Sie sind hier

Auf heißem Boden

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Auf heißem Boden.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Matipa.

Es war weit oben in einem nördlichen Winkel des Stillen Ozeans an einem sonnigen Oktobertage des Jahres 1914.

Versteckt zwischen vier kleinen Inseln, von denen die östlichste etwa vier Kilometer lang war und sich genau von Norden nach Süden hinzog, lag da ein mittelgroßer Dampfer mit gelb-rotem Schornsteinring und der englischen Kriegsflagge am Heck.

Die untergehende Sonne hatte bereits die im Westen lagernden Dunstmassen erreicht und goß ihre letzte Strahlen über das einsame Meer aus, das hier südlich der Inselgruppe der Aleuten jetzt nur noch von einem zweiten Fahrzeuge belebt war, dessen Aussehen das Kriegsschiff verriet und dessen Kurs unweit der vier Inseln vorüberführen mußte.

Auch von dem englischen Hilfskreuzer aus war die Rauchfahne dieses Schiffes jetzt bemerkt worden. Die Sirene ließ ein paar bellende Heultöne hören, woraufhin von dem größten der Eilande, das als Nordspitze einen riesigen, abgestumpften Felskegel besaß, sehr bald ein Ruderboot abstieß und sich mühsam durch die starke Strömung und die zahlreichen Strudel hindurch arbeitete, die in dem schmalen Sunde zwischen diesem und den drei kleineren Eilanden an der Wasserbewegung deutlich zu erkennen waren.

Der blutjunge Seekadett, der das Boot steuerte, wurde von dem Kapitän des Hilfskreuzers, einem Leutnant der englischen Kriegsmarine, sehr wenig freundlich empfangen.

„Also die Deutschen sind tatsächlich entflohen?!“ fragte er scharfen Tones. „Das ist allein Ihre Schuld! Die drei Japaner hatten Ihnen doch genau angegeben, wie Sie in den Krater des erloschenen Vulkanes hineingelangen könnten …! Leichter konnten Sie es also gar nicht haben …! – Nun haben wir uns hier stundenlang aufgehalten, bis uns wirklich ein amerikanischer Kreuzer“ – dabei wies er auf die Rauchfahne des von Norden her sich nähernden Schiffes – „unangenehm nahe auf den Leib gerückt ist und von uns vielleicht Auskunft verlangt, was wir hier auf amerikanischem Hoheitsgebiet treiben.“

Eiligst wurde nun das Boot an Deck geholt, und dann schlängelte der Engländer sich wie ein ertappter Übeltäter langsam davon, hindurch durch die zahllosen Klippen und Riffe, die die vier Inselchen wie Schutzmauern umgaben, und hinaus aufs offene Meer, indem er sich stets hinter dem hohen Vulkankegel nach Möglichkeit zu decken suchte.

Aber der Vereinigte Staaten-Kreuzer hatte den Dampfer doch erspäht und begann nun, mißtrauisch gemacht durch dieses ängstliche Ausweichen des anderen, auf ihn Jagd zu machen.

* * *

Auf dem kleinsten der vier Eilande, das etwa in einer Höhe mit der Südspitze der größeren Insel lag, erhob sich jetzt mühsam zwischen ein paar Felsen am Ufer eine menschliche Gestalt.

Es war ein noch junger Mann mit blonden, langen Bartstoppeln im Gesicht, der einen Anzug aus Robbenfellen, derbe braune Stiefel und eine blaue Schirmmütze trug. Alle seine Kleidungsstücke trieften vor Nässe. Seine Zähne schlugen klappernd zusammen, und häufig ging ein Frostschauer über seinen Leib hin.

Matt setzte er sich auf einen mit Moos überzogenen Stein. Ihm war sterbenselend zumute. Er merkte, daß das Wundfieber kam. Hing ihm doch der von einer Kugel gelähmte linke Arm schlaff herab, als gehöre er gar nicht zu seinem Körper.

Hunger und Durst quälten ihn zudem. In seinem jetzigen Zustande wäre es ihm ganz gleichgültig gewesen, ob die Engländer ihn fingen oder nicht. Gelang es ihm nicht, nach der Vulkaninsel, der größten dieses abgelegenen Teiles der Aleuten, hinüberzugelangen, so war er verloren.

So tastete er denn nach einem angetriebenen Ast, den er als Stütze benutzen wollte, erhob sich und schwankte mehr als er ging einer unfern des Ufers stehenden Gruppe von verkrüppelten Kiefern zu, zwischen denen sich ein grüner Moosteppich ausbreitete, aus dem zahlreiche Heidelbeersträucher herausragten, an denen noch die mattblauen, recht großen Früchte hingen.

An diesen labte er sich. Und er war Gott von Herzen dankbar, daß es auch hier diese Beeren gab, um einen armen Erschöpften zu erfrischen. – Aber nur für kurze Zeit fühlte er sich etwas kräftiger. Dann ließ ihn ein neuer Schwächeanfall matt ins Moos sinken. Jetzt sah er ein, daß er die Insel drüben, auf der er mit den hoffentlich glücklich entkommenen Gefährten länger als einen Monat gehaust hatte, nie erreichen würde. Und doch wollte er hier nicht kläglich zugrunde gehen, wollte wenigstens versuchen sich zu retten. Freilich – den Gedanken an die warme, behagliche Krateröffnung des Vulkanes, die fünf Menschen noch vor kurzem Unterschlupf gewährt hatte, mußte er aufgeben.

Auf den Knien vorwärts rutschend und sich mit der rechten Hand auf den Boden stützend, kroch er dem Innern des Eilandes zu, um irgendwo einen vorläufigen Schlupfwinkel zu suchen. Er kam nicht weit. Die durchschossene Schulter brannte ihm wie Feuer, die Schwäche nahm zu, das Fieber raste in seinen Adern. Mit knapper Not schleppte er sich noch unter eine weit überhängende Felsplatte. Hier verlor er das Bewußtsein.

Wie lange er so gelegen, vermochte er nicht zu sagen. Als er dann zum erstenmal mit klarem Bewußtsein die Augen aufschlug, fand er sich in einer aus Zweigen geflochtenen Hütte wieder und auf einem weichen Mooslager. Vor dem niedrigen Eingang hing ein halb zurückgeschlagenes, großes Robbenfell. Draußen schien die Sonne. Kiefern und Lärchen standen dicht vor der Hütte, dazwischen lagen bemooste und mit grüngrauen Flechten bewachsene Felsen. Leise rauschte der Wind in den Bäumen, und in der Ferne erklang das andauernde Brausen einer Brandung.

Es war, als ob der Kranke zu einem ganz neuen Leben erwache. Staunend schaute er sich um, den Kopf etwas hebend. Er wußte nicht, wie er hierher gekommen war, hatte selbst die Erinnerung an die letzten Wochen vollständig verloren.

Unweit seines Lagers stand ein aus Steinen errichteter Herd, in dem ein lustiges Feuer prasselte und angenehme Wärme verbreitete. Und diese Wärme war wohl nötig, da von draußen durch den Eingang ein Strom eisigkalter Luft eindrang, die anderseits den Kranken auch wunderbar erfrischte.

Neben dem Herde wieder lagen auf einem flachen Steine ein paar Schalen, die aus den Schädeldecken von Seehunden hergestellt waren. Sie enthielten getrocknete Heidelbeeren und in dünne Striemen geschnittene, geröstete Fleischstücke. Auf der anderen Seite der länglichrunden[1] Hütte aber befand sich ein zweites Mooslager, das gleichfalls mit Robbenfellen bedeckt war, die auch den jungen Deutschen wärmend umhüllten.

Der Kranke lag jetzt wieder mit geschlossenen Augen da und grübelte und grübelte. – Was bedeutete dies alles nur …?! Wo war er – wo nur …?! – Eine ganz schwache Erinnerung an allerhand abenteuerliche Erlebnisse der letzten Zeit tauchte nun doch in ihm auf. Aber es waren vorläufig nur einzelne verschwommene Bilder, zwischen denen es keinen Zusammenhang gab und die er für die Eindrücke wilder Fieberphantasien zu halten geneigt war. – Zuletzt hatte er sich als Funkentelegraphist an Bord des japanischen Dampfers „Okitu Maru“ auf dem Wege nach San Franzisko befunden. Darauf besann er sich genau. Auch daß er als guter Deutscher, der sich freilich mit seinem Namen Hart aus allerlei Gründen in Japan als Engländer ausgegeben hatte, sofort nach Kriegsausbruch immer wieder darauf bedacht gewesen war, möglichst schnell in die Heimat zurückzukehren. Aber was dann geschehen, das war aus seinem Gedächtnis geschwunden, wenn auch nicht vollständig, so doch leider so weit, daß es ihm nicht gelingen wollte, sich in all diesen unklaren Szenen, die ihm vorschwebten, zurechtzufinden.

Plötzlich ließ ein leises Geräusch neben seinem Lager ihn schnell die Lider wieder öffnen.

Vor ihm stand ein ganz in Felle gekleideter, kleiner Mann von braunroter Gesichtsfarbe, der in der Hand einen kurzen Speer mit einer Knochenspitze und auf dem Rücken einen Bogen und einen Rindenköcher mit Pfeilen trug. Unter der spitzen Fellmütze des Farbigen kam ein Schopf langen, schwarzen Haares zum Vorschein, das bis in den Nacken reichte und durch Riemen in drei starken Strähnen zusammengehalten wurde.

Der Fremde war offenbar noch jung und hatte trotz des breiten, dunklen Gesichtes und der leicht geschlitzten Augen etwas Vertrauenerweckendes in seinem Äußern, zumal seine Kleidung recht sauber und mit Muscheln und Federn verziert war. – Jetzt beugte er sich zu dem Kranken herab. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund, der auffallend schön geformte Lippen besaß. Dann sagte er in gebrochenem Englisch zu dem Deutschen:

„Der weiße Mann sieht Matipa mit den Augen des Gesunden an, – seit zwei Wochen zum erstenmal. Matipa freut sich darüber. – Hat der weiße Mann Hunger oder Durst?“

Hart wollte sprechen. Aber nur mühsam gelang es ihm, ein paar Worte hervorzubringen.

„Hunger und Durst – beides. – Wo befinde ich mich eigentlich?“

Der Fremde schüttelte wie verweisend den Kopf.

„Nicht sprechen, nur essen, trinken und schlafen. Das am besten sein“, meinte er. „Matipa wird alles erzählen, wenn der weiße Mann wieder mehr bei Kräften ist.“

Dann fütterte er Hart, wie eine Mutter dies nicht sorgfältiger mit ihrem Kinde hätte tun können, indem er das geröstete Fleisch mit seinem Messer ganz fein zerkleinerte und es dem Kranken in den Mund schob. Freilich – die Finger dieses von der Kultur noch recht wenig angekränkelten Wilden zeichneten sich nicht gerade durch große Sauberkeit aus. Doch Hart sah im vollsten Sinne des Wortes darüber hinweg.

Nach der Mahlzeit schlief er auch wirklich sofort wieder ein, um erst zu erwachen, als es draußen bereits ganz dunkel war. Der vordere Teil der Hütte wurde jedoch durch das Herdfeuer in rötliche Glut getaucht deren Licht- und Schattenverteilung je nach dem stärkeren Aufflackern der Holzscheite sich ständig änderte. Der Türvorhang war jetzt mehr als am Tage geschlossen und ließ nur noch eine dreieckige Öffnung frei, durch die Hart ein Stück des ausgestirnten Himmels sehen konnte.

Matipa, wie der geheimnisvolle Pfleger des jungen Deutschen sich nannte, war nicht anwesend, erschien aber sehr bald mit einem feisten Biber über dem Rücken, nickte Hart freundlich zu und verschwand wieder, um draußen die Jagdbeute abzuhäuten, von der er für den Genesenden dann eine reichliche Portion Schabefleisch herstellte, das er mit einer besonderen Moosart vermengte, wie man etwa in Deutschland feingehackte Zwiebeln zu demselben Zweck benutzt. Diese Moosart, von den Polarfahrern Skorbutkraut genannt (Skorbut ist eine Krankheit, die durch allzuhäufigen Genuß von Pökelfleisch auftritt), schmeckt sehr gewürzig und vertritt in den nördlichen Gegenden vielfach das Suppenkraut. Jedenfalls mundete dem hungrigen Patienten das Biberfleisch vorzüglich, ebenso wie dies auch mit dem Nachtisch, in Wasser aufgekochten Heidelbeeren, der Fall war.

Der Anblick des toten Bibers, dieses vielbegehrten Pelztieres, hatte in der Erinnerung Harts ganz bestimmte Bilder wachgerufen. Er sah sich vor einer in einer überschwemmten Niederung angelegten Biberkolonie stehen und mit einem Revolver in der Hand auf das Auftauchen eines dieser großen Nager warten … – Aber auch jetzt versagte sein Gedächtnis nach diesem kurzen, blitzartigen Aufleuchten eines bestimmten Erlebnisses.

Der junge Deutsche gab sich denn auch nicht weiter die Mühe, über das, was er inzwischen durchgemacht haben mochte, nachzugrübeln. Er fühlte sich jetzt bereits bedeutend frischer. Wohliges Behagen durchströmte seinen Körper, und als er nun an Matipa das Wort richtete, hatte seine Stimme an Festigkeit gewonnen und klang schon wieder voll und laut.

„Ich bin Matipa zu sehr großem Dank verpflichtet“, sagte er herzlich. „Vielleicht kann ich jetzt erfahren, wo ich bin und was mit mir eigentlich geschehen ist.“

Der Wilde ließ sich mit untergeschlagenen Beinen am Kopfende des Lagers nieder und erwiderte, während er lange Streifen nur halb gerösteten, noch heißen Fleisches in den Mund schob:

„Der weiße Mann hat einen Leib aus Eisen, der das Fieber besiegt hat. Nur der Kopf ist von dem langen Fieber leer geworden. Aber auch das wird besser werden. – Der weiße Mann mag zuhören. – Matipa ist ein Aleute, wie die Amerikaner mein Volk nennen, weil es die Inselgruppe der Aleuten bewohnt, und zwar ein Pelzjäger, der die vielen unbewohnten Inseln durchstreift, um Biber, Hermeline, Füchse und Bären zu fangen. Matipa war der geschickteste der Jäger, hatte auch mehr von den Weißen hinzugelernt, als die meisten anderen seiner Stammesangehörigen. Urmia, der erste Häuptling, wurde neidisch auf Matipa und erzählte dem obersten Beamten der amerikanischen Verwaltung, daß Matipa einen Matrosen erschlagen habe. Urmia log. Matipa hat nie einen Menschen getötet. Trotzdem mußte er fliehen, nachdem ihm der Häuptling all seine Habe geraubt hatte. So kam Matipa zu den vier Inseln, die die Amerikaner die Unwegsamen nennen, weil es mit großen Gefahren verbunden ist, selbst bei gutem Wetter auf ihnen zu landen. Aber gerade deswegen suchte Matipa sie auf, weil er hier vor seinen Verfolgern sicher war. Sein Boot zerschlug die Brandung, er rettete sich jedoch auf dieses kleinste der vier Eilande und beobachtete noch an demselben Tage, wie ein englischer Dampfer von drei Japanern durch Rauchsignale herbeigerufen wurde und wie die Engländer dann nach der größten Insel hinüberruderten, um dorthin geflüchtete Germans (Deutsche) gefangenzunehmen.“

Kaum hatte der Wilde diesen Satz ausgesprochen, als auch der Schleier zerriß, den die schwere Krankheit vor Harts Erinnerungsvermögen gezogen hatte.

Blitzartig kehrte ihm das Gedächtnis zurück. Mit einem Ruck fuhr er hoch, stützte sich auf den rechten Ellenbogen und fragte, als wolle er eine Stichprobe machen, ob sein Hirn ihm nicht doch noch Trugbilder vorgaukele:

„Ich war verwundet, Matipa, – ist’s nicht so …? – Ich hatte eine Büchsenkugel in der Schulter, und das Boot, in dem meine Gefährten entflohen, entglitt mir, schwand im Nebel …“

Der Aleute nickte.

„Der Kopf meines weißen Freundes ist wieder klar“, sagte er, den Kranken sanft in die alte Lage zurücklegend. „Matipa fand einen bewußtlosen Mann am Ufer seiner Insel, nachdem der englische Dampfer davongefahren war, und pflegte ihn gesund. Matipa liebt die Germans. Sie sind ehrlich im Handel und betrügen die Pelzjäger nicht.“

Hart hatte die Augen geschlossen. Ein leichter Schwächeanfall überkam ihn, vielleicht infolge der Aufregung, die an seinen Nerven jetzt zerrte, nachdem es wieder klar in seinem Geiste geworden war.

Alles in letzter Zeit Erlebte stand nun mit greifbarer Deutlichkeit vor seiner Seele: die abenteuerliche Flucht von dem „Okitu Maru“ in der Barkasse, die Landung auf der Vulkaninsel, das Robinsonleben dort und die schnelle Abreise infolge des Erscheinens der Engländer …

Dann tauchte eine bange Frage in seinem Geiste auf. Was war aus den Gefährten geworden, die mit ihm zusammen auf der Vulkaninsel gehaust hatten? Waren sie glücklich entkommen, oder hatten sie gar das gefährliche Wagnis, in dichtestem Nebel sich den trügerischen Wassern anvertrauen, mit dem Leben gebüßt …?

Matipa war es, der ihn von dieser Sorge befreite. Auf seine Frage hin berichtete der Aleute, daß der englische Dampfer unverrichteter Sache habe abfahren müssen und daß er, gleich nachdem der die vier Inseln stundenlang einhüllende Nebel geschwunden war, mit seinen scharfen Augen fern im Westen ein Boot entdeckt habe, das wohl nur dasjenige der Deutschen gewesen sein könne.

 

2. Kapitel.

Fruchtbare Erde in Eis und Schnee.

Die Aleuten sind bekanntlich eine felsige Inselgruppe, die sich in einem Bogen, dessen Sehne 140 Meilen lang ist, von der Halbinsel Alaska in Nordamerika bis nach Kamtschatka im asiatischen Rußland hinzieht und das Beringsmeer von dem Stillen Ozean scheidet, den Kontinent von Nordamerika aber mit Asien brückenartig verbindet. Diese 150 nur zum kleinsten Teil bewohnten Inseln sind die Heimat eines Volksstammes, der als eine Mischlingsrasse von Mongolen und nordamerikanischen Indianern zu betrachten ist. Klein, kräftig und wohlgestaltet, sind diese Ureinwohner mit ihren breiten, dunkelbraunen Gesichtern und lebhaften schwarzen Augen recht angenehme Erscheinungen. Auch ihr Charakter weist, wie schon der große Seefahrer Cook berichtet, Eigenschaften auf, die später leider nur zu sehr von den weißen Ansiedlern ausgenutzt wurden. Gutmütig, treuherzig, friedliebend und fleißig, sind sie bis auf eine stark ausgeprägte Neigung zur Rachgier, sobald sie beleidigt werden, das harmloseste Volk der Welt. Dem Namen nach Christen, halten sie im geheimen doch noch an vielen heidnischen Gebräuchen fest. Für den europäischen Handel wurde diese an Pelztieren, – Bären, Wölfen, Füchsen, Fischottern, Bibern und Hermelinen – sehr reiche Inselgruppe von dem Russen Schelikoff erschlossen, der 1780 zahlreiche Pelzjäger in seine Dienste stellte. Später fielen die ursprünglich in russischem Besitz befindlichen Inseln an die Vereinigten Staaten, die der unvernünftigen Ausrottung der wertvollen Tiere ein Ende machten und die Jagd durch Gesetze einschränkten, freilich nur für die wenigen bewohnten Inseln, unter denen Unalaschka die größte ist. Erwähnenswert ist noch die sog. Ratteninsel, die mehr im Westen liegt. Hier strandete einst ein Segelschiff, von dem sich eine Menge Ratten an Land herüberrettete. Diese vermehrten sich unheimlich schnell, so daß im Jahre 1868 ein holländischer Dampfer die Eilande geradezu von Ratten wimmelnd vorfand. Das eigenartige war, daß diese Nager hier in diesem nördlichen Klima mit der Zeit bedeutend dichtere und daher wertvollere Felle erhalten hatten und bald fast ebenso eifrig wie Hermeline und Biber gejagt wurden. – –

Die Besserung im Befinden des früheren Telegraphisten des „Okitu Maru“ machte sehr schnelle Fortschritte. Nach drei Tagen vermochte er bereits kurze Spaziergänge zu unternehmen, und nach einer Woche war ihm von der schweren Krankheit kaum noch etwas anzumerken.

Inzwischen waren die Beziehungen der beiden Einsamen, die hier auf dem entlegenen Inselchen ein Zufall zusammengeführt hatte, zueinander immer herzlicher geworden. Matipa zeigte so vortreffliche Charakterzüge, daß Hart, der bisher von den Farbigen nicht viel gehalten hatte, ehrlich erfreut war, gerade diesen jungen Aleuten als Gefährten gefunden zu haben, den er scherzend seinen „Freitag“ nannte, indem er sich selbst mit dem berühmten Robinson Krusoe verglich.

Die Witterung, bisher noch leidlich mild, schlug Mitte Oktober vollständig um. Eisige Schneestürme brausten über die vier Inseln hinweg und machten den Aufenthalt in der mit Moos und Fellen bedeckten Hütte immer ungemütlicher. Eines Tages, als ruhige, frostklare Luft die nahe, jetzt ebenfalls unter Schneemassen begrabene Vulkaninsel deutlich erkennen ließ, erinnerte sich Hart an den Krater des erloschenen feuerspeienden Berges, der, als mächtiger Felskegel im Norden dieses größten der vier Eilande gelegen, ihm bei den Flüchtlingen vom „Okitu Maru“ den Namen Vulkaninsel gegeben hatte. Die Krateröffnung bildete nämlich einen Talkessel von etwa 100 Meter Durchmesser mit steilansteigenden Wänden und besaß die Eigentümlichkeit, daß die Temperatur hier bedeutend höher als außerhalb des Kraterinneren war, da das Gestein von unten her durch letzte Reste vulkanischer Glutmassen erheblich durchhitzt wurde. Mithin mußte gerade in dieser Jahreszeit der Aufenthalt in dem Felskessel seine großen Annehmlichkeiten haben.

Hart schlug deshalb auch seinem Gefährten vor, nach der Vulkaninsel überzusiedeln. Dies bot jedoch infolge der starken Strömung, die den Sund zwischen den Inseln durchfloß, recht erhebliche Schwierigkeiten.

Sich bei dieser Kälte in das Wasser zu wagen, und schwimmend die andere Insel zu erreichen, hätte, ganz abgesehen von der Strömung, sicheren Tod bedeutet, wenigstens für den jungen Deutschen, dessen Körper noch unter den Folgen der Krankheit litt.

Matipa sah jedoch selbst ein, daß ein Umzug nach der größten der Inseln ihm und seinem weißen Freunde außerordentliche Erleichterungen ihrer Lebensführung bringen mußte, und kam schließlich auf den Gedanken, ein kleines Fellboot zu bauen, auf dem man nach dem ersehnten Ufer übersetzen konnte. Die Aleuten verstehen nun aus biegsamen Ästen in kurzer Zeit ein Gerippe eines Nachens herzustellen, das, mit Seehundfellen überzogen, für Küstenfahrten bei ruhigem Wetter vollauf genügt. Die kleineren Boote dieser Art nennen sie Baidars, während Baidarkars solche für acht und mehr Menschen sind. – In drei Tagen hatte Matipa einen winzigen Nachen fertig der für den gewünschten Zweck mit seiner länglichrunden, muldenartigen Form recht geeignet war. Dann wurde die geringe Habe der beiden Robinsons eines Tages, als wieder völlige Windstille herrschte, in den Baidar verladen und der gefährliche Versuch gewagt, sich durch die scharfe Strömung bis zur Vulkaninsel hindurchzuarbeiten. Zwei von dem Aleuten hergestellte Ruder mit breiten Schaufeln sollten das gebrechliche Fahrzeug vorwärts treiben.

Aber Matipa hatte zu wenig mit der Kraft der Strömung gerechnet. Kaum war der Nachen in diese hineingeraten, als er auch pfeilschnell fortgerissen wurde. Alle Anstrengungen der beiden Ruderer halfen nichts. Schließlich mußten sie lediglich darauf acht geben, daß das kleine Fellboot nicht an eine der zahllosen Klippen anrannte, die aus dem Wasser drohend hervorragten. Weiter und weiter entführte die Strömung sie von den vier Inseln. Jetzt wurde auch der Brandungsgürtel der äußeren Riffreihen, die die Eilande wie ein Kranz umgaben, passiert.

Dann ließ freilich die Gewalt der Strömung nach, so daß man daran denken konnte umzukehren und von Osten her sich der Vulkaninsel wieder zu nähern. Erst bei anbrechender Dunkelheit landeten die beiden Gefährten völlig erschöpft in derselben Bucht, in der der junge Deutsche vor etwa fünf Wochen einen angetriebenen Walfisch entdeckt hatte, der für die Flüchtlinge des „Okitu Maru“ nachher von so großem Nutzen werden sollte. Schnell wurde der Baidar ein Stück auf das Ufer gezogen, und eiligst strebten die Robinsons nun einer Terrasse zu, von der aus eine Felsspalte die Kraterwand durchdrang und so einen Zugang zu dem Kessel bildete.

Matipa war so vorsorglich gewesen, eine Menge gedörrten Biber- und Robbenfleisches mitzunehmen, das jetzt die erste Mahlzeit der ausgehungerten Gefährten an ihrem neuen Aufenthaltsorte bildete. Hier hatten leider die Engländer in blinder Wut und Enttäuschung über das Entweichen der Deutschen sowohl die beiden unter einem weit überhängenden Teile der Kraterwand errichteten Hütten als auch den Herd zerstört, wie Hart beim letzten Lichte des scheidenden Tages feststellen konnte.

Aus den mitgebrachten Fellen und Moosstücken bereitete Matipa nun sofort, nachdem sie sich gesättigt hatten, seinem weißen Freunde, dessen Schulterwunde schon wieder erheblich infolge der Anstrengung des Ruderns schmerzte, ein bequemes Lager in der Nähe der Trümmer der Hütten. Bald hatte er auch mit Hilfe seines primitiven Feuerzeuges ein helloderndes[2] Feuer angezündet, bei dessen Licht er nun mit dem Bau einer neuen Hütte begann, deren aus Steinen bestehende Wände überraschend schnell emporwuchsen. Die Ritzen wurden mit Moos verstopft und das Dach aus einem festen Geflecht von Zweigen hergestellt, welches wieder mit Moos bedeckt wurde.

Inzwischen hatte Hart Zeit gefunden, sich über das jetzige Aussehen des Kraterkessels klar zu werden. Schnee gab es hier nicht. Dazu war die Luft zu warm, deren Temperatur dicht über dem Boden auf etwa zwölf Grad geschätzt werden konnte. Allerlei Erinnerungen an die vor kurzem hier verlebten Wochen stiegen in dem jungen Deutschen auf. Dort zur Rechten lag der kleine, von einer unterirdischen Quelle gespeiste Teich, der als Abfluß ein dünnes Bächlein nach Westen zu durch einen Felsengang nach einem von den Gesteinmassen des Kraters überwölbten Kanale schickte, durch den dieselbe Meeresströmung brausend hindurchschoß, die nachher, nach Süden abbiegend, an der Westseite der Vulkaninsel entlangführte.

Plötzlich schien es Hart so, als ob sich auf der anderen Seite des Kraters, wo der Lichtschein des Feuers nur noch schwach sich bemerkbar machte, zwei dunkle Gestalten bewegten. Er richtete sich auf und blickte schärfer hin. Vier leuchtende Punkte glühten dort auf … Es konnten nur die Augen von Raubtieren sein – von Bären …!

Kaum war er sich hierüber klar geworden, als er auch schon hochschnellte und, Matipa eine Warnung zurufend, nach dem Feuer eilte, wo er eine der brennenden Kiefernstämmchen ergriff, um dieses als Waffe zu benutzen.

Der Aleute stand gleich darauf neben ihm, drückte ihm zwei der kurzen, für die Robbenjagd bisher verwandten Speere in die Hand und legte einen der Pfeile auf die Sehne seines Bogens.

„Schwarze Bären“, flüsterte er. „Matipa wird von hinten an sie heran. Der German-Freund wird sie durch das Feuer blenden.“

Und ehe Hart noch eine Frage an ihn richten konnte, war er bereits verschwunden.

Dieses Abenteuer nahm jedoch einen anderen Verlauf, als der Aleute gedacht hatte. Die Bären hatten offenbar das Fleisch gewittert, das Matipa unweit des Feuers niedergelegt hatte, und kamen jetzt langsam näher. Bald erkannte Hart ihre plumpen Körper, die spitzen Ohren über dem breiten Schädel und die spitze Schnauze. Sehr behaglich war ihm nicht zumute. Aber er wollte sich vor Matipa keine Blöße geben. Deshalb schritt er nun auf die beiden Bestien zu, in der linken Hand den brennenden Kiefernstamm, in der rechten die beiden Speere, zu deren nur mit Sehnen befestigten Knochenspitzen er nicht viel Vertrauen hatte.

Die Bären waren stehen geblieben. Die Sache kam ihnen offenbar nicht ganz geheuer vor. Es sah fast komisch aus, wie sie scheinbar unzufrieden die dicken Köpfe hin und her bewegten.

Hart war jetzt kaum noch sechs Schritt entfernt. Trotzdem verlangsamte er seine Vorwärtsbewegung nicht. Dann sah er plötzlich zwischen den beiden dicht nebeneinander stehenden Tieren eine kleine, behende Gestalt auftauchen. Des Aleuten langes, schmales Messer funkelte einen Augenblick matt auf und fuhr dann dem linken Bären zwischen die zweite und dritte Rippe, wurde blitzschnell herausgerissen und der anderen Bestie von unten in die Kehle gestoßen. Fast gleichzeitig fuhren die beiden schwarzen Burschen herum. Aber Matipa war schon zurückgesprungen, hatte das Messer zwischen die Zähne genommen und jagte dem zuletzt verwundeten Tiere, dem das Blut in dickem Strahl aus dem Halse spritzte, einen Pfeil von seitwärts in die Weiche.

Jetzt packte auch Hart die Jagdlust. Die Bären achteten nicht auf ihn. Und so rannte er denn demselben Meister Petz, dem schon ein Pfeil im Leibe steckte, einen der Speere mit voller Gewalt hinter dem Schulterblatt in den Körper, und dies mit solcher Kraft, daß das Tier auf den Rücken taumelte und dicht vor dem anderen Bären zu liegen kam, der, ohne Zweifel tödlich getroffen, bereits kraftlos hin und herschwankte und sich gleich darauf niedertat, um dann mit den Pranken zuckend und den Boden aufwühlend, vergeblich zu versuchen, sich wieder aufzurichten.

Hart stand jetzt neben Matipa, der die beiden Tiere scharf beobachtete. Auch der von dem jungen Deutschen umgerannte Bär kam nicht mehr auf die Füße. Wenige Minuten später waren beide verendet. – Hart konnte gar nicht glauben, daß man so leicht die beiden Bestien abgetan hatte. Am meisten aber bewunderte er seinen braunen Gefährten, dessen Messer ja sicherlich die Hauptarbeit geleistet hatte. Matipa wehrte die anerkennenden Worte Harts bescheiden ab.

„Alle Aleuten-Jäger den schwarzen Ba – ba (eigentlich „Vater“, da nach den heidnischen Vorstellungen dieser Inselbewohner in jedem Bären der Geist eines alten Kriegers haust) mit dem Messer angreifen“, meinte er. Und als Hart dann erklärte, daß er während seines ersten Aufenthaltes auf der Insel nie einen Meister Petz zu Gesicht bekommen habe, fügte Matipa hinzu: „der Ba – ba schwimmt wie eine Robbe. Die beiden werden auf einer der benachbarten Inseln bis jetzt ihre Wohnung gehabt haben.“

Dann setzte der Aleute gleichmütig die unterbrochene Arbeit an der Hütte fort, die sehr bald fertig wurde und den Robinsons für die Nacht einen ganz behaglichen Unterschlupf gewährte.

Als Hart nach langem, festem Schlaf erwachte, fand er Matipas Lager bereits leer. Dieser war schon mit Tagesanbruch aufgestanden, hatte die Bären abgehäutet und die Felle zum Trocknen ausgespannt. Als erste Mahlzeit gab es heute über dem offenen Feuer gerösteten Bärenschinken, der dem jungen Deutschen ganz vortrefflich mundete.

Draußen über der runden, weiten Krateröffnung schien die Sonne. Es war ein klarer, kalter Herbsttag. Aber hier in dem von den vulkanischen Feuern geheizten Kessel spürte man nichts von der rauhen Luft. Hart wanderte jetzt, um sich etwas Bewegung zu machen, in dem Krater hin und her, dessen westliche Hälfte ziemlich eben war und hier und da kleine Gruppen von verkrüppelten Kiefern, Gras, Moosflächen und zahlreiche Heidel- und Preißelbeersträucher aufzuweisen hatte. Der östliche, mit Felsen und Geröll bedeckte Teil bildete gleichsam eine erhöhte Bühne. Zu seinem nicht geringen Erstaunen bemerkte Hart nun, daß die auch in Deutschland bekannten Waldfrüchte bereits wieder neue Knospen angesetzt hatten, obwohl er und seine Landsleute doch vor kaum fünf Wochen hier die reifen Heidel- und Preißelbeeren eingesammelt hatten.

Daß dieser ununterbrochene Früchteertrag der beiden Waldsträucher mit auf die Bodenwärme zurückzuführen war, unterlag keinem Zweifel. Aber der Boden selbst mußte notwendig ebenfalls eine hierfür besonders günstigen Zusammensetzung haben. Neugierig wühlte Hart ihn daher an einer Stelle auf, um zu sehen, eine wie hohe Lage Erde den Fels bedeckte.

Eine dünne Schicht nur fand er, die mit Pflanzenresten vermischt war. Darunter aber eine graue, bröcklige Masse, über deren Charakter er sich zunächst nicht klar werden konnte, bis er sich an einen längeren Aufenthalt in Peru besann, bei welcher Gelegenheit er auch die in gewisser Beziehung berühmten Chincha-Inseln besucht hatte, – berühmt wegen der längst bis auf geringe Reste ausgebeuteten Guanolager.

Und Guano war es, der hier auf diesem warmen Fleckchen Erde den Waldsträuchern zu steter Fruchtbarkeit verhalf, selbst wenn draußen die ganze Natur unter Schnee und Eis erstarrt war.

 

3. Kapitel

Urmia, der Oberhäuptling der Aleuten.

Die zahlreichen Freunde der „Erlebnisse einsamer Menschen“ werden sicherlich schon von dem Volke der Inkas gehört haben, das einst in Südamerika ein gewaltiges Gebiet bewohnte und eine hochentwickelte Kultur besaß. Schon zu Zeiten der Inkas waren die Guanolager (Guano ist zersetzter, in ungeheuren Mengen aufgehäufter Dünger von Seevögeln) durch Gesetze geschützt und wurden zum Düngen der Felder benutzt. Die Wirksamkeit des Guanos als vorteilhafte Erdebeimengung zur Erzielung möglichst ertragreicher Felder beruht auf seinem Gehalt an Ammoniak und Phosphorsäure. Mit Guano gedüngte Felder liefern gleich im ersten Jahre fast das Doppelte wie bisher, und bisher hat man kein Düngemittel gefunden, das den Guano auch nur annähernd zu ersetzen imstande ist. In Europa wurde dieses Produkt durch Alexander von Humboldt, den großen Forscher und Reisenden, bekannt, der es auf den Chincha-Inseln entdeckte. Aber erst um das Jahr 1850 herum begannen Engländer planmäßig die riesigen Guanolager Südamerikas und bald auch die in anderen Weltteilen auszubeuten. In Peru findet sich der Guano in bis zehn Meter starken Schichten besonders an Stellen vor, wo die Seevögel günstige Nistplätze hatten, also auf felsigen Vorgebirgen und auf den der Festlandküste benachbarten Inseln. Diese Lager haben nach Humboldt ein Alter von vielen hunderten von Jahren und wurden auf eine halbe Milliarde Zentner geschätzt. Man hat berechnet, daß eine halbe Million Vögel 5000 Jahre lang tagaus tagein ihren Unrat an diesen Orten ablegen mußten, um derartige Guanoberge zur Entstehung gelangen zu lassen, während wieder sechs Zentner Fische von den Seevögeln verzehrt werden müssen, um nur einen Zentner Guano zu bilden. Jedenfalls haben die Engländer mit dem Guanohandel Unsummen verdient. Jetzt sind alle diese Lager natürlichen Düngers bis auf geringe Reste bereits verbraucht, und die Wissenschaft, hauptsächlich die Chemiker, haben andere Stoffe gefunden, um dem Erdboden künstlich neue Kraft zuzuführen. –

Als Hart seinem braunen Freunde erklärte, weshalb in diesem Felsenkessel sowohl Erdfrüchte wie Getreide aufs üppigste gedeihen würden, meinte der aufgeweckte Aleute, es sei sehr schade, daß man nicht wenigstens Kartoffeln habe, die man hier anpflanzen könne. Die Kartoffel ist nämlich schon von den Russen auf den Aleuten eingeführt worden und bildet heute dort außer Fischen ein Hauptnahrungsmittel.

Zwei Tage später erklärte Matipa eines Morgens, er wolle draußen in den Felsspalten des Vulkankegels nach Salzablagerungen suchen damit man das Bärenfleisch, welches durch die Felsspalte nach der Südterrasse geschafft und dort gefroren war, einsalzen und dann räuchern könne. Inzwischen solle der German-Freund einen Teil des westlichen Kraterbodens als Acker herzurichten beginnen, da er – Matipa – demnächst Kartoffeln beschaffen zu können hoffe. – Hart fragte natürlich neugierig, wo sein Gefährte die Erdfrüchte herzunehmen gedenke. Aber Matipa lächelte nur schlau und eilte davon.

Als er dann nach drei Stunden immer noch nicht zurückgekehrt war, wurde der junge Deutsche unruhig. Gerade als dieser Matipa suchen wollte, tauchte dieser mit einem aus Seehundfellen gearbeiteten, prall gefüllten Sack auf dem Rücken wieder auf.

Nun erst kam die Wahrheit an den Tag. Matipa hatte sich erinnert, daß er auf dem zweitgrößten der vier Eilande gelegentlich eines kurzen Besuches während Harts Krankheit Spuren einer alten Niederlassung und auch eine Reihe wildwachsender Kartoffelstauden bemerkt hatte. Dieser Umstand war jetzt von ihm ausgenutzt worden, indem er jene Insel, die etwa ebenso lang wie die Vulkaninsel, dabei aber bedeutend schmäler war, glücklich im Boote erreicht und nach den Erdfrüchten gesucht hatte, von denen er nach Harts Schätzung etwa dreiviertel Zentner mitgebracht hatte.

Die Kartoffeln wurden nun sofort gesetzt und dann des öfteren mit Wasser aus dem Teiche begossen, bis später, als wieder reichlicher Schneefall eintrat, der sofort schmelzende Schnee die Bewässerung übernahm. – Hart war sehr gespannt, ob dieser Versuch gelingen würde. Bereits nach zehn Tagen zeigten sich die ersten grünen Pflänzchen auf dem kleinen Felde, die dann überraschend schnell wuchsen, so daß man mit einer guten Ernte rechnen konnte. Nunmehr wurden von der Nachbarinsel, an die man trotz der Strömung ihrer Länge wegen bedeutend leichter heranzugelangen vermochte als an das kleinste, südlichste der Eilande, auf dem die Gefährten zuerst gehaust hatten, noch alle dort vorhandenen Kartoffeln herübergeholt und in ein zweites Feld gesetzt.

Inzwischen waren seit der Ankunft der beiden Robinsons auf der Vulkaninsel etwa drei Wochen verstrichen. Matipa hatte als echtes Naturkind, das mit den einfachsten Lebensbedingungen vertraut war und alles, was brauchbar schien, aufs beste auszunutzen wußte, mancherlei Bequemlichkeiten geschaffen. So war besonders die Hütte recht behaglich eingerichtet und enthielt allerlei von des Aleuten geschickten Händen geschnitzte Gebrauchsgegenstände, auch eine Anzahl Lampen, die aus Robbenschädeln hergestellt waren und mit dem ausgelassenen Bärenfett gespeist wurden. An Gefäßen hatte man noch eine ganze Anzahl der von den deutschen Flüchtlingen vorher aus Ton selbstgebrannten vorgefunden, die seiner Zeit hier zurückgelassen und der Zerstörungswut der Engländer entgangen waren. An eisernen Werkzeugen besaßen die beiden Gefährten freilich nur ihre beiden Messer, – das große Jagdmesser Matipas und das weniger starke Taschenmesser des jungen Deutschen. Trotzdem ging der Aleute mit dem Plane um, im Frühjahr ein großes Boot zu bauen, mit dem man versuchen wollte, bis nach der Halbinsel Alaska zu kommen, von wo aus man auf dem Landwege nach einer amerikanischen Niederlassung wandern konnte. Eine der bewohnten Aleuten-Inseln zu betreten wagte Matipa nicht, da er wußte, daß man ihn dort sofort ergreifen und dem Oberhäuptling Urmia ausliefern würde.

Das Leben, das die beiden Robinsons auf der Vulkaninsel führten, bot mancherlei Abwechslung. Das Eiland wurde viel von Robben besucht, die aus dem Beringsmeer herüber kamen. Die Jagd auf diese Tiere war nicht allzu schwierig und dabei äußerst ergiebig. Außerdem gab es hier aber auch eine Menge von Hermelinen, die Matipa, um das wertvolle Fell nicht zu beschädigen, in Schlagfallen fing, die so eingerichtet waren, daß der Hals des den Köder annehmenden Tieres zugedrückt wurde. Weiter kamen auf der Insel auch Biber vor, die das die Insel von Nord nach Süd durchströmende Flüßchen an vier Stellen abgedämmt und große überschwemmte Flächen geschaffen hatten, in denen sich ihre kuppelförmigen Wasserwohnungen befanden. Diese unter Wasser gesetzten Niederungen waren jetzt zugefroren, so daß man von oben die wie Strauchhaufen aussehenden Biberbauten öffnen und manchen stattlichen Burschen mit prächtigem Pelz herauslangen konnte. Alle so gewonnenen Felle wurden von dem braunen Jäger aufs sorgfältigste gegerbt und in einem besonderen Versteck verwahrt, damit man sie gegebenen Falles im Frühjahr als kostbare Ladung mitnehmen könne. Diese Jagdzüge dehnte man bald auch auf die anderen Inseln aus. Um die gefährliche, an der Westseite der Vulkaninsel entlanggehende Strömung leichter überwinden zu können, hatte Matipa aus Robbenleder einen Lasso angefertigt, der über die schmalste, etwa 120 Meter breite Stelle des die beiden größten Eilande trennenden Sundes gespannt wurde, so daß man sich mit Hilfe dieses festen Riemens sogar bei stürmischem Wetter durch die Strömung mit dem kleinen Fellboot hindurchwagen konnte.

Die Zeit verging den beiden Gefährten recht schnell. Gab es doch stets allerlei Arbeit, so daß sie unter Langerweile nie zu leiden hatten. In ihren Seehundlederanzügen und den von Matipa aus den Bärenfellen hergestellten Pelzen konnten sie selbst dem rauhesten Wetter trotzen. Mitte Dezember wurde es dann so kalt, daß selbst die engeren Wasserstraßen zwischen den Eilanden zufroren. Nur der von der starken Strömung durchflossene Hauptsund blieb offen. Es gab Tage, an denen Hart die Kälte auf gut zwanzig Grad schätzte, so daß auch in dem Kraterkessel die Temperatur auf 2–3 Grad Wärme sank und es nötig war, zuweilen die beiden Kartoffelfelder nachts mit den vorhandenen Fellen zu bedecken, um die bereits recht hohen Pflanzen zu schützen. Diese Kartoffeläcker bildeten des jungen Deutschen besondere Freude. Er sorgte für die richtige Behandlung und sah schon mit Sehnsucht dem Tage entgegen, wo die stete Fleischkost durch die schmackhaften Knollenfrüchte eine willkommene Abwechslung erfahren würde.

Mit der Zeitrechnung waren die beiden Robinsons sehr im argen. Man wußte nicht genau, welches Datum man hatte. Um etwa vier Tage schwankte der Kalender, den Hart durch Kreuze und Striche auf einem Stück Robbenleder weiter führte. Nachher stellte sich heraus, daß man um drei Tage hinter dem richtigen Datum zurück war.

Am 21. Dezember nach Vulkaninsel-Zeit hatten die Gefährten am Nachmittag auf dem drittgrößten der Eilande gerade neue Fallen für Hermeline aufgestellt, als Matipa im Norden der kleinen Gruppe ein Boot bemerkte, das Kuttertakelage führte und bei dem steifen Nordost schnell näher kam.

Hart blickte dem Fahrzeug mit recht gemischten Gefühlen entgegen, da Matipa erklärte, es würden wahrscheinlich amerikanische Pelzjäger sein, die die Inseln anzulaufen versuchen wollten, um hier auf Fang auszugehen.

„Matipa wird sich daher verbergen müssen“, fügte er hinzu. „Alle weißen Pelzjäger kennen Matipa, hassen ihn und werden ihn gefangennehmen. Mein weißer Freund dagegen mag sich ruhig den Leuten anvertrauen, die ihn nach einer der Niederlassungen bringen werden.“

Hart kämpfte einen kurzen Kampf mit sich. So gern er auch wieder in bewohnte Gegenden zurückgekehrt wäre, seinen braunen Gefährten wollte er nicht im Stich lassen. Zuviel hatte er ihm zu danken, um es nicht als eine Ehrenpflicht zu empfinden, bei Matipa auszuharren, was auch kommen mochte. Außerdem sagte er sich auch, daß er nicht wissen konnte, ob sich unter den Leuten des Bootes nicht Angehörige feindlicher Staaten befanden, die mit ihm als Deutschen nicht sonderlich freundlich umgehen würden. Gewiß – er hätte sich wieder als Engländer ausgeben können, was er schon früher einmal auf dem „Okitu Maru“ mit Erfolg getan hatte. Aber dies nochmals zu versuchen, dagegen sträubte sich sein Gewissen. – So erklärte er denn aus allen diesen Gründen seinem treubewährten Freitag, daß er unter allen Umständen bei ihm bleiben würde.

Matipa drückte ihm wortlos die Hand. In seinen Augen aber stand deutlich zu lesen, wie erfreut er über diesen Entschluß seines weißen Gefährten war. – Nach kurzer Beratung kamen sie überein, sich in den Krater zurückzuziehen, wo man sich ziemlich sicher fühlen konnte. Der Aleute meinte, daß das sich nähernde Boot mindestens noch zwei Stunden gebrauchen würde, ehe es den Klippengürtel durchquert habe und an einer der Inseln landen könne, eine Zeit, die vollauf für die nötigen Vorbereitungen zum Empfang der ungebetenen Gäste genüge.

Man kehrte also schleunigst nach der Vulkaninsel zurück. Schon während man sich mit Hilfe des Lassos, den Matipa auf der einen Seite jetzt von dem Anker, einem Felsblock, losgebunden hatte, durch die Strömung hindurcharbeitete, begann der Himmel sich mit schwerem Gewölk zu überziehen, und gleich darauf brauste ein Schneesturm über die Eilande hin, wie die Gefährten ihn seit Wochen nicht erlebt hatten. Matipa lachte vergnügt, als er sah, wie schnell die weißen Flocken alles Land ringsum mit einer dichten Decke einhüllten und jede Spur der Anwesenheit von Menschen begruben.

„Sehr gut das, German-Freund, sehr gut!“ meinte er. „Jäger jetzt keine Wildfährten finden und nicht wissen, daß hier viel Biber, Hermelin und Otter. Vielleicht wird Boot auch gar nicht landen bei dem Sturm. Alle wissen, daß diese Inseln ganz unzugänglich. Großes Wagnis sein, hierher zu kommen.“

Weiß wie die Schneemänner langten sie über die Terrasse und durch die Felsspalte in dem Krater an, nachdem sie das Fellboot mit dem Boden nach oben in eine Vertiefung gelegt hatten, wo es in kurzem völlig zuschneien mußte. Dann wurde der Zugang zu der Felsspalte mit der hierzu stets benutzten Steinplatte versperrt, die durch Stützen aus Holz unverrückbar in ihrer Lage festgehalten wurde. Als nächstes rissen sie eine Menge verkrüppelter Kiefern aus, die in schnell gebuddelte Löcher rings um die Hütte eingepflanzt wurden, um diese für jeden vom jenseitigen Kraterrande herabspähenden Blick zu verbergen. Direkt von oben war die kleine Behausung wegen der weit überhängenden Felswand nicht zu bemerken. In ähnlicher Weise suchte man durch stellenweises Anbringen von Stämmchen in den Kartoffelfeldern diesen das Aussehen von künstlichen Anpflanzungen zu benehmen. Schließlich wurde auch alles fortgeschafft, was darauf hindeuten konnte, daß der Felskessel bewohnt sei.

Die zwei Stunden waren längst verstrichen. Der Schneefall hatte mit Anbruch des Abends sehr zu Matipas Enttäuschung aufgehört, dem es lieber gewesen wäre, wenn das Unwetter noch bis zum Morgen angehalten hätte. Immerhin waren aber derartige Schneemengen heruntergekommen, daß sich sogar an der Südostseite des Kraters dieses Mal eine hohe Schneewehe gebildet hatte, die erst nach zwei Tagen wegtaute.

In dem Kessel war es bereits völlig dunkel. Hart und Matipa saßen in der Hütte beim Scheine einer Tranlampe, die gerade genug Licht spendete, um den kleinen Raum schwach zu erleuchten. Daß ein heller Schimmer von draußen zu bemerken war, brauchte man nicht zu fürchten, da die Wohnung von innen noch einen Überzug von Robbenfellen erhalten hatte. In dem Herde, dessen Rauchfang durch das Dach ein Stückchen hindurchging, glühten Holzkohlen, die ohne Rauchentwicklung weiterschwelten und behagliche Wärme spendeten. – Während der junge Deutsche sich um das in einem Topf auf den Kohlen stehende Abendessen – gekochtes Biberfleisch mit Skorbutkraut-Würze – kümmerte, schnitzelte Matipa an einem Pfeile herum, paßte einen scharfen Knochensplitter als Spitze zurecht und befestigte ihn an dem Schaft mit Sehnen, die vorher in flüssig gemachtes Harz getaucht waren. Hin und wieder wechselten die Gefährten ein paar Worte. Sonst waren sie gesprächiger. Heute beeinflußte sie aber doch die Unsicherheit ihrer Lage, und beide sehnten den Morgen herbei, um feststellen zu können, was aus dem fremden Kutter geworden war. Der Sturm heulte noch immer um die Felszacken, die den oberen Rand des Vulkankegels bildeten. Aber der Himmel war wieder klar geworden, und über dem Talkessel glitzerte das Heer der unzähligen Sterne.

Jetzt war das Essen fertig. Die Freunde – denn das waren sie längst in der schönsten Bedeutung dieses Wortes – speisten mit gutem Appetit. Nachher begaben sie sich dann nach dem Ostteil des Felskessels, wo hinter einem gewaltigen Block sich der Zugang zu der auf die Terrasse hinausführenden Spalte befand. Matipa wollte, da inzwischen der Mond aufgegangen war, von der Terrasse aus den Südteil der Insel daraufhin mit den Augen absuchen, ob er vielleicht etwas von den fremden, unerbetenen Gästen bemerke.

Die Steinplatte wurde beiseite gerollt, und Matipa schlüpfte in die Felsspalte hinein, gefolgt von seinem weißen Freunde, der gleichfalls recht gespannt war, wie die Dinge draußen lagen. Beide wagten sich zunächst jedoch nicht aus der Spalte heraus, um in dem frischgefallenen Schnee keine Spuren zu hinterlassen. Immerhin vermochten sie auch so den südlichsten Teil des Eilandes zu überschauen. Das Licht des Vollmondes ließ den Schnee in bläulichem Glanze schimmern. Die dick beschneiten Kiefern und Lärchen sahen höchst phantastisch aus und warfen lange, schwarze Schatten auf die hellen Flächen. Hin und wieder wirbelte der Sturm den trockenen Schnee zu ganzen Wolken auf, die dann wie Nebelgebilde schnell wieder zerflatterten.

Einsam und verlassen schien die Insel dazuliegen. Schien …! – Plötzlich packte Matipa seines German-Freundes Arm mit hartem Griff und flüsterte:

„Menschen unterhalb der Terrasse …! Ich höre sie reden …“

Hart strengte jedoch seine Ohren umsonst an. Erst nach einer Weile vernahm auch er Stimmen, – einzelne Worte und Zurufe. Einiges davon verstand er.

Dann raunte der Aleute ihm zu:

„Urmia, der Oberhäuptling …!! Sie suchen nach Matipa! Schnell fort …!“

Eiligst wurde der Rückweg angetreten, die Steinpatte vorgewälzt, sorgfältig abgestützt und in der schwachen Dämmerung, die jetzt auf dem Grunde des Kraters herrschte, die Hütte wieder aufgesucht.

Matipas Gesicht war ernst und finster. Schweigend nahm er seinen Bogen zur Hand, hing den Köcher um und ergriff einen der Speere. Dann sagte er:

„Matipa hat seinem weißen Freunde nicht die Wahrheit gegeben. Urmia weiß, daß Matipa irgendwo auf den Aleuten Gold gefunden hat, das die Amerikaner noch mehr lieben als Hermelin- und Biberfelle. Matipa sollte dieses Geheimnis erpreßt werden. Man beschuldigte ihn des Mordes. Der Preis seiner Freiheit sollte die Goldader sein. – Matipa kannte den German-Freund noch nicht. Daher sagte er nicht alles. Jetzt Urmia da. Und Urmia weiß, daß Matipa hier. Aleutenfischer uns von weitem sehen und Oberhäuptling mitteilen. Männer auf der Terrasse davon sprechen. Weiße darunter, zwei Franzosen, Pelzjäger, böse Männer.“

Hart machte jetzt ein ziemlich bestürztes Gesicht. Die Sache sah nach alledem weit ernster aus, als er anfänglich gedacht hatte. Um des gleißenden Goldes willen ist schon mancher Mund stumm gemacht worden, dachte er. Und es fiel ihm auch ein, daß in dem nahen Alaska, hauptsächlich um Klondyke herum, reiche Goldschätze vor einigen zwanzig Jahren entdeckt waren und eine förmliche Völkerwanderung nach diesen unwirtlichen Gebieten veranlaßt hatten.

Matipa nahm jetzt noch seinen Bärenpelz über den Arm.

„Der German-Freund wird die Nacht schlafen, damit am Tage frisch. Matipa jetzt wachen.“

Und, Hart kurz zunickend, verließ er die Hütte. Dieser wußte, daß der Aleute sich von diesem Entschluß, allein für die Nachtstunden das Wächteramt zu übernehmen, nicht würde abbringen lassen, streckte sich daher auf sein Lager hin und versuchte einzuschlafen, nahm sich aber gleichzeitig auch vor, nach Mitternacht den Gefährten abzulösen.

 

4. Kapitel.

Die Granate des Himmels.

Nach einer Weile schlief Hart auch wirklich ein. Es war jedoch kein Schlummer, der ihn erquickte. Wilde Träume ängstigten ihn. Die aufregendsten Kampfszenen erlebte er, sah Matipa mit einem Pfeil in der Brust umsinken, wurde selbst von bärenstarken Armen gepackt und umgerissen … In diesem Augenblick ging das Traumgesicht in die Wirklichkeit über. Er öffnete die Augen … Jemand rüttelte ihn …

Es war Matipa. – „Mein weißer Freund nehme seine Waffen. Urmia und seine Leute sind in der Felsspalte. Steinplatte wegrollen wollen. Pulver haben und von Sprengen reden.“

Hart war mit einem Satz auf den Füßen. Während er die Speere, Pfeile und den Bogen ergriff, sagte er zu seinem farbigen Gefährten:

„Matipa, wenn die Angreifer sich sogar mit soviel Pulver versehen haben, um daran denken zu können, die Steinplatte auf diese Weise fortzuräumen, so sind wir nicht nur von See aus beobachtet worden, sondern fraglos hat ein Späher vorher die Vulkaninsel betreten und sich über den von uns stets benutzten Zugang zu unserem Talkessel hier unterrichtet. Es muß so sein! Bedenke auch, daß die Feinde gleich nach ihrer Landung die Terrasse aufgefunden haben.“

Matipa nickte ernst. „Urmia ebenso klug wie habgierig und hinterlistig! – – Gehen wir …!“

Hart hatte doch länger geschlafen, als er sich vorgenommen hatte. Draußen graute bereits der Morgen. Fahles Halbdunkel lagerte über dem Innern des Kraters. Und eiligst strebten die Gefährten nun dem bedrohten Punkte zu.

Als sie sich dem mächtigen, schräg an die Kraterwand lehnenden Felsblock näherten, der den Eingang zu der Felsspalte verdeckte, hörten sie bereits ein dumpfes Stampfen, als ob Steine festgerammt wurden. Sie krochen in den dreieckigen Zwischenraum hinein und suchten durch Befühlen der Stützen der Steinplatte festzustellen, ob diese sich gelockert hatten. Alles war jedoch in Ordnung. Inzwischen hatte das Stampfen jenseits der Steinplatte aufgehört. Jetzt vernahm man eine Stimme, die in schlechtem Englisch rief:

„Reiche mir die Zündschnur, Andre; alles ist jetzt fertig zum Ausräuchern der beiden Ratten.“

Die Steinplatte verschloß nun jedoch die Öffnung in der Kraterwand nicht derart genau, daß nicht hier und da noch eine kleine Öffnung geblieben wäre.

Matipa hatte sich das größte dieser Löcher herausgesucht und die Spitze eines auf der Bogensehne liegenden Pfeiles hindurchgeführt. Drüben brannte eine große Petroleumlaterne, so daß der Aleute zuweilen den Arm und den Kopf eines knienden Mannes erblicken konnte, der eine unter der Steinplatte angebrachte Sprengladung jetzt mit einem Zünder versehen wollte.

Matipa wartete den richtigen Moment ab, spanne den Bogen und ließ den Pfeil fortschnellen, worauf drüben sofort ein lauter Schmerzensschrei hörbar wurde. Der braune Jäger hatte nach der Hand des Mannes gezielt, der ohne Frage einer der mit Urmia verbündeten Franzosen gewesen war.

Der Aleute flüsterte Hart jetzt zu, man solle schnell die Stützen entfernen, den Stein etwas beiseite rücken und den Moment, wo der Feind durch den unvermuteten Pfeilschuß in Verwirrung geraten sei, dazu benutzen, um die Sprengladung zu entfernen.

Dies gelang tatsächlich, obwohl die jetzt an dem anderen Ende der Felsspalte befindlichen Leute sofort, als sie kaum die Absicht der beiden Gefährten bemerkt hatten, vorzudringen suchten, aber, von Matipa mit drei weiteren Pfeilen empfangen, schleunigst wieder sich zurückzogen.

Inzwischen hatte Hart den ledernen Pulversack aus dem Loche hervorgeholt. Gerade als man die Steinplatte wieder vorwälzte, feuerten die Gegner zwei Flintenschüsse ab, deren Kugeln jedoch fehlgingen. Nachdem dann die Holzstützen wieder festgekeilt waren, konnte dieser erste Angriff als abgeschlagen gelten.

Mittlerweile war es draußen vollständig hell geworden. Da kaum anzunehmen war, daß der Gegner noch über eine zweite zu einer Sprengung genügende Pulvermenge verfügte, hatten die in dem Felskessel Belagerten nur noch die Aufgabe, ein Eindringen des Feindes von oben durch die Krateröffnung zu verhindern. Es gab ja freilich noch einen dritten Zugang zu dem kleinen Felsentale, den durch den unterirdischen, von der Strömung durchflossenen Kanal und durch den aus diesen mündenden Felsengang, aber dieser schien Urmia und seinen Begleitern offenbar nicht bekannt zu sein, da sie sonst wohl den Versuch gemacht hätten, auf diese Weise in den Krater hineinzugelangen. Außerdem war die Strömung auch so reißend, daß es ein recht bedenkliches Wagnis darstellte, mit den Wassern in den dunklen Schlund unterzutauchen.

Hart bestimmte seinen braunen Freund jetzt dazu, sich in der Hütte für ein paar Stunden zum Schlafe niederzulegen. Er würde indessen schon acht geben, daß die Feinde nichts Unvermutetes unternähmen.

Matipa sah selbst ein, daß er seine Kräfte schonen müsse. Stand doch zu erwarten, daß Urmia gerade die dunkle Nacht zu einem neuen Angriff benutzen würde. – Nachdem die beiden Robinsons eine kräftige Mahlzeit eingenommen hatten, zog der Aleute sich in die Hütte zurück, während Hart sich etwa in der Mitte des Talkessels unter ein paar dichte, niedrige Kiefern legte, von wo aus er nach allen Seiten hin den oberen Rand des Kraters beobachten konnte.

Zwei Stunden vergingen jedoch, ohne daß sich etwas ereignete. Dann bemerkte der junge Deutsche auf dem mit zerklüfteten Felsstücken bedeckten Ring, den die stumpfe Spitze des Kraterkegels bildete, vier sich vorsichtig und lautlos hin und her bewegende Männer, die sämtlich in warme Fellanzüge gekleidet waren. Auch dort oben hatte der Schneesturm an einzelnen Stellen weiße Schanzen zusammengeweht, während an anderen wieder das nackte grauschwarze Gestein zutage trat. Da die Höhe der Felswände nur einige dreißig Meter betrug, konnte Hart die Gesichter der Leute ganz deutlich erkennen. Zwei davon waren tatsächlich Europäer und trugen Flinten über dem Rücken, während ihre Begleiter, ein jüngerer und ein älterer Aleute, nur Bogen und Pfeile besaßen. Nach einer Weile erschien dann noch ein fünfter, ein breitschultriger, kleiner und recht dicker Mann, der einen wertvollen Biberpelz mit den Haaren nach außen an hatte und dazu eine Kappe aus Otterfell trug, die mit Muscheln und Glasperlen reich[3] verziert war. Dieser Aleute war gleichfalls im Besitz eines modernen Hinterladergewehres, und Hart nahm sofort an, daß es der Oberhäuptling Urmia sei, den Matipa ihm ja als klein und dick geschildert hatte.

Die Leute schauten neugierig in den Krater hinab, wechselten des öfteren ihren Platz und spähten offenbar nach den beiden Belagerten aus. Dann schien Urmia sich mit den Franzosen zu beraten. Einer von diesen, ein langer, hagerer Bursche, von wenig vertrauenerweckendem Äußeren, legte sich nun platt auf eine vorspringende Felsnase und brüllte in englischer Sprache hinunter:

„He, Ihr beiden da – wir wollen mit Euch verhandeln, besonders mit dem Weißen! Meldet Euch mal …!“

Hart dachte jedoch gar nicht daran, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Er rührte sich nicht. Jetzt sah er auch, daß der zweite Franzose den rechten Arm in der Schlinge trug. Dies war also offenbar derjenige, der mit Matipas Pfeil innigste Bekanntschaft gemacht hatte.

Wieder rief der Franzose, jetzt schon in drohendem Tone:

„Wenn Ihr nicht sofort Antwort gebt, blasen wir Euch nachher eine Kugel durch Eure morschen Schädel – darauf könnt Ihr Euch verlassen!! – Nebenbei bemerkt, der weiße Spitzbube hat von uns nichts zu befürchten, wenn er nicht weiter gemeinsame Sache mit Matipa macht …! Aber den Matipa müssen wir lebendig haben – um jeden Preis!“

Hart mußte unwillkürlich lächeln. Die Widersprüche in den Worten des Franzosen waren doch zu unsinnig. Erst drohte der Mensch mit Erschießen, und dann gab er wieder zu, daß es ihnen darum zu tun war, den lebenden Matipa in ihre Gewalt zu bekommen.

Als Urmia und sein Anhang merkten, daß alle Unterhandlungsversuche umsonst waren, begannen der Oberhäuptling und der lange Franzose von der Südseite des Kraterrandes her die Hütte, die sie inzwischen doch erspäht hatten, mit ihren Flinten zu beschießen.

Hart durchzuckte ein heißer Schreck. Wenn die Steinwände auch sicheren Schutz vor den Kugeln boten, so war es doch immerhin möglich, daß eins der Geschosse durch eine der nur mit Moos verstopften Spalten den Weg ins Innere fand und Matipa verletzte.

Dann tauchte urplötzlich der Aleute vor der Hütte auf, rief Urmia ein paar Worte zu und lief nach rechts hin auf die durch die Steinplatte verschlossene Felsspalte zu, wo er hinter dem schrägen, mächtigen Gesteinblock verschwand.

Hart wußte nicht, was er davon halten sollte. Eine unbestimmte Unruhe packte ihn, zumal jetzt auch Urmia und dessen Leute nicht mehr zu sehen waren. Er erhob sich und eilte Matipa nach. Hinter dem Felsblock fand er die Steinplatte beiseite gerollt. Der Aleute war offenbar auf der Terrasse. Was er hier wollte, begriff der junge Deutsche nicht. Aber seine Unruhe wuchs. Hastig strebte er weiter vorwärts, bis er auf dem schmalen Felsenabsatz stand. Auch hier keine Spur von Matipa.

Dann aber erblickte Hart unterhalb der Terrasse ein Bild, das ihm sofort volle Klarheit über seines braunen Freundes Absichten gab. Dort standen die fünf Feinde im Kreise um Matipa herum, dem der lange Franzose gerade mit einem Riemen die Hände auf dem Rücken fesselte.

Jetzt hatte der andere Weiße Hart bemerkt. Er winkte ihm höhnisch mit der Hand zu und rief:

„Wir wünschen Ihnen angenehme Tage hier!! Im übrigen können Sie sich bei Matipa bedanken, daß wir Sie in Ruhe lassen. Er hat sich uns freiwillig gestellt.“

Dann setzte der Trupp sich nach dem Ostufer zu in Bewegung, wo der Kutter dicht am Strande verankert war. Und ehe Hart sich noch schlüssig werden konnte, was er tun solle, stach das Boot bereits in See, indem es mit seltener Kühnheit und Geschicklichkeit durch die gefährlichen Riffe und die Brandung gesteuert wurde.

Der junge Deutsche stand noch immer wie versteinert da. – Matipa hatte sich geopfert, um seinen Gefährten vor den Gewalttätigkeiten Urmias und dessen Begleiter zu schützen …!! Das war ein Edelmut, den Hart dem Aleuten doch nicht zugetraut hatte …! – Mit welchen Gefühlen sah er jetzt den Kutter einen nördlichen Kurs einschlagen …! Nun erst empfand er, wie sehr ihm dieser treue, brave Halbwilde ans Herz gewachsen war. Und der Gedanke, fortan hier auf der Vulkaninsel auf sich selbst angewiesen zu sein, bedrückte ihn so schwer, daß er seine Augen feucht werden fühlte.

Mit einemmal wurde seine Aufmerksamkeit jedoch durch einen seltsamen Ton erregt, der aus der Luft zu kommen schien. Der Himmel war völlig wolkenlos, so daß Hart deutlich den Lauf eines Meteoriten mit feurigem Schweif verfolgen konnte, der unter stets zunehmendem Heulen wie ein Artilleriegeschoß in Gestalt einer Feuerkugel von Süden her schräg auf das Meer zuflog.

Über diese Meteoriten sind die Gelehrten lange Zeit im unklaren gewesen. Die Ansicht, daß diese Himmelsgeschosse aus Mondvulkanen stammen, wurde später durch die auch von Humboldt vertretene Theorie verdrängt, nach der es sich um kleine Weltkörperchen handelt, die sich unabhängig von der Erdbahn um die Sonne bewegen und erst dann sichtbar werden, wenn sie in die die Erde umgebende Luftschicht eintreten. Durchschneiden sie die Erdatmosphäre nur, so erscheinen sie als Sternschnuppen; während man sie Meteoriten nennt, sobald sie der Erde so nahe kommen, daß sie von ihr angezogen werden und niederfallen. Sie bestehen entweder aus nickelhaltigem Eisen oder Stein mit allerlei Beimengungen, so daß man von Eisen- und Steinmeteoriten spricht. Eine besondere Eigentümlichkeit dieser aus dem Weltall kommenden Geschosse ist ihre Neigung in verschiedenem Abstand, bald näher, bald weiter von der Erde, zu zerplatzen, wodurch ein förmlicher Eisen- und Steinhagel hervorgerufen wird. 1803 ging ein solcher Steinhagel von etwa 3000 Steinen dicht bei der Stadt Aigle in der Normandie nieder, tötete viele Schafe und verletzte auch mehrere Menschen. 1844 wieder erfolgte bei Braunau das Herabstürzen eines Eisenmeteoriten, von dem Stücke von mehreren Zentnern Gewicht gefunden wurden. In der Nähe von Bahia hat man sogar einen Meteoriten von 140 Zentner entdeckt. –

Mit rasender Geschwindigkeit kam die Feuerkugel unter heulendem Sausen, während ihr Umfang größer und größer wurde und der lohende Schweif wie eine leuchtende Wolke hinterdrein zog, der Erde näher und näher. Dann erfolgte plötzlich ein Knall, als solle die Welt untergehen. Das in zahllose kleinere Projektile zerplatzende Himmelsgeschoß überschüttete nun in einem Umfang von einer Viertelmeile die See und auch die kleine Inselgruppe mit Sprengstücken in allen Größen. Eines von diesen war auch dicht vor der Terrasse eingeschlagen, so daß Hart von dem Luftdruck förmlich gegen die Felsen gedrückt wurde. Ein zweites aber hatte den Kutter getroffen. Mit weiten, entsetzten Augen sah der junge Deutsche, wie das Fahrzeug sich mit einemmal auf die Seite legte, immer tiefer und tiefer sank …

Hatten ihn schon der Meteorit, der furchtbare Knall und der Regen von Sprengstücken, die zischend im Wasser verschwanden, völlig betäubt, so war er jetzt vollends wie versteinert. Seine Blicke hingen wie gebannt auf dem sinkenden Kutter, mit dem zugleich auch sein brauner Freund in den Tiefen des Meeres ein nasses Grab finden mußte …

 

5. Kapitel.

Ein kleines Paradies.

Hart erwachte plötzlich aus dieser halben Erstarrung. – Täuschten ihn seine Augen, oder bewegte sich dort draußen auf einem Wrackstück des zerstörten Bootes wirklich ein Mensch …?!

Wenn es Matipa war …?! – Aber das konnte nicht sein …! Hatte man dem Ärmsten doch vorhin die Hände gefesselt, ehe man ihn nach dem Kutter brachte. Wie sollte also wohl sein treuer Gefährte auf die treibenden Planken gelangt sein …?! – Und doch, – – vielleicht – vielleicht war’s tatsächlich der Aleute, den die Vorsehung nicht untergehen lassen wollte …

Hart wußte nachher kaum, wie er so schnell den kleinen Fellnachen unter dem Schnee hervorgeschaufelt, wie er glücklich die Klippen passiert hatte. Jedenfalls ruderte er jetzt mit Aufbietung all seiner Kräfte der Stelle zu, wo er immer deutlicher ein paar Holzteile und darauf reitend einen Menschen auf den eisigen Fluten bemerkte. Immer kürzer wurde die Entfernung … Jetzt erkannte er diesen einzigen Überlebenden der Insassen des zertrümmerten Bootes …

Der Himmel hatte eingegriffen in die Geschicke der Menschen, hatte Schuldige gestraft, einen Unschuldigen errettet.

Es war Matipa. Er hob die Hand und winkte dem German-Freunde zu. Dann schwang er sich vorsichtig in den zerbrechlichen Nachen. Stumm reichten die beiden Gefährten sich die Hände, schauten sich freudestrahlend an. Sprechen konnten sie nicht. Ihre Herzen waren zu voll von jubelndem Glücksgefühl … –

Eiligst wurde nun die Rückfahrt nach der Vulkaninsel angetreten. Matipa ruderte, um sich Bewegung zu machen. Das Wasser gefror auf seinen Kleidungsstücken, und wenn er die Ruder kraftvoll durchzog, knisterten die Ärmel, als sollten sie zerbrechen. – Auch jetzt hielt die Vorsehung schützend ihre Hand über die Wiedervereinten gebreitet. Wohlbehalten langten sie auf ihrer Insel an, zogen schnell den Nachen auf den Strand und stürmten nach dem Krater, nach der Hütte, wo Matipa sich sofort ausziehen und die warmen Sachen seines weißen Freundes anziehen mußte. Ebenso hastig wurde dann ein starker Aufguß von Skorbutkraut gekocht, den der Aleute heiß, fast kochend, ausschlürfte.

Inzwischen tauschten die Freunde in rascher Folge Rede und Gegenrede aus. Matipa erklärte, er habe durchaus nicht die Absicht gehabt, seinem habgierigen Feinde die Goldader zu verraten, sondern gehofft, bei guter Gelegenheit entwischen zu können. Er sei eben fest davon überzeugt gewesen, daß es Urmia gelingen würde, sich der beiden Bewohner des Kraters zu bemächtigen, und deshalb sei blitzartig in ihm der Gedanke aufgetaucht, sich dem Oberhäuptling freiwillig auszuliefern.

Weiter wußte er zu berichten, daß es ihm, als ein wahrer Regen von Sprengstücken den Kutter traf, im entscheidenden Augenblick gelungen sei, die Riemen zu lockern und die Hände freizubekommen. Urmia und seine Genossen aber hätten, da sie im Hinterschiff dicht beieinander saßen, von einem großen mitten unter sie einschlagenden Projektil so schwere Verletzungen davongetragen, daß sie sofort im Wasser versanken. –

Der heiße Tee erfrischte Matipa so sehr, daß die Gefährten bereits eine Stunde später, als die Sonne schon dem westlichen Horizont sich näherte, den Krater verließen, um auf Harts Vorschlag zu versuchen, ob man nicht ein paar Stücke des Meteoriten unter dem Schnee ausgraben könne. In der glatten Schneedecke waren die Stellen deutlich zu bemerken, wo Teile der zerplatzten Feuerkugel eingedrungen waren. Tatsächlich gelang es den Freunden dann, eine ganze Menge von Stücken, die Hart sofort als Meteoreisen erkannte, nach dem Talkessel zu schaffen. Als er Matipa erklärte, aus welcher Masse diese verschieden großen, scharfkantigen, schweren Klumpen bestanden, wollte der Aleute sofort am nächsten Morgen zusehen, ob sich dieses Eisen auch schmieden lasse. Und das gelang wirklich über Erwarten gut, so daß man sich nun eine vollständige Werkstatt einrichtete, aus der im Laufe der Zeit nicht nur Pfeil- und Lanzenspitzen, sondern auch Nägel in allen Größen, Beile, Hämmer, Äxte und andere Werkzeuge hervorgingen, die es den beiden Robinsons ermöglichten, nicht nur ihre Hütte bedeutend wohnlicher auszustatten, sondern sich auch alle für ein größeres Boot notwendigen Eisenteile anzufertigen.

Mitte Februar konnten sie dann auch die beiden Kartoffelfelder abernten, die überreichen Ertrag lieferten. Die erste Mahlzeit, die nicht lediglich wie bisher aus Fleisch bestand, sondern bei der es noch gekochte Kartoffeln gab, kam Hart wie ein Schlemmeressen vor, zumal inzwischen auch die Heidel- und Preißelbeeren im Krater ebenfalls reif geworden waren, so daß sogar das Kompott nicht fehlte.

Das Leben auf der Vulkaninsel floß jetzt für die arbeitsamen und erfindungsreichen Gefährten friedlich und ohne Störung dahin. Eigentlich verging kein Tag, an dem sie nicht irgend etwas Neues schufen, um ihre Bequemlichkeiten zu vermehren. Neben der alten Steinhütte, die jetzt nur noch als Vorratsraum benutzt wurde, erhob sich ein fast zierliches Holzhäuschen mit einem Küchenanbau, mit Türen und Fenstern. Die fehlenden Glasscheiben ersetzten, wie überall bei den in kalten Gegenden beheimateten Naturvölkern straff gespannte Fischblasen, da unsere Robinsons mit selbstgefertigten Angelhaken auch eifrig den Meeresbewohnern nachstellten. Und in dem neuen Häuschen gab es sauber gearbeitete Stühle, Tische, Bettgestelle, Schränke, Wandbretter und vieles andere. Draußen aber waren die beiden Felder, in denen schon wieder eine frische Kartoffelsaat die ersten grünen Pflänzchen trieb, mit Holzzäunen umgeben, stand genau in der Mitte des Kraters sogar eine Laube. Kurz – der von den unterirdischen Feuern geheizte Talkessel war für die Freunde zu einem kleinen Paradiese worden, während außerhalb der hohen Kraterwände die Natur noch unter Schnee und Eis begraben lag und rauhe Stürme das Meer aufwühlten.

In den ersten Tagen des April stieg die Temperatur dann in den Mittagstunden so weit, daß der Schnee wegzutauen begann. Jetzt fanden sich auch die ersten Seevögel auf den Inseln wieder ein, die Robben wurden zahlreicher und die Biber regten sich in ihren Kolonien und besserten ihre Kuppelbauten aus. Zwei Wochen später war fast aller Schnee verschwunden. Frische Gräser sproßten überall, die Bäume setzten Knospen an, und der Einzug des Frühlings machte sich weit und breit bemerkbar.

Jetzt hielt es Matipa an der Zeit, die an den Ufern des kleinen Flüßchens stehenden Birken anzubohren, um ihnen den Saft zu entziehen. In die in den Stamm gebohrten Löcher wurden Federkiele als Röhrchen eingeführt, so daß der Birkensaft in darunter angebrachte Gefäße tropfte. Durch Abdampfen erhielt man aus diesem Saft eine stark zuckerhaltige, dicke Flüssigkeit, die nach dem Erkalten so fest wurde, daß man sie in Stücke schneiden konnte. Dieser Birkenzucker diente nachher zum Einmachen der Heidel- und Preißelbeeren, eine Kunst, die die Ureinwohner der Aleuten ebenso wie die der Halbinsel Kamtschatka nicht etwa erst von den Europäern gelernt haben.

Nunmehr begann man auch mit den Vorbereitungen zum Bau eines seetüchtigen Bootes. An einer geschützten Stelle des Oststrandes zwischen zwei hohen Felsen wurde zunächst ein offener, mit einem Dach von Robbenfellen versehener Schuppen errichtet, der als Werft dienen sollte. Dann trug man das nötige Holz zusammen, gefällte Lärchen- und Birkenstämme, die man zum Teil von den anderen Inseln herüberholte. – Matipa war die Anfertigung eines Bootsgerippes nichts neues mehr. Aber auch Hart bewies jetzt, daß er infolge seiner technischen Vorbildung als Funkentelegraphist manches wußte, was seinem braunen Freunde neu war. Jedenfalls ließen sie sich bei dieser Arbeit reichlich Zeit, überlegten sich alles genau und schufen so in drei Monaten ein Fahrzeug, wie es auf einer Bauwerft kaum sauberer hätte hergestellt werden können.

Zwischenein vergaßen sie jedoch nicht etwa die Pelztierjagd. Nein – regelmäßig wurden Fallen für Hermeline aufgestellt, dann auch größere für Fischottern, die auf den Inseln äußerst zahlreich waren. So kam es, daß die Freunde im Monat Juli, als alles zur Abreise fertig war, Felle im Werte von ein paar tausend Mark besaßen.

Am 18. Juli nach ihrer Zeitrechnung, wollte man gerade in See stechen, als im Nordwesten die Rauchfahne eines Dampfers sichtbar wurde, der seinem Kurse nach dicht an der kleinen Gruppe vorüberkommen mußte.

Das Erscheinen dieses Schiffes kam den Freunden höchst ungelegen. Man konnte ja nicht wissen, wie die Besatzung des Dampfers sich verhalten würde, besonders wenn es ein amerikanisches Fahrzeug war, dessen Kapitän vielleicht etwas von der Flucht des angeblichen Mörders Matipa gehört hatte.

Mit einem leisen Gefühl der Wehmut nahmen die beiden Robinsons von der Vulkaninsel Abschied, die ihnen eine so freundliche Zufluchtstätte gewährt hatte. Ein steifer Nordwest füllte bald die aus dünn gegerbten Robbenfellen hergestellten Segel, so daß das leichte, und doch völlig seetüchtige Boot schnell in Fahrt kam und, jeder Wendung des Steuers augenblicklich gehorchend, glücklich die äußeren Riffe passierte und dann vor dem Winde nach Südosten zu davonschoß.

Eine Stunde später konnten die Gefährten nicht länger darüber im Zweifel sein, daß der Dampfer die Verfolgung aufgenommen habe. Er holte mächtig auf, und die dicken Qualmmassen, die seinem Schlote entstiegen, zeigten deutlich an, wie stark man drüben die Kessel heizte, um das Boot abzufangen.

Wieder eine halbe Stunde später tauchte vor den Flüchtlingen ein großer Segler auf, der mehrere Boote ausgesetzt hatte, die auf ein paar Walfische Jagd machten. Jetzt war ein Entrinnen unmöglich. Das sahen die Freunde nur zu gut ein und hielten daher auf die Brigg zu, deren Flagge sie erst recht spät als die der Republik Mexiko erkannten.

Da schöpfte Hart neue Hoffnung. Amerikaner und Mexikaner lebten seit Jahren in politischem Hader, – das wußte der junge Deutsche. War der Dampfer also amerikanischer Nationalität, so würde die Brigg sie vielleicht beschützen.

Doch die mexikanische Flagge blieb nicht die einzige angenehme Überraschung. Der Kapitän des Walfischfängers war ein geborener Österreicher aus Triest, und kaum hatte er erfahren, daß Hart ein Deutscher sei, als er auch schon durch einen Signalschuß seine Fangboote zurückrief. Nachher, als der Dampfer, tatsächlich ein Amerikaner, eine Pinasse herüberschickte und Auslieferung des Aleuten verlangte, empfing er die fremden Gäste, umgeben von seiner aus stämmigen Burschen bestehenden Mannschaft, und zwang sie schleunigst zur Rückkehr nach ihrem Schiffe, indem er erklärte, er würde es eher auf ein Handgemenge ankommen lassen, als die beiden Flüchtlinge herausgeben.

Der Dampfer verschwand denn auch unverrichteter Sache. Hart und Matipa machten dann noch eine monatelange Fahrt im Beringsmeer mit und landeten erst im November 1915 in dem kleinen mexikanischen Hafen Manzanillo, von wo aus sie, ohne sich wieder zu trennen, nach mancherlei Abenteuern über Holland nach Deutschland gelangten.

Hart hat als Funkentelegraphist auf einem Kreuzer dem Vaterlande noch dienen dürfen, während Matipa auf einer Werft in Emden als Arbeiter sein Brot verdiente.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Die Kolonie Hoffnungskap.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. „länglichrunden“ / „länglich runden“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „länglichrunden“ geändert.
  2. In der Vorlage steht: „hellloderndes“.
  3. In der Vorlage steht: „reicht“.