikat, der überhaupt nicht gern viel sprach, schüttelte jetzt doch bedenklich den Kopf. Dann aber sagte er zu Markull, der seinen halb ohnmächtigen Leutnant inzwischen in das Gras gelegt hatte und ratlos neben ihm kniete: „Warten Sie hier auf mich …!“

Gleich darauf verschwand er in der Dunkelheit.

Der Berliner Schuhmachergeselle blieb nicht gerade in der besten Stimmung zurück. – Wie, wenn der Knabe, das Aussichtslose des ganzen waghalsigen Unternehmens einsehend, sie im Stiche ließ, um die eigene Haut in Sicherheit zu bringen …?! Dann waren sie verloren …! Mit flüchtigen Soldaten sollten die Russen nicht viel Federlesens machen …! –

Aber Markull hatte dem kleinen Ostpreußen, der den unverkennbaren, breiten Dialekt seiner Heimat als besten Ausweis sozusagen in der Vollendung sprach, bitter unrecht getan. Bereits nach einer Viertelstunde erklangen auf dem weichen Steppenboden dumpfe Hufschläge, und Karl erschien mit einem zottigen Tungusenpferdchen, auf dessen ungesatteltem Rücken er sich wie zu Hause zu fühlen schien. Als Zügel diente ihm ein langer, um das Maul des Pferdes geschlungener Lederriemen.

Mittlerweile war der Leutnant wieder vollständig zusichgekommen. Fritz hatte ihm aus einem nahen Bache Trinkwasser geholt, so daß Petersen frisch genug war, um sich auf dem Tungusengaule halten zu können. Dieser trug noch eine Art zweiteiligen Futtersackes lose über den Rücken gelegt, in dem sich, wie sich später herausstellte, zwei Hammelkeulen und einige in der Asche gebackene Mehlfladen befanden.

Auf Petersens Frage, woher Karl so schnell das Pferd besorgt habe, erklärte der Junge ausweichend: „Geliehen“, ohne die Sache eingehender zu erläutern. Aber die beiden Kriegsgefangenen wußten auch ohnedies Bescheid. Dieses Leihgeschäft war sicher ohne Genehmigung des Pferdebesitzers zustande gekommen, den man sicher in einem nahen Tungusendorfe zu suchen hatte.

Eilends wurde nun die Flucht fortgesetzt. Als der Morgen zu grauen begann, hatten die drei dann wirklich die Vorberge der Tunka-Alpen erreicht. Hier ließ Karl Schimeikat den kleinen Gaul frei, gab Markull den Sack zum Tragen und schritt nun auf einem immer enger werdenden Felspasse, nachdem er sich schnell orientiert hatte, mitten in das zerklüftete Gebirge hinein, das zumeist aus Granit und Gneis bestand und nur hier und da eine spärliche Vegetation von niedrigen Sträuchern und verkrüppelten, schwarzen Birken aufwies. Nach einer Stunde war der erste Höhenzug überwunden. Diesen trennte ein Hochplateau, das vollständig mit einem dichten, finsteren Walde von sibirischen Zedern, Lärchen und Fichten bedeckt war, von den eigentlichen Randbergen des Baikal-Sees. Und hier verbrachten die Flüchtlinge in einer unwegsamen Schlucht den Tag, um erst nach Einbruch der Dunkelheit ihre Wanderung fortzusetzen. Zwei Mal war Karl Schimeikat vorher auf Kundschaft ausgezogen. Und beide Male brachte er die beruhigende Nachricht mit, daß von irgend welchen Verfolgern noch nichts zu spüren sei. Trotzdem wagte der Knabe in dem Versteck nur ein kleines Feuer anzuzünden, über dem schnell eine der Hammelkeulen gebraten wurde, während man die andere in der glühenden Asche nur ein wenig anbriet, um sie vor dem Schlechtwerden zu schützen. – Neu gestärkt durch die reichliche Mahlzeit brach man dann auf und erreichte kurz vor Hellwerden nach einem außerordentlich anstrengenden Marsche, den Petersen jedoch recht gut überstand, das Steilufer des Baikal-Sees gerade an einer Stelle, wo einer der zahlreichen Zuflüsse rauschend und schäumend durch ein tief ausgewaschenes Tal sich in das große Binnengewässer ergoß.

Wieder warteten die Gefährten in einer Felskluft die Dunkelheit ab. Durch den von Glück so sehr begünstigten Beginn ihrer Flucht hatte sich ihre Stimmung wesentlich gebessert. Sie waren ganz heiter und zuversichtlich geworden. Besonders Hans Petersen hatte sich geradezu wunderbar in der frischen Luft erholt und nahm jetzt regsten Anteil an allem, was um ihn her geschah. Die Felsspalte, in der man einen Unterschlupf gefunden hatte, wurde in ihrem vorderen Teile von den Wassern des Flusses bespült, so daß die drei Deutschen fast bis zu den Hüften naß geworden waren, ehe sie den trockenen Hintergrund der engen, mit Krüppelerlen dicht bewachsenen und von der Landseite völlig unzugänglichen Schlucht erreicht hatten. Diese lag immerhin so hoch über dem Spiegel des vielleicht noch hundert Meter entfernten Sees, das man auch dessen gegenüberliegendes Ufer sehen konnte, hinter dem wie ein Wall sich das Baikal-, auch Lena-Gebirge genannt, auftürmte.

Leutnant Petersen schätzte die Breite des Sees an dieser Stelle auf etwa vier Meilen, womit er auch so ziemlich das Richtige getroffen hatte. Die größte Breite besitzt dieses wegen seiner leuchtend dunkelblauen Farbe berühmte, 84 Meilen lange Binnengewässer ziemlich genau in der Mitte zwischen der Olchonskibucht auf der West- und der Bargusinbucht[1] auf der Ostseite mit etwa zwölf Meilen. Jetzt Ende Mai war von der starken Eisdecke, die den Baikal-See fast ein halbes Jahr lang in Bann hält, nirgends mehr eine Spur zu entdecken. Daß das Wasser aber eine recht niedrige Temperatur trotz der warmen Witterung haben mußte, ging aus der kalten Luftströmung hervor, die sich hier in der Nähe des Ufers recht unangenehm bemerkbar machte. –

Leider sollten die Flüchtlinge an diesem Tage jedoch erfahren, daß sie sich noch lange nicht als vorläufig gerettet betrachten durften. Am Nachmittag hatte Karl Schimeikat wieder einen zweistündigen Kundschaftergang unternommen. Als er zurückkehrte, merkten die beiden anderen sogleich an seiner Miene, daß die Lage sich irgendwie verschlimmert haben müsse.

„Vier Tungusen mit zwei Hunden sind hinter uns her“, erklärte der Knabe, indem er ein ungegerbtes Renntierfell, in das er drei mittelgroße Lachse eingewickelt hatte, auf den Boden legte. „Es sind Leute vom Stamme der Lamuten, die den Russen schon oft geholfen haben, früher auf Sträflinge und jetzt auf flüchtige Kriegsgefangene Jagd zu machen. Viele von diesen, die hier in das Gouvernement Irkutsk gebracht wurden, suchten ja schon zu entkommen. Aber wenigen ist’s geglückt.“

Der Leutnant forschte den wortkargen Jungen weiter aus. Karl berichtete nun näheres und meinte zum Schluß, man müsse auf jeden Fall zusehen, daß man in der kommenden Nacht die Flucht zu Wasser fortsetzen könne. Die ganze Gegend sei offenbar von den Behörden bereits alarmiert, und es stehe zu befürchten, daß die aufgebotenen Tungusen mit Hilfe ihrer feinnasigen Hunde sie doch noch aufspürten.

Die Aufregung und Sorge begann nun abermals. Tatsächlich tauchten gegen Abend am anderen Ufer dann einige in Felle gekleidete Gestalten auf, die ein paar große Hunde an Riemen mit sich führten. Und eine Viertelstunde lang erschien die Lage der drei Gefährten mehr als bedenklich. Doch die Gefahr ging glücklich vorüber, so daß der Knabe nach Dunkelwerden wieder ein kleines Feuer in einer Seitenspalte anzündete und die aus dem zwei Kilometer nördlich liegenden Fischerdorfe mitgebrachten Lachse briet.

Gegen elf Uhr wurde darauf unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln der Weitermarsch angetreten. Karl Schimeikat hielt sich stets einige zwanzig Meter voraus. Der Weg ging teils an der Steilküste des Sees entlang, teils über schmale Bergpfade hinweg, bis man die kleine Bucht erreichte, an deren flachem Strande sich etwa zwanzig Blockhäuser sowie einige größere Gebäude erhoben, – die Lagerhäuser einer Fischräucherei, von denen es am Baikal-See zur Ausnutzung des Fischreichtums eine bedeutende Menge gibt.

In einem kleinen Waldstück mußten der Leutnant und Markull vorläufig zurückbleiben. Erst nach einer halben Stunde fand sich der Junge wieder ein, erklärte nun aber seinen Landsleuten recht frohgemut, daß er an dem von dem Dorfe am weitesten abliegenden Landungsstege ein Segelboot entdeckt habe, mit dem sie nun die Flucht fortsetzen wollten.

Alles lief glücklich ab. Begünstigt von der Dunkelheit kamen sie auf dem geräumigen Fischerboot ungesehen aus der Bucht heraus. Petersen, der in seiner Friedensgarnison Stettin eifrig dem Segelsport gehuldigt hatte, gelang es mit Hilfe Karls und des sehr anstelligen Markull ohne große Schwierigkeiten, das mit Kuttertakelage ausgerüstete Fahrzeug richtig in den Wind zu bringen, worauf sie in nordöstlicher Richtung auf das gegenüberliegende, weniger besiedelte Ufer zuhielten.

Alle die Abenteuer und Fährnisse zu schildern, die die Gefährten nun während vier Tagen durchzumachen hatten, würde zu weit führen. Zweimal entgingen sie nur mit knapper Not russischen Dampfern, die offenbar auf verdächtige Boote, die vielleicht die Flüchtlinge an Bord haben konnten, fahndeten. Nur durch List entwischten sie, indem sie taten, als ob sie biedere Fischer seien, die eben beim Auswerfen der Netze wären. Die Dampfer schöpften auch wirklich um so weniger Verdacht, als die Leute in dem Boot nicht die geringste Miene zum Entfliehen machten und zudem die übliche wasserdichte Kleidung der Baikalfischer trugen, schwarze, geteerte Anzüge, die Karl in einem Verschlag des Fahrzeuges gefunden hatte. Einer der Dampfer näherte sich bis auf einige fünfzig Meter, so daß der Knabe ein paar russische Worte hinüberrufen konnte, wie sie hier als Begrüßung bei Begegnungen auf dem See gebräuchlich waren.

Am Morgen des fünften Tages wichen sie dann einem dritten Dampfer, dessen Rauchsäule sie rechtzeitig am nördlichen Horizont erblickten, nach Westen zu in großem Bogen aus und kamen so der größten der Inseln des Baikal, Olchon, ziemlich nahe, die bei einer Breite von drei und einer Länge von neun Meilen der Mitte des Westufers vorgelagert ist.

Erst der Anblick der wildromantischen Felsenufer dieser bewohnten Insel ermöglichte es dem Knaben, sich über die nunmehr einzuschlagende Richtung klar zu werden.

Der neue Kurs führte nach Nordosten zu, und sicherlich wären die Gefährten noch vor Abend an ihrem Ziele angelangt, wenn nicht das bis dahin recht beständige Wetter urplötzlich umgeschlagen wäre.

Der Baikal-See gehört vielleicht zu den gefährlichsten Gewässern. Er ist wegen der schnell aufkommenden Stürme geradezu berüchtigt. Der Grund für diese unvorhergesehenen Wetterstürze ist durch die Gebirge bedingt, die den See einschließen. – Ein solcher Sturm war es, verbunden mit einem überaus heftigen Frühjahrsgewitter, der das Boot nun erfaßte und mit unheimlicher Geschwindigkeit über die aufgewühlten Wasser nach Norden zu entführte. Mehr als einmal schwebten die Gefährten in höchster Lebensgefahr. Stundenlang tobte dieser Orkan. Als er endlich nachließ, schlief der Wind zu allem Unglück gegen Abend dann vollkommen ein. Erst gegen Mitternacht machte sich eine leichte Brise bemerkbar, die man schleunigst zur Umkehr benutzte, da das kleine Felseneiland, welches der kleine Ostpreuße als vorläufigen Aufenthaltsort ausersehen hatte, jetzt weit im Süden lag.

Vor Sonnenaufgang wurde die Brise jedoch frischer, und der Fischerkutter durchschnitt nun unter vollen Segeln das durchsichtig klare Wasser des Baikal, bis um die Mittagsstunde über dem Horizont ein seltsamer Felskegel herauswuchs, der nördlich der Bargusinbucht einsam aus der blauen Flut emporragte.

Karl Schimeikat deutete mit der Hand nach vorwärts: „Dort sind wir sicher“, meinte er in seiner etwas maulfaulen Art. „Aber am Tage dürfen wir unsere neue Zufluchtstätte nicht anlaufen. Wir müssen vorsichtig sein. Das Ostufer ist immerhin so nahe, daß unsere Segel als weißer Punkt zu erkennen sein werden. Warten wir daher die Dunkelheit ab.“

Die Segel wurden eingezogen, und das Boot trieb nun taumelnd und rollend auf den kurzen und deshalb um so unangenehmeren Wellen. Endlich brach dann die Dämmerung herein.

Aber die Leiden und Aufregungen der drei Deutschen sollten gerade an diesem Tage noch eine böse Steigerung erfahren.

Wieder war es ein Dampfer, der, von Norden kommend, ihnen näher und näher rückte. Petersen wollte so nahe dem Ziel eine Begegnung, die immerhin schlimme Überraschungen bringen konnte, vermeiden und suchte im Vertrauen auf die schnell hereinbrechende Dunkelheit zu entschlüpfen.

Eine Viertelstunde später unterlag es keinem Zweifel mehr, daß der Dampfer Verdacht geschöpft hatte und auf das Boot Jagd machte.

Mit banger Sehnsucht warteten die drei Gefährten auf die rettenden Schatten der Nacht. Inzwischen hatten sie das einsame Eiland bereits beinahe erreicht, wagten aber nicht darauf zuzuhalten, sondern steuerten auf Anraten des Knaben östlich daran vorüber, wendeten dann und umliefen es nach Westen zu, so daß das Dampfschiff den Kutter eine Weile völlig aus dem Gesicht verlor.

Karl hatte seine Schutzbefohlenen schon vorher über seine Absichten unterrichtet. Der Leutnant drückte das Boot daher ganz nahe an die steile Küste der kleinen Insel heran, die zahlreiche Felszungen wie die Fühler einer Spinne vorstreckte, band nun eiligst das Steuer fest und sprang dann, nur mit dem Nötigsten bekleidet, ins Wasser, wohin ihm Markull und der Junge augenblicklich folgten. Letzterer hatte kurz vorher noch mit einem Beil in den Boden des Kutters ein Loch geschlagen, so daß dieser, der schweren Eisenballast führte, nach einiger Zeit wegsinken mußte. Des Berliners Aufgabe wieder war es gewesen, die wasserdichten Anzüge und mehrere andere Gegenstände zu einem Bündel zusammenzupacken, die, an einer Leine befestigt und durch Korkwesten über Wasser gehalten, mit an Land genommen werden sollte.

Wohlbehalten erreichten die drei kühnen Schwimmer, denen das eiskalte Wasser freilich schier die Luft benahm, eine der Felszungen. Nur das Bündel ging verloren. Fritz Markull hatte das Gewicht schlecht berechnet gehabt. Es versank, so daß man die Leine fahren lassen mußte.

Kaum hatten die Gefährten sich hinter ein paar Felsblöcken verborgen, als auch schon der Dampfer auftauchte und in vorsichtiger Entfernung von der felsigen Küste dem davonsegelnden Kutter folgte.

Inzwischen war es immer dunkler geworden. Jetzt erlebten die drei Flüchtlinge ein seltenes Schauspiel. Das Regierungsboot, das am Heck die russische Reichsflagge führte, ließ seinen Scheinwerfer spielen. Ein blendend weißer Lichtkegel glitt über das Wasser hin und blieb nun auf dem Kutter haften. Gleich darauf erschütterte ein Knall die Luft. – „Revolvergeschütz“, sagte Leutnant Petersen leise. Worauf Karl erklärte: „Seit Kriegsbeginn führen alle Regierungsdampfer hier kleine Kanonen an Bord und zwar lediglich für die Jagd auf deutsche Verschleppte, von denen gerade im Gouvernement Irkutsk sehr viele untergebracht sind und aus Verzweiflung über ihre menschenunwürdige Behandlung nur zu oft Fluchtversuche unternommen haben.“

Da – abermals ein Schuß – ein dritter, vierter. Der letzte traf. Der Mast des hell beleuchteten Kutters knickte um, und gleich darauf versank das Boot … Die Wellen schlossen sich über ihm, und vergeblich kreuzte der Dampfer dann noch eine Weile über dem Wassergrabe des kleinen Seglers, um dessen Insassen vielleicht noch herauszufischen.

Karl Schimeikat lachte schadenfroh. – „Sucht nur, bis Ihr schwarz werdet …!! – Besser hättet Ihr die Sache gar nicht machen können! Anscheinend liegen wir jetzt auf dem Grunde des Baikal-Sees! Da bleiben wir wenigstens in Zukunft unbehelligt!“

Seine Vermutung traf wirklich zu. Das Licht des Scheinwerfers erlosch plötzlich, und der Dampfer setzte seine Fahrt nach Süden zu fort.

„Was nun?“ fragte der Leutnant, dem in den nassen Unterkleidern die Zähne vor Kälte klappernd zusammenschlugen. Dabei wies er mit der Hand auf die kerzengerade aus dem Wasser hochsteigenden Felswände des Eilandes, die vollkommen unersteigbar waren, obwohl die vorspringende schmale Felszunge es ermöglichte, an dieser Stelle bis an den Fuß der Steilküste vorzudringen.

Aber der Junge hatte schon eine Antwort bereit.

„Es gibt nur einen einzigen Ort an der Westseite“, erklärte er, „von dem aus man in das Innere der Insel gelangen kann. Die Fischer des Baikal-Sees ebenso wie die umwohnenden Stämme der Tungusen und Buräten halten das Eiland für unzugänglich. Außerdem scheucht sie auch eine abergläubische Furcht von diesem unwirtlichen Riesenfelsen weg. Man erzählt hier allgemein, daß die kleine Insel von bösen Geistern bewohnt sei, die jedem, der sich ihr nur nähere, Unheil brächten. Im vorigen Sommer, als ich auf einem großen Fischereifahrzeug als Aufwärter meinen Lebensunterhalt verdiente, mußten wir vor einem heftigen Sturm uns an der Westseite des Eilandes vor Anker legen. Zwei Tage hielt der Orkan an. Da habe ich in dem kleinen Rettungsboot ganz allein aus Neugier und Langeweile die Felsgestade näher untersucht, sehr zum Entsetzen der dummen russischen Fischer, die an Aberglauben in nichts hinter den feigen Buräten und den ehrlichen, wenn auch beschränkten Tungusen zurückstehen. So kam es, daß ich einen Zugang ins Innere der Insel fand, den einzigen, den es überhaupt gibt. Ich habe mein Geheimnis für mich behalten, hoffte schon damals, daß es mir irgendwie einmal nützlich werden könnte. Das Eiland selbst habe ich jedoch nicht betreten. Nur ein kleines Stück bin ich in die Felsspalte eingedrungen, in der ich Stufen bemerkte, die von Menschenhand eingemeißelt sein müssen. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als nochmals uns dem Wasser anzuvertrauen und schwimmend von Felszunge zu Felszunge bis an jene Stelle vorzudringen.“

Dies war ohne Frage die längste Rede, die Karl je gehalten hatte.

Leutnant Petersen lachte jedoch nur ärgerlich auf, als der Junge jetzt schwieg. – „Hör’ mal, kleiner Landsmann, – das alles erzählst Du uns erst jetzt, wo Du doch vorher im Boote so viel mehr Zeit und Gelegenheit dazu hattest …?! Du bist ein Hauptkerl …!! Nun müssen wir hier zitternd vor Nässe und Kälte warten, bis Du uns die wenig erfreuliche Mitteilung machst, daß wir abermals ein Abkühlungsbad nehmen müssen!! – Doch – vorwärts …!! Was hilft’s!“

Diese Schwimmtour in der Dunkelheit wurde sowohl dem Leutnant als auch Fritz Markull sehr sauer. Nur Karl Schimeikat war abgehärtet genug, um die eisige Kälte ohne Schwierigkeiten zu ertragen.

Nachdem man die sechste Felszunge hinter sich hatte, steuerte der Junge mitten auf die düstere, mehr als haushohe Uferwand zu, die hier im Lichte des mittlerweile aufgegangenen Mondes ebenso unersteigbar schien wie überall. Doch Karl war sich seiner Sache ganz sicher. An gewissen eigenartig geformten Felsstücken auf der soeben passierten Felszunge hatte er erkannt, daß der Zugang zu der Insel hier und nirgend anderswo zu suchen war. Tatsächlich befand sich denn auch an einem bogenförmig vorspringenden Teile der Steilwand an der einen Seite ein kaum mannsbreiter Spalt in etwa ein Meter Höhe über dem Wasserspiegel, der fast parallel mit der Außenseite sich in das Granitmassiv hineinzog, langsam sich erweiterte und schließlich im Bogen abwärts lief. Roh eingehauene Stufen erleichterten die Benutzung dieses in der Tat nur durch einen Zufall auffindbaren Zuganges ganz erheblich, so daß selbst der völlig erschöpfte Leutnant, den sein treuer Bursche mühsam aus dem Wasser bis in die Spalte emporgehoben hatte, ohne fremde Hilfe sich hier weitertasten konnte.

Im Innern der hohen Granitwände konnte man kaum die Hand vor Augen sehen. Karl schritt jetzt wieder voran, prüfte aber erst vor jedem Schritt vorsichtig den Boden mit der Fußspitze, ehe er weiterzugehen wagte. Endlich nahmen die Stufen ein Ende. Ein bleicher Lichtschimmer wurde bemerkbar, und gleich darauf standen die Gefährten in einer tiefen Schlucht, deren eine Seite der Mond leidlich hell beschien.

Das erste, was sie sahen, waren ein paar verkümmerte Kiefern und sibirische Zedern, die hier Wurzel geschlagen und dann nur mühsam sich dem Lichte entgegengereckt hatten. Immerhin – es waren doch Bäume …! Und Karl Schimeikat, der bei all seiner Wortkargheit doch ein selten reger, umsichtiger Junge war, schlug nun als das am dringendsten Notwendige vor, ein wärmendes Feuer anzuzünden.

Während der Leutnant und der Berliner, schon um sich Bewegung zu machen und wieder Leben in die erstarrten Glieder zu bringen, eifrig trockene Äste abbrachen und in der Nähe der einen Schluchtwand aufhäuften, mühte Karl sich mit seinem Luntenfeuerzeug ab, das er, um es vor Nässe zu schützen, unter seiner Mütze auf dem Kopfe geborgen hatte.

Trockenes Moos glimmte bald verheißungsvoll in seiner Hand, und wenige Minuten später knisterte die erste helle Flamme hoch, leckte weiter und weiter, bis der ganze Asthaufen lustig mit roten Feuerzungen zum dunklen Nachthimmel emporloderte.

Ganz dicht setzten die drei sich nun um die Glut, zogen ihre nassen Unterkleider aus, die sämtlich bereits kaum mehr gebrauchsfähig waren, und trockneten sie über den Flammen.

Der Junge war zuerst hiermit fertig. Freilich – sein Unterzeug bestand ja eigentlich nur noch aus Lumpen. Niemand hatte ihn seit dem Verlassen der ostpreußischen Heimat mit neuen Kleidungsstücken versorgt. Was er brauchte, hatte er sich zusammengebettelt. – Nun verschwand er im Hintergrunde der Schlucht, ohne sich darüber auszulassen, was er eigentlich vorhatte.

Nach zehn Minuten etwa tauchte er wieder auf, warf zwei kleine Tierkörper neben das Feuer hin und hockte sich wortlos auf den Boden nieder.

„Was sind denn das für Geschöpfe?“ meinte Fritz Markull neugierig. „Und wie hast Du sie erlegt, Junge?“

Karl, der nach Tungusenart ein Klappmesser an einer Lederschnur um den Hals trug, hatte dieses losgemacht, geöffnet und begann nun, seine Beute abzuhäuten und auszunehmen.

„Tarbatschane oder Murmeltiere“, erwiderte er. „Sie sind sehr scheu. Man muß gut mit dem Stein zu treffen wissen, sonst bekommt man sie nicht.“ –

Sehr bald hatte er dann die beiden kleinen Braten auf Äste gespießt, die Fritz Markull nun eifrig über den Flammen drehen mußte. Inzwischen ging der Knabe abermals auf die Murmeltierjagd. Dieses Mal brachte er sogar drei Tiere mit zurück. – „Es gibt hier eine ganze Menge Tarbatschane“, meinte er, als ob er sein Jägerglück erklären wollte. „Gleich als wir die Schlucht betraten, hörte ich das warnende Pfeifen eines Wächters, den jede Murmeltierkolonie aufstellt, sobald sie ihre Schlupfwinkel verläßt. Da wußte ich Bescheid.“

Petersen klopfte Karl herzlich auf die Schulter. „Du hast hier in Sibirien viel gelernt …! Und das kommt uns jetzt zugute, kleiner Landsmann! Du bist doch ein richtiges Kerlchen! – Da, reich’ mir die Hand! Wir wollen als Freunde treu zusammenhalten …!“ –

Die Murmeltierbraten schmeckten gar nicht übel. Für die Gefährten, die sich auf der Seereise lediglich von Fischen genährt hatten, war es außerdem eine recht willkommene Abwechslung, obwohl sie das Fleisch ungesalzen genießen mußten, da es ihnen an diesem Gewürz vollständig fehlte. Sie gewöhnten sich dann jedoch sehr schnell an eine völlig reizlose Kost, wie ja auch verschiedene Naturvölker das Salz geradezu verabscheuen.

Nach der gemeinsamen Mahlzeit, bei der man sich darüber unterhielt, welche Arbeiten man am folgenden Tage als die wichtigsten sofort in Angriff nehmen wolle, suchten die Gefährten, indem sie Holzbrände als Fackeln benutzten, in der Schlucht Moos und Flechten, ferner auch trockenes Laub zusammen und schütteten dies in einem geschützten Winkel zu einer Lagerstatt auf, krochen hinein, legten sich dicht nebeneinander, um sich gegenseitig zu wärmen, und waren auch bald fest eingeschlafen.

Mitten in der Nacht erwachte Fritz Markull jedoch. Sein Leutnant hatte sich ein paarmal unruhig hin und hergeworfen und begann nun auch im Schlaf allerlei wirre Reden zu führen. Der Berliner weckte daher den Knaben. Zu ihrem nicht geringen Schrecken mußten sie dann feststellen, daß sich bei Hans Petersen ein schweres Fieber eingefunden hatte.

Das war ein recht trauriger Beginn ihres Robinsondaseins. Besonders der Berliner war ganz verzweifelt und bereute es nun bitter, von diesem gefahrvollen Unternehmen nicht abgeraten zu haben.

Wie kalt die Nacht war und wie wenig die Moosstreu sie vor der Kälte geschützt hatte, merkten Markull und der Knabe erst jetzt. Ihre Glieder waren vollkommen steif, und erst durch Hin- und Herlaufen vermochten sie sich etwas zu erwärmen. Das Feuer war längst niedergebrannt. Es wieder mit frischem Brennstoff zu versehen, wagte Karl Schimeikat nicht. Der Morgen mußte sehr bald anbrechen, und der aufsteigende Rauch hätte vorbeifahrenden Fischern nur zu leicht verraten können, daß sich auf dem Eiland, welches die Russen und die auf dem nahen Ostufer hausenden Buräten Aklama-Pilwa, Geisterfelsen, nannten, Menschen befanden.

Zunächst konnte man für den Kranken daher nichts weiter tun, als ihn mit der ganzen vorhandenen Streu bedecken und obenauf große, zusammenhängende Moospolster legen, die man vorsichtig von glatten Felsen loslöste. Nachdem es dann hell geworden war, mußte Markull bei seinem armen Herrn zurückbleiben, während Karl sich nach einer geeigneten Wohnstätte umsehen wollte. – „Ich würde mich doch sehr wundern, wenn es hier nicht irgendwo eine Höhle oder dergleichen geben sollte“, meinte er. „Jedenfalls bin ich sehr bald wieder zurück. Bitte, geben Sie inzwischen auf unseren Patienten acht.“

Die tiefe Schlucht, in der die Gefährten sich befanden, senkte sich nach der Mitte der kleinen Insel hin abwärts, wurde breiter und breiter und mündete schließlich auf ein fast kreisrundes gut 140 Meter breites Tal, dessen ebener Boden nur mit kleinen Gerölltrümmern bedeckt war und in dessen Mitte ein riesiger Felswürfel mit völlig glatten Granitwänden sich erhob. Dieser Felsblock, dessen Seitenlänge vielleicht zwölf Meter bei gut acht Meter Höhe betrug, wurde von einem halbverfallenen Bauwerk gekrönt, das offenbar ein uralter chinesischer Tempel war, wie man ja überhaupt in der Gegend des Baikal-Sees auf Überreste chinesischer Architektur stößt, ein Beweis, daß auch diese Gebiete dereinst zu dem Riesenreiche China gehört haben.

Staunend blieb Karl vor diesem merkwürdigen Felsgebilde stehen. Dann umschritt er den Riesenwürfel ein paarmal, konnte jedoch nirgends auch nur den geringsten Anhaltspunkt dafür finden, auf welche Weise die Erbauer des uralten Heiligtumes dort hinaufgelangt sein könnten.

Dann setzte er die Durchforschung des Aklama-Pilwa weiter fort. Bald war er sich über die Gestaltung der Insel völlig klar. Das runde Tal bildete ungefähr die Mitte des Eilandes. In die das Tal einschließenden, steilen Granitmassen schnitten wie die Zacken eines Sternes vier Schluchten ein, die ungefähr nach den vier Himmelsrichtungen verliefen. Diese Seitenschluchten hatten sämtlich keilförmige Gestalt, lagen mit ihrem breiten Ende nach dem kreisrunden Kessel zu, waren hie und da mit Bäumen, spärlichem Buschwerk und kleinen Grasflächen bedeckt und besaßen nur den einen Ausgang auf den Tempelfelsen zu, abgesehen von der westlichen, die noch die geheime Spalte als Verbindung nach dem See hin hatte.

Der Gesamtdurchmesser der Insel, die als ein kolossaler Granitzylinder zu betrachten war, in den die Naturgewalten den Kessel und die keilförmigen Strahlen eingemeißelt zu haben schienen, mochte etwa 800 Meter betragen. Daß diese Naturgewalten vulkanischen Ursprungs gewesen waren, konnte Karl freilich nicht wissen. Auch die Entstehung des Baikal-Sees wird ja auf vulkanische Tätigkeit zurückgeführt. Erdbebenerschütterungen zerrissen die Felsrinde der Erde an dieser Stelle, bildeten einen ungeheuren Schlund, der schließlich von den zahlreichen Flüssen und Flüßchen vollständig ausgefüllt wurde. Auf vulkanische Tätigkeit weisen auch die steilen Ufer des Sees, die heißen Quellen, das Auswerfen von Asphalt, auch Seewachs genannt, aus den Tiefen des großen Gewässers und endlich die zahlreichen erloschenen Vulkane in der Nähe hin. Auch der Chamar-Dawan im Süden ist nichts als ein solcher erloschener Vulkan.

Der Knabe brachte dieser seltsamen Gestaltung des Eilandes jedoch nur ein mäßiges Interesse entgegen. Weit wichtiger war es ihm, daß er in der westlichen Schlucht eine für ihn und seine Gefährten sehr vorteilhafte und nützliche Entdeckung machte.

Er fand hier nämlich einen kleinen Bach, der aus einer im Hintergrunde der Schlucht gelegenen Grotte heraustrat und später rauschend in einer Felsspalte auf Nimmerwiedersehen verschwand. Dieser Bach war der Abfluß einer außerordentlich heißen Quelle, die mitten in der vielleicht dreißig Quadratmeter Bodenfläche messenden Grotte aus einem runden Loche hervorkam. Die der Quelle entströmende Wärmemenge hatte zur Folge, daß in der Höhle eine recht angenehme Temperatur herrschte, die sich ständig gleichblieb. – Karl sagte sich sofort, daß er kaum eine passendere Behausung als diese hätte finden können. War doch eine weitere Folge des warmen Wassers, welches nachher die Schlucht ihrer ganzen Länge nach durchrieselte, daß sich gerade hier ein fast üppiger Graswuchs entwickelt hatte und auch die Bäume eine bedeutende Höhe erreichten.

Auf dem Rückwege zu seinen Gefährten machte Karl dann nochmals bei dem mächtigen Felswürfel halt. Die Frage, wie man wohl auf dessen von dem uralten Tempel gekrönte Plattform hinaufgelangen könne, regte ihn zu eifrigem Nachdenken an. Abermals umschritt er den Granitblock, beschaute sich die steilen Wände aufs genaueste, vermochte aber nicht das Geringste zu entdecken, was auch nur auf die ungefähre Lösung des Rätsels hingedeutet hätte. Nur eins erschien ihm etwas auffällig. An der Nordecke des riesigen Würfels wuchsen, vielleicht drei Meter von diesem entfernt, dicht beieinander drei Zedern, prächtige, starke Stämme, die ihre untersten, wagerecht auslaufenden Äste über das glockenförmige Dach des chinesischen Heiligtumes weit hinausstreckten. – Der Knabe untersuchte nun auch die Stämme dieser drei Bäume, von deren Ästen man sich mühelos auf die Spitze des Felsens hätte herablassen können. Doch auch die Zedern wiesen keinerlei Anzeichen dafür auf, daß sie als Zugang zu dem Tempel irgendwie benutzt worden waren, obwohl ihr Alter ihrem Stammumfang entsprechend ein mehr als ehrwürdiges sein mußte. Glaubt man doch zum Beispiel von den berühmten Zedern des Libanon, daß sie alt wie unsere Zeitrechnung seien. –

Fritz Markull war dem kleinen Gefährten von Herzen dankbar, als dieser mit so günstigen Nachrichten zurückkehrte. Sofort wurde nun der kranke Leutnant auf einer aus Zweigen schnell hergestellten Tragbahre in die Grotte in der Ostschlucht geschafft und hier weich und warm gebettet.

Der Rest dieses ersten Tages ging mit allerlei notwendigen Arbeiten schnell vorüber. So wurde ein Herd vor der Höhle aus Steinen errichtet, ferner Brennholz gesammelt und mancherlei anderes getan, was der Beginn ihres Robinsondaseins erforderte. – Der Berliner Schuhmachergeselle hatte sich sehr schnell in diese außergewöhnlichen Verhältnisse hineingefunden und bewies viel praktischen Blick und eine recht geschickte Hand. Trotzdem war ihm der kleine Ostpreuße in vieler Beziehung überlegen. Der bedauernswerte Junge hatte nach dem Verlust der Eltern sich häufig in den Dörfern der Tungusen umhergetrieben und diesen halben Naturmenschen so manches abgelauscht, was er jetzt gut verwerten konnte.

Der Zustand des Kranken wurde dann gegen Abend so besorgniserregend, daß der Knabe dem Berliner vorschlug, zur Linderung des Fiebers es mit einer Behandlung zu versuchen, wie er sie bei den Tungusen häufig beobachtet hatte. Fritz Markull war in seiner Angst um das Leben seines Leutnants, mit dem er acht Monate lang an der Ostfront Freude und Leid geteilt hatte, mit allem einverstanden.

Da es jetzt völlig dunkel geworden war, konnte man es wagen, ein großes Feuer anzuzünden, in dem flache Steine bis zu einem gewissen Grade erhitzt wurden. Auf diese in der Grotte ausgebreiteten heißen Steine wurde eine Schicht Moos und Flechten gebreitet und der Kranke dann auf dieses warme Lager völlig unbekleidet gelegt, vorauf eine zweite Schicht vorher angewärmter, großer Moosstücke als Zudeck benutzt wurde, während weitere erhitzte Steine rings um dieses primitive Bett, besonders an das Fußende, gestellt wurden.

Das eigenartige Schwitzbad, bei dem die feuchte Wärme der Moose und Flechten die Hauptrolle spielte, äußerte seine Wirkung zur Freude der beiden fürsorglichen Pfleger sehr bald. Mit den ersten Schweißperlen, die sich auf des Leutnants fieberglühender Stirn zeigten, wurde er merklich ruhiger. Das wilde Phantasieren hörte auf. Und nach einer halben Stunde floß ihm das Wasser in ganzen Strömen über das Gesicht. Nun wurde schnell ein zweites, ähnliches, aber weniger warmes Lager vorbereitet, auf dem der Patient, nachdem er mit Moosstücken tüchtig gerieben war, bei wiedererlangtem klarem Bewußtsein schnell in einen wohltätigen Schlaf verfiel.

Jetzt konnten Karl und der Berliner auch daran denken, ihren Nahrungsmittelvorrat wieder zu ergänzen. Hatten sie doch den Tag über sich mit dem kalten Fleische zweier am Abend vorher gerösteten Murmeltiere begnügen müssen.

Überhaupt bildete die Verpflegungsfrage, nachdem die Gefahr bei dem Fieberkranken beseitigt war, ihre Hauptsorge. Ständig sich von Murmeltieren zu ernähren, war unmöglich, da diese für drei Menschen auf die Dauer kaum ausgereicht hätten. Andere eßbare Dinge gab es jedoch auf der Insel nicht. Mithin war guter Rat teuer. Ja, wenn man noch das Bündel besessen hätte, das bei der Schwimmtour von dem Kutter nach der Felszunge weggesunken war und das auch eine Menge Angelschnüre enthalten hatte, die beizupacken der kleine Ostpreuße umsichtig genug gewesen war …! Aber leider lag es jetzt auf dem Grunde des Sees …!

Nun – vorläufig blieb nichts anderes übrig, als in der Dunkelheit den scheuen Murmeltieren nachzustellen. Trotzdem hatte aber die Erörterung der Lebensmittelfrage zwischen Karl und dem flinken Schuhmachergesellen das eine Gute gehabt, daß der Knabe im Stillen den Plan faßte, demnächst zu versuchen, ob er das Bündel nicht durch Tauchen aus der Tiefe wieder heraufbefördern könne, was freilich nur möglich war, wenn das Wasser sich an jener Stelle als einigermaßen flach erwies.

Der Erfolg der Jagd, an der sich dieses Mal auch Fritz Markull beteiligte, bestand in vier Tarbatschanen, die sämtlich recht feist waren. – Die Nacht verging dann, nachdem man sich leidlich gesättigt hatte, ohne jede Störung. Leutnant Petersen atmete tief und ruhig. Die Fieberröte war von seinen Wangen verschwunden, und am Morgen erwachte er mit klaren Augen und fühlte sich schon so frisch, daß er um etwas Genießbares bat. Diese Besserung hielt auch an. Am dritten Tage vermochte er bereits draußen vor der Grotte in der warmen Mittagsonne zu sitzen, und sehr bald hatte er sich wieder von der schweren Erkältung durch das eisige Seewasser vollkommen erholt.

Leider hatte Karl während der ersten Woche ihres Aufenthaltes auf der Insel keine Gelegenheit gehabt, seinen Gedanken, das Bündel durch Tauchen vom Seegrunde heraufzuschaffen, zur Ausführung zu bringen. Starke Winde rührten den Baikal-See derart auf, daß das Eiland ständig von einer brausenden Brandung auf der Südseite umtobt wurde. Dann trat anderes Wetter ein, und eines Morgens schlich sich der Knabe, ohne seine Gefährten ins Vertrauen zu ziehen, durch den Felsspalt ins Freie, überzeugte sich, daß kein Schiff in der Nähe war und schwamm dann um die Insel herum bis zu jener schmalen Felsenzunge hin, auf der die drei Flüchtlinge nach der Preisgabe des Kutters zum ersten Mal gerastet und die Beschießung ihres Bootes bei Scheinwerferbeleuchtung mit angesehen hatten. Und an der äußersten Spitze dieses Vorsprunges fand Karl das zwischen dem Geröll halb im Wasser liegende Tau des verloren gegangenen Bündels, ohne das er lange zu suchen brauchte. Als er nun an dem Tau vorsichtig zog, merkte er sofort, daß es am anderen Ende durch eine ziemlich schwere Last in der Tiefe festgehalten wurde. Gleich darauf hißte er dann auch das Bündel zu sich herauf, das ohne Zweifel durch den anhaltenden Sturm näher an das Eiland herangetrieben worden war.

Einzeln brachte er nun die verschiedenen Gegenstände nach dem Zugang zum Innern des Eilandes: die starken Angelschnüre mit den festen Eisenhaken, die geteerten Fischeranzüge, die Korkwesten, das Handbeil und einige Stricke.

Hans Petersen und der Berliner waren nicht wenig überrascht, als der kleine Ostpreuße dann, beladen mit seinen Schätzen, in der Grotte wieder anlangte. Gleich an demselben Vormittag wurden nun zwölf Angelschnüre in der kleinen, von zwei Felszungen gebildeten Bucht vor dem geheimen Eingang ausgelegt. Wer beschreibt aber das Erstaunen der Kameraden, als sie am Abend an zweien der Haken nicht etwa die erwarteten Lachse, sondern … junge Seehunde vorfanden, ein Ergebnis, das insofern recht wertvoll war, als diese Tiere unseren Robinsons nunmehr bald das Material zu warmer, dauerhafter Kleidung lieferten, die herzustellen Fritz Markulls Hauptarbeit in den folgenden Wochen bildete.

Aber auch der Fischfang gestaltete sich recht ergiebig, so daß die Gefährten in der Lage waren, sich einen großen Vorrat von gedörrtem Fleisch anzulegen, das sie in einer kellerartigen, sehr tiefen und kalten Felsspalte aufbewahrten.

Ein Monat war nun bereits seit ihrer Landung auf dem Geisterfelsen verstrichen. Der Berliner hatte inzwischen aus den Fellen der gefangenen Seehunde, die im Baikal sehr zahlreich sind und Nerpa genannt werden, recht praktische Anzüge gefertigt. Ebenso hatte er die Felle der Murmeltiere sorgfältig gesammelt und benutzte seine zahlreichen Mußestunden dann, sie zu weichen Pelzunterkleidern zu verarbeiten, die man in der kalten Jahreszeit nur zu nötig brauchte.

Das Leben der drei Robinsons floß jetzt, wo sie alle notwendigen Arbeiten längst erledigt hatten, recht eintönig dahin. Die Grotte hatte sich inzwischen in eine regelrechte Höhlenwohnung, die aus zwei Gelassen bestand, verwandelt, besaß sogar eine Brettertür und auch Fensteröffnungen, die mit dünner Fischblase überspannt waren. Die Vorderwand, die den früheren Grotteneingang nunmehr verschloß, war aus Steinen hergestellt, deren Ritzen sorgfältig mit Moos und Asphalt, den man zuweilen auf den Felszungen draußen in größeren Stücken fand und über dem Feuer auf schüsselförmig ausgehöhlten Steinen schmolz, ausgefüllt worden. Die Hauptbeschäftigung der Gefährten war der Fisch- und der Robbenfang. Die Murmeltiere hatten sich inzwischen an unzugängliche, höher gelegene Stellen zurückgezogen, so daß man nur sehr selten noch eines dieser flinken, kleinen Säugetiere durch Steinwürfe erlegte. Um nun nicht etwa Langeweile und damit allerlei trübe Gedanken aufkommen zu lassen, machte Petersen, der von den beiden anderen ohne weiteres als Oberhaupt der kleinen Kolonie anerkannt wurde, den Vorschlag, mit der Herstellung von allerlei Geräten und Einrichtungsgegenständen für die Grottenwohnung zu beginnen, ebenso wie er auch eine bestimmte Tageseinteilung aufstellte und jedem seine Arbeit zuwies. –

Karl Schimeikat hatte der Gedanke, daß es zu dem Granitwürfel in der Mitte des runden Talkessels unbedingt einen Zugang geben müsse, nie recht Ruhe gelassen. Der chinesische Tempel dort oben lockte ihn wie ein seltsames Geheimnis. Wenn er mit Hans Petersen hiervon sprach, lächelte der jedoch stets nachsichtig und meinte einmal:

„Kleiner Freund, Du würdest sicherlich sehr enttäuscht sein, wenn es Dir wirklich gelingen sollte, auf den Felsblock hinaufzukommen. Das alte Heiligtum birgt sicher nichts als Staub und Schutt. Die eine Seite ist ja bereits völlig eingesunken. Und vielleicht erleben wir’s noch, daß ein Sturm das windschiefe Dach eines Tages herunterweht.“

Karl blieb dabei, daß dort oben noch wichtige Entdeckungen zu machen seien. Er berief sich stets auf die Erzählungen der Fischer des Baikal-Sees, die in dunklen Nächten bis in die jüngste Zeit ein richtiges Gespensterboot, das ein helles Licht ausstrahlte, in der Nähe des Eilandes beobachtet haben wollten. – „Ich kann mir nicht helfen, Herr Leutnant“, wiederholte er so und so oft, „– aber mir schwant es, daß dieser Tempel mit dem Geisternachen irgendwie in Zusammenhang steht. Wenn ich nur wüßte, wie ich auf den Granitblock hinaufgelangen könnte …!“

Fritz Markull machte bei solchen Gelegenheiten, wenn der kleine Ostpreuße wieder einmal sein Steckenpferd ritt, wie man zu sagen pflegt, manch’ derben Scherz, den Karl stets ruhig hinnahm. – „Wer zuletzt lacht, lacht am besten“, meinte er.

Und – er sollte recht behalten.

Ende der sechsten Woche war’s, als der Berliner eines Abends ganz aufgeregt in die Grottenwohnung geeilt kam und meldete, daß ein großes Segelboot westlich der Insel vor Anker gegangen sei und soeben einen Kahn ausgesetzt habe, in dem drei Männer gerade auf den geheimen Zugang zugerudert kämen. Er hätte nach den Angelschnüren gesehen, und deshalb sei er auf die beiden Fahrzeug aufmerksam geworden. Eiligst habe er dann die Angeln eingezogen, damit diese nicht die Anwesenheit von Menschen auf dem Geisterfelsen verrieten.

Diese Alarmnachricht bewirkte, daß Karl als der im Anschleichen Gewandteste ausgeschickt wurde, um festzustellen, ob die Fremden tatsächlich den verborgenen Zugang kannten und das Eiland betreten hatten.

Der Abend war dunkel, aber völlig windstill. Von dem mit dichten Wolken bedeckten Himmel blinkte auch nicht ein einziger Stern herab. In den Schluchten und dem Talkessel der Insel herrschte daher auch eine Finsternis, daß man nicht die Hand vor Augen sehen konnte.

Leutnant Petersen und Fritz Markull standen jetzt, auf die Rückkehr des kleinen, flinken Ostpreußen harrend, vor der Grottenbehausung. Ringsum tiefste Stille … Nur ganz schwach brandete heute der See mit bescheidenen Wellen gegen die Steilküste des Aklama-Pilwa. Und hoch oben auf den Felsabhängen kreischten hin und wieder ein paar der dort nistenden, zahlreichen Möwen im Schlafe auf.

Eine reichliche Viertelstunde verging. Karl hätte längst zurück sein müssen, und Petersen wurde des kleinen Kameraden wegen auch wirklich schon ernstlich besorgt.

Der Berliner blieb jedoch ganz zuversichtlich. „Der Junge ist viel zu schlau, um sich abfassen zu lassen, Herr Leutnant“, meinte er. „Und sicherlich wird er …“

Mitten im Satz brach er ab, um dann ganz aufgeregt fortzufahren: „Da – der Tempel – Licht …“

Er stotterte förmlich vor ungläubiger Überraschung.

Petersen schaute empor. Keine zweihundert Meter vor ihnen lag der mächtige Granitwürfel. In der Dunkelheit war jedoch nur der obere Teil mit dem chinesischen Heiligtum undeutlich zu erkennen. Und – auch dem jungen Offizier stockte für einen Moment schier der Herzschlag … Wahrhaftig, in dem kleinen Tempel brannte Licht. Die Fensteröffnungen leuchteten wie helle Flecke durch die Finsternis.

„Was bedeutet das?!“ flüsterte Hans Petersen leise. „Begreifst Du’s, Fritz …?! – Ob etwa Karl …“

Auch er sollte diesen Satz nicht zu Ende führen. Der, dessen Namen er soeben genannt hatte, stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen.

„Kommen Sie – aber leise – leise!!“ sagte er ganz heiser vor innerer Erregung. Und er faßte den Leutnant und den Berliner bei den Armen und zog sie in die Wohnung hinein.

Hier saßen sie dann im Finstern auf den selbstgefertigten Schemeln dicht beieinander. Und der kleine Bursche berichtete nun folgendes:

Er war sofort durch die westliche Schlucht auf den versteckten Inselzugang zugeeilt, hatte aber unterwegs nicht das geringste Verdächtige bemerkt. In dem Felsenspalt mit den eingehauenen Stufen angelangt, vernahm er dann vor sich laute Stimmen, die sich ihm näherten. Da hatte er schleunigst kehrt gemacht und sich in der Nähe der Einmündung der Spalte in die Schlucht lang auf den Boden gelegt. Bald hörte er auch abermals Stimmen, sah auch am Ausgange der Felsspalte einen Lichtschimmer. Doch urplötzlich verstummten die Laute, und auch der Lichtschein erlosch. Nichts rührte und regte sich mehr. Nachdem er noch einige Minuten gelauscht hatte, war er zum zweiten Mal in den Felsspalt eingedrungen, indem er sich auf allen Vieren Schritt für Schritt vorwärtsschob. Doch der Felsengang war jetzt tatsächlich leer. Ungehindert gelangte er bis an den jenseitigen Ausgang, wo er dann ein kleines Boot bemerkte, das an einer Felszacke angekettet war. Dieses Boot hätte im Dunkeln seltsam geleuchtet, – wie faules Holz, meinte Karl, oder so, als ob es mit Phosphor angestrichen gewesen wäre. Die Anwesenheit des Nachens hatte ihm jedoch auch bewiesen, daß sich die drei von Fritz Markull zuerst beobachteten Fremden noch auf der Insel befinden mußten. Daher war er schleunigst wieder zurückgeeilt und gleich bis hier nach der Grottenwohnung gehuscht, um die Gefährten zunächst zu warnen. –

Dieser Bericht des Knaben war nun, wie der Leutnant sofort erkannte, in einem Punkte besonders merkwürdig.

Die drei Männer, die in dem offenbar absichtlich mit einer Leuchtfarbe angepinselten Boot von dem größeren Fahrzeug herübergekommen waren, hatten durch die Felsspalte die Schlucht nicht betreten, und doch schimmerte jetzt da oben in dem kleinen Heiligtum ein deutlicher Lichtschein, den man bisher nie bemerkt hatte und der mithin notwendig nur mit dem Auftauchen der Fremden irgendwie zusammenhängen konnte. – Wie aber waren diese dort auf den Granitblock gelangt – wie …?! – Das war eine Frage, die von den Gefährten jetzt flüsternd aufs lebhafteste erörtert wurde. Diese Besprechung führte jedoch zu keinem Ergebnis. Schließlich machte Karl den Vorschlag, er wolle sich abermals nach der Westschlucht schleichen, um womöglich Näheres festzustellen, wenn die drei Leute die Insel wieder verlassen würden. Alles deute ja darauf hin, daß sie nicht die Absicht hätten, sich hier längere Zeit aufzuhalten. Sonst würden sie wohl ihr Boot nicht so ohne jede Aufsicht neben dem Eingang zu der verborgenen Felsspalte festgemacht haben.

Nach einigem Zögern gab Petersen dem Knaben die Erlaubnis zu dem immerhin nicht ungefährlichen Unternehmen. –

Eine Stunde verging. Dann erst erschien Karl wieder bei den ihn angstvoll erwartenden Gefährten in der Höhlenwohnung. Viel Neues konnte er dieses Mal nicht berichten. Er hatte sich abermals dicht bei der Mündung des Ganges in der Schlucht niedergekauert, hatte wieder hinter der ersten Biegung der Felsspalte Stimmen gehört und Lichtschein bemerkt und nach einer Weile sich dann überzeugt, daß der Nachen mit den Fremden das Eiland verlassen hatte und dem draußen vor Anker liegenden Fahrzeug zustrebte. – Das war aber auch alles.

Immerhin erschien jetzt als sicher, daß der Felsengang mit dem Heiligtum auf dem riesigen Granitwürfel durch einen unterirdischen Weg in Verbindung stehen müsse. Hierfür sprach auch die Tatsache, daß das Licht in dem Tempel nunmehr wieder verschwunden war, wie Karl gleichfalls nach dem Abzuge der drei Männer festgestellt hatte.

Ein Teil der Geheimnisse des von den Fischern so ängstlich gemiedenen Aklama-Pilwa war somit schon aufgeklärt.

Ohne Frage handelte es sich um Männer, die seit langem zu irgend einem lichtscheuen Zweck gelegentlich den Geisterfelsen, besser den chinesischen Tempel, nachts besuchten und dabei die Dummheit des einfachen Fischervolkes durch das leuchtende Boot zu abergläubischen Vorstellungen reizten, um hier auf dem Eiland ganz ungestört zu bleiben. –

Was trieben die Leute in dem uralten Heiligtum jedoch? Was veranlaßte sie, von Zeit zu Zeit immer wieder hierher zurückzukommen …? Und – die Hauptsache: wo befand sich der Eingang zu dem unterirdischen Wege nach dem Granitblock …? –

Es war unter diesen Umständen nicht weiter wunderbar, daß die drei Deutschen in dieser Nacht keinen Schlaf mehr fanden und sehnsüchtig den Anbruch des Tages erwarteten, um sofort die notwendigen Nachforschungen in dem Felsengange anstellen zu können, von dem aus ja ohne Zweifel ein zweiter Gang nach dem Tempel hinführen mußte.

Mit einem Schlage war auf diese Weise in das bisher fast zu gleichmäßig dahinfließende Robinsondasein unserer drei Freunde eine Unruhe hineingekommen, die sich bei Karl Schimeikat äußerlich am wenigsten bemerkbar machte. Während Leutnant Petersen mit seinem lebhaften, braven Fritz andauernd bis zum Hellwerden die Ereignisse der verflossenen Stunden stets aufs neue nach allen Seiten hin erörterte und dabei zu dem Schluß gelangte, daß der Tempel vielleicht das Geheimlager einer Diebes- oder Räuberbande sei – beide gibt es ja in den erst halbkultivierten Gegenden um den Baikal herum genug! –, saß der wortkarge kleine Ostpreuße still in einer Ecke auf seinem Schemel und streute nur dann ein paar Worte in die Unterhaltung ein, wenn einer der Gefährten eine Frage an ihn richtete. Schließlich wurde Fritz Markull, der bei seiner Lebendigkeit eine solche Gleichgültigkeit gegenüber derart aufregenden Zwischenfällen gar nicht begreifen konnte, beinahe auf den Knaben ärgerlich. – „Ihr Ostpreußen seid wahrhaftig um Euer dickes Fell zu beneiden …!“ meinte er. „Mir kribbelt’s in allen Fingerspitzen, und dieser Knirps da tut, als gehe ihn die ganze Sache gar nichts an!“ Worauf Karl im schönsten, breitesten Dialekt seiner engeren Heimat erwiderte, bei dem Herumraten käme ja doch nichts heraus. Selbst sehen und sich überzeugen sei das Richtige … Und das würde er auch tun, sobald es draußen hell genug sei. –

Sehr bald nach Tagesanbruch versahen die drei Gefährten sich reichlich mit harzigen Zweigen an Stelle von Fackeln und brachten dann wohl zwei volle Stunden in dem Felsengange zu, in dem sowohl die Stimmen der Fremden und der Lichtschein so plötzlich aufgehört hatten als auch nachher ebenso unvermittelt wieder bemerkbar geworden waren.

Aber – sie fanden nichts. Und recht enttäuscht wollten sie schon nach ihrer Grotte zurückkehren, als der Leutnant hinter der ersten Biegung der Felsspalte, von der Schlucht aus gerechnet, an einer Stelle der Granitwand in weit über Mannshöhe etwas wie einen schwarzen Strich erspähte, der nach oben hin breiter und breiter wurde und wie der Rußfleck einer der Wand zu nahe gekommenen Fackel aussah.

Jetzt mußte Karl auf Hans Petersens Schultern klettern, um die Rußspur genauer zu untersuchen. Die Granitwand war gerade an dieser Stelle sehr rissig und mit allerlei Höckern und Buckeln versehen. Deshalb war den umherspähenden Augen der drei Kameraden bisher auch ein etwa viereinhalb Meter über der Sohle des Ganges in das Gestein eingelassener dicker Ring aus Bronze entgangen, der offenbar absichtlich so angebracht war, daß er von unten überhaupt nicht bemerkt werden konnte. – Als der kleine Ostpreuße an diesem Ring jetzt zog, ließ sich ein viereckiges Stück der Wand wie eine Tür nach außen hin bewegen. Die spätere Besichtigung dieser Einrichtung zeigte, daß es sich hier um ein zu einer dünnen Platte behauenes Felsstück handelte, welches in Gelenken beweglich war und den Zugang zu einer in die Tiefe hinabführenden Steintreppe verschloß. Die Rußspur befand sich links von dieser genau in die Wand hineinpassenden und sogar in der Farbe mit dem die Öffnung umgebenden Granit völlig übereinstimmenden steinernen Pforte.

In leicht begreiflicher Erregung und Spannung wurde nun der Weg in das Innere der Felsmassen der Insel angetreten. Die Treppe hatte einige dreißig guterhaltene Steinstufen und endete in einer schmalen, nach Osten zu fortlaufenden Höhle, in der man zunächst nichts Besonderes entdeckte. Mit den qualmenden, harzigen Ästen in der Hand, deren rötlicher Lichtschein gespenstig über die starren Felswände hinglitt, drangen die Gefährten bis zum Ende der Höhle vor, wo sie dann zu ihrer Überraschung an der glatten Rückwand eine starke Tür aus Zedernholz erblickten, die reich mit altertümlichen, chinesischen Schnitzereien verziert war, dabei aber ein modernes Vorlegeschloß aufwies dessen eine Krampe mit Blei in den Felsen eingelassen war. Merkwürdigerweise hing der Schlüssel an einem Nagel mitten in dem oberen Türfelde. Gleich darauf flog denn auch die Tür auf, und die drei Deutschen betraten nun ein viereckiges, gemauertes, leeres Gelaß, aus dem eine Holztreppe, die wieder aus dem äußerst dauerhaften Zedernholz hergestellt war, nach oben führte und durch eine Öffnung in der starken Balkendecke in ein oberes Stockwerk dieser von Menschenhand errichteten Räume hinauflief.

Die Deckenöffnung war jedoch durch eine Falltür versperrt, die wiederum ein modernes Vorhängeschloß hatte. Aber auch zu diesem hing der Schlüssel an einer sichtbaren Stelle der hier knallrot gestrichenen Wände, die mit verblichenen chinesischen Malereien geschmückt waren.

Während der Berliner das Schloß mit Hilfe des Schlüssels öffnete, hörte man plötzlich in dem oberen Stockwerk deutlich den Schritt eines ruhelos auf- und abschreitenden Menschen.

Erschreckt schauten sich die Gefährten an.

Fritz Markull schnitt ein sehr bedenkliches Gesicht. „Nette Bescherung!“ flüsterte er. „Dieses Palais scheint bewohnt zu sein. – Was nun?“

Da war es der kleine Ostpreuße, der wieder das Richtige traf.

„Es kann meiner Ansicht nach nur ein Gefangener sein“, meinte er sorglos. „Die verschlossenen Türen hier besagen genug! – Vorwärts also! Überzeugen wir uns, wer da oben haust.“

Leutnant Petersen nickte zustimmend. Gleich darauf stemmte sein treuer Bursche sich gegen die Falltür, die ein erhebliches Gewicht hatte. Langsam drückte er sie auf, bis sie sich oben gegen die Mauer lehnte.

Neugierig hatte der fixe Schuster seinen Kopf durch die Öffnung gesteckt. Aber hier war es leider genau so dunkel wie unten. Nur in einer Ecke brannte das kleine Flämmchen einer Öllampe.

Karl reichte dem Berliner eine frisch angezündete Fackel zu. Und dann standen sie alle drei in dem viereckigen Gemach, das mit allerlei seltsamen, zum Teil recht wertvollen Möbeln chinesischer Herkunft ausgestattet war.

Das Merkwürdigste an diesem fensterlosen Raum, aus dem abermals eine Treppe höher hinaufführte, war jedoch die Bewohnerin. – Man kann sich leicht die Überraschung der drei Deutschen vorstellen, als sie sich hier so unerwartet einem alten, von der Last der Jahre gebeugten Weibe mit langen grauen Haarzotteln um das faltige, rotbraune Gesicht gegenüber sahen.

Die Frau hatte sich in den entferntesten Winkel geflüchtet und schaute den Eindringlingen mit haßverzerrtem Antlitz und glühenden Augen entgegen. Über die dünnen Lippen sprudelte jetzt eine Flut unverständlicher Worte – unverständlich für Petersen und Markull. Karl jedoch, der während des einen Jahres sowohl Russisch als auch die Sprache der Tungusen leidlich erlernt hatte, entnahm aus diesen Sätzen mancherlei, was ihn dann veranlaßte, das Weib darüber aufzuklären, daß er und seine Kameraden nicht zu den Leuten gehörten, die die alte Tungusin hier gefangen hielten.

Das Mißtrauen der Greisin war jedoch nicht so leicht zu zerstreuen. Was wußte sie auch von Deutschland, vom Weltkriege, von Kriegsgefangenen und nach Sibirien verschleppten Deutschen …! – Aber Karl sprach immer eifriger auf sie ein, bis die Alte dann schließlich aus ihrem Winkel hervorkam und sich erschöpft auf eine Bank fallen ließ.

Es dauerte dann noch eine gute halbe Stunde, bevor der Junge durch beharrliches Ausfragen herausbekommen hatte, wer die Frau war und weshalb man sie hier eingekerkert hatte. – –

Die Gebirge um den Baikal-See sind reich an wertvollen Bodenschätzen. Außer Eisen, Kupfer, Blei und Quecksilber wird sowohl in den Flüssen als auch in Erzadern in den Felsen Gold gefunden.

Wie so oft schon, war auch die Greisin ein Opfer der Habgier gewissenloser Menschen geworden. Vor zwanzig Jahren hatte sie mit ihrem Manne, dem Oberhäuptling der Lamuten, der ackerbautreibenden Tungusen westlich des Baikal, eine Wanderung nach den Felsschluchten des Chamar-Dawan unternommen, der den der alten Religion treugebliebenen Tungusen als heilig gilt. Diese sowohl als die östlich des Sees beheimateten Buräten waren früher sämtlich gläubige Anhänger des Lamaismus gewesen, jener Religion, die hauptsächlich in Tibet in ihrer reinsten[2] Form noch heute besteht, wo das geistige Oberhaupt der Lamaisten, der Dalai-Lama, in der Stadt Lhassa haust. Auf dieser Wanderung, die nichts als eine Wallfahrt zur heiligen Quelle von Dschaka-Drawa sein sollte, wurden die Lamuten von einem Trupp Russen überfallen, die annahmen, daß der Tojon (Oberhäuptling) aus nur ihm und seinem Weibe bekannten Goldlagern das kostbare Edelmetall holen wollte. Unter den grausamsten Martern war der Tojon der Lamuten qualvoll gestorben, ohne jedoch sein Geheimnis preiszugeben. Darauf hatten die Russen sein Weib fortgeführt und nach der Insel geschafft, wo sie durch die Einkerkerung aus der Tungusin das herauszupressen hofften, was ihnen der Oberhäuptling selbst angesichts des Todes verschwiegen hatte. Sie sollten sich aber in dieser Frau nur zu sehr täuschen, die alle die endlosen Jahre hindurch standhaft geblieben war und keine Silbe von dem verraten hatte, was ihr Gatte ihr anvertraut hatte. Inzwischen waren an Stelle ihrer ersten Wächter, die sie ungefähr alle drei bis vier Monate mit den notwendigsten Lebensmitteln versorgt hatten, längst andere Männer getreten, die die Hoffnung nicht aufgeben wollten, durch die Frau des Tojon zu reichen Goldadern geführt zu werden. Bei jedem Besuche drangen sie mit allerlei Vorschlägen und Drohungen in die Ärmste, ohne jedoch ihren Zweck zu erreichen. Mit großem Geschick hatten die Russen, die in die Angelegenheit eingeweiht waren, das dunkle Geheimnis des Geisterfelsens vor jedermann zu verbergen gewußt. Und wären jetzt nicht die drei Deutschen infolge einer seltsamen Verkettung von allerlei Umständen auf das Eiland gelangt, so hätte das Weib des ermordeten Tojon ohne Zweifel in ihrem Kerker auch ihr Leben ausgehaucht. –

Dieser Kerker war nichts anderes als ein Gelaß, das in dem riesigen Granitwürfel, der hohl war, lag und zu dem alten Tempel gehörte. Darüber befand sich ein zweiter, ähnlicher Raum, und dann erst gelangte man, nachdem die Gefährten eine Falltür mühsam aufgesprengt hatten, in das chinesische Heiligtum auf der Spitze des Felskolosses.

Daß die Greisin es in dieser verpesteten Luft, abgeschlossen von jedem Lichtstrahl, all die langen Jahre ausgehalten hatte, ohne den Verstand zu verlieren oder schnell dahinzusiechen, war fast als ein Wunder zu betrachten.

Als sie nun durch die langgestreckte Höhle ins Freie geführt wurde, brach sie auch sofort ohnmächtig zusammen, erholte sich jedoch sehr bald wieder und übernahm nun in der Grottenwohnung, wo für sie ein drittes Gemach eingerichtet wurde, freiwillig allerlei Arbeiten, die sie mit großer Geschicklichkeit erledigte. Sie nannte sich Tanja, war ein gutmütiges Geschöpf, lebte aber trotzdem nur einem Gedanken: dem, sich an ihren grausamen, habgierigen Feinden zu rächen.

Ein Monat verging immerhin, bevor die Tungusin, die ihr Alter auf etwa sechzig Jahre schätzte, soweit wieder zu Kräften gekommen war, um an den gelegentlichen Beratungen der drei Flüchtlinge mit wirklichem Interesse teilnehmen zu können. Inzwischen hatte sich nichts von Wichtigkeit ereignet. Eines Tages erklärte Tanja dann, sie wäre nunmehr zu einem bestimmten Entschluß gelangt. Die Freunde sollten für sie ein leidlich festes Floß bauen, auf dem sie nach dem Ostufer übersetzen wollte. Von hier aus gedachte sie zu ihrem Stamme zurückzukehren und alle Vorkehrungen zu treffen, um ihren Rettern die Flucht zu ermöglichen, aber auch, um blutige Rache an ihren Peinigern zu nehmen.

In die jetzt wieder äußerst rüstige Greisin war eine seltene Tatkraft gekommen. Die Sehnsucht nach ihren Kindern, die inzwischen längst erwachsen sein mußten, ferner der wilde Rachedurst des ungezügelten Naturmenschen und die Dankbarkeit gegen ihre drei Gefährten waren die einzigen Gefühle, die in der Seele dieses armen Weibes jetzt lebten. Alle Bedenken, die Leutnant Petersen gegen ihren Plan vorbrachte, wußte sie zu zerstreuen. Endlich gab man nach. Mit der Anfertigung des Floßes wurde nun eiligst begonnen. Mußte man doch damit rechnen, daß nach etwa acht Wochen die Russen sich wieder einfinden könnten, um ihre Gefangene aufs neue zu bestürmen, die Geheimnisse ihres Mannes preiszugeben.

Das Floß wurde in zehn Tagen fertig, mußte dann aber wieder auseinander genommen und mit seinen einzelnen Teilen durch den engen Gang auf den See geschafft werden, wo man es im Wasser unter großen Schwierigkeiten wieder zusammenfügte. Dies geschah an einem dunklen Augustabend. – Petersen, der bei einem Kommando zu einem Pionierbataillon allerlei praktische Winke zum Überqueren von Flußläufen gelernt hatte, errichtete zum Schluß auf dem plumpen Fahrzeug noch einen vorbereiteten Mast, der mit einem aus Robbenfellen bestehenden Segel versehen wurde. Da der Wind gerade von Westen kam, war zu hoffen, daß Tanja tatsächlich das Ostufer erreichen würde, zumal sie auf dem Baikal nicht fremd war und von der Handhabung der Ruder und des Steuers etwas verstand.

Der Abschied von der Greisin, die vertrauensvoll den Mühsalen ihrer weiten Reise entgegensah, war recht herzlich. Langsam verschwand das schwerfällige Fahrzeug dann um die nächste Felszunge in der Dunkelheit, und die drei Deutschen kehrten ernst und nachdenklich in ihre Grottenwohnung zurück, wo sie beim Scheine der in den unteren Tempelräumen aufgefundenen Öllampen noch lange beieinander saßen und in Gedanken die alte Tungusin auf ihrer gefahrvollen Fahrt begleiteten.

Langsamer als bisher schlichen unseren Robinsons nun die Tage und Wochen hin. Neidisch sahen sie nur zu oft Fischerboote und Dampfer in der Nähe ihres Eilandes vorbeiziehen. Sie hatten jetzt an dem geheimen Zugang zu der Felsinsel einen regelrechten Wachdienst eingerichtet, bei dem sie sich alle vier Stunden, selbst nachts, ablösten. Mußten sie doch mit dem unerwarteten Erscheinen der Russen rechnen, die gerade dieses Mal vielleicht früher als sonst sich einfinden konnten. Für diesen Fall hatten die Deutschen genau verabredet, was dann geschehen sollte.

Wie notwendig und vorteilhaft das stete Beobachten des Sees auf etwa sich nähernde Fahrzeuge gewesen war, zeigte sich nach Ablauf der siebenten Woche. Bei Dunkelwerden war an einem regnerischen Tage ein großes Segelboot im Westen des Geisterfelsens vor Anker gegangen, und gleich darauf kam auch wieder das unheimlich leuchtende Boot mit den drei Russen auf das Eiland gerudert.

Die Entscheidung nahte. Aber die Flüchtlinge hatten den Vorteil für sich, alles für den Empfang der gefährlichen Gäste, die durch das Verschwinden ihrer Gefangenen ohne Zweifel auf die Deutschen aufmerksam geworden wären, zurüsten zu können. – Und – der von Fritz Markull sehr listig ausgeklügelte Plan gelang wirklich: Die Russen wurden in dasselbe Gemach, in dem zwei Jahrzehnte die Tungusin gehaust hatte, ehe sie es sich versahen eingeschlossen.

Nun kam es darauf an, sich auch des draußen auf dem See ankernden Segelbootes zu bemächtigen. Man baute darauf, daß die dort zurückgebliebenen Leute wahrscheinlich bis auf eine einzelne Wache sich zum Schlafe niedergelegt hätten und daher leicht zu überwältigen sein würden.

Dieser zweite Teil des Planes des verschlagenen Berliners sollte jedoch nicht zur Ausführung kommen. Gerade als die drei Gefährten den kleinen Nachen der Russen besteigen wollten, hörten sie über das Wasser lautes Geschrei herüberschallen, das offenbar von dem ankernden Segler herkam. Gerade jetzt ließ auch der feine Sprühregen nach, der bisher wie ein Schleier die Aussicht versperrt hatte. Undeutlich erkannten die Deutschen nun dort draußen die dunklen Körper zweier Fahrzeuge. Dieser Anblick erfüllte ihre Herzen mit froher Hoffnung. Hatte ihnen doch das wilde Geschrei besagt, daß die Begegnung zwischen den beiden Booten keinen friedlichen Verlauf genommen hatte.

Und – ihre Hoffnung ging wirklich in Erfüllung. – Nachdem es drüben bei den beiden Fahrzeugen wieder still geworden war, näherte das eine sich dem Eiland. – Klopfenden Herzens schauten die drei Leidensgefährten dem mit halb gerefften Segeln dahinstreichenden Boote entgegen. Dieses hielt genau auf den geheimen Eingang zu, und, als nun mit einem Male der Mond hinter den Wolken hervortrat, erblickten die Deutschen auf dem Vorderdeck neben ein paar Tungusen die hagere Gestalt ihrer Freundin Tanja … – –

Zwei Stunden später verließ das Fahrzeug Tanjas den Geisterfelsen wieder und schlug südlichen Kurs ein. Das Boot der Russen war inzwischen verschwunden. Das in die Planken gehauene Leck hatte es in die Tiefe befördert.

Was sich in dem alten chinesischen Heiligtum zwischen den vier Söhnen der Tungusin und den Russen abgespielt hatte, erfuhren die Deutschen nicht. Der älteste dieser Söhne, der jetzt Oberhäuptling der Lamuten war, sagte nur ausweichend zu dem ihn neugierig ausforschenden Karl Schimeikat: „Man wird von all diesen Leuten nie wieder etwas hören …!“

Und wieder eine Woche später befanden sich unsere drei Robinsons in voller Sicherheit bei einer einsam in der Steppe südlich von Irkutsk hausenden Unterabteilung der Lamuten, von wo sie dann, als Tungusen verkleidet und begleitet von den Söhnen Tanjas, zu Pferde die weite Reise durch die Mongolei nach Peking antraten. Östlich der russischen Grenzstadt Kiachta überschritten sie die chinesische Grenze und folgten dann von Urga aus der großen Karawanenstraße, die die Nordecke der Wüste Gobi durchschneidet und nach Kalgan führt.

Bereits in Urga verabschiedeten sich die vier Lamuten von ihren deutschen Freunden, nachdem sie diese dem Schutze eines ihnen bekannten Karawanenführers anempfahlen hatten. Im letzten Augenblick drückte der jetzige Oberhäuptling des Lamuten-Stammes Petersen noch einen ledernen Beutel in die Hand. Dieser enthielt große Goldkörner im Werte von mehreren tausend Mark, – ein Geschenk, das den drei Flüchtlingen sehr zustatten kam und ihnen die weitere Reise bis Peking wesentlich erleichterte. Von hier aus erreichten sie später auf allerlei Umwegen über neutrale Länder glücklich die deutsche Heimat, und bald lagen ihre sibirischen Abenteuer nur noch wie ein phantastischer Traum hinter ihnen.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Die Möweninsel.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. „Bargusinbucht“ / „Bargusin-Bucht“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Bargusinbucht“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „reisten“.