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Der Waldmensch von Tortaterra

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Der Waldmensch von Tortaterra.

 

W. Belka.

 

Wir stellen unseren lieben Lesern hiermit die Helden unserer Geschichte vor, und zwar dem Lebensalter nach:

Isaak Sauerkohl, 52 Jahre, klein, mager, beweglich; Geburtsort Warschau; Beruf Händler mit allem, woran etwas zu verdienen ist.

Doktor Gottfried Stollenbein, 31 Jahre, lang, noch magerer als Isaak Sauerkohl, unbeholfen, langsam, kurzsichtig; Geburtsort Elbing; Beruf Hauslehrer und Reisebegleiter.

Heinrich (Heinz) Prengel, 15 Jahre, kräftig, rechthaberisch, verwöhnt; Geburtsort Caracas im südamerikanischen Staate Venezuela.

Schließlich noch Wilhelm Stranke, 15 Jahre, für sein Alter auffallend groß und stark, bescheiden, schlau; Geburtsort Kiel; Beruf Schiffsjunge, aber ohne Einwilligung seiner Eltern. –

Noch eine Person gibt es, die in dieser Erzählung mit die Hauptrolle spielt. Die Nummer 5 können wir dem Leser aus Gründen, die sich jeder leicht selbst zusammen reimen kann, erst später vorstellen. – –

Sehen wir zu, was Sauerkohl, Stollenbein, Heinz und Willi (Wilhelm) am Abend des 18. Oktober 1906 treiben.

Die Sonne war vor einer halben Stunde untergegangen. Sanfte Abendwinde spielten mit dem Blätterschmuck der tropischen Bäume, unter denen die vier soeben Genannten lagerten. Ein künstlich von ihnen angelegter Wall von Dornen umgab den Platz, in dessen Mitte ein Feuer brannte. Über in die Erde gebohrten Ästen hingen verschiedene Kleidungsstücke, die feucht und schwer waren und in der Hitze des Feuers feine Dampfwolken aufsteigen ließen.

Soeben hatte der Händler, indem er seinen glänzend schwarzen Bart gedankenverloren streichelte, tief aufgeseufzt. Doktor Stollenbein wandte jetzt den Kopf nach ihm hin, nickte Isaak mit trauriger Miene zu und seufzte ebenfalls.

„Gott meiner Väter, wenn ich bedenke, daß ich bin geworden in einer halben Stunde wieder ein armer Mann, die Haare könnte ich mir ausraufen!“ sagte der kleine Händler. „Was haben Sie groß zu seufzen, Herr Doktor! Ihnen ist nicht verloren gegangen wie mir mit dem „Präsidento Kastro“ ein sauer erspartes Vermögen. Nu hab ich vorausschickt meine Familie nach Posen, wo wir haben gewollt erwerben die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Ärmsten sitzen jetzt da mit Geldmitteln, wo nur reichen für ein halbes Jahr …“ Heimlich zerdrückte er eine Träne und seufzte abermals und schwer.

Gottfried Stollenbein schüttelte jetzt vorwurfsvoll den Kopf, den eine überreiche Fülle fahlen blonden Haares umwallte, das er von Zeit zu Zeit mit einer gezierten Handbewegung aus der Stirn strich.

„Mein lieber Herr“, fragte er dann etwas gönnerhaft, indem er des Händlers Namen, der nur zu sehr an „Eisbein mit Sauerkraut“ erinnerte, verschluckte, „– gewiß, der Schiffbruch dieses elenden Dampfers, dem wir uns niemals hätten anvertrauen sollen, hat Ihnen Ihre irdischen Güter in Gestalt von Banknoten genommen. Aber mir ist mehr verloren gegangen, – ein Kind meiner Muse, das unter dem Himmel Venezuelas in dreijähriger Arbeit herangereift ist, ein Drama, das berufen gewesen wäre, selbst Schillers unsterbliche „Jungfrau von Orleans“ in den Schatten zustellen.“

Isaak Sauerkohl zuckte die Achseln. Von Poesie und ähnlichen Dingen hielt er sehr wenig. Und auch Willi, der Schiffsjunge, war frech genug, erst ein bißchen spöttisch zu lächeln, worauf er mit Nachdruck erklärte:

„Ich denke, die Hauptsache ist, daß wir das Leben gerettet haben, – vielleicht als die einzigen vom „Präsidento Kastro“, der Himmel hat uns offensichtlich in seinen Schutz genommen und uns in dem winzigen Boot glücklich auf dieser Insel landen lassen. Freilich – wenn wir weiter so untätig bleiben wie bisher und nicht dafür sorgen, uns hier häuslich einzurichten, so verdienen wir nichts besseres, als hier zu Grunde zu gehen. Seit heute nachmittag sitzen wir nun schon an dieser Stelle, und das einzige, was wir bisher geleistet haben, ist dieser Dornenwall, den ich für sehr überflüssig halte. Ich habe ja schon einmal betont, daß wir uns auf einem Eiland westlich der Azoren befinden müssen und daß es auf so einsamen Inseln keine Raubtiere gibt, vor denen man sich schützen müßte.“

Heinz Prengel schaute den Schiffsjungen hochmütig und verweisend an. Die anderen drei hatten Deutsch gesprochen, er bediente sich jetzt des Englischen. War er doch ebenso wie seine nach Caracas vor drei Jahren ausgewanderten Eltern nur zu schnell der deutschen Heimat entfremdet worden, obwohl Gottfried Stollenbein, den Herr Prengel damals als Hauslehrer für seine vier Kinder mit nach Venezuela genommen hatte, diesen Hang zur Ausländerei als alten deutschen Erbfehler nach Möglichkeit zu bekämpfen suchte.

„Du kannst Dich hier ja häuslich einrichten, wie Du Dich auszudrücken beliebst“, sagte er kurz. „Morgen werden wir anderen aber ein vorbeifahrendes Schiff heranwinken und unsere Reise fortsetzen. Das halte ich für das Vernünftigste.“

Willi Stranke schaute den Sohn des reichen Kaufmannes fast mitleidig an. Dessen hochmütige Art war ihm gleichgültig. Und so erwiderte er denn nur gelassen in deutscher Sprache:

„Ich verstehe gerade genug englisch, um aus dem eben Gehörten zu entnehmen, daß Du Deine Hoffnung auf ein vorbeikommendes Schiff setzt. Diese Hoffnung dürfte eine trügerische sein. Der Sturm, der unseren Dampfer den Untergang brachte, hat uns weit aus dem Kurse der Schiffsrouten verschlagen, die gewöhnlich von den Fahrzeugen eingehalten werden. Nur ein Zufall kann also ein Schiff herbeiführen. Und bis dahin dürften Wochen, ja Monate vergehen.“

Der Sohn des reichen Kaufmannes fuhr jetzt wütend auf.

„Ich habe Dir schon verschiedentlich verboten, mich mit Du anzureden! Ich verbitte mir diese Vertraulichkeit! Vergiß nicht, wer ich bin! Wagst Du diese Frechheit nochmals, so …“

Weiter kam er nicht. Über ihnen aus dem dichten Blattgewirr der Eiche tönte ein merkwürdiges, nervenerschütterndes Geheul herab, erst wie ein dumpfes Brüllen, das dann in ein gellendes Kreischen überging.

Entsetzt starrten die vier Schiffbrüchigen nach oben. Willi sprang jetzt auf und suchte den Urheber dieser schauerlichen Töne zu erspähen. Aber die Dunkelheit war bereits zu groß, um dort oben etwas unterscheiden zu können. Dann aber rauschten die Blätter, und blitzschnell schwang sich ein äußerst behendes Tier, das nur ein Riesenaffe – Gorilla oder Orang-Utan sein konnte, von Ast zu Ast und verschwand in dem dichten Walde nach Süden zu.

Heinz Prengel kroch schnell um das Feuer herum und drückte sich eng an den Doktor, der ebenso bleich wie sein Schüler geworden war. Der Händler verriet weit weniger Angst und sagte jetzt zu dem Schiffsjungen, der noch immer dem riesigen Waldbewohner nachschaute:

„Und da sagst Du noch, allhier gibt’s keine wilden Tiere …?! War das vielleicht e Lämmche, das eben hat gemacht so e beeses Geschrei …?! Ich will verlieren auf die Sekund’ den Rest von …“

Auch dieser Satz sollte nicht beendet werden. Ein neues Rauschen und Knacken im Blattgewirr, und dann flog ein armdicker, langer trockener Eichenast mit einer Kraft von oben herab mitten in das Feuer, daß die Brände auseinander stoben und ein Funkenregen sich über den Doktor und Heinz Prengel ergoß, die denn auch mit einem lauten Angstschrei hochfuhren.

Diesem ersten Wurfgeschoß folgte sofort ein zweites, welches haarscharf an des Schiffsjungen Kopf vorbei sauste und den dichterisch veranlagten Erzieher gegen das rechte Schienbein traf.

„Hierher!“ rief Willi Stranke laut, – „hierher in den Schutz der Dornenhecke! Alles der Länge nach niederwerfen …!“

Im Augenblick hatten die drei den Rat des Schiffsjungen befolgt. Dann kam auch schon ein drittes Geschoß herabgesaust, ein noch größeres Aststück, schlug auf den Grasboden auf und zersprang in drei Stücke.

„Wenn ich nur irgend eine Schußwaffe hätte!“ meinte Willi Stranke ingrimmig, indem er sich hinter dem Dornenverhau aufrichtete und wieder nach dem Angreifer ausspähte. „Ah – da sehe ich auch unseren Feind, – wenigstens einen dunkleren Fleck, der sich hin und her bewegt. Oben in den Ästen des Lorbeerbaumes klettert er umher. Es muß ein Gorilla oder dergleichen sein. Das ist sicher …“

Mit einemmal[1] sprang er auf, ergriff einen der größeren Brände und schleuderte ihn wie eine glühende Keule auf den verborgenen Feind. Wenn er auch diesen nicht traf, so erziele er doch immerhin eine gewisse Wirkung. Der Feuerbrand flog gegen einen starken Ast und sandte einen Funkenregen noch ein Stück höher hinauf. Und bei dieser Augenblicksbeleuchtung bemerkte der kühne Schiffsjunge nun deutlicher als vorhin den angriffslustigen Feind. Das aber, was er sah, entlockte ihm einen Ausruf des Staunens.

„Es ist doch kein Affe – nein, – ein Mensch – wahrhaftig, ein Mensch!!“

Isaak, der Händler, hatte das Bedrohliche der Lage anscheinend noch immer nicht erfaßt. Ärgerlich rief er nun Willi Stranke zu:

„Mach’ keine Witze!! Es ist ’n Aff’ …! Hat man gesehn je ’n Menschen, der so hopst wie ’n Vogel durch die Bäume …?!“

Der Schiffsjunge war schon wieder in den Schutz des Dornenwalles zurückgekehrt.

„Es war ein Mann, Herr Sauerkohl, – ein Mann, der einen seltsamen Anzug aus Fellen trägt“, erklärte er ganz aufgeregt. „Ich habe mich kaum getäuscht. Auf meine Augen ist Verlaß!“

Der Doktor und der eben noch so großsprecherische, anmaßende Heinz Prengel schwiegen bei dieser Auseinandersetzung, die sich noch eine Weile hinzog, vollständig. Schließlich gab sich auch der kleine, magere Händler zufrieden, indem er meinte: „Ob Mensch oder Aff’ bleibt sich gleich! Geschmissen hat er nach uns. Und deshalb soll der Gott meiner Väter ihn strafen mit Lähmung, mit Krankheit und Gebrechen. Auch ’ne Gemeinheit, so von oben mit harten Gegenständen zu zielen auf fremde Leut’, wo sich doch nicht wehren können!!“

Willi Stranke mußte lachen, ob er wollte oder nicht. Und dieses fröhliche Knabenlachen wirkte wie eine Erlösung auf die drei anderen Leidensgefährten des strammen Schiffsjungen. Da mittlerweile auch kein weiteres Geschoß herabgesaust war, wagte man sich nun wieder hinter der hohen Dornenbrustwehr hervor und sah nach, was eigentlich aus den zum Trocknen aufgehängt gewesenen Kleidungsstücken geworden sein mochte, von denen ein Teil infolge des Bombardements mit den zerstreuten Bränden des Feuers in recht unsanfte Berührung gekommen zu sein schien. Und da zeigte sich nun, daß die Jacken aller vier Schiffbrüchigen verschiedene Brandwunden davongetragen hatten. Diese Beschädigungen gaben Heinz Prengel Gelegenheit, abermals mit Willi einen Streit vom Zaun zu brechen, indem er ihm vorwarf, die Kleider wären heil geblieben, wenn man nicht dem dummen Vorschlage des Schiffsjungen gefolgt sein würde und die Sachen neben dem Feuer aufgehängt hätte.

Diese neue Herausforderung durch den anmaßenden, eingebildeten Heinz brachte nun auch des Schiffsjungen etwas träges Blut in Wallung, zumal weder Isaak Sauerkohl noch der Doktor für ihn Partei ergriffen und damit eine Undankbarkeit bewiesen, die Willi gegenüber insofern recht schlecht angebracht war, als dieser bisher allein die Anregung zu dem Wenigen gegeben hatte, was die vier einzigen Überlebenden des „Präsidento Kastro“ bisher zur ihrer Sicherheit und Bequemlichkeit getan hatten.

Willi Stranke nahm jetzt seine blaue, abgeschabte und nunmehr auch noch durch drei Brandlöcher weiter arg beschädigte Jacke unter dem Arm, zog die Dornen an einer Stelle auseinander, wandte sich nochmals mit einem: „Leben Sie wohl, und sehen Sie zu, wie Sie fernerhin ohne mich fertig werden!“ an seine drei Gefährten und verschwand im Dunkel der Nacht.

Jetzt kam Isaak Sauerkohl als erster zur Besinnung.

„He, Du, – mach’ keine Geschichten! Wie sollen denn wir drei werden geschützt vor dem Affenmenschen, wenn …“

Aber der Schiffsjunge war bereits nach dem Nordstrande der Insel zu davongeeilt.

„Eine schöne Bescherung!“ brummte der kleine Händler und maß Heinz Prengel nicht gerade mit liebevollen Blicken. „’s war doch e guter Kerl, der Willi, und wußte alles anzupacken mit de richtige Hand.“

Der Doktor nickte zerstreut. Auch ihm war es jetzt leid, daß der muntere, kecke Knabe sie verlassen hatte. Aber laut seiner Meinung Ausdruck zu geben, wagte er nicht recht. Er war eben ein Mensch, der mit jedem in Frieden leben wollte und der die scharfe Zunge seines Schülers, den er auf einem deutschen Gymnasium hatte unterbringen und dort weiter betreuen sollen, so etwas fürchtete.

Heinz Prengel lachte zu den anerkennenden Worten Isaaks nur kurz auf.

„Mag er laufen, der freche Bursche, der so gar keine Lebensart hat!“ sagte er, indem er verstohlen gähnte. Und fügte hinzu: „Sie könnten das Feuer wieder anfachen, Herr Sauerkohl. Und dann wollen wir uns schlafen legen. Ich bin müde. Vor dem Feuer scheuen sich selbst die blutgierigsten Bestien.“

„Nu, Ihnen werden auch nicht die Händ’ abfallen, junger Mann, wenn Sie mit zugreifen“, meinte der kleine Isaak spitz. „Denken Sie nicht, daß ich bin dazu da, um Sie zu bedienen! Das wär’ e Sach’!“

Gelassen griff er dann nach den eßbaren Kastanien, die Willi Stranke bald nach ihrer Landung auf der Insel gesammelt und geröstet hatte, stillte seinen Hunger und streckte sich zum Schlafe hin, nachdem er noch eine Menge Gras für eine weiche Lagerstatt ausgerupft hatte.

Mithin blieb dem verwöhnen Heinz nichts anderes übrig, als selbst die Hände zu rühren, wobei ihm der Doktor schweigend half. Und bald darauf lagen die drei in festem Schlummer hinter ihrem Dornenverhau. Den rätselhaften Angreifer hatten sie schon wieder vergessen.

– – – – – – – –

Der Schiffsjunge war inzwischen zum nahen Seestrande geeilt, wobei er sich auf einer kleinen Lichtung des Waldes hielt und scharf auf die Umgebung acht gab. Er bemerkte jedoch nichts Verdächtiges und fand auch bald am Meeresufer das halbzertrümmerte Boot vor, auf dem die vier Gefährten sich festgeklammert hatten und dann von den Wogen an Land getrieben waren. Die See hatte sich wieder beruhigt. Trotzdem war die Insel, die den Schiffbrüchigen Zuflucht gewährt hatte, noch immer von einer wütenden Brandung umtobt, die über den das Eiland umgebenden Riffkranz hinwegschäumte.

Die Nacht war trotz der Herbstzeit warm und lind. Daher beschloß der Knabe auch, hier am Strande den Morgen abzuwarten. Er kippte das kleine, jetzt unbrauchbar gewordene Rettungsboot des gesunkenen Dampfers und bereitete sich darunter eine Lagerstätte. Da es von den auslaufenden Wellen hoch auf das allmählich ansteigende Ufer geworfen war, lag es nunmehr völlig auf dem Trockenen, so daß er nur Gras und Laub zusammen zu sammeln brauchte, um sich einen ebenso sicheren wie windgeschützten Unterschlupf zu schaffen. Bald schlief er denn auch ein. Und erst das Kreischen und Lärmen einer Möwenschar, die sich am Strande um den Körper eines angeschwemmten toten Haifisches zankten, weckte ihn, als bereits die Sonne hoch am Himmel stand.

Ein starkes Hungergefühl trieb ihn zunächst nach einer nahen Gruppe riesiger Walnußbäume hin, unter denen er abgefallene Früchte in Menge fand. Nachdem er sich gesättigt hatte, gedachte er die Insel zu umwandern, um sich von deren Gestalt ein Bild machen zu können und gleichzeitig nach einem Platze Ausschau zu halten, der ihm für eine zukünftige Wohnung geeignet schien. Schon am Tage vorher, als er mit den drei Leidensgefährten gegen fünf Uhr nachmittags hier glücklich gelandet war, hatte er diesen eine nähere Besichtigung des Eilandes vorgeschlagen, ohne daß man auf ihn hörte. Nun wollte er das Versäumte nachholen.

Etwa zehn Minuten folgte Willi dem in großem Bogen verlaufenden Strande nach Osten zu. Dann bog das Meeresufer in scharfem Winkel nach Westen ab. Hier gab es nun eine tief in das Land einschneidende Bucht mit enger Einfahrt und waldumkränzten Gestaden. Das Sonnenlicht lag glänzend und schillernd auf dem stillen Wasser; Möwen und andere Seevögel schwebten darüber hin; zarte Düfte erfüllten die Luft, und die Uferpartien spiegelten sich mit allen Einzelheiten in der klaren Flut wider. Kurz – es war ein wunderschönes Fleckchen Erde, und sofort dachte der Knabe daran, hier seine Behausung aufzuschlagen, zumal ihm die Wanderung um die Bucht immer neue Reize dieses Ortes enthüllte. In der Westecke ragten zum Beispiel jene felsigen Hügel schroff aus den Wassern empor, die er vom Nordstrande aus schon gesehen hatte. Als er dann einen dieser vielleicht hundert Meter hohen, zerklüfteten Berge erklommen hatte, vermochte er die ganze Insel zu überschauen. Sie war kreisförmig bei einem Durchmesser von etwa einer halben Meile, aber durch die von Osten nach Westen sich hinziehende Bucht beinahe in zwei Stücke geteilt, die nicht nur ungefähr gleich groß waren, sondern auch landschaftlich dasselbe Bild darboten: weite, grüne Wälder, unterbrochen von Lichtungen, die mit langem Grase und Buschwerk bestanden waren. – Gerade auf der Grenze zwischen den beiden Inselhälften, von der Bucht nur durch die Hügelkette getrennt, auf der Willi Stranke sich jetzt befand, lag ein kleiner Binnensee und mitten darin ein einziges, mit Bäumen dicht bedecktes Eiland. Ein Bach aber bildete die Verbindung zwischen See und Bucht, schlängelte sich wie ein Silberband durch die Lichtungen hindurch und rief an einer Stelle, über einen steilen Felsen in der Hügelkette abstürzend, einen ganz stattlichen Wasserfall hervor.

Recht befriedigt von dem Geschauten machte der Knabe sich wieder auf den Rückweg nach dem Ufer der Bucht. Während er dann hier noch nach einem Platze suchte, wo er sich eine sichere Behausung anlegen konnte, traf er auf die ersten Spuren der früheren Anwesenheit von Menschen und zwar auf ein mit einem zerfallenem Holzzaun umfriedetes Stück Land, auf dem noch, vermischt mit Unkraut, Weizen mit kräftigen Halmen und dicken Ähren wuchs. Der Zaun war aus Ästen recht roh hergestellt gewesen, wahrscheinlich infolge Mangels geeigneter Werkzeuge. Bald hatte der Knabe auch so etwas wie einen Pfad entdeckt, der von dem Felde, nur noch schwer erkennbar, auf die Felsenhügel zulief. In einem kleinen Tale, das von dem Bache durchflossen wurde, stieß er dann auch auf eine eingestürzte Hütte aus Baumstämmen. Offenbar hatte diese aber nicht als Wohnung gedient, sondern nur als Vorratsraum, wie ein paar in ihrem Innern befindliche Behälter aus Baumrinde und einige vermoderte Weidenkörbe bewiesen. Der Pfad ging von der Hütte aus eine grasbewachsene Halde aufwärts und endete schließlich am Fuße der Felswand, über die schäumend und brausend der Wasserfall hinwegstürzte.

Willi Stranke war es nicht entgangen, daß dieser Teil des Pfades von der Vorratshütte bis zu dem Wasserfall mit Seemuscheln seiner Zeit sauber gepflastert gewesen sein mußte. Die Muscheln waren jetzt freilich von Gras zum größten Teil wieder überwuchert, bewirkten aber doch immer noch, daß dieser schmale Weg sich als hellere Linie von der Umgebung abhob. – Der Knabe suchte jetzt eine Weile vergeblich nach einer Fortsetzung des Pfades. Er sagte sich mit Recht, daß dieses plötzliche Aufhören des durch die Muscheln gekennzeichneten Weges so dicht vor der von dem breiten Schleier der herabfallenden Wassermassen verhüllten Felswand etwas Besonderes zu bedeuten haben müsse. Immer wieder ließ er seine Blicke spähend in die Runde schweifen. Er befand sich jetzt in einem schmalen, von Ost nach West sich ersteckenden Tale, dessen Ostseite die Felswand bildete, die die Schleier des schäumenden Baches verdeckten. In diesem Tale wuchsen eine große Menge von Dattelpalmen und darunter drei mächtige, breitausgeladene Kastanien. Während er noch nach weiteren Anzeichen einer menschlichen Ansiedlung ausschaute, glaubte er in den Ästen einer der Kastanien eine Bewegung wahrzunehmen. Und jetzt zuckte er erschreckt zusammen und warf sich schon im nächsten Augenblick hinter einen mit dicken schwarzen Früchten beladenen Brombeerstrauch.

Am Stamm des starken Baumes drüben war nämlich ein in Affenfelle gekleidetes Wesen blitzschnell herabgeglitten und schritt jetzt, gestützt auf einen keulenähnlichen Stock, über die Felsen in Richtung auf die Vorratshütte zu davon.

Es war ein Mensch, – ein Mann, – kein Zweifel!! Aber wie abschreckend war die Erscheinung dieses Unbekannten, der in dem weiten, mantelähnlichen Überwurf von Affenfellen, dann mit den ebenso bekleideten Beinen, dem von einer wahren Haar- und Bartmähne umwucherten Gesicht und den seltsam hastigen und doch so gewandten Bewegungen weit eher einem Untier als einem Menschen glich …!

Jetzt hatte der Knabe den Angreifer von der verflossenen Nacht bei hellem Tageslicht leibhaftig vor sich. Nun erst erkannte er, welch’ schlimmer Gegner dieser Mann sein mußte, dessen ganzer Körperbau die Kräfte eines Bären und dessen Bewegungen die Geschicklichkeit und Schnelligkeit eines Wiesels verrieten.

Plötzlich blieb das unheimliche Wesen stehen und hob etwas vom Boden auf. Der Knabe sah sofort, was der schreckliche Unbekannte jetzt so neugierig betrachtete. Es war eine Brombeerranke, die der Schiffsjunge vorhin mit seinem Taschenmesser abgeschnitten hatte, um sich an den Früchten zu laben.

Der Argwohn des Mannes in dem Fellanzuge, an dem noch die langen Affenschwänze hingen und den Eindruck des Außergewöhnlichen noch erhöhten, war erregt. Mißtrauisch blickte er sich um, bückte sich jetzt sogar, um vielleicht nach den Fußspuren dessen zu suchen, der die Ranke weggeworfen hatte. Keine hundert Meter war dieser verwilderte, offensichtlich halb zum Tier gewordene Mensch nur entfernt. Willi Strankes Herz begann immer schneller zu klopfen. Und in plötzlich jäh erwachender Angst schaute er sich nach einem Versteck um. Vielleicht war es Furcht, die ihm jetzt plötzlich schärfere Augen als vorhin verlieh. Dicht vor dem Wasserfall, vom weißen Gischt umschäumt, bemerkte er drei flache, große Steine mit rauher, zerrissener Oberfläche. Und in diesen Rissen steckten Muscheln – eine ganze Menge sogar … Das konnte kein Zufall sein – nie und nimmermehr! Nein – das war ein Zeichen, daß der Pfad doch noch weiterführte … Aber – wohin nur, wohin?! Benutzte man die Steine als Stützpunkte für die Füße, so gelangte man bis dicht vor die Mitte des Falles, gerade an eine Stelle, wo eine Felszacke die herabstürzenden Wasser teilte und so in dem die Felswand verdeckenden, fließenden Mantel eine schmale, freie Öffnung schuf, die nur von einem feinen Sprühregen ausgefüllt wurde.

Des Schiffsjungen Gedanken arbeiteten blitzschnell. – Vielleicht befand sich in dem Felsen hinter dem Wasserfall eine Grotte, vielleicht hatten in diesem Versteck die Leute gehaust, die hier einst vor vielen Jahren gelebt haben mußten …?! – Inzwischen war der Waldmensch langsam näher gekommen. Die Todesangst jagte Willi Stranke jetzt empor. Er hatte das Gesicht des unheimlichen Mannes soeben ganz deutlich gesehen. Und der Ausdruck dieser verzerrten Züge war derart von teuflischer Wut entstellt, daß dem Knaben der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Mit ein paar Sätzen war er am Bachufer, sprang von Stein zu Stein und dann auf gut Glück in die Spalte des Wasservorhanges hinein. Er landete tatsächlich auf trockenem Boden, stolperte allerdings und fiel lang hin, raffte sich aber schnell wieder auf und blickte um sich …

Hinter ihm lag es wie ein grünlicher Schleier. Es waren die dünnen Wasser des Falles, durch die das Tageslicht hindurchdrang. Und vor ihm erstreckte sich ein schnell immer schmaler werdender Gang in den Fels hinein, stieg langsam an und zeigte an seinem anderen Ende einen leuchtenden Fleck, als schiene dort die Sonne.

Noch war der Knabe nicht sicher, ob der schreckliche Unbekannte ihn nicht bemerkt habe und ihm nicht folgen würde. Angstvoll starrte er eine Weile auf den Schleier der unaufhörlich hinabgleitenden Wasser. Doch nichts geschah – nichts … Da erst wagte er es, tiefer in den Gang einzudringen. Dieser war etwa dreißig Meter lang und verlief nicht etwa nach Osten zu, der Richtung des Baches folgend, sondern nach Nordosten hin und endete auf der Sohle eines runden, tiefen Talkessels von kaum dreißig Meter Durchmesser, dessen Wände jäh wie Mauern anstiegen.

Einen schnellen Blick warf der Schiffsjunge über diesen seltsamen Ort. Dann wußte er, daß er die Niederlassung der früheren Bewohner der Insel gefunden hatte.

Dort an der gegenüberliegenden Wand erhob sich eine recht sauber gearbeitete Blockhütte. Davor war ein eingezäuntes Gärtchen angelegt, in dem allerlei Blumen üppig wucherten. Sogar Dattelpalmen und Lorbeerbäume waren hier angepflanzt worden und hatten bereits eine recht stattliche Größe erreicht.

Leuchtender Sonnenschein lagerte auf der Nordseite des Felsenkessels. Und kühn eilte der Knabe nun auf das Blockhaus zu, um es sich näher anzusehen. Es enthielt zwei Wohnräume, einen Küchenanbau und die notwendigen, recht primitiven Einrichtungsstücke. An der einen Wand aber hingen – und das war Willi Stranke jetzt die Hauptsache! – allerlei offenbar von den Ansiedlern selbstgefertigte Waffen und Geräte: Speere mit langen Eisenspitzen, Bogen, Köcher aus Baumrinde mit zahlreichen Pfeilen, eine Axt mit doppelter Schneide, zwei Beile und manches andere. – Im übrigen bot die Hütte nichts Bemerkenswertes dar. Nur auf dem plumpen Tisch in dem Wohnraum (das zweite Gelaß enthielt vier Lagerstätten) lag ein viereckiges, sauber geglättetes Brett, auf dem mit einem Messer mühsam lange Reihen von Worten eingeschnitten waren. Willi Stranke vermochte diese, seiner Meinung nach in spanischer Sprache niedergeschriebenen Aufzeichnungen nicht zu entziffern, da er des Spanischen nicht mächtig war. So ließ er die Tafel denn zunächst ruhig liegen, bewaffnete sich mit zwei Speeren, einem Beil und einem dolchartigen Messer und trat wieder ins Freie hinaus.

– – – – – – – –

Als er hier den Vorgarten genauer in Augenschein nahm, erblickte er zu seiner nicht geringen Überraschung zwischen einer Gruppe von Zypressen zwei Hügel, die nur Gräber vorstellen konnten, da an einer der Schmalseiten je ein sauber gearbeitetes Holzkreuz aufgestellt war. Auch diese Kreuze waren mit Inschriften in lateinischen Buchstaben und mit Daten versehen, und hier vermochte der Knabe herauszulesen, daß unter dem einen Hügel eine zu Lissabon am 3. März 1856 geborene und am 19. April 1884 verstorbene Inez Maria Anna Romanaros ruhte, während der andere die sterblichen Überreste der zu Tortaterra am 8. August 1883 geborenen und am 27. Dezember desselben Jahres verstorbenen Inez Mafalda Josepha Romanaros enthielt.

Willi Stranke war nun ein recht heller Kopf, dem nicht so leicht etwas Besonderes entging. So fiel ihm denn bei der Inschrift des zweiten Kreuzes sofort auf, daß hier als Geburts- und Sterbeort derselbe Name – Tortaterra – wiederkehrte. Und sofort tauchte in ihm die den Umständen nach doch sehr naheliegende Vermutung auf, diese Insel hier könnte den Namen Tortaterra führen. Gleichzeitig dachte er aber auch an den sprachenkundigen Doktor Stollenbein, dem es sicher ein leichtes sein würde, die Aufzeichnungen auf der Tafel und die noch fehlenden Worte der Kreuzinschriften zu entziffern.

Dieser Gedanke veranlaßte ihn dazu, nochmals in die Blockhütte zurückzukehren und sowohl die Holztafel als auch noch weitere Waffen mitzunehmen, die für seine Gefährten bestimmt waren. Der Groll gegen die drei am Nordstrande Zurückgebliebenen war bei ihm längst wieder geschwunden. Und jetzt, wo er sich wieder ihrer erinnerte, beschlich ihn sogar etwas wie Sorge um ihr Wohlergehen. Wußte er doch nur zu gut, wie wenig jene sich in der Not würden helfen können und wie sehr ihnen jeder praktische Blick für das Notwendigste abging.

Nach einem nochmaligen kurzen Rundgang durch den Talkessel, wobei er feststellte, daß dieser nur den einen Zugang durch den Wasserfall besaß, trat er den Rückweg unter allerlei Vorsichtsmaßregeln an. Seiner Schätzung nach hatte er sich etwa eine Stunde in dem versteckten Talkessel aufgehalten, so daß er hoffen konnte, der unheimliche Mensch würde inzwischen wieder verschwunden sein.

Diese Annahme traf denn auch zu. Nachdem er durch den Sprühregen des Falles glücklich ins Freie gelangt war, spähte er vergeblich nach dem Fremden, der offenbar geistesgestört sein mußte, aus. Dann eilte er auf demselben Wege, den er vorhin gekommen, dem Nordstrande zu, um zu sehen, wie es seinen Gefährten ginge. Mit jedem Schritt, den er zurücklegte, wuchs seine Unruhe. Immer deutlicher wurde die Empfindung in ihm, daß auf dem alten Lagerplatz hinter dem Dornenverhau sich Dinge abgespielt haben müßten, bei denen der unheimliche Waldmensch eine Rolle spielte.

Schließlich kam Willi Stranke vor innerer Unruhe sogar ins Laufen, und ziemlich atemlos langte er daher bei dem halbzertrümmerten Boote an, bog hier nach Süden zu ab und durchquerte die Lichtung, an deren Südrande sich das Lager befand.

Plötzlich stutzte er. Gräßliche Töne, die ihn seine Waffen fester umklammern ließen, drangen zu ihm herüber.

Das konnte nur der wahnsinnige Inselbewohner sein …! Nur zu gut besann der Knabe sich auf dieses schauerliche Geheul von der verflossenen Nacht her.

Und jetzt vernahm er auch den gellenden Angstschrei einer jungen Kehle. – Heinz Prengel war’s, der sich in höchster Not befinden mußte. So schrie nur jemand, der den sicheren Tod vor Augen hat.

Der Schiffsjunge raste weiter. Einen der Speere nahm er wurfbereit in die Rechte. Und nun drang er in das Gebüsch ein, nun hatte er den Dornenwall vor sich. Dieser war trotz seiner Höhe nicht so dicht, um nicht hindurchblicken zu können. Was Willi Stranke jetzt erspähte, ließ ihm das Blut in den Adern erstarren.

Der Waldmensch mußte von oben her sich Zutritt in das Lager verschafft haben. Er kniete auf Heinz Prengel und schwang über dessen halb ins Gras gedrückten Kopf mit fürchterlichem Wutgeheul und einem abschreckend verzerrten Gesicht seine stockähnliche Keule. Der Doktor und der kleine Händler aber knieten in der anderen Ecke des Lagerplatzes mit bleichen Mienen und schienen vor Angst ebenfalls bereits halbtot zu sein.

Der Schiffsjunge zögerte keinen Augenblick, den Bedrängten beizuspringen. Um den Wahnsinnigen von seinem Opfer abzulenken, stieß er einen lauten Schrei aus und begann gleichzeitig die Dornen ohne Schonung seiner Hände auseinander zu reißen.

Auf Willis gellenden Ruf hin fuhr der Waldmensch mit einem Ruck mißtrauisch herum. Jetzt hatte er den mutigen Knaben erspäht, jetzt schnellte er empor und stürmte auf die Stelle des Walles zu, wo der Schiffsjunge bereits die obersten Dornenbündel entfernt hatte. Die Keule hiebbereit erhoben, stand er nun dem neuen Feinde auf kaum drei Meter gegenüber.

Da erst vermochte Willi Stranke mit einem Blick alle die abschreckenden Einzelheiten der Erscheinung des halb zum Tiere gewordenen Inselbewohners in sich aufzunehmen: Das von einer Schmutzkruste überzogene Gesicht mit den großen, flackernden Augen, das lange Kopf- und Barthaar, das stellenweise zu ganzen Klumpen sich verfilzt hatte, die krallenähnlichen Fingernägel und die wie aus Erz gegossene Muskulatur den rechten Unterarmes, die sich selbst unter der Schmutzborke deutlich abzeichnete.

Jedenfalls war dieser Wahnsinnige eine Gestalt, wie sie grausiger die Phantasie eines Malers kaum erfinden konnte. Und der Knabe fühlte jetzt auch, wie ein Gefühl der Schwäche ihn zu überwältigen drohte. Aber er biß die Zähne zusammen, hob jetzt, einer augenblicklichen Eingebung folgend, den Arm und schleuderte den Speer auf den unheimlichen Feind.

Und eine glückliche Fügung lenkte die Waffe. Dicht über dem rechten Handgelenk durchbohrte die lange Eisenspitze dem Geistesgestörten den die Keule haltenden Arm.

Ein fürchterlicher Wutschrei entrang sich der Kehle des Waldmenschen. Die Keule entfiel ihm, und, mit einem Ruck mit der Linken sich von dem Speere befreiend, sprang er mit einer geradezu unglaublichen Behendigkeit nach oben, erfaßte einen tief herabreichenden Eichenast, zog sich empor und schwang sich dann immer höher hinauf, bis er von der Eiche auf den nächsten Lorbeerbaum gelangen konnte, hinter dessen dichtem Blätterdach er bald verschwand. Und wenige Sekunden später verriet nur noch ein Rauschen in den Wipfeln des Waldes, ein Knacken und Brechen dürrer Zweige den Weg, den der abschreckende Geselle nahm.

Der kleine Händler bewies jetzt abermals, daß er von den drei Überfallenen doch über die besten Nerven verfügte. Bevor der Schiffsjunge noch die Dornen ganz auseinander gezerrt hatte, kniete Isaak Sauerkohl bereits neben dem ohnmächtigen Heinz und suchte ihn wieder zum Bewußtsein zu bringen, was auch bald gelang.

Nachher zeigte es sich aber, daß der Sohn des reichen Kaufmannes infolge der eben ausgestandenen Schrecken unfähig war, auch nur einen Schritt zu gehen. So hieb Willi Stranke denn schnell ein paar Äste ab, auf diesem brachte man den völlig Erschöpften nach dem Strande.

Der tapfere Schiffsjunge hatte inzwischen dem Händler und Doktor Stollenbein von seiner wichtigen Entdeckung kurz alles Nötige berichtet und vorgeschlagen, dort fürs erste in dem sicheren Versteck Aufenthalt zu nehmen.

Nach einer halben Stunde langten die vier vor dem Wasserfalle an. Es war keine Kleinigkeit, den Kranken, der jetzt völlig teilnahmslos dalag, durch den Wasservorhang in den Felsengang zu schaffen. Schließlich wurde auch das zuwege gebracht, und als man erst den unzugänglichen Talkessel betreten hatte, durfte man sich auch geborgen fühlen.

Schnell wurde für Heinz Prengel in der Blockhütte ein Lager bereitet. Dann holte Willi in einem aus einem Baumklotz von den früheren Bewohnern dieses Schlupfwinkels hergestellten Gefäß Wasser herbei, damit man dem bereits leicht Fiebernden Umschläge auf die heiße Stirn machen konnte. – Nachdem der Patient, bei dem offenbar ein schweres Nervenfieber im Anzuge war, versorgt war, fanden die drei übrigen Schiffbrüchigen endlich Zeit, ihre Lage in Ruhe zu besprechen.

Sowohl der kleine Händler als auch der Doktor konnten sich gar nicht genug tun mit Dankesbezeigungen für des wackeren Knaben mutiges Eingreifen. Und ganz von selbst kam es dazu, daß sie dessen Vorschlägen ohne weiteres zustimmten und ihm trotz seiner Jugend alle nötigen Anordnungen überließen.

In der Küche der Blockhütte hatte man nun auch mehrere von den früheren Bewohnern selbstgebrannte Tongefäße gefunden, und in einem dieser äußerlich wenig schönen, aber sonst durchaus brauchbaren Kochtöpfe bereitete der für sein Alter recht erfahrene Schiffsjunge jetzt einen Aufguß von Weidenrinde und Lorbeerblättern, der, wie er von seinen Besuchen verschiedener kleiner ausländischen Häfen her wußte, vielfach als Mittel gegen das Fieber benutzt wurde. Tatsächlich trat eine kleine Besserung ein, nachdem man Heinz Prengel von dem Tranke etwas eingeflößt hatte.

Während der rührige Isaak Sauerkohl dann bei dem Patienten wachte, nahmen die beiden ausgehungerten Deutschen eine reichliche Mahlzeit ein, die aus gerösteten Kastanien mit einem Nachtisch von Brombeeren bestand. Jetzt berichtete der Doktor dem wackeren Schiffsjungen auch von dem Ergebnis seiner Untersuchung der Holztafel und der Grabinschriften.

Die Aufzeichnungen auf der Tafel sowohl als auch die Inschriften auf den verwitterten Holzkreuzen waren in spanischer Sprache abgefaßt. Erstere hatten in deutscher Übersetzung folgenden Wortlaut:

„In der Heimat verarmt, zu Unrecht verfolgt wegen einer Reihe von Verbrechen, die ein anderer begangen hat, habe ich mir hier auf dieser Insel, die im Nordwesten der Azoren fernab von jeder bewohnten Küste liegt und die ich auf einer meiner Reisen einmal zufällig entdeckte, eine neue Heimat gegründet. Am 14. Juni 1881 bin ich mit meiner Frau und meinem zehnjährigen, leider geistesschwachen Sohne hier gelandet und zwar nach einer abenteuerlichen Flucht, die Verfolger dicht auf den Fersen. Um meine Anwesenheit zu verbergen, verbrannte ich den armseligen Kutter und versenkte die Reste. Durch Zufall fand ich diesen unzugänglichen Talkessel, der mich vor den Häschern schützte, die mit ihrem schnellsegelnden Schoner vier Tage lang in der Bucht der Insel blieben und nach uns suchten. – Das Glück wollte mir auch hier nicht lächeln. Krankheit der Meinen und widrig Naturereignisse, die meiner Hände Fleiß vernichteten, ließen mich die Insel bald Tortaterra – Land der Qualen – benennen. Am 8. August 1883 schenkte uns der Himmel ein Töchterchen. Die Freude über dieses glückliche Ereignis währte nicht lange. Schon im Dezember desselben Jahres starb unser jüngstes Kind wieder, und vier Monate darauf folgte ihm meine Frau, die ein Blitzstrahl erschlug. Kurz vorher war mein schwachsinniger Sohn uns entlaufen und hatte sich in den Wäldern verborgen, ohne je wieder zu unserer Hütte zurückzukehren. Diese Schicksalsschläge haben mich so tief niedergedrückt, daß ich auch meine Kräfte von Tag zu Tag mehr dahinschwinden fühle. Meine Versuche, Manuels wieder habhaft zu werden, blieben umsonst. Nur zweimal bekam ich ihn zu Gesicht. Jetzt merke ich, daß es mit mir zu Ende geht. Niemand wird mich begraben. Meine Gebeine werden dort bleichen, wo mich der Tod überrascht. – Denen aber, die diese Insel vielleicht auffinden sollten, sei gesagt, daß die Insel noch ein zweites Geheimnis enthält – wenn man eben dieses versteckte Tal mit seinem merkwürdigen Eingang als das erste Geheimnis ansieht. – Die Natur hat ihre seltsamen Launen, und die Wasserschleier des Baches verhüllen mehr, als es scheint. – Auf Tortaterra, den 2. Februar 1889 – Karlos Romanaros.“

Dies war in die Holztafel eingeschnitten. Die Inschriften auf den Kreuzen aber lauteten:

„Hier ruht die Gefährtin meines Lebens, Inez Maria Anna Romanaros, geboren zu Lissabon am 3. März 1856, verstorben auf Tortaterra am 19. April 1884,“

und

„unter diesem Hügel einem besseren Erwachen entgegen unser Kind Inez Mafalda Josepha Romanaros, geboren zu Tortaterra am 8. August 1883, verstorben dortselbst am 27. Dezember 1883.“

Der Doktor legte jetzt die Tafel aus der Hand und sagte zu dem Schiffsjungen, der mit nachdenklichem Gesicht dasaß:

„Es ist ohne Frage ein gebildeter Mann gewesen, der diese Aufzeichnungen niedergeschrieben hat. Geheimnisvoll wie seine letzte Wohnstätte muß auch das Leben dieses Romanaros gewesen sein. Und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß der gefährliche Waldmensch, dieser höchst unwillkommene Mitbewohner der Insel, sein schwachsinniger Sohn ist. – Was aber bedeutet der Hinweis darauf, daß die Wasserschleier des Baches mehr verhüllen, als es scheint …?! So drückt sich Romanaros doch in seinen Aufzeichnungen aus. – Es dürfte ratsam sein, diese Sache näher zu versuchen. Ich gebe offen zu, daß ich sehr gespannt bin, welche Lösung dieses Rätsel finden wird.“

„Da haben sie ganz recht, Herr Doktor“, erklärte Willi Stranke eifrig. „Auch ich brenne förmlich darauf festzustellen, wohin des armen Karlos Romanaros Andeutungen abzielen. Aber wichtiger erscheint es mir noch, sozusagen als Christenpflicht, uns des bedauernswerten Manuel[2] anzunehmen und wenigstens den Versuch zu machen, ihn wieder an menschliche Gesellschaft zu gewöhnen.“

Stollenbein nickte etwas beschämt. „Du hast wieder den Nagel auf den Kopf getroffen, Willi!“ sagte er herzlich, um dann fortzufahren: „Wie aber sollen wir uns dieses verwilderten, gefährlichen Mannes bemächtigen? – Gutwillig wird er sich uns nie anschließen – nie! Und – selbst wenn es uns gelingt ihn einzufangen, – wird er nicht immer wieder entfliehen?! Ich fürchte, Deinem Vorschlage stellen sich Schwierigkeiten in den Weg, die kaum zu überwinden sein dürften, mein lieber Junge.“

Willi mußte dem Doktor beipflichten. In seiner frischen Art meinte er dann aber, ihm würde schon irgend etwas einfallen, um diese Schwierigkeiten zu beheben. – Hiermit war dieses Thema vorläufig erledigt.

Der Rest des Tages brachte keine wichtigeren[3] Ereignisse mehr. Die drei Gefährten hatten noch genug in der Blockhütte zu tun, um sich einigermaßen wohnlich einzurichten und den Kranken zu bedienen, dessen Zustand sich gegen Abend wieder bedeutend verschlechterte.

Nach Eintritt der Dunkelheit wurde das Nachtmahl eingenommen, das wieder aus gerösteten Kastanien bestand. Der Schiffsjunge erbot sich dann freiwillig, bei Heinz bis ein Uhr morgens zu wachen. Nachher sollten ihn Isaak Sauerkohl und der Doktor ablösen.

Der Patient war wieder sehr unruhig so das Willi bisweilen Mühe hatte, ihn auf dem Lager festzuhalten. Überhaupt war es keine angenehme Aufgabe, in dem engen Raum, der nur durch das Mondlicht, welches durch die Fensteröffnung hereinflutete, erleuchtet wurde, Krankenwärter zu spielen. Gegen Mitternacht machte sich die Wirkung des fiebervertreibenden Trankes, den man Heinz wieder eingeflößt hatte, bemerkbar. Willi hatte sich gerade an das viereckige Fenster gestellt, um in das in das Silberlicht des Mondes getauchte Tal hinauszublicken, als er leise seinen Vornamen rufen hörte.

Der Kranke war zur Besinnung gekommen und bat um einen Schluck Wasser. Der Schiffsjunge beeilte sich, ihm eines der gefüllten Tongefäße an die Lippen zu setzen. Heinz schlürfte das kühle Naß in langen Zügen. Dann sank er wieder matt auf sein Lager zurück. Aber seine Rechte tastete zaghaft nach seines Retters Hand, die dieser ihm auch bereitwillig überließ.

„Ich habe Dich oft gekränkt“, sagte Heinz Prengel leise. „Verzeih’ mir … Ich habe mein Unrecht eingesehen. Und wenn ich erst wieder gesund bin, will ich Dir beweisen, daß ich mich glücklich schätzen würde, wenn Du mir auch meine sonstigen Schwächen abgewöhnst.“

Willi war herzlich erfreut, als so schnell eine völlige Aussöhnung mit dem verwöhnten und infolge unrichtiger Erziehung so überaus anmaßenden Knaben erfolgte. Aber mit dessen Genesung sollte es doch noch eine gute Weile dauern. Acht Tage vergingen, bevor der Kranke zum erstenmal sein Lager verlassen konnte. Inzwischen hatten sich die Lebensverhältnisse der vier Schiffbrüchigen aber auch wesentlich zu deren Vorteil verändert. Und dies war der Hauptsache wieder nur das Verdienst des Jüngsten unter ihnen. Er war es gewesen, der mit Hilfe von Bogen und Pfeil die ersten Wildtauben schoß, die, am Spieße gebraten oder im Topfe gekocht, manch kräftige Mahlzeit ergaben. Und ihm war es auch zuzuschreiben, daß man den Weizen zwischen flachen Steinen leidlich zu mahlen lernte, und bald in der Lage war, den Speisenzettel um manchen anderen Gang zu vermehren.

Von dem unglücklichen Manuel Romanaros hatte man während dieser Woche nichts mehr gesehen, so daß Willi bereits auf die Vermutung kam, die Stichwunde im Unterarm könnte dem halb zum Tier Herabgesunkenen verhängnisvoll geworden sein. – Mittlerweile hatte der Schiffsjunge auch die Umgebung des Talkessels genau sich angesehen und so festgestellt, daß dieser in der Mitte eines Plateaus lag, welches mit seinen steilen Wänden nur an einer Stelle mit Hilfe einer hohen Eiche zu erklimmen war, deren obersten Äste über diese unzugängliche Hochebene hinwegragten. Auch dem von Karlos Romanaros erwähnten zweiten Geheimnis hatte man nachgespürt, ohne jedoch irgend etwas entdecken zu können.

Dann aber brachte der Tag, an dem Heinz Prengel zum erstenmal, gestützt auf den Schiffsjungen, einen kurzen Spaziergang unternahm, eine solche Fülle von Überraschungen, daß die Schiffbrüchigen ihn nie wieder vergaßen.

– – – – – – – –

Das Verhältnis zwischen beiden Knaben war jetzt ein außerordentlich herzliches. Willis gutem Einfluß konnte man es auch zuschreiben, daß Heinz Prengel von seiner Ausländerei, diesem Hange für alles Fremde, gründlich geheilt wurde.

Am 27. Oktober war’s, als die beiden Knaben eng umschlungen langsam in der hellen Vormittagssonne in dem Talkessel auf und ab gingen, damit der Genesende sich wieder an den Aufenthalt in freier Luft gewöhne. Heinz konnte sich gar nicht genug darüber wundern, was seine drei Gefährten hier inzwischen alles geschaffen hatten. Ein Weizenfeld war entstanden, umgeben von einem leichten Zaun von Zweigwerk. Auf langen Gestellen lagen Datteln, um unter dem Einfluß der Sonnenstrahlen erst richtig zu jenen süßen, nahrhaften Früchten auszureifen, wie wir sie in Deutschland unter diesem Namen kennen. Ferner gab es jetzt dicht neben der Blockhütte einen offenen Schuppen, in dem eine von dem Schiffsjungen und dem kleinen Händler gebaute Mühle mit Handantrieb aufstellt war. Hier befand sich die Tischlerwerkstatt und die Schmiede, in denen sich hauptsächlich Isaak Sauerkohl betätigte, der für praktische Dinge einen recht offenen Blick hatte.

Dann ließ Heinz sich auch den geheimen Zugang zu der Niederlassung von Willi zeigen. Um bequemer aus- und eingehen zu können, hatte man einen leicht hin und her zu bewegenden Plankensteg gebaut, der bis zu dem ersten Steine außerhalb des Wasserfalles vorgerückt werden konnte.

Willi zündete jetzt eine Fackel an, um dem Freunde die Beschaffenheit der Örtlichkeit dicht hinter dem Wasserfalle zu zeigen. Links von der Mündung des Felsenganges auf den Wasserfall zu zog sich eine breite, natürliche Steinterrasse hin, die sich dann zu einer kleinen Grotte erweiterte. Hier hatten die Gefährten so und so oft jeden Winkel abgeleuchtet, um herauszufinden, was Karlos Romanaros mit seinen Andeutungen über ein zweites Geheimnis gemeint haben könne.

Sie standen jetzt am äußersten Rande der Felsstufe vor der Grotte. Ein halbes Meter unter ihnen brodelten, kochten und schäumten die Wasser des Falles, flossen die feuchten Gewebe dieses durchsichtigen Schleiers in ewigem Absturz zu Tal. Aus dem weißen Schaum unterhalb der Stufen ragten einige Äste heraus, die der Bach mit fortgeschwemmt und schließlich hier verankert hatte. Einer derselben war besonders lang. Spielend ergriff Willi Stranke ihn jetzt und zog daran. Das Licht der Fackel, die die Knaben in eine Felsspalte eingeklemmt hatten, war hell genug, um den Schiffsjungen erkennen zu lassen, daß von diesem Ast auffallenderweise alle Seitenzweige mit einem scharfen Instrument entfernt waren, so daß er eine gut vier Meter lange, glatte Stange bildete. Gleichzeitig fühlte Willi aber auch, wie schwer das im Wasser liegende Ende dieser Stange war. – Das mußte etwas zu bedeuten haben …!! Sofort schoß ihm der Gedanke durch den Kopf. – Und eilfertiger zog und zog er, bis er sie ganz dem nassen Element entrissen hatte.

Und was erblickten die beiden Freunde jetzt …?! – Wahrhaftig – da unten hing ein merkwürdiger, länglicher Gegenstand, der sich bei näherem Zusehen als ein aus Affenfellen gefertigter Ledersack entpuppte. Vier Lagen Affenhäute waren dazu verwandt worden, um ihm möglichst große Festigkeit zu geben. Jetzt in nassem Zustande war er sehr in die Länge gereckt. Trotzdem ließ sich erkennen, daß er irgend einen schweren Gegenstand enthielt.

Im Nu hatte Willi den Sack losgeknotet und das Lederband, mit dem er zugebunden war, entfernt. Neugierig griff er mit der Hand hinein, fühlte etwas wie kleine Steine darin und brachte eine Menge davon zum Vorschein.

Die Kiesel leuchteten im Schein der Fackel in rötlichgelbem Glanze. Eine seltsame Erregung bemächtigte sich da des Knaben. Die Steinchen, von denen manche nur erbsengroß waren, andere aber auch den Umfang einer Walnuß hatten, waren ja weit schwerer als gewöhnliche Kiesel.

„Heinz!“ rief Willi ganz laut, um das Geräusch der stürzenden Wassermassen zu übertönen, „Heinz – ich glaube fast, dies hier ist Gold – reines Gold!“ –

Und wenige Minuten später standen sie dann vor der Blockhütte und zeigten dem Doktor und dem kleinen Händler ihren Fund.

Isaak Sauerkohl kratzte mit dem Fingernagel auf einem der Kiesel herum. Sein Gesicht war hochgerötet, dann platzte er heraus:

„Gott meiner Väter, wer hätt’ geahnt so e Sach’!! Es ist Gold – Gold – pures Gold!“

Auch der Doktor vertrat dieselbe Ansicht. – Kein Wunder, daß es längere Zeit dauerte, ehe die Erregung der vier Robinsons sich wieder legte.

Alle waren davon überzeugt, daß unterhalb der Steinstufe hinter dem Wasserfall ein größeres Lager von Goldkörnern sich befinden würde, welches auszubeuten keine allzu großen Schwierigkeiten bieten konnte. Willi Stranke erklärte sich denn auch sofort bereit, in das kaum ein Meter tiefe Wasser hinabzusteigen und den Grund zu untersuchen. Gemeinsam wanderte man nach der Grotte, und bald hatte der Schiffsjunge unterhalb des Falles in dem Felsboden eine muldenartige Vertiefung durch Untertauchen und Betasten mit den Händen entdeckt, in der außer Steingeröll ein ganzes Lager von Goldkörnern aller Größen sich vorfand.

Die Freude über diese Reichtümer, die den vier Gefährten so mühelos in den Schoß gefallen waren, äußerte sich sehr verschieden. Jedenfalls blieb Willi Stranke auch jetzt am ruhigsten. – „Was hilft uns das Gold?!“ meinte er. „Die Hauptsache ist doch, daß wir bald Gelegenheit haben, nach Deutschland zu kommen!“

Da Heinz jetzt auch einen kleinen Schwächeanfall hatte, weil er seinen Kräften doch zu viel zugetraut hatte, kehrte man nach der Hütte zurück. Willi machte sich dann nach einem nahen Buchenwalde in Begleitung des Doktors auf den Weg, um einige Tauben zu schießen. Auch Stollenbein hatte in der Handhabung des Bogens sich eine leidliche Fertigkeit angeeignet. Die Bogen waren aus passenden Ästen des Lorbeerbaumes geschnitzt worden, da die in der Hütte aufgefundenen natürlich längst ihre Biegsamkeit verloren hatten. Willi Stranke war es zu danken, daß diese Schußwaffen recht gut gerieten. Die Pfeile, die der Spanier Romanaros seiner Zeit geschnitzt hatte, ließen sich dagegen noch verwenden.

Die beiden Gefährten bewegten sich wie immer so auch heute mit größter Vorsicht außerhalb des Talkessels. Gerade hatte Willi auf einer kleinen Lichtung hintereinander zwei Wildtauben erlegt, als der Doktor, der eben einen dritten Vogel beschlich, mit einem lauten Ausruf des Schreckens zurücksprang und in langen Sätzen sich dem Schiffsjungen wieder zugesellte.

„Der Waldmensch!!“ keuchte er atemlos. „Dort im Gebüsch liegt er … Als er mich sah, fletschte er die Zähne wie ein Raubtier … Der Schreck ist mir furchtbar in die Glieder gefahren …“

Willi spähte scharf nach der angegebenen Richtung hin, vermochte jedoch nichts zu bemerken.

„Haben Sie sich auch nicht getäuscht Herr Doktor?“ fragte er daher zweifelnd.

„Ausgeschlossen!! – Der Geistesgestörte lag lang am Boden, – das ist so sicher, als wir beide hier stehen.“

„Auf dem Rücken oder dem Bauche? – Trifft das letztere zu, so wollte er uns sicherlich überfallen,“ flüsterte Willi.

„Den Eindruck, als wollte er sich uns unbemerkt kriechend nähern, machte der Ärmste nicht“, erwiderte Stollenbein bestimmt. „Er lag auf dem Rücken, – hm – und eigentlich schien es wohl so, als ob er sich vergeblich zu erheben suchte. Möglicherweise ist er krank.“

Der Schiffsjunge ertrug diese Ungewißheit nicht länger. Mit zur Abwehr bereitgehaltenem Speere schlich er jetzt der Stelle zu, wo der Waldmensch liegen sollte.

Der Doktor hatte richtig beobachtet: halb unter einem Brombeerstrauche fand man den unglücklichen, fast ganz zum Tiere gewordenen Mann. Sein Gesicht war furchtbar verzerrt und auch jetzt versuchte er umsonst, auf die Füße zu kommen. – Der Knabe hatte auch bald gesehen, was dem Bedauernswerten fehlte. Dessen rechte Hand war zu einem unförmigen Klumpen aufgeschwollen und die Geschwulst zog sich noch weit den Arm hinauf.

Daß dies die Folgen der erlittenen Verwundung waren, unterlag keinem Zweifel. – Nach kurzer Beratung eilten die beiden Gefährten nun nach der Blockhütte zurück und holten sich mehrere selbstgefertigte Baststricke. Auch der kleine Händler schloß sich ihnen nachher an. Und es gelang dann wirklich, den zu keinem Widerstande mehr fähigen unter nicht allzu großen Schwierigkeiten gefesselt in den Talkessel zu bringen, wo man für ihn in der Hütte ein Lager errichtete, worauf Stollenbein, der einige medizinische Kenntnisse besaß, die vereiterte Wunde sofort in Behandlung nahm.

– – – – – – – –

In den nächsten vierzehn Tagen drehte sich in der kleinen Ansiedlung alles um den erkrankten Waldmenschen. Hätte Manuel nicht eine so kernige Gesundheit gehabt, so wäre er sicherlich seiner böse vernachlässigten Verletzung erlegen.

Es war rührend mit anzusehen, mit welch’ treuer Fürsorge sich die Schiffbrüchigen um den verwilderten Geistesschwachen bemühten. Dessen Pflege und Wartung bereitete die größten Schwierigkeiten, da er in den ersten Tagen nur mit Gewalt auf seinem Langer festgehalten werden konnte und er auch später noch verschiedene Fluchtversuche machte. So mußte er denn völlig als Gefangener behandelt werden, und es war keine leichte Aufgabe, den bärenstarken Mann zu zähmen. Der Doktor als der einzige, der die spanische Sprache beherrschte, zeigte sich jedoch unermüdlich, in dem widerspenstigen Patienten die Erinnerungen an die Kindheit und die Eltern zu wecken und ihm klarzumachen, daß man es nur gut mit ihm meine. Nach acht Tagen hatte Manuel Romanaros einen schlimmen Rückfall. Achtundvierzig Stunden lag er bewußtlos da, und erst jetzt in seinen wildesten Fieberphantasien stieß er einige Worte aus, nachdem er bisher seinen Gefühlen nur durch rein tierische Töne Ausdruck gegeben hatte. Als er wieder zu sich kam, als die Macht des Fiebers gebrochen war und er nun mit großen erstaunten Augen, wie zu neuem Leben erwacht, um sich schaute, fiel es dem Doktor sofort auf, daß der Blick dieser Augen ein ganz anderer war als vordem. Ein Schimmer von Verständnis für das, was um ihn her vorging, leuchtete in diesen Blicken, ebenso wie aus den Mienen des Kranken alles tierisch Wilde verschwunden war und dafür in das jetzt sauber gewaschene Gesicht ein fast milder, weicher Ausdruck getreten war.

Bald konnte kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß der eben überwundene Wundfieberanfall etwas zustande gebracht hatte, worauf niemand hoffen zu können gewagt hatte: die Trübung des Geistes war verschwunden! Manuel Romanaros war kein Schwachsinniger mehr. Vielmehr völlig gesundet. – Und von Tag zu Tag führte ihn der Doktor nun mehr und mehr in die Wirklichkeit zurück und erreichte es schließlich, daß der Spanier nach seiner vollkommenen Wiederherstellung ein höchst nützliches Mitglied der kleinen Kolonie wurde.

Immerhin war Manuel noch so viel Erinnerungsvermögen an die Zeit seines jahrzehntelangen Waldmenschendaseins geblieben, daß er sich darüber äußern konnte, wie er sich tatsächlich für einen in einen Affen verwandelten Menschen gehalten und wie und wo er in einem Baumwipfel in einem großen, aus Ästen hergestellten Nest gehaust habe.

Er lernte dann in kurzem eine Menge von deutschen Worten und Sätzen, so daß sich auch die drei anderen Schiffbrüchigen mit ihm verständigen konnten. Recht wertvoll wurde er für die Ansiedlung dadurch, daß er die unfreiwilligen Kolonisten auf verschiedene eßbare Früchte und besonders auf ein Knollengewächs aufmerksam machte, welches sowohl roh als gekocht und geröstet sehr gut schmeckte.

Inzwischen hatten Heinz und Willi die Insel in allen ihren Teilen durchstreift und auch auf der Spitze des höchsten Felsenhügels eine Art Seezeichen errichtet, um vorüberfahrenden Schiffen zu bedeuten, daß das Eiland bewohnt sei. Häufig beobachtete man auch Fahrzeuge, die am Horizont auftauchten. Aber keines kam so nahe heran, daß man es vielleicht durch Rauchsignale hätte herbeiberufen können. Trotzdem hofften die Gefährten mit Bestimmtheit darauf, daß über kurz oder lang ihnen die Stunde der Befreiung schlagen würde.

Die Witterung war im allgemeinen recht angenehm, selbst jetzt in den Wintermonaten, die sich nur durch häufige Regengüsse bemerkbar machten. Erwähnt sei noch, daß man mittlerweile auch die goldhaltige Mulde völlig ausgeräumt und Goldkörner gewonnen hatte, die nach Isaak Sauerkohls Schätzung einen Wert von gut anderthalb Millionen haben mußten. Dieser reiche Schatz gab die Veranlassung zu eingehenden Erörterungen über die Frage, ob Manuel nicht als der alleinige Besitzer dieser Reichtümer zu betrachten sei, da er doch der rechtmäßige Erbe des ersten Entdeckers der von den Wassern des Baches zusammengeschwemmten Goldkörner war. Der Streit wurde schließlich dadurch entschieden, daß der gegen seine deutschen Gefährten mit warmer Dankbarkeit erfüllte Spanier erklärte, jedes weitere Wort über die Sache sei überflüssig, da er verlange, der Schatz solle gleichmäßig unter alle fünf verteilt werden.

Bis zum Weihnachtsabend ereignete sich nichts von Bedeutung. Für dieses schönste Fest der Christenheit hatten die Schiffbrüchigen ganz besondere Vorbereitungen getroffen, an denen sich auch der andersgläubige kleine Händler beteiligte. Willi Stranke war es nach mehreren mißglückten Versuchen gelungen, aus dem Fett mehrerer erlegter Affen nach des Doktors Anweisung Kerzen anzufertigen, die ganz leidlich brannten. Da nun auf den Nordabhängen der Felseninsel auch eine Anzahl niedriger Nadelbäume vorkamen, war es nicht schwer, einen richtigen Weihnachtsbaum auszuschmücken. Und dieser erhielt als Putz nicht nur Lichte, sondern auch glänzende Sternchen, Kugeln und anderes mehr. Den ganzen Baumschmuck hatte Isaak Sauerkohl, der so etwas von der Goldschmiedekunst verstand, mit den einfachsten Instrumenten aus lauterem Golde hergestellt. Selten wird es einen Weihnachtsbaum gegeben haben, der sich einer so kostbaren Zier rühmen durfte wie der der Ansiedler von Tortaterra.

Gegen sechs Uhr nachmittags wurden die Kerzen angezündet, und Doktor Stollenbein, Heinz und Willi sangen dann tief ergriffen das alte, feierliche: „Stille Nacht, heilige Nacht …“ – Auf den kleinen Händler machte das Lied einen so tiefen Eindruck, daß er sich verstohlen mit der Hand die Augen wischte. Auch Manuel verriet eine seelische Bewegung, die sich bei ihm dadurch äußerte, daß er den Gefährten nochmals gerührt für alles dankte, was sie ihm gutes getan hatten.

Es war nur zu natürlich, daß an diesem Abend die Gedanken der Knaben den Spuren der Erinnerung ihrer ersten Kindheit folgten und daß sie manches Weihnachtsfest schilderten, welches sich ihrem Geiste aus irgend einem Grunde besonders deutlich eingeprägt hatte. Gerade als Willi Stranke dann in den Küchenanbau gegangen war, um das Abendessen vorzubereiten, hörte er aus der Ferne, vom Nachtwinde herübergetragen, einen leisen Knall, der wie ein Gewehrschuß klang. Gleich darauf vernahm er noch ein paar ähnliche schwache Detonationen, die ihn noch mehr stutzig machten. Er eilte in den Wohnraum der Hütte zurück, wo seine Mitteilung von den schußähnlichen Knallen nicht geringe Aufregung hervorrief. Alles eilte jetzt ins Freie, um zu lauschen. Ringsum blieben jedoch das Geräusch des Windes und das leise Brausen des Wasserfalles die einzigen Töne, die die nächtliche Stille unterbrachen. Trotzdem verharrte der Schiffsjunge bei der Ansicht, es seien Gewehrschüsse gewesen, die er vernommen habe und die unfehlbar in nächster Nähe des unzugänglichen Felsplateaus abgefeuert sein mußten, in dessen Mitte der Talkessel eingebettet lag. Er war es denn auch, der den Vorschlag machte, gemeinsam mit Heinz Prengel auf Kundschaft zu gehen. Dieser zeigte sich sofort bereit, da ihn das Abenteuerliche dieses nächtlichen Ganges mächtig lockte. Der Doktor wollte davon freilich nichts wissen. Seine Bedenken beachteten die Knaben zunächst nicht weiter. Schließlich kam es aber doch dahin, daß Heinz auf die Teilnahme verzichten mußte und Manuel für ihn einsprang. Dieser und der Schiffsjunge ergriffen Speer, Bogen und Pfeil und waren schnell verschwunden.

Der Mond stand schon gut eine halbe Stunde als volle Scheibe am klaren Nachthimmel und wetteiferte mit einem Heer zahlloser Sterne, Insel und Meer in ein helles Zwielicht zu tauchen. Den beiden Kundschaftern fiel es daher nicht schwer, jener Gegend zuzustreben, aus der der Windrichtung nach die Schüsse gefallen waren. Dieser Ort mußte westlich des Plateaus in dem flachen Tale liegen, das der Bach durchströmte.

Manuel, der bei weitem schärfere Sinne als der Schiffsjunge besaß, war stets einige Schritte voraus und huschte so lautlos vorwärts, daß Willi ihm kaum zu folgen vermochte.

Das von dem Bache durchflossene Tal war jedoch leer. Nirgends zeigte sich die Spur eines Menschen, geschweige denn mehrerer Personen. – Nach dieser vergeblichen Streife wandten die beiden Gefährten sich der Bucht zu, da Willi annahm, daß dort vielleicht ein Fahrzeug vor Anker gegangen sein könne. In der Tat bemerkten sie auch schon von weitem den Schein eines Feuers, das am Strande der Bucht brannte und um das sich eine Anzahl von Männern herumbewegte. Und zehn Minuten später lagen sie unweit des Feuers in einem Brombeergebüsch und beobachteten mit wachsender Erregung das Tun und Treiben von sechs Matrosen, die sich laut und jegliche Vorsicht außer acht lassend, miteinander unterhielten. Die Leute sprachen englisch, und daher konnte sich Willi sehr bald zusammenreimen, was hier vorgefallen war.

Die Matrosen gehörten zu einem holländischen Schoner, der eine sehr wertvolle Ladung von Stoffen aus England nach Mexiko hatte bringen sollen. Unterwegs war aber unter der Besatzung eine Meuterei ausgebrochen, man hatte den Kapitän und den Steuermann überwältigt und beide dann hier auf der Insel aussetzen wollen. Die Schiffsoffiziere hatten jedoch Gelegenheit gefunden, eines der in der Kapitänskajüte hängenden Gewehre an sich zu bringen, waren in der Jolle entflohen und dann auf dem Lande von den Meuterern verfolgt worden, wobei zwischen den Parteien mehrere Schüsse gewechselt wurden. Jetzt lagen beide wieder gefesselt im Vorschiff des Schoners, auf dem sich nur noch ein siebenter Matrose als Wächter befand.

Das Segelschiff war vom Ufer aus gut zu erkennen. Es lag etwa dreihundert Meter weit draußen in der Bucht. – Willi Strankes Entschluß war schnell gefaßt. Da nicht nur er selbst, sondern auch Manuel ein ausdauernder Schwimmer war, hatten sie den Schoner bald erreicht und konnten auch lautlos an einer mittschiffs herabhängenden Strickleiter an Bord klettern. Der Wächter saß Pfeife rauchend auf dem Kombüsenaufbau, und Manuels Riesenkräfte genügten vollauf, den halb betrunkenen Burschen in kurzem ohne jedes Geräusch zu überwältigen. Dann wurden der Kapitän und der Steuermann befreit, die ihren Rettern gar nicht genug danken konnten. Ersterer hielt es für ratsam, den an Land verbliebenen Meuterern das Großboot, das etwas abseits vom Feuer am Ufer lag, zu entführen, ein Unternehmen, welches dem gewandten Manuel ohne jeden Zwischenfall glückte. Die Jolle hing an einer Leine am Heck, und in ihr ruderten Willi und der Spanier nun einem entfernten Punkte der Bucht zu, von wo sie schleunigst nach dem Talkessel eilten und die Gefährten samt dem Goldschatze abholten. Inzwischen hatten die sechs Matrosen das Verschwinden des Großbootes bemerkt und sich am Ufer verteilt, um danach zu suchen. So kam es, daß man noch zwei der Leute unschädlich machen und mit an Bord des Schoners nehmen konnte. Dieser, der den Namen „Antje van Groningen“ führte, wurde dann glücklich aus der Bucht heraus aufs offene Meer gebracht und nahm hier sofort südöstlichen Kurs, um einen Hafen der Azoreninseln anzulaufen, von der Meuterei Meldung zu erstatten und die vier Engländer gefangennehmen zu lassen.

Unterwegs berichtete der Kapitän näheres über die Ursachen der Meuterei. Die Matrosen hatten lediglich aus Habgier gehandelt und die Ladung der „Antje van Groningen“ zu ihrem eigenen Nutzen irgendwo verkaufen wollen. Der Plan wurde nur durch die Dazwischenkunft der Schiffbrüchigen vereitelt. –

Genau einen Monat später landeten die fünf früheren Bewohner des Felsentales auf Tortaterra in Hamburg. Von hier reiste Isaak Sauerkohl leichten Herzens zu den Seinigen nach Posen, während der Doktor, Heinz, Willi und Manuel noch eine Woche zusammenblieben. Dann schlug auch für sie die Trennungsstunde. Die beiden ersteren begaben sich nach Berlin, wo Heinz Prengel ein Gymnasium besuchen sollte, während der Spanier von dem Schiffsjungen mit nach dessen Heimat genommen wurde. Willi Strankes Eltern verziehen ihrem Sohne gern die damalige Flucht aus der Heimat. Sahen sie doch, das aus ihrem Jungen schon jetzt ein ernster, strebsamer Mensch geworden war, der es auch ohne den leicht erworbenen Reichtum im Leben zu etwas bringen mußte.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Der Spuk von Schinglapa.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „einmmal“.
  2. In der Vorlage steht: „Mannuel“.
  3. In der Vorlage steht: „wichtigeiren“.