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Die Flucht aus Vannes

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Flucht aus Vannes.

 

W. Belka.

 

An einem Maitage 1915 war’s.

Sechs von den auf der Insel Vannes untergebrachten deutschen Offizieren standen auf der vorspringenden Nordecke der Bastion der alten Feste und beobachteten heute bei dem klaren, wolkenlosen Himmel das prächtige Schauspiel des Sonnenuntergangs.

Hinter ihnen im Süden lag Frankreich mit der Nordküste der rauhen Bretagne, vor ihnen der östlichste Teil des Kanals, – das Meer besät mit weißen Schaumkämmen, und in vielleicht viertausend Meter Entfernung die felsige Inselgruppe der Briennes mit ihren kahlen, wie Türme aus der See herauswachsenden Eilanden und den ringsumher verstreuten, schwarzen Klippen.

Hohläugig und ausgemergelt wie eben von schwerer Krankheit Genesene sahen die Offiziere aus. Die Räume der burgähnlichen, kleinen Festung auf Vannes waren feucht, kalt und mehr als ungesund. Dazu kam noch das schlechte Essen und die rohe Behandlung durch den Kommandanten, einen vertrockneten, kleinen Major namens Hervier, der 70–71 als junger Leutnant mitgemacht und nun in Erinnerung an die damalige Niederlage seines Landes jetzt nach mehr denn vierzig Jahren sich durch kleinliche Schikanen an den verhaßten deutschen Soldaten zu rächen suchte.

Abseits von der Gruppe der Kriegsgefangenen ging ein einzelner Offizier, dessen feldgrauer Rock die Abzeichen eines Pioniers aufwies, auf der Mauerkrone des Walles im Geschwindschritt auf und ab.

„He, Meinke“, wurde er jetzt von einem aus der Gruppe angerufen, „grübeln Sie schon wieder darüber nach, wie Sie dieser Mausefalle Lebewohl sagen können? – Unsere Insel hier hält jeden fest, jeden! Von hier gibt es kein Entrinnen!“

Leutnant Meinke winkte nur mit der Hand zu den anderen hinüber, ohne seinen Marsch zu unterbrechen.

„Lassen Sie ihn“, sagte ein zweiter Offizier aus der Gruppe zu dem, der Meinke vor zwecklosem Nachdenken gewarnt hatte, „er läuft seine eine Meile ab, die er sich selbst als Nachmittagsspaziergang verordnet hat. – Ein komischer Kauz überhaupt, dieser Berliner. Na – ich hätte mich jedenfalls dem Kommandanten nie zum Ordnen der alten Bibliothek der Festung angeboten, nie und nimmer! Gewiß, er hat sich dadurch einige Erleichterungen verschafft. Aber selbst um den Preis wäre ich diesem französischen Eisenfresser von gallensteinkrankem Major nie unter die Rockschöße gekrochen – niemals! Das hätte mir schon das Gefühl für Kameradschaft verboten! Gleiche Brüder, gleiche Leiden! So muß es sein! Und nicht, daß einer sich Vergünstigungen erschleicht.“

Fritz Meinke kam jetzt auf die Gruppe zu. Es waren nicht gerade freundliche Blicke, die ihn empfingen. Schon seit Tagen hatte er selbst sehr wohl gemerkt, daß die Kameraden sich etwas von ihm zurückzogen. Aber ihn focht das weiter nicht an. Er wußte, was er wollte.

„Ich komme, um Abschied zu nehmen“, sagte er kurz. „In dieser Nacht wage ich zusammen mit meinem Krapatkul die Flucht. Lassen Sie sich aber bitte nicht anmerken, meine Herren, daß etwas Besonderes bevorsteht. Sie könnten mir sonst alles verderben.“

Mit einem Schlage änderte sich das Verhalten der sechs Leidensgefährten Fritz Meinkes. Man umdrängte ihn, bestürmte ihn mit Fragen, ob es nicht möglich sei, daß mehrere gleichzeitig entwichen.

Der junge Offizier, der erst kurz vor dem Kriege sein Diplom-Ingenieur-Examen bestanden hatte und dann im Feldzuge zum Leutnant befördert war, schnitt alle weiteren Bemerkungen dadurch ab, daß er, so kurz und übersichtlich wie er immer sprach, folgendes erklärte:

„Ich habe mir durch mein an den Kommandanten gerichtetes und von diesem auch angenommenes Anerbieten nicht etwa Bequemlichkeiten, sondern nur die Gelegenheit zur Flucht verschaffen wollen. Das Glück war mir günstig. Auf einer alten Pergamenturkunde, die später zum Einbinden eines Buches benutzt worden ist und die ich losgelöst und von dem anhaftenden Kleister gereinigt habe, fand ich einen Grundriß der Festung Vannes, der noch von einem der Offiziere Ludwigs 14. gezeichnet ist und der eine aus lauter Kreuzen bestehende Linie enthält, die mir einen geheimen Gang anzudeuten schien. Nun – dieser unterirdische Gang ist wirklich vorhanden, und mit seiner Hilfe will ich wie gesagt entfliehen. – – Die Wache kommt. Sprechen wir von etwas anderem.“

Der französische, graubärtige Infanterist, das Gewehr im Arm, schlenderte heran, blieb vor den Offizieren stehen, zog umständlich seine große Nickeluhr und zeigte mit streng gerunzelter Stirn auf die Zeigerstellung.

Es war genau acht Uhr und damit die Bewegungsstunde im Freien für die Offiziere um.

Sie schritten der Walltreppe zu, die in den großen Festungshof hinabführte. Hier fanden sich jetzt auch von den anderen Bastionen, die unter die Kriegsgefangenen zum Aufenthalt verteilt waren, die übrigen deutschen Offiziere ein, stellten sich, im ganzen 24, zu zwei Gliedern auf und warteten auf den abendlichen Appell, bei dem die Anwesenheit aller von einem aufgeblasenen Korporal sehr umständlich durch Aufruf der Namen nachgeprüft wurde, ebenso die der sechs deutschen Gemeinen, die jeder für vier der Offiziere als Burschen zu sorgen hatten.

Nachdem der Appell vorüber war, wurden die Offiziere immer zu zweien in eine Stube der Kasematten für die Nacht eingeschlossen. Nur Fritz Meinke und Jannek (Johann) Krapatkul genossen seit zwölf Tagen den Vorzug, im sogenannten Kommandantenhause untergebracht zu sein, das sich an der Nordseite des Hofes mit seinen zwei niedrigen Stockwerken an den Wall anlehnte und über dessen Eingang unter dem in Stein eingemeißelten Wappen der Bourbonen, des alten französischen Königsgeschlechtes, die Zahl 1599 zu sehen war. Es war dies das Jahr der Erbauung der Feste Vannes, die man einst in der Absicht errichtet hatte, zwischen den wichtigen Häfen von Brest und St. Malo noch einen Stützpunkt für die Flotte zu haben.

Der Korporal, der die Abendmusterung abgehalten hatte, führte Meinke und den stämmigen Ostpreußen Krapatkul wie seit einigen Tagen regelmäßig in deren kleinen, neben der Bibliothek der Festung im Erdgeschoß des Hauses gelegenen Schlafraum, indem er sich mit dem deutschen Pionieroffizier sehr herablassend unterhielt.

Meinke sprach fließend Französisch, da er während seiner Studienzeit ein Jahr in Genf geweilt hatte. Korporal Aumonier hielt den Leutnant für sehr harmlos, da dieser absichtlich sich nie über etwas beklagte und sogar den etwas Unterwürfigen mit viel Geschick spielte.

Nachdem Aumonier die beiden in das Zimmer, das nur ein schmales, stark vergittertes Fenster besaß, eingeschlossen hatte, zündete Krapatkul schweigend die altehrwürdige Petroleumlampe auf dem großen Holztisch in der Mitte des Zimmers an und machte sich eifrig daran, mit Hilfe von Wasser, Seife und Bürste die schmutzigen Ledereinbände eines Stapels von Büchern aus der Bibliothek zu reinigen. Meinke wieder setzte sich an denselben Tisch und begann einen Haufen loser, vergilbter Seiten, die aus verschiedenen durcheinandergeworfenen zerfetzten und jahrhundertealten Werken stammten, zu ordnen.

Bald darauf wurde das Abendessen gebracht. Auch erschien noch der hagere Major Hervier, lobte den Fleiß der beiden Kriegsgefangenen, bot Meinke sogar seine Zigarrentasche an und zeigte ihm schließlich mit einem Grinsen, das wohl sein Bedauern mit den armen Deutschen ausdrücken sollte, eine allerneueste Pariser Zeitung, in der auf der ersten Seite in Riesenbuchstaben zu lesen war, daß Hindenburg in Polen bis zur Vernichtung geschlagen sei und 100 000 Gefangene verloren habe.

Als der Schlüssel in der Tür von außen wieder umgedreht wurde und die beiden Deutschen sich nun vor weiteren Belästigungen sicher wußten, sagte Leutnant Meinke leise:

„100 000 Mann. Wer das glaubt! Nach den Pariser Zeitungen hat Hindenburg in den letzten acht Wochen nach meiner Zusammenstellung etwa eine Million an Gefangenen eingebüßt …!! So ein Blödsinn!!“

Schweigend arbeiteten sie dann weiter. In die Tür des Zimmers war ein Guckloch eingeschnitten, und man wußte nie, ob nicht einer der Posten, die vom Festungshofe jeder Zeit auch in das Kommandantenhaus hineinkonnten, sie heimlich beobachtete.

– – – – – – – –

Erst gegen zehn Uhr machte Krapatkul die Betten, die nur eine Strohmatratze und zwei Decken enthielten, für die Nacht zurecht. Gleich darauf erlosch die Lampe.

Um elf Uhr hatte der Mond einen Stand erreicht, daß er gerade durch das schmale Fenster in das kleine Zimmer hineinlugte. Vorher schon hatte Krapatkul, der ebenso wie sein Leutnant angezogen geblieben war, sich auf Strümpfen bis zur Tür geschlichen und über das Guckloch einen dichten Lappen gehängt.

Das Mondlicht genügte gerade, um sich in dem engen Raum, dessen Wände eine gut zwei Meter hohe, stark nachgedunkelte Holzverkleidung besaßen, zurechtfinden zu können.

Geräuschlos huschten die beiden Gefangenen hin und her, suchten all die Kleinigkeiten zusammen, die sie auf ihrer Flucht mitnehmen wollten, klemmten schließlich ihre Stiefel unter den Arm und verschwanden dann durch die geheime, in die Wandtäfelung eingelassene Tür, die Meinke erst nach langem Suchen entdeckt hatte, obwohl er wußte, daß nach der auf dem Grundriß der Festung sichtbaren Linie aus Kreuzen der unterirdische Gang in dieses Zimmer münden müsse, in dem zusammen mit dem schlauen Krapatkul als Gehilfen für die Arbeiten in der Bibliothek einquartiert zu werden ihm auch dank seiner Unterwürfigkeit gegenüber dem Kommandanten und dem einflußreichen Korporal Aumonier wirklich gelungen war.

Erst in dem Gange wurde die Petroleumlampe in Ermangelung einer Laterne angezündet.

Eine Treppe führte einige dreißig Stufen steil abwärts, dann verlief der Gang schnurgerade nach Osten. Die Wände, der Boden und die Decke waren mit Pilzbildungen bedeckt und glänzten an den freien Stellen vor Nässe. Die Luft, dumpf und modrig riechend, legte sich schwer auf die Brust.

Nach der Zeichnung sollte er außerhalb der Wälle in einer Schlucht endigen. Die Festung Vannes besaß nämlich keinen Wallgraben, da sie auf einem steilen Felsplateau im Westen der Insel hart am Meeresufer erbaut war.

Bisher hatten die beiden Kriegsgefangenen den Gang noch nicht auszukundschaften gewagt, um nicht etwa dabei durch eine plötzliche Revision überrascht zu werden und so das Gelingen des ganzen Planes aufs Spiel zu setzen.

Eilig schritten sie jetzt dahin. Der Leutnant mit der Lampe ging voraus. Dann hörte der Gang mit einem Male auf. Dichte Schuttmassen hatten ihn ausgefüllt. Aber Meinke ließ sich hierdurch nicht beirren. Er hatte jeden der zurückgelegten Schritte mitgezählt. Man mußte sich hier fraglos schon außerhalb des Bereiches der Festung befinden.

Die Lampe wurde auf den Boden gestellt, und dann begannen die beiden die Steintrümmer eiligst fortzuräumen, indem sie sie hinter sich an der einen Wand aufschichteten.

Eine Stunde verging so. Ihnen schmerzten bereits die Rückenmuskeln von dem vielen Bücken. Aber mit zäher Ausdauer arbeiteten sie weiter. Dann stieß Jannek Krapatkul einen leisen Freudenruf aus.

Er spürte, daß frische Luft durch das Geröll eindrang. Man mußte also die Ausmündung des Ganges beinahe freigelegt haben.

So war es auch. Drei Minuten später kroch Meinke als erster nach draußen, richtete sich vorsichtig auf und befand sich an der Westseite einer engen Schlucht, die sich nach Norden zu zum Meere hinabsenkte.

Weit und breit war nichts Lebendes zu bemerken. Das Mondlicht lag mit bläulichem Schein auf den grauen Felsen, zwischen denen hier und da Grasbüschel und niedrige Sträucher wuchsen. Das Rauschen des ewig unruhigen Meeres tönte deutlich bis hier hinauf, und von der nahen Festung, von der jedoch nur die auf dem Dache des Kommandantenhauses wehende Trikolore über dem Westrande der Schlucht sichtbar war, trug der Wind die Töne einer Flöte herüber, die einer der Leute von der Besatzung wahrscheinlich auf dem Walle spielte.

Nachdem Meinke und der kräftige Ostpreuße die Gangmündung wieder mit Steinen verdeckt hatten, wandten sie sich, tief gebückt dahinschleichend, dem Meeresstrande zu.

Die Insel Vannes, ungefähr neunhundert Meter von der Küste der Bretagne gegenüber der gleichnamigen kleinen Stadt aus der See einsam emporragend, ist von Westen nach Ostern genau 3050 Meter lang bei einer größten Breite von 2300 Meter. Auf dem sandigen Südostteil, dem Festlande gegenüber, steht an einer geschützten Bucht ein gutes Dutzend von Fischerhütten, – das Dorf Vannes, das von den Wällen der Festung deutlich zu sehen ist, ebenso wie die in der Bucht verankerten Fischerkutter.

Auf einen von diesen hatten die Flüchtlinge es abgesehen. Unangefochten kamen sie bis an die Bucht. Bei den Hütten war alles ruhig. Nur ein einzelner Hund heulte den Mond an.

Bald war auch ein abseits auf den Strand gezogenes kleines Boot gefunden, auf dem man zu einem der Kutter hinüberkonnte.

Jetzt war das Mondlicht recht störend. Nur zu leicht konnte das Boot auf der schillernden Wasserfläche bemerkt werden. Aber – hier gab es kein Zögern. So ergriff denn Krapatkul die Riemen (Ruder) und trieb das leichte Fahrzeug, für ihn als Pionier ein leichtes, mit langen Schlägen auf den am weitesten draußen verankerten Kutter zu. Unbemerkt kamen die Flüchtlinge auch hinüber.

Der Kutter war ein plumpes, gedecktes Boot und roch stark nach Seefischen. Sehr bald hatte man den kleinen Anker hoch und ließ die „Jeannette“, – dieser Name stand in weißer Farbe zu beiden Seiten des Bugs, nun mit dem Winde langsam sich immer mehr von dem kleinen Dorfe entfernen, ohne zunächst die Segel zu hissen.

Die beiden Luken des Decks waren durch starke Schlösser gesichert. Es blieb also nichts anderes übrig, als diese aufzubrechen, da die Pinne (Hebelarm) des Ruders (Steuers) fehlte und wahrscheinlich im Vorschiff lag.

Krapatkul hatte das Geschäft ohne größeren Lärm mit Hilfe der Eisenspitze eines Bootshakens sehr schnell besorgt. Die Ruderpinne wurde gefunden und befestigt, und gleich darauf blähte sich auch schon das Großsegel in dem frischen Nachtwinde.

Meinke steuerte aus der Bucht heraus und nach Westen um die Insel herum. Seine Absicht war, an einer nahen, einsamen Stelle des Festlandes den Kutter zu versenken, sich zu Fuß, nachdem man sich irgendwie Zivilkleider beschafft hatte, nach einem größeren Hafen durchzuschlagen und sich an Bord eines nach Spanien bestimmten neutralen Schiffes zu schleichen. Er vertraute dabei auf seine Sprachkenntnisse, während Krapatkul den Stummen spielen sollte. Mit Geld war er gut versehen, so daß sich kleinere Schwierigkeiten hierdurch wohl würden beseitigen lassen. Er verhehlte sich nicht, daß die allgemeinen Aussichten auf ein Gelingen nicht eben günstig waren, huldigte aber dem alten Satz „Frisch gewagt ist halb gewonnen“ und baute im übrigen auf dasselbe günstige Lächeln der Vorsehung, das ihrem kühnen Unternehmen bisher beschieden gewesen war.

Der Kutter lief jetzt unter vollen Segeln – die beiden Gefährten wußten mit der Bedienung eines solchen Fahrzeuges gut Bescheid – nach Westen zu an der Festlandsküste entlang.

Der Mond war bereits im Untergehen begriffen, die See hier unter Wind der Insel Vannes ziemlich ruhig. Meinkes Armbanduhr zeigte genau halb 2 morgens, als Jannek Krapatkul, der die besseren Augen von beiden hatte, gerade in der Fahrtrichtung einen auf dem Wasser treibenden hellen Gegenstand bemerkte.

Sehr bald hatte er festgestellt, daß es sich um ein Wasserflugzeug, einen Doppeldecker von beträchtlicher Größe, handelte. Ob sich in demselben Flieger befanden, ließ sich noch nicht sagen. Jedenfalls wäre es aufgefallen, wenn man den Kurs geändert haben würde. Und Meinke steuerte deshalb auch in einiger Entfernung an dem Flugzeuge vorbei.

Krapatkul war es wieder, der jetzt erkannte, daß aus dem Vorderteil des Rumpfes ein Mann mit dem Oberkörper heraushing. Diese Tatsache veranlaßte den Leutnant, auf den Doppeldecker zuzusteuern.

Nun erst stellte sich heraus, daß es eine englische Maschine war, deren beide Insassen durch Gewehrschüsse den Tod gefunden, vorher aber wohl, obgleich schon verwundet, noch die Kraft besessen hatten, auf der See zu landen, wo sie dann schon einige Stunden in ihrem Luftfahrzeug vor dem Winde dahingetrieben waren.

Die Sachlage war nur so zu erklären, daß der mit zehn Wurfbomben ausgerüstete und noch reichlich mit Benzin versehene Doppeldecker zu den den Kanal bewachenden Fliegern gehört, wahrscheinlich ein deutsches U-Boot angegriffen hatte und von diesem aus heruntergeschossen war.

Meinke, der, obwohl kein ausgebildeter Flugzeugführer, doch mit Flugmaschinen gut umzugehen wußte und im Frieden sogar selbständig ein paar Flüge unternommen hatte, war bald mit der Untersuchung der englischen Maschine fertig. Diese zeigte nur einige unschädliche Schußlöcher in den Tragflächen, war sonst aber vollkommen gebrauchsfähig.

Inzwischen hatten die beiden Flüchtlinge auch feststellen können, daß der Wind mehr und mehr einschlief, so daß ihr ganzer Plan an der eintretenden Flaute (Windstille) sicherlich gescheitert wäre, wenn sie eben den Doppeldecker nicht aufgefunden hätten. Niemals wäre es ihnen gelungen, den schwerfälligen Kutter nur mit Hilfe der langen Ruder bis Tagesanbruch an eine entlegene Stelle der Küste zu bringen. Erneute Gefangenschaft wäre ihr Los gewesen, außerdem Aburteilung durch ein französisches Kriegsgericht und schmachvolle Kerkerhaft.

Unter diesen Umständen gab es kein langes Besinnen. In einer Stunde wurde es Tag, und bis dahin mußten sie Vannes weit hinter sich haben.

So wurden denn die Leichen der beiden Engländer in die „Jeannette“ geschafft, die man mit Hilfe des Flugzeuges ein Stück weiter in See schleppen wollte, damit nicht sofort am Morgen der Kutter verriete, wie man die Insel verlassen habe.

Die „Jeannette“, durch eine Leine mit dem Doppeldecker verbunden, dessen Motor ohne Schwierigkeiten ansprang, folgte getreulich mit ihren wieder gerefften Segeln und ihren stummen Insassen dem mit beträchtlicher Geschwindigkeit auf seinen Schwimmkörpern über das Meer hingleitenden Flugzeuge.

Wieder steuerte Meinke, der auf dem Führersitz saß, während vor ihm Krapatkul den Beobachter spielte, nach West. Nach dem Verschwinden des Mondes hinter einer starken, dunklen Wolkenbank, die, mit Regen drohend, schnell den halben Himmel überzogen hatte, war es recht dunkel geworden. Desto deutlicher waren die jetzt plötzlich vor den Flüchtlingen auftauchenden Lichtkegel von drei Scheinwerfern zu bemerken. Die weißen Strahlenbüschel glitten hin und her, in die Dunkelheit hineintastend wie riesige Geisterhände. Daß es sich hier um englische oder französische Patrouillenboote handelte, die vielleicht gar nach dem abgeschossenen Doppeldecker suchten, war dem jungen Pionieroffizier sehr bald klar geworden. Der Weg nach Westen war versperrt, also hieß es umkehren. Noch waren die Scheinwerfer zum Glück zu weit entfernt, um das Flugzeug auffinden zu können. Meinke wendete also und schlug einen nordöstlichen Kurs ein, der ihm insofern am günstigsten dünkte, als man auf diese Weise in kurzem die felsigen, winzigen Inselchen der Briennes, die aber eine ziemlich weite Fläche der See mit ihren phantastischen Felsgestaltungen bedeckten, zwischen sich und die feindlichen Schiffe bringen konnte.

So wohlwollend das Schicksal sich den beiden Kriegsgefangenen nun auch zu Anfang ihrer Flucht gezeigt hatte, ebenso schlecht behandelte es sie jetzt. Schon nach wenigen Minuten dröhnten von den Wällen der alten Feste Vannes drei Kanonenschüsse herüber, denen in kurzen Zwischenräumen zwei weitere, dann ein einzelner als Beschluß folgten.

Es war dies das Signal für die Festlandsküstenwachen, daß Gefangene entflohen seien.

Meinke nickte jetzt Jannek Krapatkul, der sich nach ihm umgedreht hatte, ernst zu. Eine Verständigung war bei dem Geräusch des Motors nicht möglich. Dann kletterte der stämmige Ostpreuße, der trotz seiner breiten, untersetzten Figur körperlich sehr gewandt war, an dem Leutnant vorüber, brachte seinen Mund ganz dicht an dessen Ohr und rief:

„Ich werde die Leichen über Bord werfen. Auch die See ist ein ehrliches Grab für die im Kampf Gefallenen, und wir müssen doch hinter uns jede Spur nach Möglichkeit verwischen. Außerdem werde ich den Kutter freigeben. Mag er treiben, wohin er will.“

Wieder nickte Meinke zum Zeichen seines Einverständnisses.

Krapatkul hatte in kurzem alles erledigt. Dann begann es zu regnen. Wolkenbruchartig strömten die Wassermassen vom Himmel herab. Der Leutnant stellte den Motor jetzt auf die höchste Tourenzahl ein, versuchte, ob der Doppeldecker aufsteigen würde. Es gelang nicht. Der Regen drückte zu stark auf die Tragflächen. Außerdem sammelte sich auch bald im Rumpf des Flugzeuges unter den Sitzen der beiden Insassen Wasser an. Zu sehen war jetzt so gut wie nichts. Wie ein Vorhang lag der Regen ringsum. Und in dieses unsichere Nichts hinein sauste die Flugmaschine, spielend leicht hinweggleitend über die See, hin und wieder sich wohl auch zu einem flachen Bogensprung aufraffend wie ein fliegender Fisch, der seine breiten Schwimmflossen ja ähnlich wie Tragflächen benutzt, mehr jedoch den Namen springender als fliegender Fisch verdient, obwohl er auf diese Weise Strecken bis zu dreißig Meter in der Luft zurücklegt.

Meinke hatte bald die Orientierung fast vollständig verloren. Gewiß, rechts von ihm war ein Kompaß angebracht. Aber wie sollte er jetzt die Nadel erkennen? – Ausgeschlossen! Also steuerte er lediglich nach dem Gefühl, indem er sich stets in derselben Richtung zu den herabpeitschenden Regenmassen zu halten suchte.

Zehn Minuten etwa mochten so vergangen sein. Dann wuchs plötzlich zur Linken der dahinjagenden Flugmaschine ein dunkles Etwas aus den Wassern empor, – hochgetürmte Felsen, die jedoch im Augenblick wieder verschwunden waren. Gleich darauf wurden auch rechts verschwommene dunkle Massen sichtbar, glitten vorüber, wurden von neuen abgelöst.

Krapatkul hatte sich wieder nach seinem Leutnant umgedreht, um diesen auf die drohende Nähe von Land aufmerksam zu machen. Rannte der Doppeldecker mit dieser Geschwindigkeit gegen einen Felsen, so blieb nichts von ihm und in ihm heil – nichts!

Meinke stellte den Motor ab.

Zu spät … Das Unheil war schon da. Mit der rechten Tragfläche streifte das Flugzeug urplötzlich an einer Felswand entlang. Der Ruck war so heftig, daß der Doppeldecker mit kurzem Schwung eine Rechtsdrehung machen wollte. Da schrammte auch schon die obere linke Tragfläche ein Hindernis, … und jede Bewegung des nun festgekeilten Flugapparates hörte auf.

Der Propeller lief noch, sich immer langsamer drehend, aus. Und in den Tragflächen knisterte es recht verdächtig nach zersplittertem Holz, das sich bisher durch die Spanndrähte in anderer Lage gehalten, nun dehnte und reckte.

„Eine nette Bescherung!“ meinte der Leutnant, sich die Nässe von den Kleidern schüttelnd. „Wo mögen wir uns nur befinden, Jannek?“

„Mitten zwischen den Briennes-Inselchen, wo sonst?“ erwiderte Krapatkul in der Aufregung wenig respektvoll, fügte dann aber in mehr militärischem Tone hinzu:

„Herr Leutnant können mir glauben. Es sind die Briennes-Eilande. Die Insel Vannes hat keine solche vorgelagerten Felsen. Wären wir nach dem Festlande hingeraten, so müßten wir etwas von der dort ständig recht lebhaften Brandung hören.“

„Schließlich ist das auch gleichgültig“, erwidere Meinke ingrimmig. „Mit unserer Flucht sind wir böse hineingefallen. Daran läßt sich nichts mehr ändern – gar nichts! – Was tun wir nun? Wenn nur erst dieser verd… Regen aufhören wollte! Man sieht dabei ja nicht die Hand vor Augen. Wir können doch hier nicht ewig in dieser ungemütlichen Nässe sitzen bleiben.“

Jannek Krapatkul deutete nach Osten hin, wo am Himmel so etwas wie ein heller Schimmer zu bemerken war.

„Es wird schon hell, Herr Leutnant. Und der Regen muß auch gleich vorüber sein. Dort ist die Wolkenwand zu Ende.“ Wieder zeigte er schräg nach oben.

Er behielt recht Die Tropfen fielen weniger dicht, und dann wurde es ringsum zusehends lichter.

Man konnte bald feststellen, wie die Örtlichkeit beschaffen war, in die man so blindlings hineingejagt war. Hinter den Flüchtlingen lag ein langer Kanal, der zu beiden Seiten von teils steilen, teils flachen Inselchen, manche davon nur als einzelne Felsen zu bezeichnen, eingefaßt war.

Das Flugzeug selbst hatte sich tatsächlich zwischen den steil aus dem Wasser ansteigenden Felsenufern zweier Inseln festgeklemmt. Die rechte obere Tragfläche war halb abgebrochen, die linke ebenfalls beschädigt. Jedenfalls ließ es sich mit dem in dem Rumpf untergebrachten Handwerkszeug nicht wieder ausbessern. Das[1] hatte Leutnant Meinke mit einem prüfenden Blick auf die Tragflächen bald festgestellt.

Krapatkul versuchte jetzt, die rechte Tragfläche als Weg benutzend, die östliche Ufersteilwand, die hier vielleicht eine Höhe von 10 Meter hatte, zu erklimmen. Es gelang ihm auch. Von der so gewonnenen Höhe aus hatte er einen ganz guten Rundblick. Er meldete denn auch seinem Leutnant, daß es von hier aus eine ganze Menge zu sehen gebe, woraufhin Meinke gleichfalls an der steinigen Wand, die verschiedene Absätze und viele Risse und Spalten besaß, emporklomm. Vorher hatte er den Kompaß aus dem Doppeldecker losgeschraubt, um sich leichter orientieren zu können. Mit Hilfe der Magnetnadel wurde er sich denn auch bald über die Himmelsrichtung klar, für die ihm allerdings schon der im Osten sich lichtende Horizont einen Anhaltspunkt gegeben hatte.

Nach kurzer Umschau wies er nun auf einen noch weiter nördlich stehenden Felskegel, der offenbar die höchste Erhebung der vielen winzigen Eilande darstellte.

„Dort hinauf müssen wir, wenn wir einen wirklich nach allen Seiten freien Rundblick haben wollen“, sagte er zu seinem braven Burschen, mit dem er vor seiner Gefangennahme drei Monate Freud und Leid geteilt hatte.

Das „dort hinauf“ war aber leichter gesagt als getan. Die kleine Insel, auf der die beiden Flüchtlinge sich jetzt befanden, war nichts als eine steinige, überall steil abfallende Hochebene, und der von Meinke bemerkte Felskegel lag auf dem nächsten Eiland nach Norden zu. Bald gaben die Gefährten den Versuch auf, jene Kuppe zu erreichen und begnügten sich mit dem, was sie von der Uferhöhe aus bemerken konnten, die sie zuerst erklettert hatten.

Im Süden lag die Insel Vannes, jetzt schon bei der zunehmenden Tageshelle leidlich gut zu unterscheiden. Im übrigen ringsum nur das weite Meer – die Wasser des Kanal la Manche, des Ärmelkanales, der hier mindestens 200 Kilometer breit war. Jetzt erkannte man auch im Südwesten auf der See drei Fahrzeuge, dunkle, schlanke Dampfer, fraglos Torpedozerstörer und zwar wohl dieselben, deren Scheinwerfern man noch rechtzeitig in der Dunkelheit hatte entschlüpfen können. Im übrigen war das Meer, wenigstens soweit man nun zu sehen vermochte, leer.

Dafür gab es aber in der Nähe manches Interessante, denn zu Füßen der beiden Deutschen lagen ja die Briennes-Inselchen mit ihrer öden Felsenwildnis. Diese, ungefähr in der Form eines gleichseitigen, mit der Spitze nach Norden zu gerichteten Dreiecks, bedeckten eine Fläche von gut drei Quadratkilometer. Die Wasserstraßen zwischen den Eilanden und größeren Klippen – Meinke schätzte ihre Zahl auf vielleicht 200 – waren mit Ausnahme von drei Kanälen so schmal, gewunden und durch Riffe und Steine unpassierbar gemacht, daß ein Eindringen in dies Insellabyrinth nur mit Hilfe der drei breiteren Kanäle möglich war, die von Südwest, Südost und Nordost etwa nach der Mitte der Gruppe hinliefen, ohne sich jedoch zu vereinigen. Vielmehr wurde diese Mitte der Briennes-Inseln von einer Anzahl besonders steil aus dem Wasser ansteigender Eilande gebildet, die sozusagen den Kern des dreizackigen Sternes darstellten.

Der Doppeldecker war in dem Südwestkanal bis zu dessen nordöstlichstem Endpunkt vorgedrungen, und nur eine Reihe glücklicher Zufälle hatte ihn, da das Fahrwasser stellenweise nur dreißig Meter breit war, bis an den Punkt gelangen lassen, wo er sich nachher festkeilte.

Jannek Krapatkul hatte jetzt bemerkt, daß einer der Zerstörer sich von den beiden anderen trennte und auf den Kutter zusteuerte, der von einer Strömung bis in die Nähe der südwestlichsten vorgelagerten Riffe hingetrieben worden war.

Die Möglichkeit, daß das Kriegschiff auch den Kanal besuchte – inzwischen war es ja sicher auf drahtlosem Wege von der Flucht der beiden Deutschen eingehend verständigt worden, lag so nahe, daß Meinke beschloß, das Flugzeug schleunigst zu versenken, damit der Feind es nicht bergen könne.

Die beiden Gefährten kehrten also auf den Doppeldecker zurück, brachten von diesem alles, was sie schnell fortschaffen konnten und was ihnen nützlich zu werden versprach, auf die mit Hilfe der linken Tragfläche ebenso leicht zu erreichende, aber bedeutend niedrigere Insel und schlugen dann mit dem in dem Handwerkszeugkasten vorhandenen Beile in die Zinkblechschwimmkörper ein paar Löcher, zertrümmerten schließlich die linke Tragfläche, wo sie mit den Felsen in so innige Berührung gekommen war, so weit, daß der Doppeldecker hier keinen Halt mehr hatte, und sahen dann den Flugapparat langsam versinken und bald unter der Wasseroberfläche völlig verschwinden. Die Tiefe an dieser Stelle mußte recht beträchtlich sein, da von dem Apparat nachher keine Spur mehr zu sehen war.

Die aus der Flugmaschine geborgenen Gegenstände hatten sie in eine große Öltuchplane eingewickelt, die zum Bedecken des Motors vorgesehen gewesen war. Mit diesem schweren Bündel belud sich nun Jannek Krapatkul, und so wandten sie sich auf dieser neuen Insel nun nach Norden zu, um sich ein vorläufiges Versteck zu suchen. Glaubte Meinke doch damit rechnen zu müssen, daß der Zerstörer vielleicht die Gruppe nach den deutschen Flüchtlingen absuchen lassen würde. Diesen Streifpatrouillen zu entgehen, bildete daher die Hauptsorge des jungen Offiziers.

Die Insel, auf der sie sich befanden, streckte eine schmale Halbinsel weit nach Norden aus und zwar bis dicht an eines jener Eilande, die als riesige Felswürfel den Kern der Briennes-Gruppe vorstellten und zwischen denen kaum drei bis vier Meter breite Wasserrinnen sich hinzogen, in denen überall aus der Tiefe scharfe Zacken in Gestalt von Klippen und Riffen herauswuchsen.

Diese Halbinsel, von der die Flüchtlinge mit einem Weitsprung auf ein drittes Eiland hinübergelangten, war also die Brücke, die ihnen die Fortsetzung ihrer Flucht trockenen Fußes gestattete. Jetzt aber schien ein weiteres Vordringen nach Norden zu ausgeschlossen, da diese dritte Insel in ihrem Nordteile geradezu zu einer Felsenmauer sich auftürmte, die bei ihren glatten Wänden unmöglich zu ersteigen war und die, wie die Gefährten nun erst bemerkten, sich wie ein Ringwall nach Westen und Osten im Bogen fortsetzte, bald niedriger, bald höher, aber stets so steil bleibend, daß man sie nur mit Hilfe von Leitern hätte erklimmen können.

Diese Entdeckung, daß der Mittelpunkt der Briennes-Gruppe offenbar von einer einzigen, recht großen Insel gebildet wurde, die ganz unzugänglich schien, spornte den Eifer der beiden Deutschen aber desto mehr an, festzustellen, was eigentlich dahinter lag. Allerdings – viel Zeit für diese Versuche hatten sie nicht, da sie bald von einem erhöhten Punkte aus sahen, daß der Zerstörer jetzt wirklich Boote ausgesetzt hatte, die in dem Südwestkanal aufwärts kamen.

Die mächtige Felsenmauer, die die nach dem Mittelpunkt der ganzen Gruppe zu gelegenen Teile einer Anzahl in einem unregelmäßigen Kreise gelagerter Inselchen wie ein Reifen verband, gestattete an ihrem Fuße immerhin ein Vordringen nach Norden zu, wenn auch unter recht erheblichen Schwierigkeiten. Der erste Eindruck, der Steinwall verhindere jeden weiteren Schritt, war also ein irriger gewesen. Oft genug dicht über dem Wasserspiegel kletterten die Flüchtlinge, in Rissen, Spalten und auf kleinen Vorsprüngen Halt suchend, an der Steilwand entlang. Hatten sie wieder ein neues Eiland erreicht, ging es schneller vorwärts.

Jannek Krapatkul war es schließlich, der an einer Stelle eines genau im Westen liegenden Inselchens eine Stelle fand, wo er plötzlich stutzte und seinen Leutnant dann auf eine Tatsache aufmerksam machte, die sehr zu denken gab. Ein bloßer Zufall, einer jener Glückszufälle eben, die oft so wunderbar in unser Leben eingreifen, hatte ihn eine versteckt angebrachte, von Rost zerfressene eiserne Klammer bemerken lassen, die in einer die Steilwand meterbreit durchschneidenden Spalte in das Gestein eingelassen war. Bald bemerkte er nun auch über der ersten eine zweite, gleiche Klammer, ähnlich denen, wie man sie auch heute noch an den Rückfronten öffentlicher Gebäude als Rettungsweg bei Feuersgefahr oder zur Erleichterung von Reparaturen findet.

Ganz aufgeregt wurden die beiden Deutschen bei dieser Entdeckung. Meinke hatte sich schnell bis zu der zweiten Klammer hochgezogen, bemerkte von hier aus nun mehr seitwärts noch weitere dieser noch ganz haltbaren Steigeisen und befand sich gleich darauf immer in der Spalte auf diese Weise hochklimmend, jenseits des Felsenwalles. Vor ihm lag hier jedoch eine genau so wild durcheinander geworfene Masse von riesigen Felsnadeln, -türmen und -blöcken, von ganz schmalen Wasserrinnen durchzogen, wie bisher.

Er war darüber nicht wenig enttäuscht, tröstete sich aber mit dem Gedanken, daß man hier innerhalb des Felsenwalles wohl ziemlich sicher vor den umherstreifenden feindlichen Patrouillen sei.

Nachdem die Gefährten sich mühsam noch weiter nach dem Mittelpunkt der Inselgruppe vorwärtsgearbeitet hatten, versperrten ihnen abermals schroffe Steinwände den Weg. Wieder mußten sie diese umgehen, kamen so immer mehr nach Norden.

Dann, gerade als sie sich zu kurzer Rast niedergelassen hatten, ertönte über ihnen ein leiser Pfiff, der unmöglich von einer der zahlreichen Möwen herrühren konnte, die oben in den Spalten der Felsen überall nisteten und oft in dichten Scharen um ihre Nester schwärmten.

Die Köpfe der beiden Flüchtlinge waren gleichzeitig herumgeschnellt.

Eine jugendliche, helle Stimme war’s, die nun in deutscher Sprache rief:

„Sie sind entflohene Kriegsgefangene, nicht wahr?“ Gleichzeitig schob sich über den Rand der Felsen oben der Kopf eines kaum dem Kindesalter entwachsenen Knaben hinaus, der einen sehr eigenartig geformten Hut aufhatte.

Der Leutnant und Krapatkul waren aufgesprungen. In dem Ausdruck ihrer Gesichter mußte sich deutlich das maßlose Erstaunen über diese Begegnung mit diesem Knaben widerspiegeln, der der Aussprache des Deutschen nach nur ein Landsmann von ihnen sein konnte.

Der kleine Bursche, der auf der Höhe der Steilwand offenbar lang auf dem Bauche lag, lachte jetzt ganz vergnügt.

„Sie wundern sich, nicht wahr? – Das kann ich mir vorstellen!“ meinte er. „Auf eine solche Überraschung waren Sie nicht vorbereitet! Bitte gehen Sie jetzt wieder ein Stück nach Westen zu an der Wand zurück. Ich werde Ihnen hier von oben zurufen, wo der Zugang zu unserer Kolonie ist.“

Wenige Minuten später standen Meinke und sein treuer Krapatkul vor einer weniger abschüssigen Stelle des Felsens. Hier hatten sich in Ritzen und Spalten kümmerliche Sträucher und auch einige Rankengewächse angesiedelt, die jedoch einen genügend dichten, grünen Vorhang bildeten, um die hier gleichfalls in das Gestein eingelassenen Steigeisen zu verdecken.

Der Knabe hatte den beiden wieder von oben herab Anweisung gegeben, hier Halt zu machen und ihnen auch die Lage dieser eisernen Treppenstufen näher beschrieben.

Jetzt fiel das Ende eines ledernen Lassos zu den Füßen des Ostpreußen nieder, und der Junge forderte Krapatkul auf, das Bündel daran zu befestigen, damit der Aufstieg leichter vonstatten gehe. Gleich darauf hatten die Flüchtlinge die Höhe der Felswand erreicht und sahen sich nun dem kleinen Burschen gegenüber, der inzwischen das Bündel hochgezogen hatte.

Der sonnverbrannte, langaufgeschossene Knabe konnte vielleicht vierzehn Jahre alt sein. Er war in einen Anzug aus Leder gekleidet, der seinem Schnitt und der Machart nach sehr wahrscheinlich von dem Jungen selbst angefertigt war. Auch die sandalenähnlichen Schuhe mußten eigenes Fabrikat sein. Dabei war nicht abzuleugnen, daß der ganze Anzug gar kein übles Aussehen hatte. Er war vielmehr, ebenso wie die Sandalen, mit kleinen Muscheln reich benäht und wirkte daher wie ein echt indianisches Kleidungsstück, zumal die Außennähte der Beinkleider und die der Ärmel mit langen, schwarzen Haaren besetzt waren.

Meinke streckte dem Jungen herzlich die Hand zur Begrüßung hin.

„Ein kleiner Landsmann von uns, nicht wahr?“ fragte er gespannt.

„Jawohl, Herr Leutnant. Fritz Burke heiße ich. Und wir sind jetzt schon über ein halbes Jahr hier, der Heinrich und ich.“

Die frische Art des Knaben nahm sofort für ihn ein. – Meinke hätte ja nun genug zu fragen gehabt, aber Fritz erklärte, das könne nachher in der „Kolonie“ erledigt werden, zu der er jetzt die Flüchtlinge hinführen werde.

Das Wort Kolonie, das nun schon zum zweitenmal erwähnt wurde, klang so großartig, daß Meinke lachend sagte:

„Auf diesen öden Felsen eine Kolonie? – Mein Junge, viel wird es damit wohl nicht auf sich haben.“

„Abwarten, Herr Leutnant!“ Und dann setzte Fritz sich an die Spitze des kleinen Zuges und schritt auf ein Gewirr von mächtigen Felsblöcken zu, die ein wahres Labyrinth von kurzen, steinigen Gassen bildeten, in denen sich nur ein Ortskundiger zurechtfinden konnte. Nach einigen Minuten hörte diese Felswildnis auf, und vor den erstaunten Augen der beiden Feldgrauen lag nun unten in der Tiefe ein kreisrunder Talkessel von vielleicht achtzig Meter Durchmesser, der, umgeben von all den schwer zu überwindenden Hindernissen, ein Versteck darbot, wie es günstiger kaum sein konnte.

Gerade gegenüber der Stelle, wo die drei durch die Vorsehung hier vereinten Deutschen jetzt standen, wuchsen an der anderen Seite des Tales eine Anzahl von Bäumen, – Eichen, Kastanien und auch einige prächtige Edeltannen, sämtlich Stämme von einem offenbar recht ehrwürdigen Alter, wie ihre Stärke verriet. Und vor diesem grünen Hain blinkte das Wasser eines kleinen Teiches, um den herum der Grasteppich des Tales besonders frisch und üppig war und in seinem gleichmäßigen Grün durch mehrere Sträucher und Büsche unterbrochen wurde. Unweit des Ufers des winzigen Gewässers aber erhob sich unter dem Blätterdach einer wahrhaft riesigen Eiche eine Hütte, vor der – Meinke und der stämmige Ostpreuße trauten ihren Augen nicht! – vier Ziegen weideten, während nicht weit davon zwei Hunde – es waren Wolfshunde mit graugelbem Fell – lang ausgestreckt sich sonnten.

„Herr Leutnant – unsere Kolonie!“ sagte Fritz Burke stolz.

Dann stieg er den abschüssigen Hang zum Talkessel hinab, gefolgt von den beiden Flüchtlingen, die wahrhaftig zu träumen glaubten. Nie und nimmer hatten sie vermutet, daß die öden Briennes-Inseln in ihrer Mitte dies kleine Paradies bargen.

Jetzt hatten die Hunde die Näherkommenden bemerkt und sprangen in langen Sätzen herbei, beschnupperten erst mißtrauisch die ihnen fremden Soldaten, wurden aber schnell zutraulich und ließen sich mit Behagen das glänzende Fell streicheln.

Immer neues gab es nun für die Gäste der beiden jungen Ansiedler zu sehen: die Hürde für die Ziegen mit einem kleinen Stall darin, die weiter entfernt unter den Bäumen angelegt war, – ein Garten hinter der Hütte mit einer aus Zweigen geflochtenen Laube, und besonders die Hütte selbst, die aus Schiffstrümmern erbaut war und in deren einzigem Raume außer zwei Lagerstätten, einem Herde aus Steinen sich sogar ein primitiver Tisch, zwei Schemel, Wandbretter und allerlei anderes befanden.

„Was Sie hier sehen, Herr Leutnant, haben wir sozusagen aus dem Nichts geschaffen“, erklärte der Knabe voller Stolz, indem er die Gäste auf diese oder jene Einzelheit aufmerksam machte.

„Aber Dein Kamerad, – wo steckt der denn eigentlich, mein Junge?“ fragte Meinke, indem er Fritz anerkennend auf die Schulter klopfte.

„Heinrich beobachtet den Feind“, erwiderte der kleine Bursche wichtig. „Wir haben den Lauf der Ereignisse hier seit Tagesanbruch genau verfolgt, sahen den Zerstörer auf den Südwestkanal zusteuern, erblickten dann auch Sie und Ihren Begleiter, Herr Leutnant, und trennten uns dann, damit ich Ihnen entgegeneilen und Sie hierher führen konnte. Ahnten wir doch sofort, daß wir Landsleute vor uns hätten, als wir Ihre Uniformen erkannten. Heinrich liegt jetzt wohl noch dort oben auf der Spitze jenes Felsens“ – dabei deutete er auf eine im Süden emporragende Kuppe – „und schaut nach Ihren Verfolgern aus. Er wird sich aber wohl bald einfinden.“

Dann fragte er als aufmerksamer Wirt, ob die beiden Flüchtlinge auch vielleicht Hunger oder Durst hätten.

Meinke und besonders Krapatkul waren durchaus nicht abgeneigt, sich zu stärken. Vor der Hütte an einem dort in der Erde befestigen Tische mußten sie nun Platz nehmen, und der Knabe trug eilfertig auf, was die Küche der beiden jungen Ansiedler an Vorräten barg: Ziegenmilch und -käse, geröstete eßbare Kastanien, einen Laib Brot, das aus Kastanienmehl gebacken war, und manches andere. Die Teller waren aus Holz geschnitzt, die Gefäße bestanden in leeren Konservenbüchsen, und die Messer waren selbst geschmiedet und mit einem Holzgriff versehen.

Abermals spendete Meinke dem erfinderischen Geiste der Kolonisten uneingeschränktes Lob. Und jetzt fand sich Fritz auch bereit, in Kürze zu schildern, wie er und der um ein Jahr ältere Heinrich Leitner hier auf die Briennes-Gruppe gelangt waren.

Heinrich, der Sohn eines Emdener Schiffskapitäns, hatte im Juli 1914 zusammen mit seinem Schulfreunde Fritz Burke auf dem „Seestern“, dem von seinem Vater geführten großen Frachtdampfer, eine Reise nach England mitgemacht. Der „Seestern“ lag gerade im Hafen von Plymouth, als der Krieg ausbrach. Die deutsche Besatzung, auch die beiden Knaben, wurden sofort interniert. Da man die kleinen Burschen aber nicht allzu scharf bewachte, gelang es ihnen zu entkommen und mit wichtigen Papieren, die Heinrich für seinen Vater nach Deutschland bringen sollte, im Oktober an Bord eines holländischen Seglers zu schleichen, der von Plymouth zunächst den Hafen von St. Malo an der Küste der Bretagne anlaufen wollte. Sturm, Nebel und eine treibende Mine brachten der „Antje van Groningen“, so hieß der Dreimaster, in der Nähe der Briennes-Gruppe den Untergang. Die beiden Freunde retteten sich auf die Insel und begannen hier nun ein richtiges Robinsonleben, nachdem sie das fruchtbare Tal auf dem mittelsten und größten Eiland entdeckt hatten. Manche aufregenden Erlebnisse hatten sie hinter sich, waren bisweilen beinahe von den Franzosen bei ihren Entdeckungsfahrten nach den anderen Inseln der Gruppe erwischt worden und doch stets glücklich entronnen. Um keinen Preis wollten sie wieder in Gefangenschaft geraten, hofften vielmehr mit Geduld auf eine günstige Gelegenheit, irgendwie nach Deutschland zurückkehren zu können. So hatten sie nun über ein halbes Jahr in ihrem Schlupfwinkel zugebracht und sich bereits völlig an diese eigenartigen Lebensbedingungen und an die stete Gefahr des Entdecktwerdens gewöhnt. (Die Erlebnisse der beiden Knaben sind im vorhergehenden Bande dieser Sammlung unter dem Titel „Die Kolonie auf den Briennes“ geschildert worden).

Kaum hatte Fritz Burke seinen spannenden Bericht beendet, als von den Südabhängen des Felskessels her dreimal der heisere Schrei eines Seeadlers ertönte.

Der Knabe, an den Meinke soeben eine Frage gerichtet hatte, sprang auf, indem er dem Leutnant durch eine Handbewegung andeutete, daß etwas Besonderes seine ganze Aufmerksamkeit beanspruche.

Wieder wurde der Schrei eines Seeadlers vernehmbar. Die beiden Feldgrauen kannten diesen Vogellaut von ihrer Gefangenschaft auf Vannes her nur zu gut. Hatten dort in den Klüften der höchsten Uferfelsen doch auch eine ganze Menge dieser Fischräuber gehorstet.

In der Haltung Fritz Burkes hatte sich gespanntestes Horchen ausgedrückt. Jetzt sagte er leise und erregt:

„Es ist ein zwischen mir und Heinrich seit langem vereinbartes Warnungssignal. Folgt nochmals ein Seeadlerschrei, so bedeutet es, daß ich schleunigst zu ihm eilen soll.“

Da drang schon das Zeichen durch die von Sonnenglanz erfüllte Luft bis zu den Lauschenden hin.

„Vorwärts – irgendeine Gefahr droht, Herr Leutnant! Wenn Sie Waffen besitzen, nehmen Sie sie mit.“ Dabei deutete er auf das Bündel, an dem gerade die beiden Wolfshunde herumschnupperten.

Jannek Krapatkul schnürte hastig den Bindfaden auf, der die Öltuchplane oben zusammenhielt. Die Flüchtlinge hatten den beiden englischen Fliegern die Pistolen und die dolchartigen Messer abgenommen und steckten die Waffen jetzt zu sich, ebenso einen Vorrat von Patronen.

Fritz war inzwischen schon vorausgeeilt und erkletterte die Talwand an der Südseite, indem er dabei eine Anzahl von in den Fels eingehauenen Stufen benutzte.

Nach einem mühseligen Wege über wirre Gesteinsmassen langten die drei am Fuße der Kuppe an, die Fritz den beiden Flüchtlingen vorhin als diejenige bezeichnet hatte, auf der sein Gefährte einen Beobachtungsposten bezogen hatte.

Von Heinrich Leitner war zunächst nichts zu sehen. Erst als Fritz einen leisen Pfiff ausstieß, erschien oben zwischen ein paar Steinen ein menschlicher Kopf, und der ältere der Knaben winkte den dreien eifrig zu, nicht zu ihm heraufzusteigen und sich auch möglichst still zu verhalten.

Meinke glaubte nicht anders, als daß die Patrouillen des Zerstörers den Weg nach der mittelsten Insel der Gruppe durch einen Zufall entdeckt hätten und nun die Möglichkeit vorläge, daß sie auch in den Talkessel eindrangen.

Aber Heinrich Leitner, der gleich darauf neben ihnen auftauchte, nachdem er auf der anderen Seite von der Kuppe herabgestiegen war, belehrte ihn bald eines besseren.

Er war ein kräftiger Bursche, ebenfalls in einen Lederanzug gekleidet wie sein Freund, und berichtete nun fliegenden Atems, daß von der Festung Vannes aus offenbar von der nächsten Marinefliegerstation ein Geschwader von Seeflugzeugen zur Mithilfe bei der Verfolgung der entkommenen Kriegsgefangenen herbeigerufen worden sei und daß die Doppeldecker zum Teil das Meer, niedrige Kreise ziehend, absuchten und sicherlich auch sehr bald über der Briennes-Gruppe kreuzen würden.

Es sei daher nötig, fügte er hinzu, den Talkessel schleunigst so herzurichten, daß von oben nichts bemerkt werden könne, was auf die Anwesenheit von Menschen hindeutete. Er wolle von der Kuppe aus weiter beobachten, und die drei anderen sollten sofort die notwendigen Verrichtungen zur Täuschung der Flieger vornehmen.

In aller Eile kehrten Fritz Burke und unsere Feldgrauen daher nach der Hütte zurück. Der Leutnant ordnete hier alles, was er für zweckdienlich hielt, an. Durch rasch abgeschlagene, buschige Kastanienäste wurde die Hütte genügend maskiert, während die Hunde und die Ziegen in den kleinen Stall eingesperrt wurden.

Da erklang auch schon der Seeadlerschrei abermals. Dies war das verabredete Signal, daß Flugzeuge sich den Inseln näherten.

Sofort zogen sich die drei Deutschen in den Schutz der Bäume zurück. Gleich darauf hörten sie auch das kennzeichnende Geräusch eines Propellers über sich, und kaum zweihundert Meter hoch kam ein Doppeldecker nun von Süden herangesegelt, ging gerade über dem Talkessel bis auf hundert Meter herab und beschrieb große Kreise über den Eilanden. Sehr bald gesellte sich ein zweites Flugzeug dem ersten zu.

Wohl eine Viertelstunde lang blieben die beiden Doppeldecker in der Nähe. Dann verschwanden sie nach Süden, nach der bretonischen Küste zu.

Fritz Burke lachte jetzt sorglos auf.

„Herr Leutnant, die mußten schön mit langer Nase abziehen!“ meinte er triumphierend.

Aber Meinke, der die Folgen dieser Luftrekognoszierung besser überblicken konnte, machte ein sehr ernstes Gesicht.

„Das Verschwinden der Flugzeuge ist noch lange kein Beweis dafür, daß sie hier auch nichts Auffälliges bemerkt haben“, erklärte er. „Hierüber werden wir erst in den nächsten Stunden Gewißheit erhalten. Sicher ist ja jedenfalls, daß die Beobachter in den Doppeldeckern dieses fruchtbare Fleckchen Erde, von dem vielleicht bisher niemand der Küstenbewohner hier in der Nähe Kenntnis hatte, erspäht haben. Und deshalb liegt die Gefahr nahe, daß der Kommandant von Vannes diesen Platz einmal gründlicher untersuchen läßt.“

Jetzt erschien auch Heinrich Leitner, mit dem Meinke nun nochmals die Sachlage durchsprach. Der ältere der Knaben teilte die Zuversichtlichkeit seines Freundes ebenfalls nicht.

„Fliegerbesuch haben wir zum Glück noch nie gehabt“, meinte er. „Jedenfalls müssen wir wohl in der nächsten Zeit ständig auf unserer Hut sein, da gebe ich Ihnen recht, Herr Leutnant.“

Der junge Offizier, dem nun durch stillschweigende Vereinbarung der Oberbefehl über die kleine Schar übertragen wurde, bestimmte jetzt, daß alle zwei Stunden ein anderer der vier Gefährten auf der Felskuppe den Beobachtungsposten beziehen solle und schickte jetzt zunächst Jannek Krapatkul dorthin, der von Fritz Burke an seinen Bestimmungsort geführt wurde, da ja der brave Ostpreuße hier mit der Örtlichkeit noch wenig Bescheid wußte. Es wurden auch noch allerlei Winksignale verabredet, die eine recht schnelle Nachrichtenübermittlung ermöglichen sollten.

Mittlerweile war es elf Uhr vormittags geworden. Vor einiger Zeit hatte sich eine Ostbrise erhoben, die jetzt Miene machte, sich zu einem recht kräftigen Winde auszuwachsen. Dies kam den Bewohnern des versteckten Tales insofern sehr gelegen, als kaum anzunehmen war, daß sich die Wasserflugzeuge nochmals so weit in See hinauswagen würden. Vorläufig hatte man also wohl Ruhe vor ungebetenen Gästen.

Meinke und der reckt aufgeweckte Heinrich Leitner setzten sich vor die Hütte an den Tisch und nahmen diese Gelegenheit wahr, nochmals in aller Ruhe ihre Lage zu erörtern. Hierbei erfuhr der Leutnant mancherlei, was Fritz Burke vorhin zu erwähnen vergessen hatte, so z. B., daß die beiden Knaben gleich in den ersten Tagen ihrer Anwesenheit auf den Briennes-Inseln beobachtet hatten, wie französische Dampfer vor die Mündung des Nordostkanales der Gruppe Minen legten, – dies offenbar zu dem Zweck, um deutsche U-Boote, die vielleicht die unbewohnten Eilande anlaufen wollten, zu vernichten.

Im Laufe der Unterhaltung fragte der Leutnant auch, ob Heinrich ihm irgendwie darüber Aufschluß geben könne, woher wohl die in die Felsen eingelassenen, sicher sehr alten Steigeisen stammen könnten. Diese deuteten doch, so erklärte er, darauf hin, daß früher einmal schon in diesem fruchtbaren Schlupfwinkel Leute gehaust haben müßten, die zur bequemeren Erreichung des Talkessels eben die eisernen Klammern an versteckter Stelle angebracht hätten.

Der ältere der beiden Knaben erwiderte, auch er habe über diesen Punkt verschiedentlich nachgedacht, ohne sich über die Bedeutung der Steigeisen klarwerden zu können.

Meinke sagte nun nach kurzem Überlegen:

„Zu lange sind diese Eisenklammern doch wohl noch nicht vorhanden. Nach dem Grade ihrer Verwitterung durch Rost – freilich ist dies eine recht unsichere Berechnung, da es ganz auf die Zusammensetzung des Eisens ankommt, ob es schneller oder langsamer durch Rost zerstört wird – möchte ich beinahe annehmen, daß sie ein halbes Jahrhundert alt sind. Weiter darf man wohl aus der Art, wie sie gerade an Stellen eingelassen sind, die so leicht kein menschliches Auge trifft, schließen, daß auch unsere Vorgänger hier alle Ursache gehabt haben, die Existenz dieses Tales möglichst geheim zu halten. Hierfür spricht wohl auch die Tatsache, daß doch offenbar die Küstenbevölkerung hier ringsum nichts von diesem Schlupfwinkel weiß. Sonst hätte man Euch beide, mein Junge, längst in Eurer Kolonie aufgestöbert. Das Wahrscheinlichste ist demnach, daß hier seiner Zeit Schmuggler einen verborgenen Stapelplatz für ihre Pascherwaren gehabt haben. – Sag’ mal, Heinrich, ist Euch denn in diesem halben Jahre Eures Robinsondaseins nichts in dem Tale aufgefallen, was auf einen früheren häufigeren Besuch durch Menschen hingewiesen hätte?“

Der Knabe dachte nach und erwiderte dann, es gäbe hier freilich ein solches Beweisstück und zwar in Gestalt eines in die Rinde einer der Eichen eingeschnittenen merkwürdigen Bildes oder einer Zeichnung, – wie man diese längst ganz undeutlich gewordenen Figuren nun auch nennen wolle.

Meinke war gespannt, wie er selbst dieses Rindenbild beurteilen würde, ließ sich von dem Knaben nach dem betreffenden Baume, der ziemlich in der Mitte des Gehölzes sich erhob, hinführen und fand hier in der Rinde etwa folgende Figur an einer glatten Stelle des Stammes, welche infolge des Wachstums der Eiche aber zu verschwommenen Rillen auseinander gezerrt war.

In ein Quadrat von ursprünglich vielleicht vierzig Zentimeter Seitenlänge war ein Kreis eingeritzt, der wieder allerlei Kreuze, Löcher und Längsschnitte enthielt. – Was diese zu bedeuten hatten, was überhaupt die ganze Zeichnung vorstellte, konnte auch Meinke nicht ergründen.

Am seltsamsten war, daß an einer Seite des Kreises ein großer, jetzt von der Rinde schon halb überzogener Nagel in den Baum hineingetrieben war.

Meinke, der in allem mit größter Beharrlichkeit und Genauigkeit vorging, nahm sein Notizbuch vor und stellte auf einem leeren Blatt eine Kopie des Rindenbildes her, indem er dabei möglichst sorgfältig die durch die Ausdehnung der Rinde in den Schnitten entstandenen Verzerrungen verbesserte, um eine der ursprünglichen recht ähnliche Zeichnung zu erhalten. – –

Nachdem die drei Landsleute dann zu Mittag gegessen hatten, bezog der Leutnant den Beobachtungsposten auf der Kuppe und löste seinen braven Burschen ab.

Krapatkul war froh, daß nun auch die Reihe an ihm war, sich den stets hungrigen Magen – die Verpflegung auf Vannes war nicht gerade überreichlich gewesen! – füllen zu können und kehrte eiligst nach dem Tale zurück.

Meinke legte sich an derselben Stelle zwischen den Steinen nieder, von wo aus Krapatkul den südlichen Horizont im Auge behalten hatte. Die Luft war klar, so daß der Leutnant in der Ferne recht deutlich die langgestreckte Insel Vannes und dahinter auch Teile der bretonischen Küste erkannte. Das Meer war nach dieser Richtung hin nur von ein paar Fischerkuttern belebt. Der Torpedozerstörer, der seine Patrouillen schon während Krapatkuls Wache wieder an Bord genommen hatte, war verschwunden.

Meinke hatte nun genügend Zeit, sich in aller Ruhe und Gründlichkeit mit der sonderbaren Zeichnung zu beschäftigen, zog sein Notizbuch hervor und betrachtete das von ihm entworfene Bild von allen Seiten. Als ob er ein Vexierbild vor sich habe, prüfte er jeden Strich, jeden Punkt aufs genaueste. Alle Mühe schien umsonst. Buchstaben waren es nicht. Es konnte nur eine höchst unvollkommene Skizze einer bestimmten Örtlichkeit sein. Meinke dachte an die Briennes-Gruppe. Aber das traf nicht zu. Weiter an den Talkessel selbst. Das hatte schon mehr Wahrscheinlichkeit für sich, obwohl auch dies höchst unsicher blieb. Der linke Teil des Kreises war nämlich mit einer Unmenge von kleinen Kreuzen ausgefüllt, während der rechte zahlreiche Punkte enthielt, die von drei Linien in Dreieckform in der Mehrzahl[2] eingeschlossen waren, während eine vierte Linie von der nach Westen deutenden Spitze des Dreiecks auf die Grundlinie als Senkrechte gefällt war.

Der Leutnant entwirrte allmählich die Skizze doch so etwas. Daß es sich um ein Dreieck und eine Senkrechte darin handelte, war schon eine ganz wesentliche Feststellung.

Halt – diese Senkrechte war ja über die Grundlinie des Dreiecks hinauf verlängert und traf die Kreislinie gerade da, wo der große Nagel in dem Stamm saß …!

Der Nagel, – das war wohl die Hauptsache des Ganzen. Diese Überzeugung gewann bei Meinke immer mehr an Stärke.

Jetzt schaute er wieder einmal von seiner Zeichnung auf und erst nach Süden zu nach dem Festlande hinüber. Irrte er sich …?! – Sein Blick wurde starr. Waren es wirklich dort neben der Ostspitze von Vannes zwei feine Rauchsäulen, die aus Schiffsschloten aufstiegen.

Noch ließ sich dies nicht mit Bestimmtheit sagen. Also noch ein paar Minuten der Zeichnung gewidmet!

Und gerade jetzt zuckte dem jungen Offizier eine besondere Vermutung durch das Hirn: die Punkte konnten die Bäume des kleinen Gehölzes sein. – Ja, so war es. Und die Spitze des Dreiecks war sicher die uralte Eiche unter der die Hütte der Knaben stand. Die vielen Kreuze auf der linken Seite der Skizze sollten vielleicht nur den Graswuchs andeuten.

Meinke wurde ganz aufgeregt. Jetzt, da er dies herausbekommen hatte, war es bis zu dem Gedanken, daß der Nagel auf eine bestimmte Stelle am Ostrande des Tales hinweisen sollte, nur noch ein kurzer Schritt.

Zunächst schaute er jetzt aber einmal wieder nach den Kriegschiffen aus, – falls es solche gewesen waren. Und wirklich: in dieser kurzen Zeit waren die Rauchsäulen erheblich näher gerückt. Kein Zweifel –: es handelte sich um Zerstörer, die in voller Fahrt auf die Briennes-Gruppe zuliefen. – Das hatte etwas zu bedeuten, das war wohl gar bereits die Folge des Erkundungsfluges der Doppeldecker.

Doppelt war jetzt die Tätigkeit Menkes: die Skizze weiter zu enträtseln und die Schiffe zu beobachten. – Die Grundlinie des Dreiecks verband, wie klar zu erkennen war, die beiden östlichsten Bäume des Gehölzes miteinander, die etwas abseits von den übrigen standen. Das war wieder ein wichtiger Schritt vorwärts!

Ah – die Zerstörer kamen auf den Südwestkanal zu. Damit war jeder Zweifel über ihre Absichten behoben. Nun hatten sie die vorgelagerten Klippen erreicht. Ihre Geschwindigkeit wurde geringer. Boote wurden ausgeschwungen … Dies letztere genügte vollends …!

Meinke kletterte eilig von der Kuppe herab und lief dem Tale zu, wo er dann die Gefährten alarmierte.

„Wir müssen ein anderes Versteck suchen“, erklärte er. „Die Leute, die die Zerstörer jetzt landen, werden nicht eher ruhen, bis sie unseren grünen Schlupfwinkel gefunden haben, dessen Vorhandensein als einzige fruchtbare Örtlichkeit auf der ganzen Gruppe von den Wasserflugzeugen gemeldet ist. Es kann jedoch noch gut eine Stunde vergehen, ehe der Feind, selbst wenn er Leitern mit sich führt, hierher gelangt. Inzwischen möchte ich nachprüfen, ob meine Vermutungen hinsichtlich der Zeichnung stimmen. Ihr anderen aber packt hier alles zusammen, was mitnehmenswert ist. In diesem Labyrinth von kleinen Inseln und Felsen muß es für uns irgendwo ein sicheres Versteck geben.“

In kurzem hatte Meinke dann hier an Ort und Stelle festgestellt, ob seine Mutmaßungen hinsichtlich der Bäume als Bezeichnung der Spitzen des Dreiecks wirklich zutrafen.

Ja – es war so. Und nun schritt er von der riesigen Eiche senkrecht auf die Verbindungslinie der beiden östlichsten Bäume zu, deren Richtung er sich gemerkt hatte. So gelangte er schließlich an eine Stelle der Talwand, wo am Fuße eines überhängenden, gut acht Meter hohen Felsens eine Menge flacher, großer Steinplatten übereinanderlagen.

Er war jetzt fester denn je überzeugt, daß dieser Steinhaufen der Punkt auf der Skizze war, den der Nagel kennzeichnete. Einer augenblicklichen Eingebung folgend begann er hastig die Steine fortzuwälzen. Besonders ins Auge sprang ihm eine Platte, die, gestützt von anderen Steinen, halb aufrecht an die Felswand lehnte. Als er diese Platte nun unter Aufbietung seiner ganzen Körperkräfte an sich zog, so daß sie umkippend den bisher von ihr verdeckten Teil der Steilwand bloßlegte, entfuhr seinen Lippen ein lauter Ruf der Überraschung.

Hier führte ein dunkles Loch in die Tiefe hinab, – nein, kein gewöhnliches Felsloch, wie er jetzt sah, sondern ein unterirdischer Gang mit einer Treppe, deren Stufen aus Eichenholz bestanden …!

Schnell holte er nun die drei Gefährten herbei, schnell wurden aus harzreichen Ästen der Edeltannen Fackeln hergestellt.

Dann betraten Meinke und Heinrich den Gang, um festzustellen, wohin dieser führte. Inzwischen sollten Jannek Krapatkul und Fritz alles, was die beiden Knaben an Lebensmitteln aufgespeichert hatten, gleichfalls zusammenpacken.

Das ganze Höhlengebiet zu durchforschen war ja jetzt fürs erste unmöglich. Es gab Wichtigeres zu tun. So kehrten die beiden Gefährten denn bald um und halfen sowohl die Vorräte an Lebensmitteln als auch die übrigen zum Mitnehmen geeigneten Sachen in das neue Versteck zu schaffen. Meinke aber zerstörte nebenbei noch mit dem aus dem Flugzeug mitgebrachten Beile die Rindenskizze des Baumes so gründlich, daß niemand mehr sie enträtseln konnte. Dies tat er aus Vorsicht. War doch mit Sicherheit anzunehmen, daß der Feind, wenn er den Talkessel erst entdeckt hatte, diesen bis ins Einzelne genau durchsuchen würde, zumal es ja ganz unmöglich war, den ungebetenen Gästen zu verheimlichen, daß hier noch vor kurzem Menschen gehaust hatten.

Auch die Ziegen und die Hunde wurden mit in die Höhlen genommen, desgleichen die von den Knaben eingesammelten Heuvorräte. Es konnte nicht ausbleiben, daß durch diesen regen Verkehr nach dem geheimen Eingang hinter der Steinplatte allerlei Spuren entstanden, die einem argwöhnischen Auge verraten mußten, daß es mit dem Steinhaufen an der Talwand eine besondere Bedeutung haben müsse. Deshalb ließ Meinke jetzt auch aufs sorgfältigste jeden Heuhalm entfernen, ließ über die Fußtapsen in der Nähe unauffällig trockenes Laub streuen und alles tun, um das Geheimnis des verborgenen Zuganges zu wahren. Als letzter stieg er dann die unterirdische Treppe hinab kippte die Steinplatte wieder gegen die Wand und verschwand in der Tiefe.

– – – – – – – –

Eine Viertelstunde später, als gerade eine einzelne Regenwolke mit einem kurzen heftigen Guß auch die letzten verräterischen Spuren neben und auf dem Steinhaufen beseitigt hatte, erschienen in dem Talkessel sechs von einem Bootsmannsmaat geführte Matrosen, näherten sich sehr vorsichtig der Hütte, durchsuchten diese, fanden die Steine des Herdes noch warm und durchstreiften dann nach allen Seiten hin den kleinen Schlupfwinkel, lebhaft ihre Meinungen über das hier Vorgefundene austauschend.

Nach und nach trafen noch weitere achtzehn Leute ein, auch zwei Marineoffiziere, die nun die Nachforschungen nach den Bewohnern des Tales, in denen die Franzosen entflohene Kriegsgefangene vermuteten, leiteten, durch Patrouillen von je zwei Matrosen alles ringsum absuchen ließen, ohne jedoch bis zum Einbruch der Dunkelheit irgend ein Ergebnis zu erzielen.

So verging eine Woche. Von den Flüchtlingen wurde auf der ganzen Briennes-Gruppe auch nicht die geringste Spur mehr entdeckt. Als nun von dem Kriegshafen St. Malo aus dann die Meldung kam, daß zwei deutsche U-Boote unlängst in der Nähe beobachtet worden seien, gelangten die Franzosen zu der Überzeugung, daß es den deutschen Kriegsgefangenen geglückt sein müsse, sich auf die U-Boote zu retten.

– – – – – – – –

Unsere vier Helden lebten inzwischen in voller Sicherheit in den unterirdischen Räumen, die ihnen eine gütige Vorsehung und der Scharfsinn des Leutnants Meinke noch im letzten Augenblick vor dem Eintreffen des Feindes beschert hatte.

Erst zwei Monate später gelang es ihnen dann, nachdem sie noch recht aufregende, aber auch in einer Beziehung sehr erfolgreiche Abenteuer bestanden hatten, in einem von ihnen selbst erbauten Fahrzeug zusammen mit vier weiteren Offizieren, die sie aus der Festung befreiten, nach der Heimat zurückzukehren.

Ihre ferneren Erlebnisse bis zu ihrem Eintreffen in einem deutschen Hafen sind in dem nächsten Bändchen unter dem Titel „Die Wundergrotten von Briennes“ geschildert worden.

 

Das nächste Heft enthält:

Die Wundergrotten von Briennes.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht „Da“.
  2. In der Vorlage steht „Meerzahl“.