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Amitabhas Geheimnis

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Amitabhas Geheimnis.

 

W. Belka.

 

In einer der Offizierswohnungen der Kaserne des 5. indischen Artillerieregiments in Simla waren an einem Herbstabend des Jahres 1914 drei Engländer beisammen. Zwei davon trugen die Uniform eines Hauptmannes, der Dritte die Abzeichen eines Militärarztes.

Letzterer sagte soeben, indem er sich dabei eine Zigarette anzündete:

„Schießen Sie los Speetsbowe! Ich bin gespannt, weswegen Ihr beide mich für heute abend so geheimnisvoll eingeladen habt.“

Hauptmann Speetsbowe rückte seinen Korbsessel näher an den Doktor Shorkes’ heran.

„Die Sache verdient es auch, daß man ihr ein wenig Interesse entgegenbringt“, meinte er. „Wir, Lampser und ich, brauchen Sie zu einem hypnotischen Versuch. Wir wissen, daß Sie sich mit Hypnose wissenschaftlich viel beschäftigt haben. Freilich – bevor wir uns Ihnen vollständig anvertrauen, müßten Sie uns Ihr Ehrenwort geben, die ganze Geschichte geheimzuhalten. Dafür würden wir uns wieder verpflichten, daß Sie an dem Gewinn des Unternehmens, das wir planen, teilhaben sollen.“

Nach einigem Hin und Her gab der Doktor die Zusicherung in der gewünschten Form, während ihm gegenüber die beiden Hauptleute dasselbe taten.

Speetsbowe atmete offensichtlich erleichtert auf, als Shorkes so leichten Kaufes gewonnen war. In halbem Flüsterton erzählte er dem erstaunt aufhorchenden Doktor dann folgendes.

„Vor einigen Tagen haben Lampser und ich in der Opiumkneipe des Chinesen Fuang einen von dem schönen Gift völlig benebelten Mongolen belauscht, der im Opiumrausch allerlei unzusammenhängendes Zeug von einem Schatze vor sich hin schwatzte, welcher irgendwo im Tale des Satledsch verborgen liegen soll. Der Mann nannte dabei verschiedentlich auch den Namen des Dalai-Lama von Tibet (dies ist einer der beiden obersten Priester des Lamaismus, zugleich auch der weltliche Herrscher des Landes), dem der Schatz gehören soll. Gerade die häufige Erwähnung des Dalai-Lama erregte unsere Aufmerksamkeit deshalb, weil das Gerücht geht, dieser habe vor seiner Flucht vor dem anrückenden englischen Heere im Jahre 1904 die wertvollsten Kostbarkeiten seines Privatbesitzes aus Lhasa, der Hauptstadt Tibets, durch Vertraute fortschaffen lassen. Jedenfalls gewannen wir schließlich aus den wirren Reden des Mannes in Fuangs Opiumhöhle die Überzeugung, daß dieser hierüber bestimmtes wissen müsse. Wir haben ihn nicht aus den Augen verloren und am nächsten Tage festgestellt, daß der Bursche tatsächlich ein Tibeter, und zwar ein aus seinem Vaterlande verbannter Lama (Priester, Mönch) ist, der sich hier in Simla kümmerlich durchschlägt. Da der Lama – er heißt Amitabha – nun nie und nimmer sein Geheimnis freiwillig preisgeben wird, sollen Sie es ihm, Doktor, durch hypnotischen Befehl entreißen, das heißt, ihn hypnotisieren und ihn in diesem Zustande, wo er nicht mehr Herr seines Willens ist, dazu veranlassen, uns die Schatzgeschichte ganz eingehend zu erzählen. Wir haben Amitabha gleichfalls für heute abend unter einem Vorwande herbestellt, werden ihm Geld versprechen, wenn er sich unseren, besser Ihren Anordnungen fügt, und auf diese Weise hoffentlich ans Ziel gelangen.“

Eine Viertelstunde später erschien Amitabha auch wirklich. Die Aussicht, von weißen Sahibs (Herren) so viel Geld zu erhalten, um einen Monat sorgenfrei leben zu können, machte ihn schnell zu einem willfährigen Werkzeuge der drei Engländer.

Shorkes hatte ihn bald in hypnotischen Schlaf versetzt, so daß Speetsbowe den Doktor nun aufforderte, eine Reihe von Fragen an den Lama zu richten. Dieser antwortete ohne Zögern, und in kurzem hatte er, ahnungslos was mit ihm vorging, sein Geheimnis ausgeplaudert.

Der Dalai-Lama, der später in der Mongolei verschollen war, hatte tatsächlich einen Teil seiner Schätze durch fünf Vertraute nach dem Kloster Schinglapa im Tale[1] des Satledsch schaffen lassen, wo sie in den verborgenen Kellerräumen noch heute lagerten.

Zum Schluß mußte der Doktor noch fragen, ob nicht vielleicht einer der anderen vier damals mit der Fortbringung der Kostbarkeiten beauftragt gewesenen Lamas den Schatz inzwischen geraubt haben könne und ob Amitabha etwa dritten Personen bereits sein Geheimnis mitgeteilt habe.

Dieser erwiderte, die vier Lamas seien kurz nachher umgekommen. Das Geheimnis kennte jedoch noch ein Europäer, ein Deutscher, dem er es, weil er ihm zu großem Danke verpflichtet gewesen wäre, mitgeteilt und den er gleichzeitig dazu bewogen hätte, als Chinese verkleidet in das jedem Weißen verbotene Tibet einzudringen und die wertvollsten Stücke des Schatzes nach Simla zu bringen. Dieser Deutsche, der Klimke heiße, müsse sich längst in Schinglapa befinden, falls ihm unterwegs nicht ein Unglück zugestoßen sei.

Die Engländer waren arg enttäuscht. Hatten sie doch gehofft, daß es ihnen irgendwie glücken könnte, die Kostbarkeiten sich anzueignen. – Nachdem Amitabha von dem Doktor dann wieder aus dem hypnotischen Zustand aufgeweckt worden war, erhielt er sein Geld und wurde fortgeschickt.

Die Zurückbleibenden rückten noch näher zusammen und berieten ernsthaft, ob man nicht trotz des verd… Deutschen versuchen solle, bis Schinglapa sich durchzuschlagen und den ganzen Schatz oder doch das, was noch davon übrig war, nach Simla mitzunehmen. Daß dieser Plan in dieser Jahreszeit ein recht gefährliches Wagnis darstellte wußten die drei Verbündeten nur zu gut. Setzt doch die kalte Jahreszeit in den Bergen des Himalaja, den man überschreiten mußte, schon sehr früh ein. Dennoch war die Geldgier dieser drei Männer so groß, daß sie alle Bedenken zurückdrängten und den Entschluß faßten, Lampser und Speetsbowe sollten bei ihren Vorgesetzten einen längeren Urlaub beantragen, eine kleine Karawane in aller Heimlichkeit zusammenstellen und möglichst bald nach Tibet aufbrechen.

– – – – – – – –

Amitabha schlich scheu an dem Posten am Ausgang der Kaserne vorüber und beeilte sich, schnell wieder in dem Eingeborenenviertel von Simla unterzutauchen. Seit er den dem Dalai-Lama seinerzeit geleisteten Eid, über den Schatz Schinglapa ewiges Stillschweigen zu bewahren, gebrochen hatte, wurde der aus der Priesterkaste Ausgestoßene von den schlimmsten Gewissensbissen gequält, die er durch das Gift des Opiums in Fuangs versteckter Höhle zu betäuben suchte.

Auch jetzt taumelte er, von einem Schwächeanfall gepackt, wie ein Trunkener durch den nur den Eingeweihten bekannten Nebeneingang in die halbdunklen Kellerräume hinab, zahlte dem grinsenden Chinesen den Preis für eine doppelte Dosis und zog sich auf eine der leeren Lagerstätten zurück, wo er gierig den süßlichen Rauch der Opiumpfeife einzuziehen begann.

Fuang, ein fetter, höflich grinsender Geselle, hatte schon seit langem für den Tibeter, der ängstlich jeden Verkehr mied, besonderes Interesse. Mit seiner feinen Spürnase witterte er hinter Amitabhas Person irgend ein Geheimnis. Auch das war ihm aufgefallen, daß dessen einziger Freund, der kleine Deutsche, seit Monaten aus Simla verschwunden war und daß der Tibeter allen Fragen nach Klimkes Verbleib mit einem halb verlegenen Achselzucken begegnete. – Fuang war nur im Nebenberuf Opiumhöhlenbesitzer. – Sein Hauptgeschäft bestand in einer Speisewirtschaft, die über den Kellern im Erdgeschoß desselben Hauses lag und wegen ihrer Sauberkeit und Billigkeit einen guten Ruf hatte. In dieser Wirtschaft waren der Deutsche und der Tibeter früher tägliche Gäste gewesen. Kein Wunder also, daß es Fuang sofort auffiel, als jener Emil Klimke, dessen Namen seine Chinesenzunge nie richtig zu formen wußte, eines Tages ausblieb. – Wie gesagt, der schlaue Fuang witterte hinter dieser Freundschaft von Weiß und Gelbbraun etwas Besonderes, und deshalb setzte er sich jetzt auch einen Augenblick neben Amitabha nieder und begann mit ihm ein Gespräch. Der bereits von dem Gift ein wenig berauschte Tibeter ließ sich heute dann auch entgegen seiner sonstigen Vorsicht von dem Chinesen alles herauslocken, was sich in der Artilleriekaserne in der Wohnung des Hauptmanns Speetsbowe an diesem Abend zugetragen hatte.

Fuang war kein ungebildeter Mensch. Als Amitabhas ihm schilderte, wie der eine weiße Sahib ihn eine kleine glitzernde Glaskugel unverwandt habe anstarren lassen und ihm dabei mit den Fingerspitzen sanft über die Stirn gestrichen habe, worauf er dann wohl für eine Weile eingeschlafen sei, wußte der Chinese sofort Bescheid.

Die Offiziere hatten Amitabha hypnotisiert …! Und das doch fraglos zu einem bestimmten, für sie wichtigen Zweck. Sonst hätten sie doch nachher den Tibeter nicht so reichlich bezahlt …!

So kam es, daß Fuang, der stets eine Anzahl von gewandten Leuten für allerlei kleine, heimliche Dienste bei der Hand hatte, das Tun und Treiben der drei Engländer genau überwachen ließ und daß Speetsbowe und Lampser nach vierzehn Tagen, als ihre Karawane in dem Dorfe Havagunda dicht an der tibetischen Grenze abmarschbereit war, unter den angeworbenen Leuten auch zwei stattliche Pathams (ein indischer Volksstamm) hatten, die nichts anderes als Beauftragte des Chinesen waren und genau achtgeben sollten, zu welchem Zweck die Engländer in dieser ungünstigen Jahreszeit noch in Tibet, in das für jeden Europäer verbotene Land, eindringen wollten.

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Der Weststurm, der zwei Tage lang mit seltener Stärke das Flußtal des Satledsch entlanggebraust war und große Mengen Schnee an vielen Stellen zu meterhohen Schanzen zusammengetrieben hatte, flaute am Morgen des dritten Tages endlich ab. Das dichte Gewölk, das mit unheimlicher Schwere und Düsterheit fast ständig die Berggipfel des Himalaja, dieses ungeheuren, Tibet im Süden absperrenden Walles, verhüllt, war jetzt mit einem Mal verschwunden. Heller Sonnenschein lag über den enormen Bergzacken, verschneiten Gebirgspässen und tiefen Tälern.

An einer Stelle, die ziemlich genau südlich von Gartok, eine der größeren Städte des unwirtlichen Tibet liegt, flachen sich die Uferberge des Satledsch auf eine weite Strecke zu ausgedehnten Felsterrassen ab, die, übereinander liegende Hochflächen bildend, in ihrer stufenweisen Anordnung wie gigantische Treppen wirken, die zum Himmel emporzuführen scheinen. Und zwischen diesen Terrassen drängt sich im Sommer gurgelnd und schäumend der hier etwa 120 Meter breite Satledsch hindurch, der sich später in den weiten Ebenen Indiens in den Indus ergießt.

Jetzt waren die Oberschichten des Wassers des Satledsch zu Eis erstarrt, lagen unter dichtem Schnee begraben, der nicht ahnen ließ, daß darunter sich ungestüm ein Flußlauf den heißen Ebenen im Süden des Himalaja zudrängte.

Aus dieser weißen Fläche des vereisten, verschneiten Flusses ragte an einer Stelle in der Mitte eine kleine wildzerklüftete Felseninsel empor. Seltsam scharf hob sich das grauschwarze Gestein von den blendend klaren Schneemassen ab. Kein Baum, kein Strauch, nur spärliche Moose und Flechten wuchsen auf den Felsen, die sich hier und da zu phantastisch geformten Hügeln auftürmten.

Mit der Front nach Osten zu war auf der Ostseite dieser Insel in die hochragenden Gesteinmassen unter Benutzung einer breiten Felsspalte ein kleines Gebäude hineingebaut worden, ein Lamakloster, das mit den bleigefaßten, halberblindeten Fenstern seines Oberstockes wohl nur von demjenigen bemerkt wurde, der dicht davor stand. Über der niedrigen, buntbemalten Tür aus Zedernholz war ein flacher, länglich-viereckiger Stein befestigt, in dem die am meisten von den Anhängern des Lamaismus, dieser Abart der buddhistischen Religion, gebrauchte Gebetformel Om mani padme hum eingemeißelt war. („Kleinod in der Lotusblume, Amen!“)

Grade als ein paar Wölfe mit eingekniffenen Schwänzen, vom Flusse herkommend, an dem Eingangstor vorüber wechselten, wurde oben in dem kleinen Tempel eins der Fenster geöffnet und eine Stimme sagte in deutscher Sprache laut und vernehmlich:

„An diesem Wetter kam man doch mal wieder seine Freude haben! – – Wie wunderbar ist doch der Anblick dieser verschneiten Bergriesen, wie armselig kommt man sich als Mensch inmitten dieser gewaltigen Naturschönheiten vor …!“

Die Wölfe waren mit ein paar langen Sätzen eiligst verschwunden. Dafür erschienen jetzt in dem offenen Fenster die Köpfe zweier Männer mit verwilderten Bärten und tief in die Stirn und über die Ohren gezogenen Pelzkappen aus Wolfsfell.

Der kleinere der beiden, eine untersetzte, breitschultrige Gestalt, meinte jetzt, indem er auf die Fährte der Raubtiere im Schnee hindeutete:

„Schade, Herr Herrich, daß wir die Bestien verscheucht haben! Ich brauche notwendig für mich noch ein Paar warme Schuhe und hätte daher einem der scheuen Gesellen gern durch eine Kugel freundlichst eingeladen, mir seinen warmen Pelz für diesen hier recht rauhen Winter zu leihen.“

„Oh, die Wölfe entgehen uns nicht, lieber Klimke. Dafür will ich schon sorgen“, erwiderte der mit Herrich Angeredete. „Sobald wir wieder einen Yak (büffelähnlicher Wiederkäuer) erlegt haben, streuen wir vor der Jagdhütte die Gedärme als Köder aus und opfern eine Nacht. Dann bekommen wir sicher gleich mehrere schöne Felle zusammen.“

Jetzt erschien noch ein dritter Kopf am Fenster, der eines langaufgeschossenen Knaben mit hellen Augen und lebhaftem Mienenspiel, das eine große geistige Regsamkeit verriet.

„Wie wär’s Herr Herrich, wenn wir dieses Prachtwetter benutzen würden, um auf den Plateaus im Osten nach Yakfährten zu suchen?“ fragte der Junge eifrig. „Wir haben nun zwei volle Tage im Hause zugebracht, und da kann uns ein wenig Bewegung nicht schaden.“

„Paul hat recht“, stimmte Emil Klimke, der Berliner, fast begeistert zu. „Der Himmel ist klar, die Sonne scheint – worauf warten wir also?!“

Herrich schloß das Fenster. „Gut – ich bin einverstanden. Frühstücken wir schnell, und dann – auf zum fröhlichen Weidwerk!“

– – – – – – – –

Das kleine, von den früheren Bewohnern schon vor Jahren verlassene Kloster Schinglapa, in dem jetzt drei durch eine Verkettung merkwürdiger Umstände zusammengeführte Deutsche (vergl. hierzu das vorige Bändchen dieser Sammlung mit dem Titel „Der Spuk von Schinglapa“) in recht abenteuerlicher Weise hausten, besaß in seinem Obergeschoß außer vier Mönchszellen, die zu beiden Seiten eines breiten Ganges lagen, nur noch eine Küche und einen großen Vorratsraum.

Vier Wochen waren es her, seit Klimke, der bis dahin in einem anderen, noch weit seltsameren Schlupfwinkel gelebt hatte, aus seinem alten Heim ausgezogen und nach dem Kloster übergesiedelt war, wo Herrich und Paul Naumann – so hieß der frische, muntere Junge mit seinem vollen Namen – schon einige Zeit gewohnt hatten, nachdem sie, um einen geplanten Mordanschlag auf Herrichs Leben zu vereiteln, die Karawane heimlich verlassen hatten, mit der sie in einer Verkleidung glücklich aus Indien herausgekommen waren, wo man ihrer nur zu gern habhaft geworden wäre. Daß sie hatten fliehen müssen, daran war der Weltkrieg schuld, den Deutschlands Feinde freventlich aus reiner Ländergier entfesselt hatten. Beide, sowohl Herrich als der Knabe, trugen große Reichtümer bei sich, die sie in einem neutralen Lande in Sicherheit zu bringen gedachten, und zwar der erstere eine Menge von in Indien eingekauften Edelsteinen, der letztere das Vermögen seines von Engländern internierten Onkels, der bis zum Kriegsausbruch in Srinagar als Kaufmann einen weitverzweigten Handel betrieben hatte.

Die drei Gefährten, die sich zwei von den Mönchszellen im Oberstock sehr behaglich als Schlaf- und Wohnraum eingerichtet und sich noch vor Anbruch des Winters mit allerlei Notwendigem versehen hatten, waren schnell mit dem Frühstück fertig, zogen nun ihre Schafpelze über, ergriffen ihre Waffen und verließen das Jahrhunderte alte Gebäude, indem sie an einem Balken durch die Deckenöffnung, wo früher die von ihnen entfernte Treppe gemündet hatte, in das Erdgeschoß hinabkletterten, dessen Eingangspforte sie wieder durch ein von Klimke hergestelltes sicheres Schloß von außen verwahrten.

Rüstig schritten sie nach dem Südufer des Satledsch hinüber, bogen dann nach Osten ab und nahmen ihren Weg auf eine etwa eine Meile entfernte Hochebene zu, wo sog. Yakgras recht häufig war. Dieses Plateau fiel langsam nach dem Satledsch hin ab, war mit Felstrümmern übersät und bot daher auch Wölfen und Wildeseln zahlreiche Verstecke und geschützte Plätze.

Nach einem Marsche von anderthalb Stunden, der sie des tiefen Schnees wegen recht angestrengt hatte, war die Hochebene erreicht, und sehr bald bemerkten sie denn auch mehrere Yakfährten und fanden auch Stellen, wo die Tiere das harte Gras unter dem Schnee hervorgescharrt hatten.

Sie bewegten sich jetzt mit großer Achtsamkeit vorwärts, da sie jeden Augenblick auf ein Wild stoßen konnten. Klimke allerdings drängte immer wieder zur Eile. Ihn hatte bereits wieder das Jagdfieber gepackt, und dann neigte er nur zu leicht zu allerlei Unvorsichtigkeiten, wie er schon einige Male bei ähnlichen Anlässen bewiesen hatte.

Auch jetzt war er zumeist einige Schritte voraus, so daß Herrich ihn mehrmals halb scherzend warnte. – „Ein Kunstschütze sind Sie gerade nicht, lieber Klimke. Also halten Sie sich mehr im Hintergrunde und überlassen Sie mir den ersten Schuß!“ – So oder so ähnlich lauteten Herrichs Ermahnungen.

Dieser, der früher Offizier gewesen, war im Gegensatz zu Klimke ein sehr gewandter, erfahrener Jäger, der auch mit seiner veralteten Vorderladerbüchse gut umzugehen wußte.

Wieder war der Berliner den beiden anderen, die sich bei der Untersuchung der Fährten von ein paar Antilopen aufgehalten hatten, aus den Augen gekommen. Dann hörten Herrich und Paul kurz hintereinander zwei Schüsse. Sofort eilten sie in langen Sätzen auf Klimkes im Schnee deutlich sichtbarer Spur um einen Felshügel herum, getrieben von der dunklen Vorahnung, daß der Unvorsichtige sich vielleicht in Gefahr befinde.

Jetzt hatten sie wieder freies Gelände vor sich.

Für Herrich genügte ein Blick, um die Sachlage zu überschauen. – Etwa hundert Meter vor ihnen auf einem einzelnen, großen Steinblock stand Klimke, während drei alte Yakbullen versuchten, ihn mit den Hörnern von seiner Steinkanzel herabzustoßen. Die mächtigen Tiere mit dem zotteligen Behang brüllten dumpf vor Wut. In einiger Entfernung aber weidete, als ginge die Geschichte sie nicht das geringste an, eine kleine Herde Yaks, mühselig sich das Gras unter dem Schnee hervorsuchend. Es waren dies zumeist Kühe mit halb ausgewachsenen Kälbern.

Eigentlich bot Klimke, der, um den Hornstößen der nach ihm emporlangenden Yakbullen zu entgehen, abwechselnd die Füße hochhob und zuweilen sogar in die Luft sprang, wenn die Situation besonders bedrohlich war, ein recht komisches Bild dar. Deutlich konnte man seine scheltende Stimme vernehmen, die seine vierbeinigen Angreifer mit allerlei Schimpfworten belegte.

Trotzdem war seine Lage alles andere als ungefährlich. Der zur Wut gereizte Yak ist, so leicht er auch von den Tibetern gezähmt und dann als Haustier verwandt wird, ein schlimmer Gegner. Klimke zu Hilfe zu eilen, stellte daher ein nicht unbedenkliches Wagnis dar. Aber Herrich zögerte keinen Augenblick. Paul mußte ihm die Pistole reichen, die er schnell in die Außentasche seines Pelzes schob. Dann lief er auf den Felsblock zu. Die drei Yaks hatten zum Glück nur für den von ihnen eingeschlossenen menschlichen Feind Augen. So gelang es Herrich denn, dem einen Tier aus kurzer Entfernung eine gutgezielte Kugel von seitwärts in die Brust zu jagen. Auf den Knall des Schusses hin schnellten sich die Tiere mit einer Geschicklichkeit, die niemand ihnen zugetraut hätte, nach dem neuen Angreifer herum.

Herrich floh jetzt in kurzem Trab auf den Felshügel zu, den der Knabe inzwischen bereits erklommen hatte. Seine Absicht war, daß die Yaks ihn verfolgen und so von Klimke ablassen sollten. Die Rechnung stimmte nur insofern nicht, als der frühere Leutnant die Schnelligkeit dieser Bewohner der tibetischen Hochländer nicht berücksichtigt hatte. Einer der Yaks war den beiden anderen weit voraus. Mit unheimlicher Geschwindigkeit näherte er sich Herrich, der jetzt lief, was er laufen konnte. Schon hörte der Verfolgte das keuchende Atmen des mächtigen Tieres in seinem Rücken, schon schien es, als würde dieses ihn überrennen, als Herrich einen kurzen Haken schlug, so daß der Yak an ihm vorbei raste.

Ein Blick nach rückwärts belehrte Herrich, daß der getroffene Yak, der als letzter die Verfolgung mitmachte, sich soeben weidwund niedertat und daß Klimke, der jetzt Zeit gefunden hatte, sein Gewehr wieder zu laden, gleichfalls herbeigelaufen kam.

Mittlerweile waren die beiden anderen Yaks aber umgeschwenkt und rasten von verschiedenen Seiten wieder auf Herrich zu. Diesem war der Weg nach dem Felshügel nunmehr abgeschnitten. Einen Moment nur brauchte er, um sich über sein ferneres Verhalten klar zu werden. Im Nu hatte er sich seinen langen Schafpelz ausgezogen, warf die jetzt nutzlose Büchse in den Schnee und hielt sich bereit, ein Manöver zu versuchen, das sonst nur ein gewandter Stierkämpfer wagt.

Der vorderste Yak kam jetzt mit gesenktem Kopf herangeschossen. Der schwere Schafpelz, weit ausgebreitet, flog ihm, als seine Hörner den Deutschen fast schon berührten, über den Nacken. Gleichzeitig tat Herrich einen Sprung zur Seite. Das dicke Kleidungsstück verfing sich auf den Hörnern, legte sich dem Yak über die Augen. Mit heiserem Brüllen blieb dieser stehen, schüttelte wütend den mächtigen Schädel hin und her, um den Pelz loszuwerden. Es gelang ihm nicht. – Herrich stand jetzt dicht vor dem Tiere, das ihn mit seinem Leibe vor dem zweiten Angreifer decken sollte. Der jagte herbei, daß der Schnee in ganzen Wolken hochflog, wollte den menschlichen Feind auf die Hörner nehmen. Es kam anders. Der geblendete Yak hatte soeben zwei Schritte vorwärts getan und kam so dem anderen in den Weg. Mit dumpfem Krach prallten die beiden Tiere aufeinander, überschlugen sich und blieben, von der Gewalt des Stoßes halb betäubt, für einige Sekunden wie tot liegen. Diese gute Gelegenheit benutzte Herrich. Im Vertrauen auf die Durchschlagskraft der Nickelmantelgeschosse der Pistole feuerte er jedem der Yaks zwei Kugeln in die Stirn. Und die genügten vollständig. Umsonst suchten die Tiere nochmals auf die Beine zu kommen. Noch ein letztes Zittern lief jetzt durch die mächtigen Körper. Dann war der Sieg endgültig errungen.

Herrich zog seinen Pelz schleunigst wieder an und meinte zu Klimke, der sich wortreich bei ihm für die aufopfernde Hilfeleistung bedankte:

„Lassen Sie nur …! Gern geschehen! – Aber merken Sie sich das eine: man schießt stets nur auf einen Yak, der sich von den anderen abgesondert hat. Zu mehreren sind diese Wiederkäuer zu gefährlich.“

Klimke gab beschämt zu, sehr unbedacht gehandelt zu haben.

Da das Abenteuer jedoch ohne irgendwelche bösen Folgen geblieben war, man außerdem auch wieder frisches Fleisch in[2] Hülle und Fülle gewonnen hatte, stellte sich bei den drei Gefährten sehr bald wieder eine fröhliche Stimmung ein, zu der allerdings der strahlende Sonnenschein nicht wenig beitrug.

Es ist eine merkwürdige Erscheinung in Tibet, die auch der schwedische Forschungsreisende Sven Hedin, wohl der beste Kenner dieses Landes, erwähnt, daß dort weite Gebiete völlig wildarm sind, während es auch wieder bestimmte Gegenden gibt, in denen fast ein Überfluß an Getier vorhanden ist. Es ist nicht lediglich das Vorhandensein reichlicher Weiden, wodurch zum Beispiel Yaks, Antilopen, Wildesel und Wölfe gewisse Orte vorziehen. Hier sprechen wahrscheinlich für die Tiere noch andere Gründe mit, hinter die man bisher jedoch nicht gekommen ist.

So war denn auch die Hochebene, auf der die drei Deutschen sich jetzt befanden, ein förmlicher Sammelplatz für alles, was in den Bergen Tibets kreucht und fleucht. Besonders zahlreich gab es Antilopen, die jedoch so scheu waren, daß man auf Schußweite nie an sie herankam. Ganze Schwärme von Rabenvögeln tauchten ebenfalls hin und wieder auf, und ebenso konnte man verschiedene Aasgeier beobachten, die hoch in der Luft ihre Kreise zogen. Bedenkt man, daß Tibet größtenteils während sieben bis acht Monaten unter Schnee und Eis begraben liegt, weiter, welche Kälte die Tiere in diesem Lande zu überstehen haben (20 Grad unter Null sind nichts Außergewöhnliches!) und wie spärlich Pflanzenfresser hier Nahrung finden, so hat man den besten Beweis für eine seltene Anpassungsfähigkeit der Tierwelt an die klimatischen Verhältnisse vor sich.

Den Rückweg nahm man am Flusse entlang. Schon wollten die Deutschen nach Westen abbiegen, um auf dem kürzesten Wege auf dem vereisten Satledsch ihre Insel wieder zu erreichen, als Paul Naumann seine Gefährten auf eine Anzahl von Geiern und einen dichten Schwarm Raben aufmerksam machte, die weiter nach Osten zu unruhig über einer bestimmten Stelle kreisten.

Herrich vermutete sofort, daß es dort irgend etwas geben müsse, das die Vögel auf leichte Beute hoffen ließ. Man kehrte daher um und eilte dem vielleicht achthundert Meter entferntem Orte zu.

Schon von weitem sahen die Gefährten, daß in einem vorspringenden Winkel des Flußtales aus dem Schnee eine Anzahl dunkler Punkte hervorragte. Bald gewahrten sie dann auch ein großes Zelt, das vollkommen eingeschneit und daher erst aus der Nähe als solches zu erkennen war.

Der Anblick, der sich dann den Deutschen darbot, war so grausig, daß sie zuerst nur von weitem dieses Bild des Schreckens zu betrachten wagten.

Was sie hier vor sich sahen, waren die Reste einer Karawane, der der Schneesturm und die Kälte der beiden vorangegangenen Tage den Untergang gebracht hatten.

Zehn tote Pferde, steif wie Bretter gefroren, streckten die Beine hoch in die Luft. Dicht an der Felswand wieder zeichneten sich im Schnee die Gestalten von sechs Menschen ab. Das Gepäck der Karawane war als Wall gegen den Sturm sauber aufgeschichtet worden. Dahinter lagen noch zwei Leute.

Herrich überwand als erster seine Scheu, trat näher und lüftete den Ledervorhang des Zeltes. Dieses war jedoch leer. Zwei Reisematratzen waren hier als Betten ausgebreitet, und auch sonst verrieten verschiedene Gegenstände, daß die Bewohner fraglos gewisse Ansprüche an Bequemlichkeit stellten.

Dann wurden die Menschen aus dem Schnee hervorgeholt und einzeln genau daraufhin untersucht, ob noch Leben in ihnen sei. Nur bei zweien konnte Herrich feststellen, daß das Herz noch leise schlug. Es waren dies die beiden, die hinter dem Wall der Gepäckstücke gelegen hatten.

Diese Männer, dem Stamme der Pathams angehörige Inder, hatten wohl nur deshalb das Unwetter lebend überstanden, weil sie über sehr warme, offenbar ganz neue Kleider und Pelze verfügten. Nach längeren Bemühungen brachte man sie durch Reiben mit Schnee ins Bewußtsein zurück. Da sie jedoch viel zu schwach waren, um zu Fuß den Weg bis zum Kloster zurückzulegen, fertigte der geschickte Klimke aus den Stangen des Zeltes eine Art Schlitten an, auf dem man die Leute nach Schinglapa zu schaffen gedachte.

Mittlerweile hatte der rührige Knabe die Umgebung des Todeslagers abgesucht. Hierbei waren ihm die Spuren von zwei Männern aufgefallen, die nach Osten zu das Flußtal entlanggewandert waren. Merkwürdig schien, daß die Leute ohne Frage erst das Lager heute morgen verlassen hatten, nachdem der Orkan aufgehört hatte. Dies ergab sich aus den scharf in dem Schnee ausgeprägten und nicht im geringsten verwehten Fährten. – Als Paul jetzt den früheren Leutnant auf seine Entdeckung aufmerksam machte, erklärte dieser sofort, es könne sich hier nur um die beiden Insassen des Zeltes handeln, denen der Orkan sicher nur wenig angetan hätte.

Um den Spuren zu folgen, fehlte jetzt die Zeit. Herrich meinte, nach diesen zwei Überlebenden könne man erst am Nachmittag suchen. Zunächst müßten die Inder nach dem Kloster gebracht werden. Außerdem sei anzunehmen, daß die beiden Zeltbewohner hier nach dem Lagerplatz zurückkehren, die Schlittenspur bemerken und dieser folgen würden.

Klimke und Paul spannten sich dann vor den Schlitten, nachdem die Leichen noch schnell in einer Felsspalte geborgen waren, und im Eilmarsch ging’s nun auf die kleine Insel zu. Unterwegs sagte Klimke, der eine Weile ganz gegen seine sonstige Gewohnheit recht schweigsam gewesen war:

„Eigentlich ist das Verhalten der beiden Leute, deren Fährte wir gesehen haben, doch recht merkwürdig. Sie scheinen auch nicht den geringsten Versuch gemacht zu haben, ihre Gefährten ins Leben zurückzurufen, haben sich überhaupt nicht um sie gekümmert! Das ist doch eine Gleichgültigkeit und Roheit, die gar nicht zu entschuldigen ist! Die beiden mußten sich doch sagen, daß immerhin noch die Möglichkeit bestand, daß einer der Leute dem weißen Tode noch nicht völlig zum Opfer gefallen war …!“

Herrich nickte ernst. „Ihre Empörung ist nur zu sehr berechtigt, lieber Klimke! Auch ich habe an dies alles schon gedacht. – Wenn sich die Pathams nur erst so weit erholt hätten, daß sie uns näheren Aufschluß über die Mitglieder der Karawane geben könnten …!“

– – – – – – – –

Als man etwa die Hälfte des Weges nach Schinglapa, immer dem Laufe des Satledsch folgend, zurückgelegt hatte, bemerkte der stets ein Stück vorauseilende und nach einer günstigen Bahn für den Schlitten ausspähende Herrich vor sich eine Fährte, die er mit den Augen eine lange Strecke weit ganz deutlich erkennen konnte. Bald hatte er festgestellt, daß diese Spuren nur von denselben beiden Männern herrühren konnten, deren sonderbares Verhalten auch bei ihm allerlei argwöhnische Gedanken wachgerufen hatte.

Die Fährten verliefen auffallenderweise in der Richtung nach dem Kloster hin, so daß Herrichs sich unwillkürlich mit einem Male eine gewisse Unruhe bemächtigte. Das Bewußtsein, zwei Fremde vor sich zu haben, von deren Charakterveranlagung man bereits wenig günstige Beweise erhalten hatte und die womöglich das alte Gebäude entdeckten, was allerlei unliebsame Folgen haben konnte, trieb ihn jetzt noch eiliger als bisher vorwärts.

Nachdem er Klimke und Paul kurz von seinen Bedenken verständigt hatte, löste er den Knaben ab und spannte sich selbst vor den Schlitten, auf dem die Pathams, in Decken aus dem Zelte gehüllt, lagen.

Eine halbe Stunde verging. Dem Berliner und Herrich war es doch mit der Zeit gehörig warm geworden Der Schweiß lief ihnen trotz der Kälte über die Gesichter. Endlich kam die Insel in Sicht. Und nun wurde auch hinsichtlich der beiden Fremden jeder Zweifel behoben: deren Fährte lief auf das Kloster zu …! – Da dessen Fenster nach Osten zu gingen und die drei Deutschen mit den glücklich Geretteten sich aus derselben Richtung näherten, erschien es Herrich für alle Fälle ratsam, erst einmal festzustellen, ob die beiden Leute noch in der Nähe seien. Er schickte Paul Naumann als den schnellfüßigsten daher voraus. – Der Knabe kehrte sehr bald zurück und meldete, daß die Spuren kurz vor der Insel nach Süden abbogen.

Hierdurch wieder beruhigt, eilte man jetzt ohne weitere Vorsichtsmaßregeln auf das Kloster zu. Paul, der die Eingangspforte öffnen wollte, befand sich bereits unmittelbar vor dem Gebäude, als eine laute Stimme ihm drohend halt gebot. Sie kam aus dem Mittelfenster des Oberstocks, und dort wurde nun auch ein in einen Pelz gekleideter Mann sichtbar, der ein Gewehr halb im Anschlag hielt.

Inzwischen hatten Herrich und Klimke mit dem Schlitten sich ebenfalls bis auf fünfzig Meter dem Hause genähert. Da erklang schon wieder die barsche, befehlende Stimme des Mannes oben im Fenster.

„Zurück — oder Ihr erhaltet eine Kugel! – Wer seid Ihr? – Heraus mit der Wahrheit! Und keiner rührt sich! Wir lassen nicht mit uns spaßen!“

Der Fremde bediente sich der englischen Sprache, daher rief Herrich jetzt auch auf englisch zurück:

„Drei Deutsche sind wir, die von ihrer Karawane abgekommen waren und die hier das Frühjahr erwarten wollten, um dann ihre Reise fortzusetzen. Im übrigen dürften wir einen besseren Anspruch auf dieses Gebäude haben als Sie …! Weshalb auch treten Sie uns gleich so feindlich gegenüber …?!“

Jetzt tauchte drüben am Fenster noch eine zweite Gestalt auf. Herrich sah, daß die beiden miteinander eine Weile flüsterten. Dann begann der erste Sprecher wieder:

„Heißt einer von Euch vielleicht Emil Klimke?“

Herrich gab es einen ordentlichen Ruck durch den Körper bei dieser Frage. Daß die beiden Leute Europäer waren, wahrscheinlich sogar Engländer, hatte er trotz der von den Pelzkapuzen halb verhüllten Gesichter längst gemerkt. Woher kannten sie aber Klimkes Namen? Was suchten sie hier zu Beginn des Winters in dem unwirtlichen Tibet? Weshalb hatten sie das Lager ihrer Karawane verlassen und benahmen sich so unhöflich gegenüber Leuten, die sie noch nie gesehen hatten …?!

Bevor Herrich noch mit sich einig wurde, was er antworten sollte, meldete sich der Berliner bereits selbst.

„Hier – ich heiße Emil Klimke!“ rief er in miserablem Englisch zurück. „Wenn Ihr etwa alte Bekannte von mir seid, so laßt uns gefälligst schleunigst in das Haus hinein! Es ist gerade kein Vergnügen, hier bei sicherlich zehn Grad Kälte im Freien …“

Weiter kam er nicht.

Der eine der Männer oben am Fenster hatte jetzt blitzschnell sein Gewehr erhoben und schlug auf die Gruppe drüben an.

Herrich war das nicht entgangen. Er stieß einen Warnungsruf aus, warf sich der Länge nach in den Schnee und griff nach Klimkes doppelläufiger Flinte, die geladen und gesichert auf dem Schlitten lag.

Da knallte auch schon ein Schuß. Er hatte Klimke gegolten. Der schrie auf, taumelte zurück, und seine Wolfskappe flog wirbelnd durch die Luft. Zwei Zentimeter tiefer, und der Berliner hätte die deutsche Heimat nie mehr wiedergesehen. So aber trug nur seine Pelzmütze ein Andenken an diesen Schurkenstrich davon.

Der einstige Leutnant riß jetzt gleichfalls die Flinte an die Schulter, zielte kurz und feuerte. Ob er getroffen hatte, vermochte er nicht festzustellen. Jedenfalls aber verschwanden die beiden Fremden vom Fenster, so daß die Deutschen sich und den Schlitten unbelästigt durch weitere Kugeln in Sicherheit bringen konnten.

Keuchend standen sie nun hinter einem vorspringenden Felsen, der ihnen vollständig Deckung bot.

Klimke schimpfte und belegte die Fremden mit Ausdrücken, die nicht gerade salonfähig waren, als Herrich etwas ungeduldig meinte:

„Hören Sie auf, Mann! Damit ändern wir die Lage nicht, daß wir hier recht nutzlose Drohungen ausstoßen. Und diese unsere Lage ist mehr als ernst.“

Klimke war jedoch nicht so leicht zu beruhigen. Kurz auflachend sagte er: „Ich finde, daß die Lage dieser beiden Halunken viel ernster als die unsrige ist, Herr Herrich. Sie sind die Belagerten, wir die Belagerer. Wenn wir uns das Gepäck der Karawane und das Zelttuch herholen, wenn wir die hölzernen Packsättel und das Holz der Kisten als Brennmaterial benutzen, halten wir es hier draußen im Freien schon ein paar Tage aus, eben bis wir Mittel und Wege gefunden haben, uns der jämmerlichen Gesellen da drinnen im Kloster zu bemächtigen. Die Hauptsache bleibt, daß wir keine Minute zögern, für eine Unterkunft für die Nacht zu sorgen“

Herrich kannte den Berliner schon genügend, um zu wissen, daß diese Anläufe zu einer besonderen Energieentfaltung bei Klimke nicht lediglich auf ergebnislose Phrasen hinausliefen.

„Bravo, Kamerad, – das war ein vernünftiges Wort zur rechten Zeit!“ meinte er anerkennend. „Gut, wir werden also …“

Da unterbrach Paul Naumann ihn erregt: „Herr Herrich, – ich glaube, der eine der Pathams möchte sprechen.“

So war es auch. Und Herrich beugte sich nun tief über den Schlitten, um das schwache Flüstern des braunen Mannes verstehen zu können.

„Schira-Sing fühlt, daß er sterben wird“, hauchte der Patham in gutem Englisch kaum vernehmlich. „Wenn Du nach Simla kommst, weißer Sahib, so erzähle dem Chinesen Fuang, daß die beiden Pathams getan haben, was Fuang ihnen auftrug. Schira-Sing ist es auch gelungen, die beiden englischen Offiziere“ – hierbei hob er matt den Arm und deutete nach dem Lamakloster hinüber – „zu belauschen. Sie wollen den Schatz des …“

Mit einemmal versagte ihm die Stimme. Seine Augen weiteten sich unnatürlich. Ein fast überirdischer, weltfremder Ausdruck lag jetzt in dem starren Blick, mit dem der Sterbende in den klaren, endlosen Himmel hineinblickte, als sehe er dort bereits die Schar der Dschinns (Geister), die ihn vor Brahmas Thron geleiten sollten.

Wenige Sekunden später war er tot.

Herrich richtete sich auf. Da fiel sein Blick auf den zweiten Inder, dessen Gestalt, auch der Kopf, der Kälte wegen ganz in Decken gehüllt worden war. Er schob diese schnell beiseite, getrieben von einer dunklen Ahnung.

Auch dieser Mann lebte nicht mehr, war still hinübergeschlummert in ein besseres Jenseits. – –

Herrich suchte Klarheit in seine Gedanken zu bringen. Es erschien ihm geradezu unglaublich, daß die beiden Engländer ebenfalls der Schätze des Dalai-Lama wegen nach Schinglapa gekommen sein sollten. Aber die Worte des Pathams ließen ja kaum eine andere Deutung zu.

Da wandte er sich an Klimke. Der war vielleicht imstande, dieses Rätsel aufzuklären.

Der Berliner hatte kaum den Namen Fuang gehört, als er auch schon eifrig erklärte:

„Natürlich kenne ich den Chinesen. Er besitzt das sauberste, billigste Speisehaus im Eingeborenenviertel in Simla. Mein Freund Amitabha und ich sind dort ständige Gäste gewesen.“

Nun vermochte Herrich den Zusammenhang der Dinge schon leidlich zu übersehen. Freilich, seine Vermutungen trafen nur ungefähr die Wahrheit, genügten aber doch, um den Gefährten die wenigen Sätze Schira-Sings, des Pathams, soweit ergänzen zu können, daß auch diese nun das feindliche Verhalten der beiden Engländer begriffen.

Klimke ballte vor Wut die Fäuste.

Inzwischen war es längst Mittag geworden, und die drei Deutschen fühlten einen Hunger, der gebieterisch nach Befriedigung verlangte. Was blieb ihnen anderes übrig, als sich schmale Streifen von dem mitgenommenen Fleische der erlegten[3] Yaks abzuschneiden und sie roh zu verzehren?! – Diese Mahlzeit mundete ihnen nicht besonders, erfüllte aber dennoch aufs beste ihren Zweck.

Dann brachen Klimke und der Knabe sofort nach dem Lager der Karawane auf, um das Zelttuch zu holen und von dem Gepäck das mitzubringen, was ihnen am meisten nützen konnte. Herrich sollte inzwischen das Kloster, bewaffnet mit des Berliners Gewehr, bewachen und verhindern, daß die Engländer entwichen.

Dem alten Gebäude gegenüber lag am Ostrande der Insel, von dem Kloster durch eine ebene Fläche getrennt, ein einzelner Haufen von Felsblöcken. Hinter diesen faßte Herrich Posto, schritt, um sich warm zu machen, auf und ab und beobachtete dabei von Zeit zu Zeit die Fenster des Oberstocks.

So verstrichen die Stunden, – eigentlich schneller, als Herrich gedacht hatte. In der Ferne auf der weißen Schneefläche des erstarrten Satledsch tauchte jetzt ein dunkler Punkt auf, teilte sich bald in drei einzelne Flecken, – den Schlitten und die beiden menschlichen Zugkräfte. Immer näher kamen Klimke und Paul, stapften vornübergebeugt, die Zugstricke über der Schulter, durch den Schnee. – Da – plötzlich zerriß der dröhnende, harte Knall eines Büchsenschusses die Stille des klaren Winternachmittags.

Herrich, der gerade den Gefährten entgegengeblickt hatte, fuhr herum, sah noch eben, wie eine Gestalt drüben vom Fenster verschwand. Aber dazu, dem heimtückischen Burschen eine Kugel zuzusenden, war es zu spät.

Klimke, dem das Geschoß dicht am Ohr vorbeigesaust war, hatte schleunigst mit Paul Naumann hinter dem hochbepackten Schlitten Deckung genommen. Jetzt winkte Herrich ihnen zu und rief, er würde schon darauf acht geben, daß aus den Fenstern kein Schuß mehr fiele. Sie sollten nur ruhig herankommen.

Trotzdem waren die beiden so vorsichtig, die Strecke bis zu den schützenden Felsen im Laufschritt zurückzulegen. Wohlbehalten, wenn auch ganz atemlos und schweißtriefend, langten sie mit dem Schlitten bei Herrich an. Unverzüglich wurde nun der Schlitten abgeladen und wieder auseinander genommen, damit man die Stangen für das Zelt benutzen konnte. Dieses errichtete man zwischen zwei Felsen, die eine Art offene Grotte bildeten. Und bereits vor dem Sonnenuntergang besaßen die drei Deutschen einen Unterschlupf für die Nacht, in dem in zwei eisernen Kohlenbecken kleine Feuer brannten und Licht und Wärme spendeten.

Dann kam die Nacht: Nach einem kräftigen Abendessen, daß zuerst Herrich und der Knabe, auf den Schlafmatratzen der Engländer im Zelte sitzend, zu sich nahmen, während Klimke draußen Wache hielt, einigte man sich über die Verteilung der Wachen bis zum Morgen hin. Der Kälte wegen sollte jeder der drei Deutschen nur je eine Stunde lang das Gebäude beobachten und dann von dem nächsten abgelöst werden. Zuerst kam Paul Naumann heran, der sich noch den Pelz des Berliners umhängen mußte und von Herrich ganz genaue Anweisungen erhielt, was er vorkommenden Falles zu tun habe. Als Waffe nahm er die Flinte unter den Arm. Und so ausgerüstet und nicht wenig stolz auf das in ihn gesetzte Vertrauen begann er draußen auf und ab zu gehen.

– – – – – – – –

Die Nacht war sternenklar und daher so hell, daß der Knabe ohne Mühe alle Gegenstände selbst auf weitere Entfernung unterscheiden konnte.

Ringsum herrsche eine fast beängstigende Stille. Nur ein schwacher Wind ließ hin und wieder die Wimpel aufflattern, die an Stangen auf dem Dache des Klosters befestigt waren. Auch diese Wimpel trugen die Zauberformel des Lamaismus aufgedruckt. „Om mani padme hum“, waren aber schon so zermürbt und zerrissen, daß der fromme Spruch sich für solche Fetzen kaum mehr recht eignete. Der Tibeter glaubt fest daran, daß, sobald ein Windstoß einen solchen bedruckten Wimpel hochflattern läßt, dies zum Seelenheile desjenigen, der ihn aufgestellt hat, ebenso viel beiträgt, als habe der Betreffende das kurze Gebet selbst ausgesprochen. Daher findet man in Tibet diese Wimpel ebenso häufig wie die merkwürdigen Gebetmühlen, die Manimauern und andere fromme Einrichtungen, die alle dazu dienen, das geheimnisvolle Om mani padme hum mühelos als Gebet zum Himmel emporzusenden.

Paul Naumanns Wache näherte sich bereits ihrem Ende, als er bemerkte, daß vom Südufer her eine Anzahl von langsam sich fortbewegenden Punkten auf die Insel zukam. Erst dachte er an ein Wolfsrudel. Bald sah er aber zu seinem Schrecken, daß es Menschen waren, mindestens zwanzig Leute, die er schon an den eigenartigen Gabelflinten, die sie bei sich trugen, als Tibeter erkannte.

Er hatte sich eng an den Felsen gedrückt, so daß er bisher von den Männern kaum bemerkt sein konnte. Als er nun nicht länger mehr darüber in Zweifel war, bewaffnete Landesbewohner vor sich zu sehen, schlich er schleunigst nach dem Zelt und weckte die beiden Gefährten.

Kaum hatte er ihnen das Beobachtete mitgeteilt, als Herrich auch sofort erklärte, es sei am besten, zunächst abzuwarten, was die Tibeter im Schilde führten. Nötigenfalls müsse man sich ihnen ohne Gegenwehr ergeben und mit ihnen gegen die beiden Engländer gemeinsame Sache machen.

Klimke hielt das ebenfalls für das einzig Richtige. Er erbot sich nun freiwillig dazu, sich draußen mit aller Vorsicht umzusehen. Daß die Tibeter das zwischen den Felsen versteckt liegende Zelt entdecken könnten, war kaum zu befürchten. Man hatte also Zeit, erst noch eine Weile zu beobachten, was die Männer herbeigeführt haben könne, die von weither gekommen sein mußten, da sich in der Nähe von Schinglapa nur eine kleine Niederlassung in einem langgestreckten Seitentale des Satledsch etwa zwei Meilen entfernt befand, deren Bewohner sich mit Einsammeln von Steinsalz beschäftigten und bisher die Deutschen in keiner Weise belästigt hatten, von deren Anwesenheit in dem von ihnen aus Aberglauben ängstlich gemiedenen Kloster sie allerdings wohl kaum etwas ahnten.

Der Berliner schlüpfte zum Zelte hinaus und drückte sich zwischen den Felsen hindurch ins Freie. In demselben Augenblick dröhnte ein Schuß von dem alten Gebäude her durch die Nacht, dem sofort ein lautes Schmerzgeheul eines offenbar von der Kugel Getroffenen folgte.

Jetzt sah Klimke auch mehrere Tibeter schleunigst von der Klosterpforte den schützenden Felsen neben dem Hause zuflüchten. Nur einer der Leute, dem die Engländer vom Fenster des Oberstockes aus ein Bein zerschossen haben mußten suchte sich, im Schneelicht deutlich zu erkennen, immer wieder aufzurichten und aus der gefährlichen Nähe des Gebäudes fortzukommen. Niemand von den Seinen eilten ihm zu Hilfe. Bisweilen stieß der Verwundete klagende Schmerzensschreie aus, die in der nächtlichen Stille und bei dieser Beleuchtung der Umgebung doppelt schauerlich klangen.

Jetzt tauchten auch Herrich und Paul hinter dem Berliner auf. Deren Erscheinen kam ihm sehr gelegen. War doch soeben in ihm ein Gedanke aufgeblitzt, wie man die Tibeter sich zu Dank verpflichten könne.

Im Nu hatte er Herrich davon verständigt. Dieser glaubte an dem Mittelfenster etwas wie einen dunkleren Schatten zu bemerken, legte an und feuerte. Gleichzeitig sprang Klimke auf, lief über die offene Stelle hinweg, lud sich schnell mit seinen Riesenkräften den Verwundeten auf die Schulter und kehrte glücklich mit ihm in den Schutz der Felsgruppe zurück.

Die Tibeter mußten notwendig sowohl den gegen das Kloster abgefeuerten Schuß gehört als auch diese kühne Rettungstat mitbeobachtet haben. Daher wurde jetzt Paul Neumann als der einzige, der etwas die Landessprache beherrschte, als Unterhändler zu den Tibetern hinübergeschickt. In großem Bogen mußte er sich über den zugefrorenen Fluß nach der Stelle der Insel hinbegeben, wo die Stammesgenossen des Verwundeten jetzt vermutlich sich zwischen den Felsen versteckt hielten.

Der Knabe erledigte diesen nicht ganz gefahrlosen Auftrag recht gewandt und erschien bereits wenige Minuten später wieder in Begleitung zweier Tibeter bei den seiner mit ängstlicher Spannung harrenden Gefährten. Während Klimke draußen weiter wachte zogen sich die anderen vier in das Zelt zurück, wo sofort ein Feuer angezündet wurde, bei dessen Licht die Verhandlungen zwischen den beiden Parteien stattfanden, bei denen Paul den Dolmetscher spielte.

Herrich schildere den Tibetern, zweien in kostbare Pelze gehüllten älteren Männern, zunächst kurz die Gründe, weshalb er und seine beiden Gefährten (hierbei hielt er sich aus Klugheitsrücksichten also nicht streng an die Wahrheit) aus Indien geflohen waren, sagte, daß sie Deutsche und daher jetzt Feinde Englands seien und stellte das Weitere so dar, als hätten sie den Schatz in dem Keller von Schinglapa nur zufällig entdeckt, aber unberührt gelassen. Indem er sehr geschickt Erdichtetes und Wahres mischte, erhielten die beiden Tibeter ein solches Bild von den gesamten Ereignissen, daß sie sehr freundlich wurden und sich lebhaft für die Rettung des Verwundeten bedankten.

Der Tibeter ist im allgemeinen ein offener Charakter, höflich, liebenswürdig und heiter trotz des unwirtlichen, düsteren Berglandes, das er seine Heimat nennt. Unerschrockenheit gehört jedoch nicht zu seinen Tugenden, ebensowenig … Reinlichkeit. So starrten denn auch die Hände und Gesichter der beiden Unterhändler geradezu vor Schmutz, und Sven Hedin weiß von einer vornehmen Eingeborenen aus Lhasa zu berichten, die direkt eine Schmutzborke auf ihrem holden Antlitz trug.

Jetzt begannen auch die Tibeter zu erklären, weshalb sie hier so unerwartet aufgetaucht seien.

Die Bewohner der kleinen Niederlassung im Seitentale des Satledsch hatten vor etwa zwei Wochen zufällig herausbekommen, daß in Schinglapa drei Europäer hausen und daraufhin sofort einen Boten hinauf nach Gartok geschickt, um die dortigen tibetischen Behörden hiervon in Kenntnis zu setzen. Der Oberhäuptling des Bezirkes Gartok hatte sofort eine Schar ausgerüstet, die unter dem Befehl von zweien seiner höheren Beamten nach dem Kloster sich begeben und die Europäer festnehmen sollte.

Diese beiden Beamten waren es, die jetzt mit Herrich in dem Zelte verhandelten und die dann mit den Deutschen ein förmliches Freundschaftsbündnis abschlossen. Im übrigen waren sie willens, die Engländer um jeden Preis in ihre Gewalt zu bekommen. Von dem Vorhandensein der Schätze des aus dem Lande geflüchteten Dalai-Lama in Schinglapa besaßen sie nicht die geringste Kenntnis, waren über diese Tatsache vielmehr aufs äußerste erstaunt.

Freiwillig übertrugen sie dann Herrich den Oberbefehl über ihre Leute, da Paul Naumann ihnen berichtet hatte, daß sein Landsmann in der Armee des großen Deutschen Kaisers Offizier gewesen sei.

Die beiden Tibeter und Herrich begaben sich darauf nach dem inzwischen aufgeschlagenen Lager der mit Packpferden und allem Nötigen versehenen Schar, welches im Schutze der Felsen am Südufer errichtet war und aus drei großen Lederzelten bestand, in denen Butterlampen (der Tibeter benutzt Butter an Stelle des Öls) und Becken mit schwelendem Yakdung Licht und Wärme spendeten.

Für den Rest der Nacht wurde nun ein regelmäßiger Postendienst zur Bewachung des Klosters eingerichtet. Das gute Einvernehmen mit den Tibetern gestaltete sich schnell immer herzlicher. Besonders die beiden höheren Beamten, die jetzt mit Sicherheit auf eine Beförderung rechneten, da sie die Schätze des Dalai-Lama vor einer Beraubung durch die Engländer geschützt hatten (was allerdings weniger ihr Verdienst war), versprachen den Deutschen jede nur mögliche Unterstützung und sicheres Geleit bis nach China hinein.

Nachdem Herrich sich überzeugt hatte, daß die aufgestellten Wachen ihre Pflicht und Schuldigkeit taten, streckte auch er sich neben den beiden Gefährten in dem Zelt der Tibeter zum Schlafe nieder.

Am Morgen zeigte es sich leider, daß mit einem baldigen Witterungsumschlag zu rechnen war. Der Himmel war dicht bewölkt, und einer der beiden vornehmen Tibeter meinte, wahrscheinlich ständen schwere Schneestürme bevor. – Bei diesen schlechten Wetteraussichten hielt es Herrich für ratsam, wenigstens den Versuch zu machen, die Engländer zu freiwilliger Übergabe zu überreden.

Während Klimke und Paul mit den Gewehren in der Hand gut gedeckt bereit standen, um auf jede Heimtücke der Eingeschlossenen sofort mit einer Kugel zu antworten, schritt Herrich, einen Fetzen Zeug schwingend, unbewaffnet auf das Kloster zu.

Die Engländer, denen das Erscheinen der Tibeter so recht gezeigt hatte, wie verzweifelt ihre Lage war, ließen sich auch wirklich auf Unterhandlungen ein, stellten aber die Forderung, daß ihnen nicht nur freier Abzug gewährt werden sollte, sondern verlangten auch die Lieferung von acht Pferden, Proviant und manches andere. Jedenfalls bewiesen sie hierdurch eine solche Unverfrorenheit, daß die beiden Beamten Herrich aufforderten, nicht weiter mit dem Feinde zu verhandeln.

Gleich darauf setzte ein Schneesturm ein, der mehrere Stunden anhielt. Das Schneetreiben war so dicht, daß es gelang, unter dem Schutz dieses weißen Vorhanges mehrere Tibeter auf das Dach des Klosters zu befördern, wo sie eine Öffnung herstellen sollten, damit man durch diese in den Gang des Oberstockes größere Mengen brennenden Yakdungs herabwerfen und so die Engländer ausräuchern könne.

Diesen war ein Entweichen bei diesem Unwetter ganz unmöglich. Entblößt von allen Hilfsmitteln, wären sie im Freien sehr bald umgekommen. Das sagte sich Herrich auch selbst und wollte daher die Posten einziehen. Vom Dache des Klosters schallten bereits dumpf die Beilhiebe der dort arbeitenden Tibeter herüber, und der frühere Leutnant hatte gerade die am meisten nördlich stehende Wache, von dem Knaben begleitet, zurückgerufen, als die beiden Engländer vor ihnen auftauchten und erklärten, das sie sich gefangengäben Sie mochten inzwischen wohl eingesehen habend wie aussichtslos jede fernere Verteidigung war.

– – – – – – – –

Herrich nahm die beiden mit in das Zelt der tibetischen Beamten.

Der Empfang, der den Engländern hier zuteil wurde, war nicht gerade sehr ermutigend für sie, obwohl sie zunächst versuchten, durch anmaßendes und selbstbewußtes Auftreten und Berufung auf den Schutz Englands die Tibeter einzuschüchtern. Diese erklärten jedoch, ohne auf die Reden der Gefangenen zu achten, daß deren Aburteilung in Gartok stattfinden werde und daß sie bis dahin in einem der Zelte bei den übrigen Leuten sich aufzuhalten hätten.

Die eisige Ruhe, mit der diese Äußerungen erfolgten, ließen es den Engländer geraten erscheinen, sich schweigend zu fügen, zumal ihnen nebenbei noch bedeutet wurde, daß aufs strengste untersucht werden sollte, weshalb sie in das verbotene Tibet überhaupt eingedrungen seien. – Von den Schätzen des Dalai-Lama fiel bei dieser ersten Vernehmung kein Wort. Das war schon vorher zwischen Herrich und den Beamten aus Gartok für den Fall der Gefangennahme der Engländer aus bestimmten Gründen vereinbart worden.

Nachdem die beiden Offiziere in das nächste Zelt abgeführt worden waren, begaben Herrich, Klimke, Paul und die tibetischen Beamten sich sofort in das Kloster und stiegen durch den verborgenen Eingang in den Keller hinab, um festzustellen, ob die Kostbarkeiten des weltlichen Oberhauptes des Landes noch vollzählig vorhanden seien, worüber der Berliner den besten Aufschluß geben konnte da er ja vor einiger Zeit als erster die feste Holzkiste geöffnet hatte.

Es zeigte sich, daß bis auf eine Auswahl prachtvoller Edelsteine, die den wertvollsten Teil des Inhaltes der Kiste gebildet hatten, alles übrige unberührt gelassen war. Die Engländer hatten die Steine also beiseite geschafft und anderswo versteckt. Umsonst suchten die fünf jetzt jeden Winkel im Innern des alten Gebäudes ab. Die Edelsteine waren nicht aufzufinden, so daß Herrich schließlich die Vermutung aussprach, die Engländer könnten sie vielleicht in ihren Kleidern verborgen haben.

Bei dem nun folgenden Verhör der Gefangenen führte Herrich auf Bitten der tibetischen Beamten das Wort. Die Engländer taten so, als ob sie von einem in Schinglapa aufbewahrten Schatze nicht die geringste Ahnung hatten. Als ihnen vorgehalten wurde, daß von dem einen der verstorbenen Pathams, deren Tod sie fraglos mit auf dem Gewissen hätten, ganz andere Aussagen gemacht seien, erklärten die Engländer kaltblütig, die braunen Schufte hätten frech gelogen. Sie wüßten nichts von einem Schatze.

Eine Durchsuchung ihrer Kleider hatte dann ebenfalls kein Ergebnis.

Wieder wurde nun das Kloster vom Dach bis zum Keller mit größter Sorgfalt durchstöbert. Auch jetzt fand man die Steine nicht, an deren prachtvollen Glanz die drei Deutschen sich eines Abends förmlich berauscht hatten, um sie dann sofort in die Kiste wieder zurück zu tun.

Klimke meinte, man müsse die beiden Spitzbuben eigentlich so ein wenig martern, bis sie mit der Wahrheit herausrückten. Verdient hätten sie es reichlich, da es doch wohl keinem Zweifel unterliege, daß sie die Leute ihrer Karawane absichtlich hätten umkommen lassen, als sie in der Nähe von Schinglapa waren.

Herrich beruhigte den Erregten. „Wir werden auch ohne Folterung zum Ziel gelangen, lieber Klimke“, erklärte er halb scherzend. „Verlassen Sie sich darauf! Ich finde schon Mittel und Wege, die Diamanten wieder herbeizuschaffen. In der Schlauheit nehmen wir Deutschen es mit den Engländern schon auf, nur nicht in der Gewissenlosigkeit!“

Vorläufig geschah in dieser Angelegenheit nichts. Aber Herrich verlor sie trotzdem nicht aus dem Auge.

Die beiden tibetischen Beamten, denen die Deutschen den Vorschlag machten in das Kloster überzusiedeln, wo man doch vor den Witterungsunbilden besser geschützt sei, waren aus abergläubischer Furcht vor den Geistern, die in den alten Mauern hausen sollten, hierzu nicht zu bewegen, stellten es aber den dreien frei, wieder ihr bisheriges Heim zu beziehen. Das taten diese denn auch, besonders da an den Rückmarsch nach Gartok vorläufig nicht zu denken war.

Ein neuer Schneesturm hielt drei Tage an. Dann trat so starke Kälte ein, daß man sich nur in der Mittagszeit bei Sonnenschein ins Freie wagen konnte. So vergingen vier Wochen, und noch immer wollte der eisige Westwind nicht nachlassen. Tibet zeigte sich von seiner schlechtesten Seite. Trotzdem waren die Deutschen guter Dinge, gingen häufig auf die Yakjagd, um für das Lager die nötigen Fleischvorräte zu beschaffen, bauten auch Fallen für Wölfe, die die lebhafteste Anerkennung der Tibeter fanden, und legten sich einen Vorrat wertvoller Wolfsfelle an.

Erst in den ersten Tagen des Dezember schlug der Wind um und brachte von Süden her warme Luftströmungen mit, so daß die beiden Beamten nunmehr einige ihrer Leute ausschicken konnten, die zusehen sollten, ob die Gebirgspässe leidlich gangbar wären.

Die Engländer hausten noch immer in dem einen Zelt mit einem Teil der Tibeter zusammen. Herrich hatte absichtlich Anweisung gegeben, daß sie nicht allzu scharf beobachtet werden sollten. Sie genossen daher auch so gut wie völlige Bewegungsfreiheit.

Nach einer Woche kehrten die zum Auskundschaften der Pässe entsandten Leute mit der Botschaft zurück, daß zunächst an den Marsch nach Gartok nicht gedacht werden könne, da selten derartige Mengen Schnee heruntergekommen wären, wie in diesem Jahre. Der Aufbruch mußte also abermals auf unbestimmte Zeit verschoben werden.

Die nun folgenden linden Tage benutzten die Deutschen zu ausgedehnten Jagdausflügen, bei denen sich ihnen die beiden Beamten zumeist anschlossen. Und jetzt gelang es Herrich auch, die Engländer zu überlisten. Dies geschah auf folgende Art.

Als die Gefährten eines Mittags vor dem Kloster den Engländern begegneten, machte der vorher genau unterrichtete Klimke ironisch lächelnd eine Bemerkung, daß „kein Versteck so sicher sei, um nicht doch mal gelegentlich entdeckt zu werden.“ – An demselben Tage mußte dann einer der tibetischen Beamten eine ähnliche Andeutung fallen lassen.

Herrich merkte genau, wie sehr diese ungewissen Äußerungen die Engländer beunruhigten, die notwendig vermuten mußten, man habe die Edelsteine gefunden, verheimliche ihnen diese Tatsache aber aus irgend welchen Gründen.

Am Nachmittag begaben die drei Deutschen sich auf die Jagd. Die Engländer sahen den Aufbruch mit an, wurden dann aber von den beiden Gartoker Beamten, wie verabredet, eine Weile unauffällig bei den Zelten zurückgehalten, so daß Klimke Gelegenheit fand, unbemerkt auf Umwegen nach dem alten Gebäude zurückzukehren, wo er sich in einem Winkel der Vorhalle hinter ein paar bunten Tempelfahnen verbarg.

Herrichs Annahme, die Engländer würden die nächste Gelegenheit dazu benutzen, um sich zu überzeugen, ob die Edelsteine aus dem Versteck verschwunden seien, bestätigte [sich][4].

Eine Stunde etwa hatte Klimke in dem unverschlossenen Hause gewartet, als die beiden Offiziere leise durch die Pforte in die Vorhalle schlüpften. Sie schienen sich ganz sicher zu fühlen, da sie sich jetzt keine besondere Mühe gaben, ihre Stimmen zu dämpfen.

„Ich kann mir gar nicht denken, daß die verd … Deutschen die Steine wirklich gefunden haben“, sagte Hauptmann Lampser, indem er ein Stückchen Holz mit seinem Feuerzeug anzündete. Worauf Speetsbowe antwortete: „Wir werden ja gleich sehen, woran wir sind.“

Sie näherten sich dem Altar, auf dem unter anderem auch eine vergoldete, aus Holz gemeißelte Buddhafigur stand. Davor war eine große Weihrauchschale aufgestellt, die noch mit den verkohlten Überresten wohlriechender Hölzer gefüllt war.

Speetsbowe faßte in diese Schale hinein, wühlte einen Augenblick darin umher und brachte dann einen ledernen Beutel zum Vorschein, den er mit einem kurzen, triumphierenden Lachen hochhielt. – „Wußte ich doch, daß die Schnüffler an diesem so offen dastehenden Becken achtlos vorübergehen würden!“ meinte er höhnisch. Dann verbarg er den Beutel wieder unter den verbrannten Holzsplittern.

Drei Stunden später kamen die Deutschen und die beiden tibetischen Beamten in das Zelt, in dem die Engländer wohnten.

„Wollen Sie noch immer leugnen?“ fragte Herrich sie mit erhobener Stimme, „daß Sie nur nach Tibet gekommen sind, um den Schatz des Dalai-Lama zu stehlen? Oder bleiben Sie dabei, daß es sich lediglich um eine Jagdexpedition handelte?“

Speetsbowe zuckte die Achseln. „Ich habe Ihnen schon oft genug über diesen Punkt Erklärungen abgegeben. Für mich ist die Sache erledigt.“

Da zog Herrich aus seinem Pelz den Lederbeutel mit den Edelsteinen hervor. „Kennen Sie dies hier vielleicht? Und vielleicht auch eine Weihrauchschale, die vor dem Buddhabilde auf dem Altare steht …?!“

Die Engländer verfärbten sich, sagten aber nichts.

„In Gartok folgt das Nachspiel!“ meinte Herrich kalt und verließ mit den übrigen wieder das Zelt.

Leider sollten noch viele Wochen vergehen, ehe endlich an den Aufbruch gedacht werden konnte. Inzwischen hatten die beiden Beamten von den Ansiedlern im Nebentale des Satledsch noch mehrere zahme Yaks gekauft, die jetzt als Tragtiere Verwendung fanden und denen auch der Schatz des Dalai-Lama auf den breiten Rücken geladen wurde.

Zwölf Tage dauerte die Reise. Die größten Mühsale und Entbehrungen hatte die Karawane während dieser Zeit durchzumachen. Als man in Gartok einzog, waren Mensch und Tier am Rande ihrer Kräfte.

Die drei Deutschen wurden von dem Oberhaupte der Provinz Gartok, einem älteren Tibeter mit recht vielseitiger Bildung, auf das gastfreundlichste aufgenommen. Dieser traute sich jedoch nicht recht, über die Engländer zu Gericht zu sitzen und umging alle Schwierigkeiten dadurch, daß er sie unter strenger Bewachung schon eine Woche später nach Lhasa schickte, wo die beiden Offiziere nach kurzen diplomatischen Verhandlungen mit der englisch-indischen Regierung zur Strafe lediglich des Landes verwiesen wurden. Die Tibeter wagten es eben nicht, sich mit dem mächtigen England zu verfeinden.

Erst im Frühjahr 1915 wurden dann auch die Deutschen, nachdem die Regierung in Lhasa jedem von ihnen sechs überaus kostbare Edelsteine aus dem Schatze des Dalai-Lama als Andenken hatte überreichen lassen, unter dem Schutze von zehn berittenen Soldaten auf dem Wege über den heiligen See Manasarowar, die Stadt Schigatse und weiter das Tal des Dihong aufwärts bis Lhasa geleitet, wo sie sich jedoch nur einen Tag aufhalten durften, um dann ihre Reise nach der chinesischen Grenze zu mit einer Karawane fortzusetzen, die Ziegeltee, die gepreßten wertlosesten Blätter des Teestrauches, nach Tibet gebracht hatte. In einem Passe der Ostabhänge des Himalaja überfiel eine starke Räuberbande die Karawane, und nur dem energischen Eingreifen der Deutschen war es zu danken, daß der Angriff zunächst abgeschlagen wurde. Fluchtartig mußte man dann, stets verfolgt von der zumeist aus Tibetern bestehenden Räuberhorde, dem nächsten größeren Dorfe zustreben. – Dies blieb jedoch nicht das einzige aufregende Abenteuer, das die Reisenden zu bestehen hatten. Schließlich langten sie aber doch wohlbehalten in China an, wo sie einstweilen in Kanton sich von den Strapazen ausruhten. Und hier war es, wo Klimke seine sechs Edelsteine an einen Holländer losschlug, da dieser ihm dafür die hübsche Summe von 150 000 Mark bot.

So hatte sich des Berliners Sehnen doch erfüllt: Amitabhas Geheimnis machte ihn zum wohlhabenden Manne.

Was aus Amitabha geworden, hat Klimke nie erfahren. Vielleicht hat der Lama als Opiumsüchtiger im Wahnsinn geendet.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Tage“.
  2. In der Vorlage steht: „die“.
  3. In der Vorlage steht: „erregten“.
  4. Fehlendes Wort „sich“ ergänzt.