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Das Gespenst der Christianklippe

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das Gespenst der Christianklippe.

 

W. Belka.

 

Der alte Fischer Harald Mogenäs hatte auf seinem Kutter am 28. Mai 1915 außer einer ganzen Anzahl von Herdenwalen, einer wegen ihres Trans eifrig verfolgten Delphinart, noch eine andere seltsame Beute mit heimgebracht: einen in einem Rettungsring festgebundenen jungen Seemann, den man besinnungslos weit östlich der Fär-Öer-Gruppe[1] am Morgen aus dem Meere aufgefischt und der bisher noch immer nicht das Bewußtsein wiedererlangt hatte.

Harald Mogenäs’ Kutter, der dicht an dem steil abfallenden Felsufer des Fjordes festgemacht hatte, an dem das kleine Dorf Kalsöe, das einzige auf der gleichnamigen Insel, mit seinen bescheidenen Hütten und dem armseligen Holzkirchlein liegt, war bald von einer Schar Neugieriger umlagert, die von der Uferhöhe aus auf das Deck des plumpen Segelbootes hinunter starrten, wo der Fremde in seinem Ölanzug regungslos auf einem Lager von Ersatzsegeln ruhte.

Inzwischen hatte der älteste der Söhne Harald Mogenäs’, der stämmige Olaf, den Strandvogt Kolter, der zugleich Dorfoberhaupt von Kalsöe war, von der Bergung des Schiffbrüchigen benachrichtigt.

Als Kolter erschien, machte man ihm ehrerbietig Platz. Der Vogt schritt würdevoll die in den Uferfelsen eingehauene Steintreppe abwärts und betrat den Kutter, wo ihm der alte Fischer kurz berichtete, wo und wie man den fremden Seemann aufgefunden habe.

Hierauf wurde der Bewußtlose von dem Strandvogt, der auch einige ärztliche Kenntnisse besaß, genau untersucht.

Kolter prüfte, ob das Herz noch schlug und ob der wachsbleiche junge Mensch, der sicherlich viele Stunden im Wasser zugebracht hatte, noch atmete.

Immer bedenklicher schüttelte er den Kopf. Schließlich erklärte er, der Fremde sei ohne Frage bereits verschieden.

Der alte Mogenäs wollte dies zunächst gar nicht glauben.

„Noch vor einer halben Stunde konnte ich den Herzschlag deutlich spüren“, meinte er. „Wir, meine beiden Söhne und ich, haben jedenfalls alles getan, um den armen Burschen am Leben zu erhalten, haben ihn geknetet und gerieben, künstliche Atmung eingeleitet und ihm auch Rum eingeflößt.“

Kolter, ein geborener Däne, der nicht die altnordische auch in Island noch gebräuchliche Mundart der Färinger sprach, wie die Bewohner der Fär-Öer sich mit gewissem Stolz nennen, sondern sich des Dänischen bediente, sagte jetzt, nachdem er ein in der Brusttasche des Toten soeben entdecktes Büchlein durchgeblättert hatte:

„Es ist ein deutscher Maat von einem Torpedoboot. Dieses sein Soldbuch verrät es mir. Hier steht: Karl Anton Friedrich Petersen, geboren zu Emden am achten August 1895. Der Vorname Friedrich ist unterstrichen. Also heißt er Friedrich Petersen.“

Weiter fand der Vogt in dem ledernen Brustbeutel des Toten 52 Mark in deutschem Papiergeld und in den Taschen des blauen Matrosenanzugs, über dem der Torpedomaat das wasserdichte Ölzeug trug, noch verschiede Kleinigkeiten, – eine Nickeluhr, ein Klappmesser und anderes.

Nachdem dann gleich an Bord des Kutters ein kurzes Protokoll aufgenommen worden war, das Harald Mogenäs und seine Söhne unterzeichnen mußten, wurde der junge Deutsche auf die schnell herbeigeholte Bahre gelegt und vorläufig in das kleine Kirchlein gebracht, wo er verbleiben sollte, bis der Arzt von Thornshavn, der Hauptstadt der Fär-Öer, mit dem Dampfer eingetroffen sein würde, um einen regelrechten Totenschein auszustellen. Mittlerweile konnte der Dorftischler auch einen einfachen Sarg zusammenschlagen.

Ein paar Dutzend Leute hatten der Bahre bis an die Kirche das Geleit gegeben. Als diese jetzt von dem Vogte abgeschlossen worden war, zerstreuten die Neugierigen sich wieder. –

Die Fär-Öer, eine Gruppe von 25 Inseln, von ganz unbedeutenden Eilanden abgesehen, liegen bekanntlich zwischen Schottland und Island im Atlantik und gehören zu Dänemark. Der Name Fär-Öer bedeutet Schafinseln, nach anderen Sprachforschern Federinseln. Die erstere Ableitung dürfte die richtige sein. Die Schafzucht ist nämlich der Haupterwerbszweig der Färinger. Nebenbei betreiben sie ein wenig Ackerbau, Fischfang und Seevögeljagd.

Die Inseln sind sämtlich vulkanischen Ursprungs, worauf einmal die überall zutage tretenden Gesteine, Basalt, Porphyr und Sandstein, hindeuten, dann aber auch der ganze Aufbau dieser wildromantischen Felsmassen schließen läßt.

Kalsöe, die Heimat des alten Harald Mogenäs, ist eine der fünf größeren nordöstlichen Inseln, die in ihrer Gestalt und Gruppierung ungefähr einer menschlichen rechten Hand mit gespreizten Fingern gleichen, bei der die größte Insel, Österöe[2], die Stelle des Daumens vertritt.

Auf den nördlichen, dicht benachbarten Eilanden der Fär-Öer verbreitet man wichtige Nachrichten durch Flaggensignale. Auf diese Weise wurde auch der Arzt aus Thornshavn auf Strömöe herbeigerufen.

Am Vormittag war Harald Mogenäs’ Kutter in den Kalsöe-Fjord eingelaufen, und bereits gegen fünf Uhr nachmittags erschien der kleine Dampfer, der den Arzt brachte.

Aber der Dampfer kam nicht allein. Ihm folgte dicht auf ein schwarzgestrichenes, schlankes Kriegsfahrzeug, ein Torpedojäger, der am Heck die englische Flagge führte.

Gleichzeitig mit dem Arzt sprach daher bei dem Vogt Kolter auch der Kommandant des Torpedojägers vor. Der englische Seeoffizier erklärte, er habe von dem Doktor gehört, daß man die Leiche eines deutschen Matrosen aufgefischt habe und jetzt hier beherberge. Er verlange, daß ihm der Tote gezeigt werde, ebenso dessen Sachen. England befinde sich im Kriege mit Deutschland, und aus bestimmten Gründen habe er ein besonderes Interesse an dem Schiffbrüchigen.

Der Vogt, als Däne ein willfähriger Sklave Englands, hatte nichts gegen diesen halben Befehl einzuwenden.

So begaben sich denn der bereits recht bejahrte Arzt, der Engländer und Kolter nach dem Dorfkirchlein.

Hier hatte man gerade den Toten in den aus rohen Brettern zusammengenagelten Sarg gelegt, was auf Geheiß des Vogtes geschehen war, der nicht im geringsten daran zweifelte, daß der Doktor sich seinem Urteil über den Zustand des jungen Deutschen ohne weiteres anschließen würde. –

Kolter hatte sich jedoch geirrt. Friedrich Petersen war nicht tot, vielmehr war bei ihm die Bewußtlosigkeit in einen Starrkrampf übergegangen, der ihn unfähig machte auch nur eine Fingerspitze zu bewegen, obgleich er sonst alles wahrnahm, was um ihn herum geschah.

So hörte er jetzt auch, wie der Arzt, nachdem er ihm kurz den Puls gefühlt hatte, erklärte, der Mann sei infolge Erschöpfung verschieden, und wie dann der englische Seeoffizier seinerseits behauptete, der Deutsche sehe ihm zu wenig leichenähnlich aus, und er werde daher zur Sicherheit noch den Schiffsarzt an Land senden, der den angeblich Toten genauer untersuchen solle.

„An dem Leben dieses jungen Menschen liegt mir im allgemeinen sehr wenig“, fügte er gehässig hinzu. „Meinetwegen könnte er als Deutscher auch so wie er ist eingescharrt werden. Aber ich habe gewichtige Gründe, gerade ihn mit Vorsicht zu behandeln. Und deshalb werde ich sofort unseren Schiffsarzt holen lassen.“

Dieser traf eine halbe Stunde später ein. Inzwischen hatte der Kommandant des Torpedojägers dem Vogte mitgeteilt, daß er bis zum nächsten Mittag im Kalsöe-Fjord zu bleiben gedenke, um eine kleine Reparatur an einem der beiden Kessel seines Schiffes zu erledigen und gleichzeitig Wasser einzunehmen.

Friedrich Petersen, der das Englische recht gut beherrschte, verstand jedes Wort. Hatten doch auch der Arzt und der Vogt in Rücksicht auf den Vertreter der anmaßenden Britennation englisch gesprochen. Jetzt vernahm er eine neue Stimme. Es war der Schiffsarzt, der dann sein Urteil ebenfalls dahin abgab, daß der Deutsche nicht mehr am Leben sei.

Hierauf entfernten die vier Männer sich. Draußen vor der Kirche erteilte Kolter dem Dorftischler den Befehl, den Sarg zuzunageln. Am nächsten Vormittag solle der Fremde dann in einer Ecke des kleinen Friedhofs beerdigt werden.

Der Tischler, ein sparsamer Färinger, dem es um jeden unnützen Nagel leid tat, befestigte den Deckel nur eben so, daß dieser einen schwachen Stoß wohl aushalten würde. Und das genügte nach seiner Ansicht. Dann verließ auch er das Kirchlein, schloß die Tür ab und eilte seinem Häuschen zu.

Die Hammerschläge hatten auf den im Starrkrampf daliegenden jungen Deutschen jedoch einen glücklichen Einfluß ausgeübt. Das dumpfe Dröhnen der Bretter war ihm wie das unheilvolle Krachen eines heftigen Gewitters erschienen. Der Gedanke, einem entsetzlichen Tode, dem des Lebendigbegrabenwerdens, verfallen zu sein, brachte ihn dem Wahnsinn nahe. Aber er wollte nicht sterben … Die Todesangst ließ alle seine Nerven in wilden Aufruhr geraten.

Dann ging’s urplötzlich wie ein Ruck durch seinen Körper …: er vermochte sich zu sitzender Stellung aufzurichten, schlug mit der Stirn gegen den Sargdeckel, daß es laut knallte, und gewann durch diese Erschütterung vollends die Gewalt über seine Glieder zurück.

Eine Weile lag er nun wieder regungslos da, bewegte nur wie spielend die Hände, um sich selbst vor Augen zu führen, daß die entsetzliche Lähmung vorüber sei, und dachte über seine Lage nach.

Friedrich Petersen wußte, daß man ihn hier auf den Fär-Öer sicherlich den Engländern ausliefern würde, wenn er sich jetzt bemerkbar machte. Der feindliche Torpedojäger blieb ja, wie er selbst gehört hatte, bis zum nächsten Mittag im Kalsöe-Fjord. Und selbst nach Abfahrt des englischen Kriegsschiffes mußte er damit rechnen, hier festgehalten zu werden.

Und beidem mußte er entgehen – um jeden Preis! Er war jung, kräftig, mutig und unternehmend. Sollte es ihm da nicht irgendwie gelingen, sich später heimlich nach Deutschland durchzuschlagen …?! Sollte er etwa untätig bleiben und ruhig abwarten, was mit ihm geschah …? – Niemals!

Es gab nur einen Ausweg für ihn: sofortige Flucht!

Bald war er auch zu einem Entschluß gelangt.

Der Sargdeckel paßte schlecht und ließ an der rechten Seite eine breite Ritze frei. Friedrich Petersen krümmte sich zusammen und brachte den Kopf vor diese Spalte, um hinauslugen zu können. Er sah, daß das Abendrot durch die Fenster ins Innere des hochgelegenen Kirchleins hineinflutete. Also mußte er die Ausführung seines Planes noch verschieben. Nach Dunkelwerden würde niemand ihn hier mehr stören.

Er streckte sich wieder lang aus und begann seine Taschen zu betasten, um festzustellen, ob man ihm diese geleert habe. Nur sein Soldbuch fehlte und das Papiergeld in seinem Brustbeutel. Der Aberglaube der Färinger, die keine Gebrauchsgegenstände eines fremden Ertrunkenen behalten wollen, kam ihm zu statten. Selbst den Ölanzug hatte man ihm gelassen und als Decke über das Heu gebreitet, auf dem er lag. – Dieser Aberglaube der Bewohner der Fär-Öer, die ihre Abstammung von den alten Normannen, den einst so gefürchteten Seefahrern, ableiten, hat seinen guten Grund. Der Schrecken der Färinger war noch in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhundert eine merkwürdige, häufig tödlich endigende Krankheit, die sie „Krim“ nennen und die in der Medizin als Schnupfenpest bekannt ist. Sie trat zumeist nach Ankunft fremder Schiffe auf, wurde also[3] eingeschleppt. Am heftigsten sollte sie aber sich verbreiten, sobald man eine Seeleiche ihrer Sachen beraubte. Dieses letztere war natürlich eine ganz überflüssige Angst. Aber diese Annahme bestand nun einmal, und kein Färinger hätte einem auf dem Meer oder dem Strande aufgefundenen Toten je etwas abgenommen. Der Tischler, der den Sarg für den Deutschen hatte zimmern müssen, war deswegen auch so vorsichtig gewesen, das ihm für seine Arbeit überlassene Geld des Toten erst im Räucherofen einer besonderen Behandlung zu unterziehen.

Inzwischen war die Dunkelheit hereingebrochen. Mit aller Macht stemmte der Maat sich jetzt gegen das Kopfende des Deckels. Dem Druck der kräftigen Schultern konnten die wenigen Nägel nicht widerstehen. Sie gaben nach, und gleich darauf stand Friedrich Petersen auf dem Steinplattenboden der Kirche. Ängstlich lauschte er, ob nicht vielleicht eine draußen möglicherweise aufgestellte Wache durch das Kreischen der sich lockernden Nägel aufmerksam geworden wäre. Aber nichts ließ sich hören.

Die Fenster des Kirchleins waren leicht zu erreichen. Bald befand der junge Deutsche sich im Freien, wo er zunächst die Umgebung absuchte. Das Dorf lag weit unten am Ufer des Fjordes. Hier oben auf der kahlen Halde befand sich nur noch der Friedhof mit seinen mächtigen Basaltgrabsteinen, die dunkel und plump in die Nacht hinausragten.

Das Gefühl der Sicherheit ließ Friedrich Petersen jetzt nochmals in Ruhe sich überlegen, wie er am besten sein Verschwinden aus dem Sarge verheimlichen könne. Er suchte sich zwei längliche Felsstücke aus einem nahen Geröllhügel heraus, die ungefähr seinem Gewicht entsprachen. Mehr Mühe hatte er schon damit, diese Steine in die Kirche zu schaffen. Aber auch das gelang. Und als er sie dann erst in das Heu eingebettet und den Deckel wieder befestigt hatte, war er überzeugt, daß nur ein unglücklicher Zufall diesen Tausch aufdecken könne.

Gleich darauf schlich er, nachdem er seinen Ölanzug als Bündel auf den Rücken genommen hatte, vorsichtig dem Dorfe zu. Er verspürte jetzt einen solchen Hunger, daß er unbedingt sich etwas Eßbares besorgen mußte.

Hierbei kam ihm nun sehr zustatten, daß die Färinger Schaffleisch[4] an der freien Luft zu dörren pflegen, bevor es geräuchert wird. Zum Glück fand er ein reich behängtes Trockengestell neben einer abseits gelegenen Hütte, so daß er das Dorf, in dem verschiedene Hunde warnend kläfften, nicht zu betreten brauchte.

Er nahm sich einen gehörigen Vorrat Fleisch mit, das er in seine Öltuchjacke einpackte, und schlug dann aufs Geratewohl nördliche Richtung ein.

Die Insel Kalsöe ist ebenso wie die benachbarten Felseilande lang und schmal und verläuft ungefähr von Norden nach Süden. In ihrem Äußeren glich sie vollständig den übrigen Inseln der Gruppe, die insgesamt einen Flächenraum von nur 24 Quadratmeilen mit rund 10 000 Bewohner hat, von denen allein etwa die Hälfte auf die Hauptstadt Thornshavn kommt. Hoch und steil steigen die westlichen Küsten bis zu 300 Meter aus dem Meere auf. Desto zerrissener sind die Ostküsten, nach denen zu die Felsmassen mit ihrer dünnen Erdbedeckung sich in unregelmäßigen Terrassen abdachen. Von hier aus schneiden die Fjorde oft meilenweit in das Land hinein. Manche davon sind von so hohen Felswänden eingeschlossen, daß ihre Wasserfläche stellenweise nie von einem Sonnenstrahl getroffen wird. Von den zahlreichen Höhlen ist die Zeotithhöhle auf Nolsöe die bekannteste, die fast durch das ganze Innere der Insel quer hindurchgeht. Der landschaftliche Charakter der Fär-Öer ist bei der spärlichen Vegetation und den riesigen, abenteuerlich geformten Felsmassen düster und schaurig, zumal es dort kaum einen windfreien Tag gibt und der Sturm unheimlich in den Klüften und Tälern heult. – –

* * *

Friedrich Petersen traf bei seiner Wanderung zunächst auf einige Herden zumeist hellgefärbter Schafe, die ebenso wie eine Anzahl Pferde von kleinem, kräftigem Wuchs frei und ohne Aufsicht auf den Grashalden weideten und hier Winter und Sommer bleiben können, ohne je einen Stall kennenzulernen. Sind doch die Fär-Öer trotz ihrer nördlichen Lage klimatisch durch den an ihnen vorbeiströmenden Golfstrom sehr bevorzugt, dessen warme Wassermassen selbst im Winter die Temperatur auf den Inseln nie unter fünf Grad Kälte sinken lassen, so daß der Schnee sich zumeist nur ein paar Stunden hält.

Weiter nach Norden zu wurde die Landschaft jedoch immer unwirtlicher. Wenige verstreut liegende Gehöfte gab es hier, denen der Maat leicht ausweichen konnte.

Inzwischen war der Mond aufgegangen. Er stand im letzten Viertel, und sein Licht genügte Friedrich Petersen, um sich in der Felswildnis, die er jetzt durchwanderte, zurechtzufinden.

Er hatte die Absicht, sich zunächst einige Zeit irgendwo zu verbergen, bis er die Gewißheit erlangt hätte, daß der Betrug mit dem steingefüllten Sarge nicht bemerkt worden war. Was dann geschehen sollte, hing von den Umständen ab. Darüber konnte er sich erst später schlüssig werden.

In einer engen Schlucht, die jenseits eines ausgedehnten Torfmoores lag und von einem kleinen Bächlein durchflossen wurde, machte er halt. Hier wuchsen verkrüppelte Birken und Weiden in großer Menge, hinter denen er in einer flachen Felsaushöhlung ein leidlich geschütztes Versteck fand.

Hungrig, übermüdet und in seinen noch feuchten Kleidern fröstelnd, hatte er nur einen Wunsch: sich ein Feuer anzuzünden, den knurrenden Magen zu beruhigen und zu schlafen, – recht lange und ungestört zu schlafen. – Aber sein Luntenfeuerzeug, mit dem er wärmende Flammen anzufachen gehofft hatte, war so naß, daß er auf das gemütliche Knistern eines Feuers verzichten mußte.

Das kalte Schaffleisch schmeckte nicht besonders. Trotzdem aß er reichlich davon. Dann streifte er Birken- und Weidenblätter ab, um sich eine weiche Lagerstatt herzurichten. Der Ölanzug diente ihm als Zudeck.

Doch der Schlaf wollte sobald nicht kommen.

Unwillkürlich tauchten vor des jungen Seemannes geistigem Auge allerlei wildbewegte Szenen auf, – die Erinnerungen an die Ereignisse der beiden letzten Tage …

… Eine neblige Nacht … Von den hohen Felsmassen Helgolands löst sich ein dunkler, schnell sich fortbewegender Punkt ab, das Torpedoboot S 114. – Befehl: Aufklärungsfahrt gegen die Linie der englischen Absperrungsschiffe. Im übrigen volle Handlungsfreiheit. – – Mit abgeblendeten Lichtern schießt das flinke, schwarze Fahrzeug wie ein Gespenst durch die träge Dünung der Nordsee, durch die grauen, feuchten Schleier, die schwer auf dem Meere lagern. Stunden vergehen. Dann gleichzeitig voraus auf Back- und Steuerbordseite zwei helle, milchige Flecken: Scheinwerfer, die sich vergebens bemühen, den dichten Nebel zu durchdringen. Unten im Maschinenraum schnellt der Zeiger des Maschinentelegraphen auf „halbe Fahrt“. Das Surren der Turbinen, das Singen des ausströmenden Dampfes wird schwächer. Fast lautlos schleicht S 114 sich durch die Lücke zwischen den beiden englischen Vorpostenschiffen hindurch. – Jetzt ist die Gefahr vorüber. Man hat den Feind hinter sich … Weiter rast das Boot mit Nordwestkurs. Diese Gelegenheit muß benutzt werden. Nicht immer sollen die Unterwasserkonkurrenten allein sich rühmen dürfen, feindliche Transport- und Frachtfahrzeuge versenkt zu haben … Als der Morgen graut und der Nebel sich lichtet, ist S 114 auf der Höhe des Hafens von Dundee an der Ostküste von Schottland angelangt. Zahlreiche Augen, mit guten Ferngläsern bewaffnet, spähen den noch immer leicht verschleierten Horizont ab … Da – in der Ferne im Westen drei auffallend schrägstehende, fadendünne Mastenpaare, dazwischen die oberen Teile dicker, niedriger Schornsteine … – Drei Zerstörer – englische natürlich! Jetzt heißt es auskneifen, S 114 …!! Die Dinger da drüben laufen ihre sieben Knoten mehr als Du …! Also scharf nach Osten ausgewichen … – Es wird ein ungemütlicher Tag. Englands leichte Kreuzer und Zerstörer scheinen gerade heute hier allgemeines Kesseltreiben auf verd… deutsche U-Boote abzuhalten. S 114 möchte nur zu gern wieder nach Süden, nach der Heimat zu, durchbrechen. Aber es gelingt nicht. Ein wahres Wunder, daß man nach Norden hin sich durch die feindliche Meute hindurchschlängeln kann – mehr als ein Wunder …! – Als die Sonne sich dem westlichen Horizont nähert, ist die See leer … Nein – doch nicht! Friedrich Petersen, der als Ersatzmann für den zweiten Maat der Backbordwache mitfährt, hat noch rechtzeitig die verflixten schrägstehenden Masten dahinten bemerkt … Er brüllt dem Kommandanten die Meldung zu. – „Der Bursche ist auf unserer Fährte“, sagt der Kapitänleutnant oben auf der Brücke zu dem Ingenieur, der eben ein paar Schlucke frische Luft einatmet. – Die Hetze beginnt … Mit einem Male wird’s empfindlich kühl. Die warme Luft ist wie weggeweht. – „Wir bekommen Nebel, Müller“, meint der Kapitänleutnant erleichtert aufatmend. „Das kann uns retten …“ – Der Ingenieur nickt und weist nach Osten. „Da kriecht die Nebelbank schon heran …“ … S 114 taucht zehn Minuten später in dem grauen Nichts unter, wendet aber sofort, beschreibt einen Kreis und läßt sich mit abgestoppten Maschinen treiben. – Alle Mann befinden sich auf den Gefechtstationen. Die Torpedorohre sind schußbereit, an den Revolvergeschützen steht die Bedienung … Und alles horcht und lauscht mit angespanntem Atem in den Nebel hinein … Wird die List gelingen …? Wird man den Gegner überraschen können …? – – Die Nerven sind bis zum äußersten gespannt. Und doch klopft niemandem das Herz schneller. Man ist derartiges längst gewöhnt – längst …! In zehn Monaten lernt man den Krieg mit seinen Aufregungen, dieses ewige Spiel um Tod und Leben genügsam[5] kennen … – Friedrich Petersen ist bekannt für seine guten Augen und Ohren. Daher hat ihn der Kommandant auf die Brücke gerufen. – Die Minuten schleichen … Halt – das ist doch Maschinengeräusch …?! Und Petersen formt die Hände zu Schalltrichtern vor den Ohren, atmet nicht, regt sich nicht … Jetzt wieder das dumpfe, taktmäßige Stampfen … „Herr Kapitänleutnant – nach dort hinaus – – von dort kommt er …!“ – Leise Befehle, eilig hin und her gleitende Gestalten auf dem Deck von S 114, hastiges Flüstern … Und jetzt immer deutlicher das Arbeiten der Maschinen des Zerstörers, jetzt dort drüben im Nebel ein dunkler, vorbeihuschender Schatten … Zwei Torpedos verschluckt das Wasser. Heiße Wünsche begleiten sie … Werden’s Treffer sein …? – Aber der Kommandant läßt’s dabei nicht bewenden. Ein neuer Befehl … Mündungsfeuer blitzt aus den Revolvergeschützen auf, harte Knalle zerreißen die Stille … Schuß folgt auf Schuß … – Da ist der Feind auch schon verschwunden. – Auf S 114 enttäuschte Gesichter. Die Torpedos hätte man sich sparen können …! So ein verwünschtes Pech! – – Nur Petersen sagt triumphierend zu dem Kapitänleutnant …: „Ein Schuß saß bestimmt. Ich habe deutlich den Aufschlag gehört …“ – „Trotzdem sieht die Geschichte für uns jetzt oberfaul aus“, meint der Kommandant. „Der Kerl wird uns jetzt die ganze Meute auf den Hals hetzen. Sie werden uns den Weg nach Süden versperren. – Also – vorwärts – weiter ins Ungewisse hinein! Hinter uns lauert das Verderben …“ – Am anderen Morgen hat man die Shetland-Inseln längst passiert. Bald müssen die unwirtlichen Gestade der Fär-Öer im Nordwesten auftauchen … Es wird heller und heller. Die Inselgruppe wird sichtbar. Schlimmstenfalls kann man dort in einen Fjord einlaufen und sich verbergen … Da – im Norden eine dicke, schwere Rauchsäule. – So qualmt nur ein Frachtschiff, das schlechte Kohlen heizt. Los denn – näher heran, hißt Signale: „Ich schicke Leute an Bord!“ – Petersen und zwei Mann sollen hinüber, um den Dampfer „Sussex“ zu untersuchen. Der muß ein Boot zu Wasser lassen und die Deutschen abholen. – Flucht nicht schlecht, der Kapitän. Aber – was hilft’s?! – Friedrich Petersen ist nicht wenig stolz, daß sein Kommandant gerade ihn bestimmt hat. Mittlerweile ist das Wetter aber recht ungemütlich geworden. Über das sich nähernde Boot des englischen Frachtdampfers gehen grobe Spritzer hin. Da ist es ratsam, das Ölzeug überzuziehen … Fünf Minuten später ist Petersen mit seinen zwei Mann an Bord … Holla – da gibt’s ja auch einen ganzen Haufen Passagiere …! Und das Vorderdeck – wahrhaftig! – lauter Automobile stehen da, dicht an dicht … Finstere Blicke, geballte Fäuste begrüßen die drei Deutschen. Friedrich Petersen lacht darüber sorglos … Der erste Regenschauer prasselt vom bleigrauen Himmel herab, jagt die Fahrgäste unter Deck. … – Da – was ist das …? Die Sirene von S 114 …? Vier kurze Heulsignale …?! – Petersen springt schon an die Reling, starrt nach dem Torpedoboot hinüber. Das rast nach Osten zu davon, verschwindet schnell hinter dem Regenvorhang … – Der Maat ist bleich geworden. Er ahnt den Grund dieser schleunigen Flucht. Und tatsächlich: zwei Zerstörer jagen S 114 nach, ohne sich um den Dampfer zu kümmern … – Petersen besinnt sich nicht lange. Die schußfertigen Gewehre der Deutschen jagen die englischen Matrosen schnell unter Deck. Das Boot liegt noch am Fallreep … Man klettert hinein, stößt ab … Im Westen liegen die Fär-Öer … Dort winkt allein die Rettung vor englischer Gefangenschaft … Eine Stunde später heult der Sturm … Eine Riesenwelle begräbt das Boot unter sich … Friedrich Petersen kann gerade noch nach dem einen Rettungsring greifen … Dann stürzen die Wasser über ihm herein … Aber er arbeitet sich wieder hoch, zwängt sich in den Korkring, bindet sich darin fest … Von seinen Gefährten keine Spur mehr … – Und nachher haben ihn dann die Fischer von Kalsöe bewußtlos aufgefischt … – –

* * *

Der Maat starrt jetzt mit offenen Augen zum nächtlichen Firmament empor … Diese Erinnerungen haben ihn noch munterer gemacht. Andere Gedanken quälen ihn nun … Was soll aus ihm werden …?! Wird er schließlich nicht doch den Leuten von Kalsöe sich ausliefern müssen …?! Denn – wie kann er von hier fortkommen – wie …?! Und wie soll er hier in der Verborgenheit sein Leben fristen …?!

Die Verzagtheit will ihn überwältigen. Aber diese Anwandlung von Kleinmut geht schnell vorüber. Und mit dem festen Entschluß, nur im äußersten Notfall sich dem englandfreundlichen Vogt in die Hände zu geben, schläft er endlich ein.

Der Morgen, das Erwachen zeigt Friedrich Petersen die Welt in anderem Licht. Strahlender Sonnenschein liegt über der Felsenwildnis. Ein leichter Wind stößt in die Schlucht hinein. Die Weiden schwanken hin und her, die Blätter der Birken rauschen ganz leise … Und jetzt gibt der Maat sich selbst das Wort, auszuharren in dieser Einsamkeit, bis irgend ein Glückzufall eintritt, der ihm den Weg in die Freiheit, in die Heimat weist.

Schaffleisch und ein Trunk aus dem Bache ist seine Morgenkost. Dann klettert er tiefer in die Schlucht hinein. Ein zerrissener, kahler Berg türmt sich dort im Norden auf. Den will er ersteigen, um erst einmal Ausschau zu halten. Vielleicht sind Gehöfte in nächster Nähe. Dann muß er weiter – dorthin, wo er sich sicher fühlen darf.

Die Fär-Öer besitzen Bergmassive, die bis zu 1500 Meter aufsteigen, so den Slattaretindur auf Österöe und den Skalingkur auf Strömöe. Der Gipfel, den Friedrich Petersen jetzt erklomm, war bescheidener. Und doch genügte dessen Höhe, um einen weiten Fernblick zu gewinnen.

Das, was der Maat, der sich stets wohlweislich hinter Felsen verborgen hielt, jetzt sah, beruhigte ihn. Er befand sich hier in nächster Nähe der Nordküste von Kalsöe. Nach Süden erstreckte sich die Insel mit ihren wildromantischen Felspartien als verhältnismäßig schmaler Streifen fast bis an den Horizont hin. Im Osten und Westen lagen die kahlen Felsufer der Nachbareilande, von Kalsöe nur durch enge Sunde getrennt. – Keine menschliche Niederlassung war in der Nähe, keine Weide gab es hier im Norden, keine Herden – nichts – nichts. – Nur das öde, düstere Torfmoor dort jenseits der Schlucht brachte in das Grauschwarz der Felsen mit seinen fahlen, dürftigen Gräsern etwas Abwechslung hinein.

Wieder richtete der Maat den Blick nach dem Nordufer. Dort hatte eine seltsam geformte Klippe seine Aufmerksamkeit erregt. Durch eine vielleicht hundert Meter breite Wasserrinne von dem nördlichsten Teile Kalsöes, einer im Verhältnis zu den hohen Gesteinmassen der Insel niedrig zu nennenden Halbinsel, getrennt, ragte aus einem Kranz von riesigen, willkürlich von den Naturgewalten übereinander geworfenen Felsblöcken ein schmales Basaltstück wohl achtzig Meter hoch mit wie poliert erscheinenden, senkrechten Wänden in die Luft, gekrönt von drei, hohen Schornsteinen vergleichbaren Spitzen, die dem Ganzen ein recht abenteuerliches[6] Aussehen gaben.

Erst später erfuhr Friedrich Petersen durch einen Zufall, daß dieses seltsame Felsgebilde von den Färingern in Erinnerung an König Christian 3. von Dänemark, der durch drückende Handelsmonopole den Trotz der freiheitsliebenden Bewohner der Fär-Öer zu brechen suchte und dabei ein Herz von Stein durch seine gewalttätigen Maßnahmen bewiesen hatte, Christianklippe genannt wurde.

Unwillkürlich war in dem jungen Maat der Gedanke aufgeblitzt, daß jenes unersteigbare Felsgebilde da drüben ein vortreffliches Versteck abgeben müsse. Aber es war auch nur ein schnell vorüberhuschender Gedanke; denn – wie sollte man wohl hinaufgelangen an diesen glatten Wänden und wie es einrichten, daß man jeder Zeit hier auf die Insel zurückkehren könne, um sich den nötigen Proviant und Trinkwasser zu besorgen …! – Nein – die Idee war unausführbar! – Und, nicht gewöhnt, über unmögliche Dinge nutzlos nachzugrübeln, richtete Petersen jetzt sein Augenmerk wieder auf seine nähere Umgebung. Auch hier in dieser Wildnis mußte er ja einen geeigneten Platz finden, der ihm sicheren Unterschlupf gewährte.

So stieg er denn wieder, jetzt an der Ostseite, den Berg hinab, untersuchte jede Felsspalte, jede Anhäufung von Blöcken daraufhin, ob sie nicht irgendwie für seine Zwecke paßten. Hierbei gelangte er auch an einen jähen Abhang, vor dem vier Basaltpfeiler dicht nebeneinander sich erhoben und mit ihrem oberen Teile die etwas überhängende Felswand beinahe berührten. Solche Basaltpfeiler gibt es auf den Fär-Öer in Menge. Die Insel Österöe besitzt sogar eine meilenlange Reihe dieser eigenartigen Felsgebilde, auch gibt es dort einen „steinernen Wald“, eine Anhäufung von bis zu vierzig Meter hohen Steinpfeilern, die aus der Ferne gesehen tatsächlich einem Hain astloser Bäume gleichen.

Friedrich Petersen hatte am Rande des Abhangs eine kurze Zeit haltgemacht und wollte jetzt seinen Weg schon wieder fortsetzen, als er gerade unter seinem Standorte ein paar hellgefärbte, mittelgroße Vögel scheinbar aus der Felswand herausfliegen und mit trägen Flügelschlägen davonstreichen sah. Die Stelle, wo die Vögel so plötzlich aufgetaucht waren, lag etwa fünfzehn Meter unterhalb des Randes des Abhangs. Dort ragte eine breite Felsnase hervor, neben der die Wand sich tief einzubuchten schien. Genau war dies von oben jedoch nicht zu erkennen. Rechts und links von dieser einem natürlichen Balkon gleichenden Felsnase standen zwei von den Basaltpfeilern, die sich fast an das vorspringende Gestein anlehnten.

Den davonfliegenden Vögeln verdankte es Petersen, daß er auf diese merkwürdige Gruppierung der Gesteinsmassen aufmerksam wurde und die Vermutung in ihm auftauchte, hinter der Felsnase könnte sich vielleicht eine Grotte in den Berg hineinziehen, in der die Vögel nisteten. Weiter sagte er sich aber auch, daß, falls eine solche Grotte wirklich vorhanden war, man mit Hilfe der rissigen, höckerigen Basaltpfeiler unschwer den „Balkon“ würde erreichen können, wenn man nur einigermaßen gewandt war.

Dieser Gedanke, vielleicht einen wegen der Nähe der Schlucht, des Baches und des Torfmoors äußerst vorteilhaft gelegenen Schlupfwinkel gefunden zu haben, spornte den Maat zu schnellem Handeln an. Er umging den Abhang und stand nach einigen zehn Minuten am Fuße der Basaltpfeiler. Hier ließ er sein Bündel, den Ölanzug mit den Fleischvorräten, zurück und begann sofort an beiden die Felsnase oben einschließenden Basaltpfeilern, die kaum einen Meter freien Raum zwischen sich ließen, emporzusteigen, indem er die Risse und Spalten des Gesteins als Stützpunkte für Hände und Füße benutzte. Diese Kletterpartie ging leichter vonstatten, als er gedacht hatte. Bald befand er sich in einer Höhe mit dem „Balkon“, schwang sich auf diesen hinauf und erblickte nun in der Felswand tatsächlich eine nach oben spitz zulaufende Kluft, die jedoch nicht allzu tief war. Erst als er sich ein Stück hineinzwängte, bemerkte er, daß diese Spalte sich nach der linken Seite hin zu einem dunklen Loche erweiterte.

Seine Annahme, hier die Nester der fast weißgefärbten, in ihrer Gestalt großen Raben ähnlichen Vögel vorzufinden, traf zu. Im Hintergrunde der Kluft gab es gut ein Dutzend aus Zweigen und Moosstücken erbaute Nester, von denen sich bei seinem Erscheinen krächzend brütende Tiere erhoben und dicht an ihm vorbei das Freie zu gewinnen suchten, wobei sie angriffslustig mit ihren Schnäbeln nach seinem Gesicht stießen. – Diese Vögel sind in der Tat nahe Verwandte unseres einheimischen Raben, nur weit kräftiger gebaut und auf den Fär-Öer zumeist weiß gefärbt. Als mordlustigen Räubern, die sogar verirrten Schafen die Augen aushacken und dann das geblendete Tier sozusagen bei lebendigem Leibe auffressen, stellen ihnen die Färinger aufs eifrigste und erbittertste nach, wodurch die fär-öerischen Raben wieder gezwungen worden sind, sich ganz unzugängliche Nistplätze zu suchen.

Der Maat verscheuchte zunächst sämtliche Vögel und drang dann ein Stück in den Felsengang ein, mußte dessen nähere Untersuchung aber wegen der völligen Dunkelheit nur auf ein kurzes Ende beschränken. Immerhin stellte er auch jetzt schon fest, daß der etwa drei Meter breite und ebenso hohe Felsschlund sich ziemlich steil in die Tiefe des Berges hineinzog.

Zunächst begab er sich daher nach dem nahen Torfmoor und der Schlucht und fertigte sich aus Zweigen und trockenem Moose eine Anzahl Fackeln an. Bevor er nicht wußte, wohin der Gang führte und ob dieser nicht irgendwo ganz offen mündete, so daß er in dem hochgelegenen Versteck doch vor Überraschungen nicht sicher war, wollte er sich nicht dazu entschließen, die Felsspalte wohnlich herzurichten.

Beladen mit einem ganzen Arm von Fackeln, die er mit Weidenruten zusammengebunden hatte, trat er den Rückweg nach den Basaltpfeilern an, wobei er stets vorsichtig mit den Augen die Umgegend absuchte, ob nicht Menschen in der Nähe seien. Dieser nördlichste, zugleich auch unwirtlichste Teil der Insel Kalsöe wurde jedoch höchst selten von den Färingern besucht. Nur im Hochsommer, wenn auf dem Moor die Torfgewinnung begann, verirrten sich Leute hierher. Dies stellte Friedrich Petersen im Laufe der nächsten Wochen unschwer fest.

Auf der Felsnase oben wieder angelangt, hatte er abermals einen kleinen Kampf mit den brütenden Raben zu bestehen, die inzwischen zurückgekehrt waren. Jetzt hatte er sich aber aus Birkenholz einen keulenartigen Stock zurecht geschnitten, mit dem er alle Vögel, die er erreichen konnte, tötete, um auch den anderen das Wiederkommen zu verleiden, da ihm diese Nachbarschaft wenig zusagte.

Die Lunte seines Feuerzeuges war inzwischen trocken geworden. Nach einiger Mühe hatte er dann eine seiner Fackeln in Brand gesteckt, nahm die anderen auf den Rücken und trat ohne weiter zu zaudern seine unterindische Wanderung an. Diese sollte ihm ungeahnte Überraschungen bringen und sich bedeutend weiter ausdehnen, als er hatte voraussehen können.

Zunächst führte der Gang, allmählich breiter und höher werdend, ziemlich steil abwärts. Nach einigen dreihundert Metern tat sich vor dem Maat eine niedrige Höhle auf, deren Boden sich nach der Mitte zu senkte und hier ein kleines Wasserbecken aufzuweisen hatte, dessen Inhalt so klar war, daß der Schein der Fackel bis auf den Grund drang. Die Höhle hatte eiförmige Gestalt und eine größte Länge von vielleicht hundert Meter. Ihre Decke bildete hier und da so tief herabhängende Felszapfen, daß diese den Eindruck von Säulen machten, die das Gewölbe trugen. Nach dem ersten Rundgang um diese Grotte, die mit dem im Fackelschein glänzenden Spiegel des kleinen Teiches recht freundlich und eigenartig wirkte, konnte Petersen keine Fortsetzung des Felsenganges entdecken. Trotzdem war er überzeugt, daß es eine solche geben müsse, da der Rauch seiner Leuchte nicht etwa sich unter der Decke ansammelte, sondern durch einen deutlich zu spürenden Luftzug fortgeweht wurde. Der dicke Qualm war es denn auch, der den Maat schließlich den weiteren Weg zu anderen unterirdischen Räumen finden ließ. Schräg gegenüber der Einmündung des von der Felsnase abwärts führenden Ganges zog sich durch die Wand der Höhle eine unten sehr enge, nach oben hin aber schnell sich ausdehnende Spalte in die Felsmassen hinein. Und in dieser Spalte verschwand der Rauch mit ziemlicher Geschwindigkeit, als ob ein Ventilator irgendwo in der Ferne einen scharfen Luftstrom erzeuge. Mithin war es klar, daß die Spalte mit der freien Luft in Verbindung stehen müsse. Diese Beobachtung veranlaßte den Maat, in der schmalen Kluft emporzuklettern, bis er den breiteren Teil erreicht hatte. Hier fand er seine Annahme bestätigt: die Spalte setzte sich als Gang von unregelmäßiger Weite fort, lief noch eine Strecke abwärts und stieg dann wieder langsam an. Stellenweise war sie recht eng, so daß es Petersen gerade noch gelang, sich hindurchzuzwängen.

Seiner Berechnung nach hatte er ungefähr anderthalb Kilometer im Innern der Gesteinmassen zurückgelegt, als er vor sich einen hellen Schimmer wahrnahm. Sehr gespannt, wohin ihn diese aufregende Wanderung führen würde, beschleunigte er nun seine Schritte und stand gleich darauf auf dem Boden eines von dämmerigem Tageslicht erfüllten Felstrichters. Dieser besaß eine ziemlich kreisrunde Grundfläche von etwa fünf Meter Durchmesser. Die mit Geröll bedeckte Trichterwand stieg allmählich an und bildete oben eine weite Öffnung, über die sich der blaue, heute wolkenlose Himmel ausspannte. Der Trichterboden wieder war überall mit grauweißem Vogeldünger bedeckt, der von den Scharen von Seevögeln herrührte, die oben die Öffnung umschwärmten und deren Kreischen und durchdringende Schreie bei der Unmenge der Tiere zu einem ununterbrochenen, bald stärker, bald schwächer werdenden Lärm sich vereinigten. Nur an einer Stelle trat das grauschwarze Gestein offen zutage, weil hier eine kleine Quelle ihre Wasser den Fels überrieseln ließ, die dann in einem engen Loche wieder verschwanden.

Die Trichterwand zu erklimmen bot weiter keine Schwierigkeiten. Petersen löschte jetzt seine Fackel aus, – inzwischen hatte er seinen Vorrat so ziemlich verbraucht –, und stand bald oben auf der Höhe des Trichterrandes.

Ein Ausruf der Überraschung entschlüpfte unwillkürlich seinen Lippen …

Der Rand des Trichters war nichts anderes als die Spitze der Klippe, die er von dem Berge aus bemerkt und die seine Aufmerksamkeit hauptsächlich wegen der drei hohen, Schornsteine vergleichbaren Aufbauten erregt hatte. Diese mächtigen Steinpfeiler wuchsen hier oben aus dem Rande des Trichters heraus und standen ziemlich genau in den Ecken eines gedachten gleichseitigen Dreiecks. Jetzt aus nächster Nähe gesehen, zeigte es sich, daß diese Pfeiler überall Risse und Vorsprünge aufzuweisen hatten, in denen zahlreiche Seevögel nisteten, die den menschlichen Störenfried nun mit ohrbetäubendem Lärm umkreisten.

Aber Friedrich Petersen kümmerte sich nicht um die aufgeregten Tiere. Für ihn gab es hier genug zu schauen und ... zu überlegen.

Nach Westen, Norden und Osten breitete sich unter ihm die weite See aus. Im Süden kam erst die Wasserrinne, die die Christianklippe von der Insel Kalsöe trennte, dann diese selbst mit ihren unwirtlichen Felsmassen. Auch die Nachbareilande vermochte der Maat zu unterscheiden. Doch auch diese wunderbare, großartige Fernsicht ließ den jungen Seemann ziemlich kalt. Anderes beschäftigte ihn, ein Gedanke, der ihm zunächst fast zu abenteuerlich erschien, um wahr sein zu können, und den als folgerichtig hinzunehmen ihn der Augenschein doch zwang: er hatte den Sund zwischen Kalsöe und der Klippe nicht auf dem gewöhnlichen, sondern auf einem unterirdischen Wege passiert! –

Nun erst nahm er sich Zeit, den Trichterrand, also die Spitze der Christianklippe, näher zu betrachten. Der kolossale, steile Felsblock, der die Klippe bildete, war ohne Frage der Überrest eines Vulkanes, worauf die trichterförmige Öffnung mit Sicherheit hinwies. Von dem Rande des einstigen Vulkankraters fiel das Gestein erst noch ein Stück ziemlich flach ab, um dann in die eigentlichen, wohl achtzig Meter hohen scharfen Klippenwände überzugehen. Auf dieser flachen Kappe mit ihren kleinen Spalten und verstreuten Felsbrocken nisteten gleichfalls Seevögel in Menge. Überall ragte das Astgewirr ihrer unordentlich gebauten Nester über den Boden hinaus, überall schimmerten Eier in verschiedenen Größen und Farben.

Sind doch besonders die Nordwestküsten der Fär-Öer ein wahres Vogelparadies. Auf den hohen Felswänden brüten Möwen, Alken, Lummen, Seepapageien und Raubmöwen zu Tausenden und Abertausenden. Von unten gesehen erscheinen ihre Scharen wie Bienenschwärme, und die Felsen sind geradezu weiß gesprenkelt von den unzähligen Vögeln, die, die Brust nach dem Meere zugekehrt, auf ihren flachen Nestern hocken. Der Lärm, den die Vögel verursachen, ist ungeheuer und läßt sich nicht schildern. Ein Schuß verwandelt diese endlos hohen Nistplätze in ein wildes Chaos. Die Felswände verschwinden förmlich unter der Menge der hin und her streichenden Vögel, das Geschrei schwillt zu ohrbetäubender Stärke an, und der neugierige Mensch, der unten im Boot leichtsinnigerweise den Schuß abgefeuert hat, wird durch einen Regen von Vogelunrat schnell vertrieben und muß diesem Ausflug seinen völlig verdorbenen Anzug opfern.

Der Vogelfang zur Gewinnung der gutbezahlten Daunen stellt denn auch für die Färinger eine Haupteinnahmequelle dar. Wie er betrieben wird, – das hier eingehend zu erklären, ist leider nicht möglich. Jedenfalls ist diese Erwerbsart keineswegs ungefährlich. In jedem Jahr büßen durchschnittlich ein Dutzend der kühnen Kletterer das Leben ein, die stets zum Fange die Tage abpassen, wenn die jungen Vögel noch nicht recht flügge sind. Gute Brutplätze liefern aber auch in wenigen Stunden eine Beute von 3–4000 Tieren. – –

* * *

Nachdem der Maat sich eine Menge Eier gesammelt hatte, kletterte er wieder auf den Boden des Trichters zurück. Sein Entschluß war jetzt gefaßt. Er wollte sich hier in dem Krater wohnlich einrichten. Das Wasser der Quelle war süß und wohlschmeckend, und eine kleine Hütte aus Felsstücken ließ sich leicht erbauen.

Zunächst stärkte er sich nun durch eine Mahlzeit, briet die Eier über einem schnell angezündeten Feuer und begann dann sofort mit dem Bau der Hütte, deren Wände er nach oben zu als Dach spitz zulaufen ließ. Die Ritzen wollte er später mit Moos verstopfen, das er freilich von dem Torfmoor herbeiholen mußte.

Inzwischen war längst der Nachmittag herangekommen. Schon während er noch die Eier verspeiste, hatte Petersen gemerkt, daß der Himmel ein anderes Aussehen annahm und daß ein immer mehr anwachsender Wind die Klippe umheulte. In der Tiefe des Kraters wurde es dunkler und dunkler. Dichte, schwarze Wolken zogen über den Trichter hin, und der Nordweststurm trieb bald gewaltige Wasserberge brüllend und donnernd gegen den Fuß der Klippe, so daß das Toben der Brandung bis hinab zu dem deutschen Seemann drang, der der Vorsehung von Herzen dankbar war, die ihn diesen den Bewohnern der Fär-Öer offenbar ganz unbekannten Schlupfwinkel hatte finden lassen.

Neugierig, wie sich das Unwetter, die wildbewegte See und die brandenden Wogen von oben ausnehmen müßten, stieg Petersen nun wieder zum Gipfel der Klippe hinauf. Das Schauspiel, das er hier erlebte, setzte selbst sein an das Wüten des Meeres gewöhntes Auge in Erstaunen. Unheimlicher, großartiger und erhabener konnte dieser Aufruhr der Elemente, aus solcher Höhe und Nähe betrachtet, kaum sein. In das Pfeifen und Heulen der Orkanstöße und das Brüllen der gegen die Felsgestade anrennenden riesigen Wogen mischte sich das Lärmen der geflügelten Bewohner dieses gewaltigen Felsblockes. All das vereinigte sich zu einem Konzert von nervenerschütternder Furchtbarkeit.

Dann aber nahm der Maat etwas anderes wahr – an seinem eigenen Körper. Er stand auf der Ostseite des Klippenrandes, als sein Anzug, sein Gesicht, seine Hände in weißlichem Lichte zu leuchten begannen. Mittlerweile war es fast ganz dunkel geworden. Und daher wirkte diese elektrische Lichterscheinung, dem Seemann unter dem Namen St. Elmsfeuer wohlbekannt, um so eindringlicher.

Friedrich Petersens ganze Gestalt strahlte in diesem überirdisch erscheinenden Lichte ... Als er noch, an sich herabsehend, starr vor Staunen sich fast regungslos verhielt, als er nun den Kopf etwas hob und zufällig auf das tobende Meer hinabschaute, da erblickte er undeutlich einen Fischerkutter, der schwer gegen die Wogen ankämpfend in den Sund zwischen Kalsöe und der nächsten östlichen Insel einzulaufen sich bemühte.

Er ahnte nicht, daß in diesem Boot der alte Fischer Harald Mogenäs mit seinen beiden Söhnen saß, und daß die drei mit abergläubischer Furcht zu der Christianklippe emporschauten, auf der die Figur des jungen Deutschen, durch die Lichtwirkung des St. Elmsfeuers unheimlich vergrößert, sich gegen den schwarzen Himmel wie ein riesiges Gespenst abhob.

Jetzt machte der Schreck Friedrich Petersen starr und unbeweglich. Sein erster Gedanke beim Anblick des Kutters war, daß nun alles verraten sei, daß man bald vermuten würde, wer der einsame Mann dort oben auf der Höhe der Klippe einzig und allein sein könne … Dann aber zuckte eine leise Hoffnung in ihm auf. Er wußte, wie sehr gerade die Nordländer zum Aberglauben neigen, besonders die seemännische Bevölkerung. Vielleicht ließ sich doch noch das Schlimmste vermeiden. Ein Versuch konnte jedenfalls nichts schaden … Und deshalb hob er jetzt den rechten Arm und drohte nach dem Kutter hinüber. Dann warf er sich blitzschnell zu Boden, so daß er von unten nicht mehr zu sehen war, und kroch in das Innere des Kraters zurück.

Hier setzte er sich auf ein Geröllstück und überdachte nochmals die Folgen, die das Auftauchen einer menschlichen Gestalt auf der Klippe und die Meldung der Fischer hiervon im Dorfe Kalsöe für ihn haben könne. Daß die Leute im Boot in ihm den inzwischen beerdigten jungen Seemann wiedererkannt hätten, hielt er für ganz ausgeschlossen. Die Färinger konnten lediglich vermuten, der Mann auf der bisher für unersteigbar gehaltenen Christianklippe sei vielleicht der deutsche Torpedomaat gewesen. Diese Vermutung wieder – das sagte er sich jetzt bei kühler Überlegung zu seiner eigenen Beruhigung – lag nun so fern, daß er eigentlich davon überzeugt sein konnte, die Fischer würden weit eher an eine übernatürliche Erscheinung als an ein menschliches Wesen denken.

Trotz alledem wollte er vorsichtig sein. Würden Nachforschungen nach seinem Verbleib angestellt, das heißt, öffnete man das Grab und entdeckte man den leeren Sarg, so kam alles darauf an, daß man den Zugang zu dem unterirdischen Verbindungswege nach diesem Felsen nicht fand, der ja nur zu ersteigen war, wenn man sich die Mühe machte, von unten herauf eine Reihe von Steigeisen in die glatte Wand einzufügen. Er mußte sich also in Zukunft vor dem Verlassen der hinter der Felsnase liegenden Spalte und vor dem Hinabklimmen an den beiden Basaltpfeilern die Gewißheit verschaffen, daß er von niemandem beobachtet wurde. Ebenso erschien es ihm ratsam, jetzt sofort im Schutze der Dunkelheit alles das sich in größerer Menge zu besorgen, was er für die nächsten Tage notwendig gebrauchte: Brennmaterial, Moos zum Abdichten seiner Hütte und für ein Lager, Schaffleisch und vielleicht auch ein paar Schaffelle als Decken für sein Moosbett. – Gewiß, er war bereits recht müde und sehnte sich nach Schlaf. Aber – was half’s?! Die Unsicherheit der Lage erforderte auch diese Drangabe der letzten Kräfte.

So machte er sich denn sofort auf den Weg, nachdem er noch oben auf der Spitze der Klippe eine Anzahl Nester auseinandergerissen hatte, da er deren Zweige zur Ergänzung seines Fackelvorrats bedurfte. Die Wanderung durch das Innere der Felsmassen nahm gut eine Stunde in Anspruch. Er hätte sich freilich mehr beeilen können, wurde aber an ein paar Stellen des unterirdischen Ganges dadurch aufgehalten, daß er das Gestein hier und da näher untersuchte, weil es ihm durch seine besondere Färbung auffiel. Auf dem Hinwege nach der Christianklippe war ihm dies entgangen, vielleicht deswegen, weil das Strauchwerk der Nester jetzt heller brannte als seine ersten Fackeln.

Durch die grauen Steinmassen des Ganges zogen sich an diesen Stellen scharf abgegrenzte, schwarze, meterbreite Streifen hindurch. Es waren Steinkohlenflöze, eingebettet in dem harten Basalt, die durch vulkanische Kräfte zugleich mit dem einschließenden Felsmassiv gehoben worden waren. Nicht weniger als sechs solcher Flöze gab es, die sich, da sie hier offen zutage traten, leicht abbauen lassen mußten. Sie waren sämtlich auf die Strecke von der Klippe bis zu der Höhle verteilt, in der sich das kleine, klare Wasserbecken befand.

Als Petersen dann endlich von der Felsnase aus den Abstieg mit Hilfe der beiden Basaltpfeiler begann, hatte sich das Aussehen des Himmels insofern zu seinen Gunsten verändert, als die zusammenhängenden Wolkenmassen verschwunden waren und der Mond jetzt vom sternbesäten Firmament unverschleiert herabstrahlte.

Zunächst suchte der junge Deutsche nun den nächsten der Weideplätze auf. Der Weg war weit, aber dadurch ließ er sich von seinem Vorhaben nicht abhalten. Ganz unbehelligt gelangte er an die erste größere Grashalde, auf der einige fünfzig Schafe friedlich das spärliche Futter abrupften. – Petersen hatte es sich nun sehr leicht vorgestellt, eines der Tiere zu schlachten. Als er nun aber das geöffnete Messer in der Hand hielt und vor dem auserwählten Opfer stand, war es ihm unmöglich, das ahnungslose Geschöpf zu töten. Noch nie hatte er eine derartige, blutige Arbeit ausgeführt. Und gerade weil er von Natur sehr tierliebend war, brachte er es nicht über sich, das Tier mit eigener Hand abzutun. Während er noch unschlüssig dastand, fiel sein Blick auf ein Muttertier mit einem noch ganz kleinen Lamm, die beide dicht neben ihm weideten. Da kam ihm plötzlich ein anderer Gedanke. Er fühlte sich jetzt schon so ganz in der Rolle eines Robinson, daß er sich unwillkürlich daran erinnerte, wie der berühmte Einsiedler in der Nähe seiner Behausung sich eine Hürde für die gefangenen Lamas errichtet hatte. Und weiter dachte er daran, wie angenehm es für ihn sein müsse, in seiner Einsamkeit ein paar lebende Wesen um sich zu haben, von denen das eine ihm noch Milch und somit die Möglichkeit zur Bereitung von Käse liefern würde.

Aber wie sollte er das Muttertier nebst dem Jungen bis zu der Felsnase hinaufschaffen?! – Das war eine Schwierigkeit, an der die ganze Idee notwendig scheitern mußte.

Alles Nachsinnen half hier nichts. So gab er den Gedanken denn auf und wandte sich der kleinen, rasenbedeckten Hütte zu, die an einer geschützten Stelle unterhalb einer Felswand am Rande der Grashalde stand und die er ohnehin hatte durchsuchen wollen.

Die plumpe Tür war nur von außen durch einen Holzriegel verschlossen. Nachdem er etwas trockenes Gras zu einem Bündel vereinigt und angezündet hatte, konnte er sich auch in dem stockdunklen Innern umsehen.

Allerlei Geräte für die Schafschur und für das Waschen der gewonnenen Wolle fand er hier, außerdem aber auch eine Menge sehr fester, langer Stricke, in die hier und da Sitzhölzer eingeknotet waren, ferner Stangen mit eisernen Widerhaken und eine Anzahl leichter Weidenkörbe mit Traggurten für die Schultern. Diese letzteren Gerätschaften – Stricke, Stangen und Körbe – waren ohne Zweifel für den Vogelfang bestimmt und wurden wohl absichtlich der Bequemlichkeit halber hier in der Nähe der Brutplätze aufbewahrt.

Friedrich Petersen überlegte nicht lange, nahm zwei der Stricke und eine der Stangen an sich und eilte zu der Herde zurück, aus der er sich nun zwei Muttertiere nebst ihren beiden kleinen Sprößlingen heraussuchte und mit Hilfe der um den Hals der Schafe geschlungenen Stricke nach dem Berge brachte, wo er sie fürs erste an einem der Basaltpfeiler festband. Die Jungen folgten ihren Müttern von selbst und bereiteten ihm weiter keine Mühe.

Dann machte er sich mit Eifer an seine andere Arbeit, sammelte Moos ein, vereinigte es zu großen Ballen und schnitt sich in der nahen Schlucht ganze Bündel Weidenruten ab. Als er hiermit fertig war, stand er vor der nicht ganz einfachen Aufgabe, die vier Tiere auf die Felsnase hinaufzuziehen. Aber auch das gelang ihm. Schließlich förderte er noch das Moos und die Weiden nach oben und wollte nun schon den Rückweg nach der Christianklippe antreten, als ihm noch rechtzeitig einfiel, daß er ja für seine vierbeinigen Gefährten, die jetzt oben in dem dunklen Gange angebunden waren, keinerlei Nahrung habe.

Es blieb ihm daher nichts anderes übrig als abermals die Wanderung nach der gut eine dreiviertel Stunde entfernten Weide anzutreten, wo er nach Art der Färinger gelagerte Heuvorräte in ziemlicher Menge bemerkt hatte. Die Bewohner der Fär-Öer pflegen das Heu nämlich auf Holzgestelle zu packen, die auf Stützen zweieinhalb Meter über dem Boden befestigt sind, so daß selbst die kleinen Pferde nicht unerlaubterweise davon naschen können. Das trockene Heu wird, damit der Wind es nicht entführt, mit aus Schafwolle gefertigten Netzen bedeckt.

In einem solchen Netz nahm Petersen einen mächtigen Ballen Heu mit und wandte sich nun wieder dem Nordteile der Insel zu. Inzwischen war der Himmel immer lichter geworden. Der neue Tag zog herauf. Sind doch die Sommernächte auf den Fär-Öer bereits durch die nördliche Lage dieser Inselgruppe insofern wesentlich beeinflußt, als es bei wolkenlosem Himmel kaum recht dunkel wird. Dies ist eine Rückwirkung des in den Polargegenden während der Sommermonate herrschenden fortdauernden Tages, wo die Sonne in dieser Zeit nie unter dem Horizont verschwindet.

Das Fortschaffen der vier Tiere bis in den Krater brachte den wackeren Maat infolge des störrischen Wesens der Mutterschafe, die sich vor dem flackernden Fackelschein fürchteten und schwer vorwärts zu treiben waren, mehr als einmal in gelinde Verzweiflung. Besonders das Passieren der engeren Stellen des unterirdischen Ganges gestaltete sich zu einer wahren Tantalusqual, und völlig erschöpft langte Petersen, als draußen bereits die Sonne die Ränder des Trichters vergoldete, in dem Felstrichter an, wo er nun die Tiere schleunigst an Felszacken festband, so daß sie sich nur auf einem bestimmten Platz bewegen konnten, ihnen Futter vorwarf und hierauf seine Lagerstatt aufsuchte. Die Weidenruten, das Moos und die Hauptmenge des Heus wollte er erst später aus der Felskluft holen, wo er sie vorläufig zurückgelassen hatte.

Wie ein Toter schlief er bis in den Nachmittag hinein. Dann machte ihn der Hunger munter. Eier und der Rest des Schaffleisches waren seine erste Mahlzeit. Heute gereute es ihn nicht mehr, daß er sich die Mühe gemacht, die vier Tiere sich angeeignet und bis hierher mitgebracht hatte. War er jetzt doch nicht mehr allein in diesem seltsamen Versteck, konnte er sich jetzt doch an dem munteren Gebaren der beiden Lämmer erfreuen, die sich hier ganz wohl zu fühlen schienen.

Zunächst begann er nun für die Tiere eine Hürde herzustellen, indem er die Hälfte des Kraterbodens und ein Stück der ansteigenden Wand mit einer Mauer von lose übereinandergelegten Felsstücken einzäunte und oben darauf ein Geflecht von Weidenruten festklemmte, so daß seine vierbeinigen Mitbewohner auf diese Weise ihren bestimmten, wenn auch kleinen Tummelplatz erhielten. Vorher hatte er aus der Felsspalte die dort noch lagernden Sachen geholt, wozu er den unterirdischen Weg dreimal zurücklegen mußte. Er brauchte ja die Weidenzweige für das Geflecht, und ebenso hatten die Tiere frisches Heu nötig. – Dann begann er beim scheidenden Lichte des Tages, seine Steinhütte mit Moos abzudichten, baute sich auch einen Herd und kam eigentlich erst bei dieser Arbeit auf den doch so naheliegenden Gedanken, sich der Steinkohlen als Brennmaterial zu bedienen. Sofort nach Fertigstellung des Herdes begab er sich nun nach der ersten den Gang kreuzenden Kohlenschicht hin und sprengte hier, einen Stein als Hammer benutzend, eine ganze Menge von Stücken los.

Nachdem dann draußen die Sonne untergegangen war, beschloß er einen längeren Ausflug bis in die Nähe der ersten Ansiedlung zu unternehmen. Er mußte sich unbedingt ein Kochgefäß besorgen, um seinen Speisenzettel etwas erweitern zu können.

Mit allergrößter Vorsicht verließ er die Felsspalte und kletterte zwischen den Steinpfeilern auf den Erdboden hinab. Alles ringsum schien sicher und unverdächtig. Kein Laut war zu hören. Nur der Wind, die letzten Nachwehen des schweren Sturmes, fuhr über die kahlen Felsen und das öde Torfmoor hin und erzeugte hin und wieder in den Klüften seltsame Geräusche.

Das Abenteuerliche dieser heutigen nächtlichen Wanderung, bei der er vielleicht auf Leute stoßen konnte, die zu seiner Festnahme ausgeschickt waren, war so recht nach dem Sinn des jungen Seemannes, dem dieses Leben in der Verborgenheit bereits eine gewisse Befriedigung gewährte. Wie ein Indianer auf dem Kriegspfade schlich er vorwärts, machte immer wieder halt, um zu lauschen und die Umgebung argwöhnisch zu mustern, und benutzte jeden Felsblock, jeden Geröllhaufen als Deckung.

Nach reichlich anderthalb Stunden war er dann in der Nähe des ersten Gehöftes angelangt. Die drei niedrigen Gebäude lagen dunkel und unfreundlich in der dämmerigen Nacht mit ihren schweren Rasendächern da.

Zum Glück gab es hier keine Hunde, deren scharfe Nasen er am meisten gefürchtet hatte. So konnte er ungehindert bis dicht an das Wohnhaus herankriechen. Ein Kehrichthaufen erschien ihm hier recht beachtenswert. Hoffte er doch auf demselben mancherlei zu finden, was die Bewohner als wertlos weggeworfen hatten und das für ihn vielleicht noch recht nützlich sein konnte. Er sah sich denn auch in seiner Erwartung nicht getäuscht. Zwei verbeulte Blechschalen und ein mit Recht ausrangierter eiserner Kochtopf bildeten nebst einer kaum noch als solche zu erkennenden Petroleumlampe seine Beute. Hoch befriedigt trat er nun den Rückweg an. Jetzt glaubte er sich schon weniger in acht nehmen zu müssen. Hatte er vorhin nichts von der Anwesenheit von Menschen im Nordteile der Insel bemerkt, so brauchte er nun wohl kaum noch unliebsame Begegnungen zu fürchten.

Aber er sollte sich getäuscht haben. Er hatte ungefähr den südlichen Rand des Torfmoores erreicht, als er zu seiner Rechten Hundegebell zu vernehmen meinte. Sofort erwachte sein Mißtrauen. Er blieb stehen und lauschte angestrengt. Da – abermals das Kläffen mehrerer Hunde – jetzt auch von vorn aus der Richtung des Berges, dessen Ostabhänge sein Ziel waren. – Kein Zweifel: dieses Aufgebot der spürnasigen Vierfüßer hatte etwas zu bedeuten! Und nur ihm konnte diese Suche gelten, nur ihm …!

Er überlegte nicht lange. Nach Westen zu schien der Weg noch frei zu sein. Dorthin eilte er jetzt, indem er sich hinter den auf dem Moor wachsenden niedrigen Birken zu decken suchte. Eben wollte er hinter eine Reihe hoher, wild übereinandergeworfener Basaltblöcke huschen, da heulte keine hundert Meter vor ihm ein Hund kurz auf, als habe dieser von seinem Herrn einen gehörigen Jagdhieb erhalten. Gleichzeitig vernahm er auch eine scheltende Männerstimme, die dann aber plötzlich verstummte. Schleunigst ließ er nun seine Beutestücke auf den weichen Boden fallen, schnellte zu dem nächsten größeren Felsblock hin, schwang sich hinauf und legte sich dort oben zusammengekrümmt hin, so daß er bei dem ungewissen Licht dieser Sommernacht wohl kaum als menschliche Gestalt zu erkennen war.

Keinen Augenblick zu früh hatte er sich auf diese Weise in Sicherheit gebracht. Jetzt hörte er die Stimmen zweier Leute, die langsam an seinem Versteck vorübergingen und sich in englischer Sprache unterhielten. Der eine war ohne Frage der Kommandant des englischen Zerstörers, und der zweite wahrscheinlich der Schiffsarzt, der sich so prompt dem Gutachten des alten Doktors aus Thornshavn hinsichtlich des unzweifelhaft erfolgten Todes des deutschen Maates angeschlossen hatte.

„Unsinn – – Gespenst!“ sagte der Kommandant gerade. „Diese Insulaner hier sind abergläubisch wie alte Weiber! Der Sarg ist leer – der Bursche also ausgerückt! Er ist schlauer gewesen als wir alle zusammen. Auch Sie haben sich blamiert, mein Lieber.“

„Die Christianklippe soll unersteigbar sein“, meinte der andere. „Und wenn die Färinger als eifrige Vogeljäger dies behaupten, wird es wohl stimmen. Der alte Mogenäs wird irgendeine elektrische Lichterscheinung für das sogenannte Gespenst gehalten haben.“

Die beiden Engländer waren jetzt stehen geblieben. Vorsichtig hob Petersen den Kopf. Zwei Färinger mit einem Hunde an der Leine gesellten sich jetzt zu ihnen. Einer davon war Olaf Mogenäs, der älteste Sohn des Fischers.

„Schade, daß wir morgen früh in See gehen müssen“, ließ sich der Kommandant wieder vernehmen. „Ich hätte den Deutschen zu gern mitgenommen. Er gehört sicherlich zu dem Torpedoboot, das uns damals im Nebel das eine Dampfrohr zerschossen hat und nachher den Dampfer „Sussex“ zu beschlagnahmen suchte. Die Pest dafür, daß das Torpedoboot uns entwischte …! Wenn wir wenigstens einen Gefangenen gemacht haben würden! Reuter hätte schon dafür gesorgt, daß der Bursche sich verzwanzigfachte!“

Dann mischte sich der junge Mogenäs ein. „Diese Streife ist wirklich nutzlos, meine Herren! Wir kennen hier jeden Schlupfwinkel – jeden! Und – was die Christianklippe anbetrifft, – dort hinauf kommen nur Vögel, aber kein Mensch!“

Die vier setzten sich wieder in Bewegung. Friedrich Petersen atmete auf. Der Hund hatte ihn wohl nur deswegen nicht gewittert, weil der Wind nach Südost hin wehte. – Nach einer Stunde wagte er es dann auch, von dem Felsblock herabzuklettern und in weitem Bogen dem Berge zuzueilen. Hinter sich vernahm er noch einige Male Hundegebell. Sonst merkte er nichts mehr von den Verfolgern.

Immerhin hatte ihn dieses Abenteuer aber doch derart aufgeregt, daß er erst wieder ruhiger wurde, als er mit seinen Schätzen – drei verbeulten, als unbrauchbar weggeworfenen Gefäßen und den traurigen Resten der ehemaligen Lampe – oben auf der Felsnase anlangte. Aber diese Begegnung mit einem Teil der zu seiner Wiederergreifung ausgeschickten Leute hatte auch einen großen Vorteil für ihn gehabt: er wußte jetzt, daß seine List, die Beschwerung des Sarges mit Felsstücken, entdeckt war und daß er fernerhin sich außerhalb der unterirdischen Räume nur unter allen möglichen Vorsichtsmaßregeln bewegen durfte. –

* * *

In seiner Behausung fand er leider nicht alles in bester Ordnung vor, wie er erwartet hatte. Durch einen Zufall hatte sich während seiner Abwesenheit vom Rande des Felstrichters ein Geröllstück losgelöst und war, über die Mauer der Hürde hinwegfliegend, einem der Lämmer verderblich geworden. Das Tierchen lag mit einer schweren Kopfverletzung in den letzten Zügen, so daß der Maat unter diesen Umständen doch die Kraft fand, es schnell zu schlachten. Nachdem er die Gefäße dann gründlich gesäubert und mit feinem Steingrus blank gescheuert und nochmals ausgespült hatte, setzte er den Kochtopf mit ein wenig Wasser und einem Teil des Lammfleisches auf den Herd über die Kohlenglut und gelangte so in Besitz einer kräftigen Mahlzeit. Den Rest des Fleisches briet er nachher etwas an, um es haltbarer zu machen. Als Nachtisch gab es Schafmilch, von der er eine Schale voll beiseite stellte, um sie sauer werden zu lassen.

Draußen dämmerte jetzt der neue Tag herauf. Daher begab er sich noch schnell nach der Spitze der Klippe und sammelte eine Anzahl von Eiern, ohne sich jedoch dabei aufzurichten, weil er sonst zu leicht vom Meere oder von der Insel aus gesehen werden konnte.

Der Horizont war dunstig und die Fernsicht daher nur mäßig. Trotzdem bemerkte er jetzt ein schlankes, dunkles Fahrzeug, das aus dem östlichen Sund zwischen Kalsöe und der nächsten Insel langsam hervorkam und dann auf die Christianklippe zusteuerte.

Bald erkannte sein seemännisch geschultes Auge einen Torpedozerstörer. Ohne Frage war es derselbe, dem S 114 so brav eins ausgewischt hatte.

Der Zerstörer näherte sich vorsichtig dem mächtigen Felsblock und umrundete ihn zweimal. Petersen lag hinter ein paar Steinen gut versteckt am Außenrande der Klippe und vermochte daher das ganze Deck des feindlichen Bootes zu überblicken.

Auf der Brücke standen drei Offiziere und suchten mit Ferngläsern die Spitze der Klippe ab. Daß er gesehen werden könnte, brauchte Petersen nicht zu fürchten. Aber etwas anderes beunruhigte ihn. Die hier nistenden Seevögel umschwärmten aufgeregt den Felsen, ärgerlich über den frechen menschlichen Eindringling, der sie selbst hier zu stören wagte, wo sie sich bisher völlig sicher gewähnt hatten. – Wenn die Engländer nur ein wenig Beobachtungsgabe besaßen, konnten sie aus dem Verhalten der Vögel nur zu leicht den Schluß ziehen, daß dort oben auf der Höhe der Klippe etwas vorhanden sein müsse, was die beflügelten Bewohner dieses Felskolosses erschrecke. Aber das alsbaldige Verschwinden des Kriegsfahrzeuges bewies, daß Petersens Sorge sehr überflüssig gewesen war. Der Zerstörer dampfte mit voller Fahrt nach Westen zu davon und tauchte schnell in den Dunstmassen des Horizontes unter. – –

* * *

Die Lebensführung des jungen Seemannes nahm nun eine gewisse Eintönigkeit an, die er bald recht drückend empfand. Seine einzige Zerstreuung bildeten die nächtlichen Ausflüge nach der Insel, wo er sich Heu für seine drei Schafe und später auch aus den Gemüsegärten der ihm am nächsten liegenden Ansiedlung allerlei eßbare Gewächse beschaffte. Bei diesen Raubzügen war er jedoch stets so vorsichtig, nie allzu viel mitzunehmen, damit seine Diebereien – die Not zwang ihn ja leider zu diesen Verletzungen fremden Eigentums! – nicht die Aufmerksamkeit der Inselbewohner erregten, die ihm seit jener einen Nacht nicht wieder nachgestellt hatten, ein Beweis, daß sie an das Gespenst der Christianklippe glaubten und ihn in dieser unwirtlichsten Gegend von Kalsöe nicht vermuteten.

Tage und Wochen gingen so hin. Mittlerweile hatte Friedrich Petersen sich in seinem Schlupfwinkel immer behaglicher eingerichtet und sich, schon um die Langeweile zu vertreiben, mancherlei Geräte angefertigt. Auch daran hatte er gedacht, daß es zu seiner eigenen Sicherheit nötig war, das Gespenst hin und wieder bei hierzu günstigem Wetter auf der Spitze der Klippe erscheinen zu lassen. In schwülen Nächten, wenn ein Gewitter oder ein Sturm drohte, trat das St. Elmsfeuer in Gestalt kleiner Flämmchen regelmäßig an seiner Kleidung auf, wie er bald festgestellt hatte. Bei solchen Gelegenheiten stand er dann absichtlich, verwandelt in ein in magischem Licht leuchtendes Wesen, oft eine halbe Stunde lang regungslos am Außenrande der Klippe und hielt Ausschau nach einem Fischerboot, gegen das er drohend die Hand ausstrecken konnte. Tatsächlich erreichte er hierdurch, daß das Gerücht von dem Gespenst der Christianklippe sich immer mehr als feststehende Tatsache in den Gedanken der Bewohner der Insel Kalsöe und der benachbarten Eilande festsetzte. – Zweimal gelang es ihm, in der Nähe der Ansiedlung ein paar Färinger zu belauschen, die sich über diesen Gegenstand unterhielten. Die braven Insulaner brachten das plötzliche Auftauchen des leuchtenden Geistes mit dem furchtbaren Weltkrieg in Zusammenhang, indem sie annahmen, daß ein infolge dieses gewaltigen Völkerringens auf dem Meere umgekommener Seemann in seinem feuchten Grabe keine Ruhe gefunden hätte und nun als halbes Seegespenst auf der Klippe umgehe.

In einer besonders dunklen Sturmnacht hatte Petersen sich sogar auch bis nach dem Dorfe Kalsöe an das Ufer des Fjordes hinuntergewagt, um zuzusehen, ob es für ihn nicht irgendeine Möglichkeit gebe, vielleicht mit Hilfe eines Bootes von hier fortzukommen. Doch diesen Gedanken mußte er, wie er bald erkannte, ganz fallen lassen. Ohne die Hilfe eines der Bewohner der Insel war eine Flucht ausgeschlossen.

Das Bewußtsein, bis auf weiteres den Robinson spielen zu müssen, und zwar unter Bedingungen, die weit ungünstiger waren als die des erdichteten Helden der bekannten Erzählung Defoes, stimmte ihn tagelang recht trübe. Für seinen regen Geist und seinen kräftigen Körper war es eine Qual, dieses verborgene Dasein von Tag zu Tag fortzuführen, ohne jede Aussicht auf eine baldige Änderung.

Nachdem er fast zwei Monate in dieser Weise als Einsiedler gehaust hatte, war er bisweilen schon nahe daran, sich dem Vogt von Kalsöe auszuliefern, obwohl er wußte, daß dieser ihn dann wahrscheinlich nach Dänemark schicken würde, wo man ihn als Angehörigen der bewaffneten Macht eines der kriegführenden Staaten bis zum Friedensschluß internieren mußte. Und diese Gewißheit hielt ihn von diesem Schritt immer wieder zurück.

Das Einsiedlerleben wie bisher fortzuführen, war ihm unmöglich. Der Mangel an Abwechslung in seiner Ernährung hatte bei ihm gegen Möweneier, Schaffleisch und -milch bereits einen wahren Ekel erzeugt. Außerdem merkte er aber auch, daß es um seine Körperkräfte und seinen Gemütszustand von Tag zu Tag schlechter bestellt war. An nichts empfand er mehr Freude, selbst nicht an der wachsenden Zutraulichkeit seiner drei vierbeinigen Gefährten, denen er Namen gegeben hatte, und die auf diese wie gehorsame Hündchen hörten. Dadurch, daß er gezwungen war, stets nur nachts seinen Schlupfwinkel zu verlassen, schlief er im allgemeinen sehr wenig.

Dann kam ihm der Zufall zu Hilfe, – der Zufall und ein glücklicher Gedanke. Eines Abends war er früher als gewöhnlich nach der nächsten Ansiedlung geschlichen, um von dort wieder Gemüse zu holen, das jetzt seine Hauptnahrung bildete. In dem Wohnhause brannte noch Licht. Er hörte auch Stimmen, sah Schatten an den erleuchteten Fenstern vorüberhuschen und hielt sich daher vorläufig in einiger Entfernung versteckt. Nach einer halben Stunde traten zwei Männer vor die Haustür und schlugen den Weg nach dem Dorfe Kalsöe ein. Der eine verabschiedete sich bald und kehrte nach dem Gehöft zurück. Der andere, den Petersen an der Stimme als den Vogt Kolter, den er inzwischen zweimal auf dem Torfmoor beobachtet hatte, wiedererkannte, wanderte allein weiter.

Plötzlich blitzte in dem jungen Maat ein verwegener Gedanke auf. Kolter besaß als Strandvogt ohne Zweifel hier einen großen Einfluß und war sicherlich in der Lage, einen Menschen heimlich nach Deutschland zu schaffen. – Hier gab es kein Zögern. Die Gelegenheit mußte ausgenutzt werden.

Petersen eilte dem Vogt leise nach und rief ihn in englischer Sprache an.

Kolter prallte entsetzt zurück, als er den jungen Deutschen erkannte. Bevor er jedoch dazu kam, einen Hilferuf auszustoßen, was er zweifellos beabsichtigte, hatte Petersen ihm schon zugeraunt:

„Haben Sie keine Angst! Ich komme, um Ihnen einen Vorschlag zu machen, der Ihnen große Reichtümer verheißt. – Hören Sie mich ruhig an. Ich spreche die volle Wahrheit! – Ich habe hier auf der Insel Steinkohlenflöze entdeckt, die sich sehr leicht abbauen lassen. Ich will Ihnen diese Stellen zeigen, wenn Sie mir durch einen Eid versichern, mich wohlbehalten nach Deutschland zu bringen. – Bedenken Sie, daß Sie in kurzer Zeit ein wohlhabender Mann sein können!“

Der Vogt war über diese Eröffnungen zunächst so überrascht, daß er keine Worte fand. Als nun aber Petersen seinen Vorschlag nochmals wiederholte, ohne jedoch auch nur anzudeuten, wo die Flöze zu suchen seien, merkte Kolter, daß es sich hier nicht um leere Versprechungen handele. Nach einigem Hin und Her leistete er einen Schwur, der Petersen die Gewißheit gab, daß von dem Vogt kein Verrat weiter zu fürchten sei. Außerdem erklärte der Maat dem Dänen aber auch, daß es in dessen eigenem Interesse liege, die getroffenen Vereinbarungen ehrlich einzuhalten, da er anderenfalls das wertvolle Geheimnis auch anderen noch mitteilen werde.

Kolter, dessen Habgier bereits über alle Bedenken die Oberhand gewonnen hatte, beruhigte den Maat und meinte, dieser könne sich getrost auf ihn verlassen. Er würde den Eid nicht brechen und dafür sorgen, daß Petersen zunächst heimlich zu Verwandten von ihm nach Dänemark käme und dann auch weiter über die deutsche Grenze.

Jetzt erst fühlte der Einsiedler der Christianklippe sich ganz sicher. In Begleitung des Vogtes wanderte er nun nach dem Nordteil der Insel zurück, zeigte Kolter hier den Zugang über die beiden Basaltpfeiler zu der Felsnase und führte ihn durch die unterirdischen Räume erst bis an die Kohlenflöze, dann auch bis ins Innere des Kraters, wo Kolter staunend alles musterte, was der Maat hier zu seiner Bequemlichkeit geschaffen hatte. Aus seinem ganzen Verhalten ging hervor, daß er den versprochenen Gegendienst auch wirklich nach besten Kräften leisten würde. Ganz eingehend besprachen die beiden darauf, in welcher Weise Petersen die Insel verlassen solle. Und eine Woche später schlug für den jungen Deutschen die Abschiedstunde. Mitten in der Nacht holte ihn Kolter vom Nordstrande von Kalsöe in einem Boote ab und brachte ihn an Bord eines dänischen Schoners, wo Petersen in einer großen Kiste versteckt wurde. Glücklich gelangte er bis nach Hanstholm an der Westküste Dänemarks und von da, ausgestattet mit falschen Ausweispapieren, ebenso wohlbehalten mit Hilfe von Kolters Verwandten in die deutsche Heimat zurück.

Das Gespenst der Christianklippe hatte seine Rolle ausgespielt …

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Das Wrack des Korsarenschiffes.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. „Fär-Öer“ bzw. „Fär-Öer-Gruppe“: Sehr alte Schreibweise aus dem 19. Jahrhundert. Das gilt ebenso für die übrigen Namen der Berge, Orte, Inseln usw. Walther Kabel hat hier vermutlich eine sehr alte Karte oder einen sehr alten Atlas benutzt. Auch sind einige Zahlenwerte (für die heutige Zeit) nicht korrekt wie z. B. 25 statt (real) 18 Inseln, 1500 Meter statt (real) 882 Meter beim höchsten Berg „Slættaratindur“.
    Alle Schreibweisen und Zahlenwerte der Vorlage wurden ohne Änderung übernommen.
    Heutiger Name: „Färöer“ oder auch „Färöer-Inseln“ (die „Schafinseln“). Siehe auch Wikipedia: Färöer.
  2. „Österöe“ / „Österröe“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf (die damalige Schreibweise) „Österöe“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „alse“.
  4. In der Vorlage steht: „Schafffleisch“.
  5. In der Vorlage steht: „genugsam“.
  6. In der Vorlage steht: „aberteuerliches“.