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Das Geheimnis des Binnensees

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Das Geheimnis des Binnensees.

 

W. Belka.

 

1. Kapitel.

Die Haifischjäger.

Die Sonne konnte auch noch so früh über dem mittleren Teile des Stillen Ozeans aufgehen: die vier Bewohner des seltsamgeformten Eilandes, das da einsam und verloren zwischen den Marschall- und den Hawaii-Inseln im Meere lag, brauchte sie nie mit ihren Strahlen zu wecken.

Es waren eben Frühaufsteher und selten fleißige Leute, diese vier Deutschen, die das Schicksal auf die kleine Felseninsel verschlagen hatte.

Auch an einem Septembertage des Jahres 1914 mußte die Sonne abermals feststellen, daß die Robinsons schon mit der Morgendämmerung ihr Tagewerk begonnen hatten. Zwei von ihnen saßen in einem merkwürdigen Ding von Boot, zu dem ein recht außergewöhnliches Baumaterial gedient haben mußte, das beinahe wie polierter, leicht glänzender Stahl aussah. Dieses Fahrzeug, mehr eine ovale, tiefe Schüssel denn ein richtiges Boot, wurde von den beiden Insassen mit kurzen Paddelrudern vorwärtsbewegt, die gleichfalls aus Stahl gegossen zu sein schienen. Hinter sich her schleppte der Nachen einen starken, ledergeflochtenen Strick, an dessen losen Ende eine runde, große Flasche befestigt war, die wieder einen mit einem Fisch als Köder besteckten starken Angelhaken dicht unter der Oberfläche des Wassers hielt.

Das plumpe Boot steuerte langsam um das Eiland herum, wobei der eine der Ruderer, ein kräftiger, blondhaariger Junge von vielleicht vierzehn Jahren, hin und wieder einen Fisch in der Nähe der runden Flasche klatschend ins Wasser warf, um neugierige Haifische anzulocken, die hier außerordentlich zahlreich waren.

Jetzt sagte der Knabe zu seinem erwachsenen Gefährten, einem mittelgroßen, breitschultrigen Manne, dem um das Gesicht ein starker Bart sproßte:

„Da – der erste Hai, Herr Reiter …! Ob der Bursche anbeißen wird? Bisher haben wir ja gerade in den frühen Morgenstunden stets Glück gehabt. Überhaupt – wie es wohl kommen mag, daß die gefräßigen Bestien hier so zahlreich sind …?! Haben wir doch in den vier Wochen, die wir auf der Insel jetzt schon die Robinsons spielen, 21 Haifische erbeutet. Ich habe mir’s genau gemerkt. – Oh, Herr Reiter, – nach der Größe der aus dem Wasser herausragenden Rückenflosse muß es ein kolossaler Kerl sein, den wir da vor uns sehen. Ich werde noch einen Lockfisch werfen …“

Und abermals flog ein armlanger Fisch klatschend in der Nähe der nachschleppenden Angel in die See.

Der Hai schoß sofort nach der Stelle hin, und … gleich darauf saß er auch schon an dem eisernen Haken fest. In seiner Gier hatte er blindlings erst den Lockfisch und dann auch den Köder verschlungen.

Kaum fühlte er, daß der Haken sich hinter seinen mit spitzen Zähnen bewehrten Unterkiefer festschlug, als er auch schon in die Tiefe schoß. Das half ihm jedoch wenig. Sehr bald wurde er matter und matter, bis der Mann im Boot ihn an dem Lederseile längsseits zog und so dem Knaben Gelegenheit gab, mit einem starken, großen Taschenmesser mit blitzschnellem Schnitt der Bestie den weißlichen Leib aufzuschlitzen, wobei der Junge eine Gewandtheit verriet, die auf längere Übung schließen ließ.

„Hurra – der zweiundzwanzigste!!“ rief Erich Rendler jubelnd. „Und was für ein Bursche ist’s, Herr Reiter!! Der mißt gut seine drei Meter!“

Fünf Minuten später landete der Nachen in einer kleinen Bucht unterhalb des in Terrassen ansteigenden erloschenen Vulkanes, der den Nordteil des Eilandes bildete, welches nach Süden hin noch eine breite Landbrücke als Verbindung zu dem kuppelförmigen Hauptteile besaß.

Drei deutlich erkennbare Terrassen zogen sich am Fuße des Vulkanes mit steilen Absätzen hin. Und gerade im Südosten des sonst nur schwer ersteigbaren Berges schnitten zwei tiefe, nach dem Meere hin verlaufende Spalten aus den Terrassen ein Stück heraus, welches die vier Deutschen für ihre Niederlassung benutzt und mit Mauern eingefaßt hatten, um es zu einem verteidigungsfähigen Platze auszugestalten.

An der Rückwand der mittleren Terrasse stand eine Hütte aus Steinen, in deren Türöffnung jetzt auf einen lauten Jagdruf des Knaben hin ein kleiner, wohlbeleibter Mann erschien, der nun eilig zum Strande der Bucht hinabkletterte, wo er den Haifisch an Land ziehen half.

Inzwischen hatte sich Reiter, den beiden anderen die Arbeit des Abhäutens und Zerlegens der Beute überlassend, nach der mittleren Terrasse begeben, um hier den Räucherofen für die Aufnahme der besten Stücke des Haifischfleisches instand zu setzen.

Nach einer Weile rief er dann dem kleinen, dicken Manne zu:

„He, Falk, wo steckt eigentlich Menke? Ist er etwa wieder nach dem Binnensee gegangen?“

Mit diesem Binnensee hatte es wie überhaupt mit der ganzen, so merkwürdig geformten Insel eine besondere Bewandtnis.

Die vier Deutschen waren Ansiedler, die bis vor kurzem noch friedlich und fleißig auf der zu den Ralik- (Marschall-) Inseln gehörigen Kwadjelinn-Gruppe gehaust hatten, bis der Ausbruch des Weltkrieges sie zwang, die ihnen liebgewordene neue Heimat zu verlassen. Auf dem Motorkutter „Germania“, auf dem sich noch ihre 25 farbigen Arbeiter, lauter Papuas, sowie drei Kanaken (Sandwichsinsulaner) befanden, hatten sie versucht, die Hawaii-Inseln zu erreichen, waren aber unterwegs von einem Seebeben überrascht worden, das den Meeresboden urplötzlich gerade unter dem Motorboote hob und eine neue Insel schuf, – eben die, auf der unsere vier Freunde jetzt als Robinsons lebten. Der Kutter war bei dieser vulkanischen Katastrophe in den Binnensee gestürzt, der sich mitten auf dem Hauptteile des Eilandes aus Meerwasser gebildet hatte. Mit den schon vorher recht aufsässigen Papuas war es auf der Insel bald zu Feindseligkeiten gekommen, und unsere Ansiedler sahen sich daher gezwungen, sich einen zur Verteidigung geeigneten Lagerlatz zu schaffen. Zum Glück erschien bald ein englischer Kreuzer, der die Papuas an Bord nahm und wieder davondampfte, nachdem ein Landungstrupp vergeblich nach den Deutschen gesucht hatte, die in einer Höhle der Südostwand des Vulkanes noch rechtzeitig ein sicheres Versteck gefunden hatten. (All diese Ereignisse sind in dem vorhergehenden Bande „Auf dem Meeresboden“ geschildert worden).

Was nun besonders den Binnensee auf dem kuppelförmigen Hauptteile der Insel anbetraf, so lagen verschiedene untrügliche Beweise dafür vor, daß in diesem offenbar sehr tiefen Wasserbecken geheimnisvolle Dinge sich abspielten, für die unsere vier Freunde bisher noch keine rechte Erklärung gefunden hatten.

Menke, der längste der vier unfreiwilligen Robinsons, in allem das gerade Gegenstück zu dem bedächtigen, etwas ängstlichen dicken Falk, hatte es sich nun in den Kopf gesetzt, das Geheimnis des Binnensees um jeden Preis zu ergründen, obwohl Reiter, den man als das Oberhaupt der neuen Kolonie auf Grund seiner geistigen und körperlichen Eigenschaften ohne weiteres anerkannt hatte, immer wieder den Gefährten warnte und stets bei solchen Anlässen daran erinnerte, daß zwei der Papuas bekanntlich auf rätselhafte Weise in den Fluten des stillen Gewässers den Tod gefunden hätten.

Menke war jedoch ein Starrkopf. Was er sich einmal vorgenommen hatte, suchte er auch durchzuführen, koste es, was es wolle.

Reiters Frage nach Menke war daher sehr berechtigt und entsprang einer gewissen Sorge, die er für das Wohlergehen des langjährigen treuen Gefährten hegte.

Und Falks Antwort zeigte, daß Reiter das Richtige vermutet hatte.

„Gesagt hat er mir ja nicht gerade, was er vor hätte, als er nach der Kuppelinsel hinüberging“, rief der kleine dicke Mann ärgerlichen Tones zurück. „Aber sicherlich sitzt er wieder am Seeufer und stiert in das Wasser hinab, als ob da unten Nixen hausten, die er mal zu Gesicht bekommen möchte.“

„Er bringt uns nur Unruhe mit dieser fixen Idee“, meinte Reiter unwillig und stieg dann nach der obersten Terrasse hinauf, um hier eine am Tage vorher begonnene Arbeit fortzusetzen.

Aus einem Loche der Felswand des bereits wieder erloschenen Vulkanes trat dort eben eine feuerflüssige Masse heraus, die aus einem glasähnlichen Gemenge bestand, rasch erkaltete und dann etwa wie polierter Stahl glänzte.

Diese Glasquelle, deren vulkanisches Produkt sehr widerstandsfähig war, hatten die vier Robinsons bald zu den mannigfachsten Zwecken zu verwerten gelernt. So war es Reiter nicht nur gelungen, daraus allerlei Gefäße, sondern auch manche anderen Gegenstände herzustellen, von denen das Boot, mit dem man dem Haifischfange oblag, wohl die meiste Arbeit und das meiste Kopfzerbrechen gekostet hatte. Außer diesem Boot ist noch besonders erwähnenswert, daß Reiter aus Skeletteilen der Haifische (Holz gab es nämlich auf dem Eiland überhaupt nicht) und der festen Glasmasse sowohl praktische Schemel und Tische, als auch allerlei Waffen, – Lanzen, Beile und Harpunen, gefertigt hatte, wie er denn überhaupt außerordentlich viel praktischen Sinn besaß und sozusagen aus dem Nichts allerlei hervorzuzaubern wußte, woran ein anderer Sterblicher nie gedacht hätte.

Die Lebensführung unserer Robinsons, die in der ersten Zeit recht bescheiden gewesen war, hatte daher bald eine erhebliche Wendung zum Besseren genommen, und jetzt nach vier Wochen ihres Einsiedlerdaseins fühlten sie sich bereits recht behaglich auf ihrem Eiland und hatten schon fast ganz vergessen, daß sie auf nichts anderem hausten als einem Stück Meeresboden, das das Seebeben über die Wasseroberfläche des Stillen Ozeans hinaufgehoben hatte.

Reiter nahm jetzt eine dicke Glasstange und schuf der schnell erkaltenden Masse, die über Nacht wieder die seltsamsten Tropfgebilde an der abfallenden Terrassenwand hervorgerufen hatte, einen neuen Abfluß nach einer aus Meeresschlick hergestellten Form hin, mit deren Hilfe er große Platten für ein weites längeres Boot herstellen wollte.

Bald hatte er sich in diese Arbeit so vertieft, daß er an Menke gar nicht mehr dachte. Erst als der dicke Falk ihn zum Frühstück nach der Hütte rief, erinnerte er sich des starrköpfigen Freundes.

Falk, der in der kleinen Niederlassung hauptsächlich die häuslichen Arbeiten erledigte, hatte den Tisch unter dem Sonnendach vor der Hütte gedeckt. Dieses Sonnendach war aus Haifischhäuten zusammengenäht und wurde von langen Glasstangen gestützt. Aus demselben vulkanischen Erzeugnis bestanden auch die Gläser, Teller, Schüsseln, Löffel und Eßstäbchen auf dem Tische.

„Menke ist noch immer nicht von der Kuppelinsel zurück?“ fragte Reiter jetzt, indem er nach dem hochgewölbten Hauptteil des Eilandes hinüberblickte, das ebenso wie der Vulkanberg und die Landbrücke aus kahlem grauschwarzen Fels bestand.

„Leider nein“, erwiderte Falk mürrisch. „Und dabei gibt es Haifischflossen-Suppe – eine Delikatesse …!!“

„Menke ist ein Narr“, schalt Reiter. Und zu Falk gewandt fuhr er fort: „Trag’ Deine Suppe nur wieder auf den Herd und stelle sie warm. Wir wollen sehen, wo Menke steckt. Ich habe so eine dunkle Ahnung daß ihm etwas zugestoßen ist.“

 

2. Kapitel.

Wie man Menke fand …

Die Landbrücke, die den Vulkankegel mit der Kuppelinsel verband, hatte in der Mitte zwei stark fließende, heiße Quellen aufzuweisen, die den Ansiedlern das nötige Trinkwasser lieferten. Diese Quellen sowohl als auch der Austritt der feuerflüssigen Glasmasse auf der obersten Terrasse, schließlich noch ein Gasgemenge, das neben der Wohnhütte aus dem Felsboden unter erheblichem Druck hervorkam und bereits die ganzen vier Wochen über den Herd heizte, nachdem Reiter es angezündet hatte, zeigten so recht deutlich, daß man sich hier auf einem vulkanischen Gebiet befand, in dessen tieferen Schichten noch die unheimlichen Kräfte tätig waren, die schon so viele furchtbare Erdbebenkatastrophen hervorgerufen haben.

Die drei Freunde hatten bald diese Verbindung der beiden Inselteile passiert und erklommen nun die kuppelförmige Erhebung der Hauptinsel, in deren Mitte mit tiefen, steilen Rändern der Binnensee lag.

Der leichtfüßige Erich Rendler war den beiden anderen immer ein paar Schritte voraus. Auch auf ihn übte der See eine starke Anziehungskraft aus. Und er begriff nicht recht, wie Reiter und Falk sich dessen Geheimnissen gegenüber so kühl abwartend verhalten konnten.

Als erster erreichte er so die Höhe der riesigen Felsenkuppel. Nun lag der etwa dreihundert Meter im Durchmesser große Binnensee vor ihm. Erichs Blicke suchten blitzschnell das Steilufer ab, das wie der Innenrand einer halbgefüllten Schüssel aussah.

Da – er fuhr ordentlich zusammen vor Schreck! – da an der Westseite bemerkte er dicht am Wasser eine Gestalt, die zwischen ein paar kleinen Felsblöcken wie eingeklemmt lag.

Ein Zuruf feuerte Reiter und Falk zu größerer Eile an.

Gleich darauf standen die drei neben dem bewußtlosen, übel zugerichteten Gefährten.

Alles, sowohl Menkes zahlreiche Wunden als auch sein zerbrochenes Beil und die ebenfalls zerbrochene Harpune, machte hier den Eindruck, als habe zwischen dem Schwerverletzten und einem gefährlichen Gegner ein erbitterter Kampf stattgefunden.

Doch – diese Fragen mußten für später aufgehoben werden. Jetzt galt es, Menke schleunigst nach der Hütte zu schaffen, zu verbinden und alles zu tun, um ihn am Leben zu erhalten.

Am schlimmsten war eine Schulterwunde an der linken Seite, wo das Fleisch geradezu von den Knochen abgerissen war und in Lappen herunterhing. Nachdem der noch immer Ohnmächtige, der sehr viel Blut verloren haben mußte, in der Hütte weich auf seinem Lager von Seetang und Algen gebettet war, spielte Reiter recht geschickt den Arzt, wusch die Wunden mit dem warmen Quellwasser immer aufs neue aus und verband sie schließlich mit Stücken von Erich Rendlers Leinenhemde, das dieser gern hergab und das ebenfalls noch schnell sorgfältig gereinigt worden war.

Erst nach einer Stunde kam Menke dann zu sich, als ihm wiederholt kühlende Kompressen auf die Stirn gelegt worden waren.

Aber wie erschraken seine drei Freunde, als sie in dem Blick des still und teilnahmlos Daliegenden einen leeren, stumpfen Ausdruck wahrnahmen, der darauf hindeutete, daß die Geisteskräfte Menkes dem furchtbaren Erlebnis gegenüber – denn furchtbar mußte dieses Abenteuer gewesen sein! – versagt hatten und daß man einen auch seelisch Schwerkranken vor sich habe.

Dies bewies dann leider auch weiter noch zur Genüge die leise Antwort, die Menke auf Reiters Frage, wie er sich fühle, erteilte:

„Wer bist Du? Ich kenne Dich nicht! Und – wo befinde ich mich eigentlich?“

Reiter tauschte mit Falk und Erich einen traurigen, vielsagenden Blick aus.

Und nachher vor der Hütte meinte er zu den beiden:

„Der Ärmste hat den Verstand vor Entsetzen verloren. Was mag er nur erlebt haben? Und welch’ ein Geschöpf kann es nur gewesen sein, das ihn so zugerichtet hat …!“

Erich Rendler hatte schon lange eine Vermutung hinsichtlich des unheimlichen Wesens gehabt, das in den Tiefen des Binnensees hauste, war aber bisher aus Furcht, von den anderen verspottet zu werden, mit seiner Ansicht noch nicht hervorgetreten. Jetzt faßte er sich ein Herz und sagte bescheiden:

„Könnte es nicht … eine Seeschlange sein, Herr Reiter? – Gewiß, ich weiß, daß die Gelehrten das Vorkommen dieser Ungeheuer leugnen und in das Reich der Fabel verweisen. Aber ich kenne auch wahrheitsliebende Seeleute, die dem Vater und mir erzählt haben, daß es allen Professoren zum Trotz doch Seeschlangen von dreißig und mehr Meter Länge gebe.“

Reiter zuckte die Achseln.

„Lieber Junge, – möglich ist alles, auch die Existenz derartiger Riesenamphibien. Vielleicht hast Du recht, vielleicht haust in dem See tatsächlich eine der vielbespöttelten Meeresschlangen. Menkes Wunden deuten ja auf einen Feind hin, der mit furchtbaren natürlichen Waffen ausgerüstet ist. Und die Erscheinung, das ganze Äußere dieses Wesens muß wohl notwendig geradezu grauenerregend sein, sonst hätte ein Mann mit sonst so guten Nerven wie Menke sie besitzt wohl kaum durch diesen Anblick auch geistig so gelitten. – Wie dem auch sei: jetzt werde auch ich alles tun, um herauszubekommen, was sich in den Tiefen des Sees verbirgt.“ – –

Schwere Tage und Wochen kamen jetzt für die drei Robinsons, die gemeinsam mit treuer, aufopfernder Sorgfalt um das Leben des Freundes mit dem drohenden Gespenste des Todes kämpften.

Keinen Augenblick konnte man den in Fieberdelirien entweder matt daliegenden oder wild tobenden Kranken allein lassen. Stets mußten zwei seiner Freunde an seinem Lager Wache halten. Und selbst als er langsam der Genesung entgegenging und dank der guten Pflege neue Kräfte gewann, konnte er nie ohne Aufsicht bleiben. Jetzt flackerte der Wahnsinn in seinen unruhigen Augen, jetzt wollte er fortwährend aufspringen und vor einem ihn bedrohenden Wesen fliehen, das zu sehen er sich lediglich einbildete und das er stets nur in seinen irren Reden mit „es“ bezeichnete.

„Es kommt – da – da, – es will mich wieder packen. – – – Der Schnabel – die Telleraugen – – fort – fort – ich will fliehen. – – Laßt mich los!“

So schrie er bei solchen Anfällen in so gellenden Tönen, daß den Gefährten vor Entsetzen stets eine Gänsehaut über den Leib lief. Und es gehörten Männerkräfte dazu, um ihn dann auf dem Lager festzuhalten.

Reiter versuchte immer wieder, in dem armen Freunde durch gütiges Zureden und allerlei Fragen die Erinnerung an frühere Zeiten zu wecken. Alles vergeblich. Menke besann sich nicht einmal mehr auf seinen eigenen Namen.

Nach fünf Wochen, als er bereits in Begleitung Reiters und Falks vor der Hütte sich bewegen durfte, wurde er ruhiger. Die Angstanfälle kamen seltener und blieben schließlich ganz aus. Dafür versank er nun in ein stumpfes Brüten, saß stundenlang unter dem Sonnendach und stierte auf einen Punkt hin, hörte auf keinen Anruf und bewegte sich nachher wieder wie ein aufgezogener Automat.

Immerhin war dieser Zustand Menkes für seine Freunde erträglicher als der frühere. Jetzt brauchte man kaum noch auf den Patienten acht zu geben. Sagte Reiter ihm, er solle vor der Hütte sitzen bleiben und diese oder jene leichte Arbeit verrichten, so rührte er sich nicht vom Fleck, und wenn es Stunden dauerte.

Nun durften die drei Gesunden, die in diesen traurigen Wochen so gut wie nichts von all den Dingen erledigt hatten, die zu ihrem täglichen Arbeitspensum früher gehörten, auch wieder an sich selbst denken. Und jetzt erklärte Reiter eines Tages, daß fortan immer einer von ihnen, so lange es hell war, oben auf dem Uferrande des Binnensees wachen solle, um auf diese Weise festzustellen, was die Tiefe des Wasserbeckens eigentlich barg.

Oft genug erbot sich Erich freiwillig zu diesem Dienst. Wenn er dann hoch über dem Wasserspiegel des geheimnisvollen Gewässers zwischen ein paar aufgeschichteten und mit einer Haifischhaut zum Schutz gegen die Sonne überspannten Steinen lag und die Augen auf das dunkelgrün schillernde Wasser gerichtet hielt, dann dachte er immer wieder an jene Nacht, in der er Zeuge gewesen war, wie einer der aufrührerischen Papuas plötzlich wie durch eine unsichtbare Gewalt in den See hinabgezerrt worden und wie in den Tiefen des stillen Binnengewässers ein mattes, weißes Licht hin und her gewandert war.

Dieses Licht hatte etwas unsagbar Unheimliches an sich gehabt. Nur ein einziges Mal war es eines Abends wieder sichtbar geworden, als Falk und er am Uferrande gestanden und sich darüber unterhalten hatten, wie alles so anders wäre, wenn man den Kutter aus dem Wasser herausholen könne. – Aber von dem flinken, seetüchtigen Motorboot war selbst an den klarsten Tagen nichts zu sehen. Er war ganz tief in das Wasserbecken hinabgestürzt – ganz tief …

Acht Tage hatte dieses stete Beobachten des Sees nun schon gedauert, ohne daß es einen Erfolg eintrug. Nie rührte oder regte sich etwas dort unten, wo trotz alledem ein Wesen von schrecklicher Kraft und fürchterlichem Aussehen seinen Schlupfwinkel haben mußte.

Inzwischen hatte man die Haifischjagd mit dem Glasboot wieder eifrig aufgenommen, ebenso den Fischfang mit Hilfe von Angelschnüren, deren Haken Reiter aus Nägeln und Schrauben gefertigt hatte, die zusammen mit anderen vielseitigen Dingen aus einem Haifischmagen stammten. So hatte dieser auch einen größeren Eisenhaken enthalten, an dem noch ein Ende Tau befestigt gewesen war und den man dann bisher für den Haifang benutzt hatte.

Die Beobachtung des Binnensees sollte jetzt auf Reiters Vorschlag, der durchaus das Geheimnis dieser Meerwasseransammlung ergründen wollte, auch auf die Nacht ausgedehnt werden. Um aber den auf Wache Befindlichen vor heimtückischen Angriffen zu schützen, wurde am Nordufer des Sees eine feste Hütte aus Steinen erbaut, die vorher mit Hilfe der flüssigen Glasmasse zu großen, schweren Platten zusammengefügt worden waren. Die Vorderwand dieser „Hundehütte“, wie Falk sie nannte, erhielt nur einen schmalen Sehschlitz, während der Eingang in der Rückwand so schmal gemacht wurde, daß er sich mit einer beweglichen Platte sicher von innen verrammeln ließ.

Nachdem dieses seltsame Schilderhaus fertig war, begann dann auch der nächtliche Wachtdienst.

In der dritten Nacht gegen ein Uhr morgens hatte Erich Rendler den dicken Falk abzulösen. Es war ziemlich hell heute, da das Sternenlicht des südlichen Himmels genügend Licht spendete. Als der mutige Junge sich dem niedrigen Hüttchen näherte, hörte er zu seinem Erstaunen friedliche Schnarchtöne daraus hervordringen.

Falk war auf dem weichen Lager trockener Meerespflanzen eingeschlafen …

 

3. Kapitel.

Was Falk geträumt hatte …

Erich Rendler kam es gar nicht so ungelegen, daß der brave Beherrscher der Küche der Niederlassung vorläufig verhindert war, sich durch ihn ablösen zu lassen. So konnte er jetzt doch ungehindert einmal das Gewässer umkreisen und zusehen, ob er nicht auf diese Weise etwas erspähte.

Und wirklich …! Als er im Süden des Uferkranzes angelangt war, bemerkte er heute abermals das rätselhafte Leuchten in der Tiefe des Wassers. Das weiße, schwache Licht wanderte bald langsamer bald schneller hierhin und dorthin. Dann wurde es mit einem Male deutlicher.

Erich sah, daß es jetzt vielleicht nur zwei bis drei Meter unter der Oberfläche sich bewegte. Und nun merkte er auch, daß der bis dahin regungslos daliegende Wasserspiegel zu kleinen Wellen hochkräuselte, so daß dies der beste Beweis für die Anwesenheit eines größeren Geschöpfes dort unten war, welches durch sein Umherschwimmen das Wasser aufrührte.

Plötzlich erlosch der helle Schimmer, und nur das Heer der Sterne spiegelte sich in dem Binnensee wider, der sein Geheimnis auch heute nicht preisgeben zu wollen schien.

Erich blieb wohl noch fünf Minuten lang an derselben Stelle stehen. Dann kehrte er nach der kleinen „Hundehütte“ zurück. – Falk fuhr ganz entsetzt hoch, als der Knabe ihn anrief. Und schlaftrunken kroch er nun aus dem niedrigen Steinbau heraus.

„Hör’ mal, Junge, – wenn Du Reiter erzählst, daß Du mich schlafend angetroffen hast, ist unsere dicke Freundschaft aus“, sagte er, nachdem er wieder ganz munter geworden war. „Unser Herr Gemeindevorsteher verfügt über einen so scharfen Spott, daß ich diesen nicht gerade herausfordern möchte. Also: Mund gehalten, kleiner Freund! Dann erzähle ich Dir auch meinen Traum, einen sehr merkwürdigen Traum, der mir recht beachtenswert erscheint.“

Erich meinte daraufhin, er sei doch kein Schwätzer, eine Bemerkung, die der dicke Falk offenbar erwartet hatte, denn er begann nun sofort sein Traumerlebnis zu berichten.

„Denke Dir, Junge, – die Geschichte war also folgendermaßen, wenn man einen Teil all der Ungereimtheiten fortläßt, die nun einmal zu jedem Traum gehören. – Eines Morgens stellten wir beide fest, daß Menke und Reiter verschwunden waren. Wir fanden dann hier am Seeufer einen Zettel, in dem Reiter uns kurz mitteilte, er habe beschlossen, gemeinsam mit Menke den Grund des Binnensees nach dem geheimnisvollen Bewohner abzusuchen. – So etwas kommt eben nur in Träumen vor. Als ob ein Mensch so ohne weiteres unter Wasser spazierengehen könnte …!! – Jedenfalls waren wir beide sehr entsetzt über dieses Wagnis und überlegten, wie wir die beiden wieder herausholen könnten. Da kam mir der Gedanke, an einen langen, geflochtenen Strick aus Haifischleder den Eisenhaken zu befestigen, der ja offenbar früher als Haifischangel gedient hat, wie die scharfe Spitze und der Widerhaken beweisen. Ich hoffte, daß unsere Freunde sich an dem Haken festhalten würden und daß wir sie wieder herausziehen könnten aus den Tiefen des Sees. – Das ist ja nun eben recht traummäßiger Unsinn. – Aber, mein Junge, ein Körnchen Gutes steckt doch darin. Was meinst Du, wenn wir dieser Idee weiter nachgingen und tatsächlich zusehen würden, ob wir nicht das rätselhafte Ungeheuer da unten mit Hilfe des mit einem Köder besteckten Hakens, den wir an eine unserer festen, aus Haifischhaut geflochtenen Leinen anbinden, ans Tageslicht zerren können? – Es käme ja auf einen Versuch an, der zum mindesten eine Abwechslung bringen würde.“

Erich Rendler sagte nur: „Donnerlittchen!!“ Das war so ein Lieblingsausruf von ihm, den er bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit anwandte.

Und dann wiederholte er:

„Donnerlittchen, Herr Falk, – das gäbe einen Spaß!! Machen wir – machen wir! Und ich bin überzeugt, auch Herr Reiter wird nichts dagegen einzuwenden haben …!“

Nun – eigentlich hatte der dicke Falk beabsichtigt, dem „Gemeindevorsteher“ nichts von seiner Idee mitzuteilen, da er fürchtete, Reiter könnte dieses und jenes dagegen einzuwenden haben. Aber Erich wußte ihm diese Bedenken schnell auszureden.

„Herr Reiter ist ja jetzt selbst ganz versessen darauf, das Rätselgeschöpf des Binnensees sich einmal näher anzusehen“, meinte er.

Dann verabschiedete Falk sich von dem Knaben und schritt den Terrassen zu, während dieser in die Wachthütte kroch.

Dort blieb er jedoch nicht lange. Der Anblick des geheimnisvollen Leuchtens in den Tiefen des Sees vorhin hatte ihn seltsam erregt. Hinzu kamen nun noch die Gedanken an den neuen Plan, wie man das Rätsel des stillen Gewässers im vollsten Sinne des Wortes ans Licht des Tages bringen wollte. Kurz: er hielt es in dem engen, niedrigen Steinhäuschen nicht aus, wanderte vielmehr abermals langsam um den See herum und behielt dabei ständig die Wasseroberfläche im Auge. Oft blieb er auch stehen und freute sich daran, wie deutlich der Sternenhimmel sich in den Wassern widerspiegelte.

Der prickelnde Reiz des Abenteuerlichen lag über diesem nächtlichen Spaziergang. Und Erich hätte kein echter, frischer Junge sein müssen, um diesen Reiz nicht als etwas Angenehmes zu empfinden.

Das Licht der Sterne verblaßte allmählich. Da – gerade als der Knabe am östlichen Horizont den ersten hellen Schimmer des heraufziehenden neuen Tages wahrnahm, bemerkte er etwa hundert Meter vom Ufer entfernt das weißliche Licht deutlicher denn je zuvor. Es bewegte sich langsam nach dem Strande seitwärts von Erich hin. Und dieser glaubte jetzt auch etwas wie eine dunkle Masse unter der Wasseroberfläche zu erkennen, deren Umrisse jedoch nur schwer zu unterscheiden waren. Trotzdem schätzte der Knabe die Länge jenes Gegenstandes auf gut vier Meter und sah nun auch, daß das Leuchten von dessen oberem Rande ausging. Wieder wurde das Wasser unruhig. Und dann war es, als ob urplötzlich zwei riesige Arme sich für einen Augenblick in die Luft reckten, die aber sofort wieder verschwanden.

Da wurde es dem Jungen unheimlich zumute. Das Bewußtsein, hier sich ganz allein auf der Uferhöhe des Sees zu befinden, ängstigte ihn. Eilig lief er auf die Hütte zu und kroch hinein. Hier erst fühlte er sich geborgen. Als er dann nach dem rätselhaften Bewohner des dunklen Gewässers durch den Sehschlitz ausspähte, war nichts mehr zu bemerken. – –

Als Reiter der Plan Falks mitgeteilt wurde, war er sofort bereit, diese immerhin etwas erfolgversprechende Idee zur Ausführung zu bringen. Und mit gewohnter Energie nahm er auch gleich die Sache in die Hand.

Die Beobachtung des Binnensees wurde jetzt als allzu beschwerlich, zeitraubend und offenbar auch zwecklos aufgegeben.

Menke, der stille, ruhige Kranke, den man stets mit leichten Arbeiten beschäftigte, bei denen er seine nicht geringe Handfertigkeit gut ausnutzen konnte, mußte nun aus den zähen Haifischhäuten ein langes, sehr starkes Seil flechten, dessen Herstellung jedoch eine runde Woche in Anspruch nahm, da Reiter und der Knabe notwendigerweise noch eine Anzahl der gefährlichen Meeresbestien zu diesem Zwecke erlegen mußten.

Endlich war das Seil fertig. Um dessen unteres, an dem Haken befestigtes Ende nun besser vor Beschädigungen durch den geheimnisvollen Bewohner des Binnensees zu schützen, stellte Reiter aus der Glasmasse eine Anzahl von starkwandigen, engen Röhren her, die über das Ledertau gestreift wurden.

Nun wurde der Frage nähergetreten, was man als Köder für den Haken benutzen und wie die Angel überhaupt ausgelegt werden solle. Schließlich einigte man sich auf einen größeren Fisch als Köder. Dann schaffte man das merkwürdige Boot der Kolonisten nach dem See, was nicht geringe Schwierigkeiten machte. Damit nun der Haken mit dem darauf gespießten Köderfisch nicht bis auf den Grund sank, wurde an der Leine über dem Haken eine Anzahl von hohlen, geschlossenen Glasgebilden befestigt, die Reiter als geschickter Glasbläser angefertigt hatte und die genügend Tragfähigkeit besaßen, um die eigentliche Angel etwa zehn Meter unter dem Wasserspiegel schwimmend zu erhalten.

Das Auslegen dieses mehr als merkwürdigen Fanggerätes fand an einem sonnigen Vormittag statt und zwar mit Hilfe des Bootes. Nichts störte Reiter und den Knaben, die in dem Nachen dieses Geschäft erledigten. Immerhin waren beide froh, als sie wohlbehalten das Ufer wieder erreicht hatten, da ein Angriff des Rätselgeschöpfes auf das kleine Boot den beiden Insassen unfehlbar verhängnisvoll geworden wäre.

Das andere Ende des Seiles wurde dann neben der kleinen Wachthütte sicher verankert.

Der arme Geistesgestörte hatte, neben Falk am Strande des Binnensees stehend, das Treiben der beiden Bootsinsassen mit lebhafterem Interesse verfolgt, als er sonst für das Tun seiner Gefährten zeigte. Überhaupt rüttelte ihn der Anblick des stillen Gewässers regelmäßig aus seinem stumpfen Brüten auf. Es war, als ob er hier in der Nähe des Ortes, wo er damals beinahe den Tod gefunden hatte, von einer starken Erregung gepackt würde, die sich hauptsächlich in wirren Reden äußerte. Auch war es schwer, ihn wieder von dem Ufer des Binnensees nach den Terrassen zurück zu bringen, da er in seinen zusammenhanglos hingeplapperten Worten stets deutlich ein wildes Rachegelüste gegen den rätselhaften Feind, der ihn so böse zugerichtet hatte, zum Ausdruck brachte.

Auch heute mußte Falk, dem er am leichtesten sich fügte, ihn mit sanfter Gewalt wegführen. Und bei dieser Gelegenheit zeigte sich bei Menke der erste Schimmer einer leisen Erinnerung an die Vergangenheit.

Plötzlich blieb er nämlich stehen, schaute den dicken Falk eine Weile prüfend an und sprach dann leise vor sich hin …

„Ein Gesicht, das ich kenne … Aber woher nur, woher …?“

Falk war hocherfreut, dieses geringe Zeichen von Besserung bei dem bedauernswerten Gefährten feststellen zu können. Sofort begann er sanft auf Menke einzureden.

„Gewiß kennst Du mich … Ich bin doch Herbert Falk … Besinne Dich nur …!“

Aber der Geistesgestörte war schon wieder in das alte, stumpfe Brüten zurückgeglitten. Sein Blick war leer und ohne jede Spur geistiger Regsamkeit, als er nun erwiderte:

„Herbert Falk … Oh – die langen, schrecklichen Arme …! Und der furchtbare Schnabel und die Telleraugen …“

Da nahm ihn Falk wieder unter den Arm und schritt mit ihm weiter.

Aber die drei gesunden Gefährten Menkes schöpften doch aus diesem Vorgang frohe Hoffnung. Man mußte nur Geduld haben … Der Kranke würde vielleicht seine normalen geistigen Fähigkeiten allmählich zurückerhalten.

Täglich wurde nun die Angel nachgesehen. Aber sie veränderte ihre Lage nicht, blieb an derselben Stelle etwa hundert Meter vom Nordufer entfernt liegen. Am vierten Tage morgens erklärte Reiter, daß man jetzt notwendig den Köder erneuern müsse. Abermals wurde der Nachen über die Felsen geschleppt, damit man nachher das Fanggerät wieder auslegen könne.

Dann zog man die starke Leine an und holte den Haken samt den Glasbehältern an das Ufer. Zur Überraschung der drei Robinsons war der Fisch verschwunden. Auch nicht eine Spur davon fand sich noch vor. – Daß hier der unheimliche Bewohner des Sees an der Arbeit gewesen war und den Haken geplündert hatte, unterlag wohl kaum einem Zweifel, da die Freunde bisher noch nie etwas von dem Vorhandensein anderer Lebewesen in dem Gewässer gemerkt hatten.

Reiter beschloß jetzt, einen anderen Köder zu verwenden, der sich nicht so leicht wie ein aufgespießter Fisch von dem Haken zerren ließ. So wurde denn ein großes Stück geräuchertes Haifischfleisch benutzt, welches recht hart und nur unter Anwendung erheblicher Kraft loszureißen war.

Kaum hatte dann das kleine Boot das Ufer wieder erreicht, nachdem die Angel an derselben Stelle ausgelegt worden war, als das Seil sich plötzlich straffte und hin und her gezogen wurde.

Sofort packten die drei Gefährten zu und suchten die Angel an Land zu ziehen. Aber nur etwa zwanzig Meter näher nach dem Ufer hin gelang es das Fanggerät mit äußerster Kraft zu bringen, dann richteten auch die größten Anstrengungen der Freunde nichts mehr aus. Wie verankert lag die Angel fest und rührte und regte sich nicht. Was daran hing, war natürlich nicht festzustellen. Erich hätte ja am liebsten den Nachen bestiegen und wäre auf den See hinausgerudert, um zu sehen, ob und welch’ ein Geschöpf es eigentlich war, das wie ein Anker das Fanggerät an denselben Flecken bannte. Aber Reiter wollte davon nichts wissen. Er erklärte, das Wagnis sei zu groß, da man mit einem plötzlichen Angriff des unheimlichen Wesens auf den Nachen rechnen müsse.

Jetzt, als die drei sich von der Arbeit des machtvollen Ziehens an der Leine erholt hatten, fand sich bei ihnen auch Menke ein. Ganz langsam kam er daher, so, als träume er in wachem Zustande. Daß er aber trotz seines stumpfen, gleichgültigen Gesichtsausdruckes den Vorgängen sehr wohl Beachtung schenkte, ging aus seinem Verhalten hervor, denn wie nun die drei abermals das Seil der Angel packten und mit ausgeruhten Kräften aufs neue bald ruckweise, bald langsam und gleichmäßig daran zu zerren begannen, faßte er ganz von selbst mit an und unterstützte die Bemühungen der Gefährten so energisch, daß auch ihm bald der Schweiß über das Gesicht rann.

Doch nicht einen Zentimeter weiter wurde die Angel gebracht. Dann aber ließ der Widerstand urplötzlich nach, so daß die vier Deutschen wie beim Tauziehen, wenn die Gegenpartei die Leine mit einem Male fahren läßt, beinahe übereinander zu Boden gestürzt wären.

Jetzt hatte man sehr bald das unbeschädigte Fanggerät an Land geholt. Es zeigte sich, daß der Haken abermals leer war. Und gleich darauf machte Erich auch die Gefährten auf zwei Rettungsringe und einen Lukendeckel des Kutters aufmerksam, die plötzlich vom Grunde des Binnensees, wo das Motorboot seit jener Seebebennacht lag, hochgekommen waren, offenbar losgerissen von dem rätselhaften Wasserbewohner, der vielleicht an dem Kutter sich festgeklammert gehabt hatte.

So wenigstens erklärte Reiter das Auftauchen der drei Gegenstände.

Immerhin waren die Gefährten mit dem heutigen Erfolge ihrer Fangmethode recht zufrieden. Reiter hatte auch schon allerlei Verbesserungen ersonnen, um einen neuen Versuch noch aussichtsvoller zu gestalten.

 

4. Kapitel.

Wie der Kutter gehoben wurde.

Zu diesen Verbesserungen gehörte einmal, daß Reiter dem starken eisernen Haken eine andere Form gab und besonders den Widerhaken an der Spitze verlängerte. Dann wurde noch ein zweites Seil aus Haifischhaut geflochten, durch das man das erste verstärkte, während man an das neben der Wachthütte zu verankernde Ende dieses jetzt doppelt so dicken, unzerreißbaren Ledertaues Schleifen befestigte, die die vier Gefährten sich über die Brust legen konnten, um so nötigenfalls eine größere Zugkraft zu entwickeln.

Dann wurde das Angelgerät abermals ausgelegt. Der Köder bestand wieder aus einem mächtigen Stück geräucherten Haifischfleisches.

Zwei Tage ereignete sich nichts. Die drei gesunden Mitglieder der Ansiedlung gingen wie sonst ihrer Beschäftigung nach. Der arme Menke war wieder ganz in seinen alten Zustand interesselosen Vorsichhinbrütens verfallen. Regelmäßig wurde viermal am Tage der Zustand des Angelgerätes geprüft. Doch das starke Tau hatte in dem stillen Wasser seine Lage nicht verändert, bis …

Doch dieses Ereignis soll hier eingehender geschildert werden.

Erich Rendler war es vorbehalten, die wichtige Entdeckung zu machen, daß abermals etwas an der Angel hing. Am Morgen des dritten Tages war er sehr früh, noch vor Anbruch der Dämmerung, munter geworden und nach dem üblichen Morgenbade in der kleinen Bucht unterhalb der Terrassen nach dem See geeilt. Schon von der Uferhöhe aus sah er, daß das dicke Seil anders lag als bisher. Die Angel befand sich jetzt offenbar mehr nach dem Westufer zu, und das Seil selbst war ziemlich straff gespannt.

Der Knabe packte zu und zog daran, verspürte auch einen Widerstand, der aber nachließ, so daß er, alle seine Kräfte anstrengend, etwa fünfzehn Meter des Seiles einziehen konnte. Um mehr Kraft entwickeln zu können, hatte er sich dieses um den rechten Arm geschlungen und auch um den Rücken gelegt.

Das war ein Leichtsinn, der sich schnell rächen sollte. Urplötzlich erhielt das Tau einen Ruck, der den Knaben zu Boden riß. Und dann ging’s, ehe er noch recht wußte, was geschah, mit unheimlicher Geschwindigkeit die felsige Uferböschung hinab dem Wasser zu. Gesicht und Hände wurden Erich böse zerschunden. Aber alles das war nichts gegen die größere Gefahr, in den See gezerrt zu werden und zu ertrinken, da es ihm nicht gelang, sich von dem Seile loszumachen. Unaufhaltsam rutschte er abwärts, mit dem Kopfe voran. Was nützte es, daß er die Hände als Bremse gebrauchte?! Gegen die Kraft, die hier wirkte, war nicht aufzukommen. Nun umspülte das Wasser sein Gericht, nun glitt sein Körper auf dem schlüpfrigen, von einem halbverfilzten Teppich von Tiefseepflanzen bedeckten Grunde des Gewässers entlang, der recht steil nach der Mitte zu abfiel.

Mit einem Schwung und einer Geschicklichkeit, wie sie nur die höchste Todesangst verleiht, warf der Knabe sich herum, um wieder den Kopf über die Oberfläche zu bekommen. Es gelang … Und jetzt war das Seil zum Glück auch abgelaufen und wieder straff gespannt. Seine Windungen drückten sich so fest in den Arm des Jungen ein, schnürten diesem die Brust so arg zusammen, daß er vor Schmerz und Atemnot einen gellenden Hilferuf ausstieß. Doch – wer sollte den jetzt hören?! Die Gefährten schliefen ja noch …!

Aber Erich wollte auf diese schreckliche Weise nicht umkommen. Da – einen Augenblick ließ die Spannung des Seiles nach. Den Moment benutzte er, wand sich wie ein Aal aus den Schlingen heraus und watete taumelnd dem Ufer zu, von dem er gute drei Meter bereits entfernt gewesen war.

Völlig ermattet sank er hier zu Boden. Es dauerte gut fünf Minuten, ehe er sich leidlich erholt hatte. Dann schritt er den Terrassen zu. Reiter stand gerade vor der Hütte und reinigte eine Haifischhaut. Er sah dem Jungen sofort an, daß etwas Besonderes passiert sein mußte. Das zerschundene Gesicht war es nicht allein, das ihm auffiel. Erichs Wangen hatten die Blässe des Entsetzens noch nicht verloren.

Als Reiter hörte, was geschehen, bekam der Knabe zunächst einen sehr strengen Anpfiff, wie man wohl eine Vermahnung zu nennen pflegt, bei der harte, aber durch die Umstände wohlbegründete Worte fallen.

Erich sah ein, daß Reiter mit alledem, was er ihm vorhielt, nur zu sehr recht hatte. Schweigend ließ er die Vorwürfe über sich ergehen. Und dann sagte er nur:

„Ich werde mich bessern – wirklich! – Aber es war für mich so sehr verführerisch, die Angel einzuziehen.“

Inzwischen hatte sich auch der dicke Falk auf dem Vorplatz der Hütte eingefunden. Die drei begaben sich nun nach dem Binnensee. Dort fanden sie die Leine des Fanggerätes wieder mehr nach der Mitte hin gerichtet, und Reiter meinte, das rätselhafte Untier hielte sich wahrscheinlich wieder in der Nähe des gesunkenen Kutters auf.

Dann wurde das starke Ledertau versuchsweise scharf angeruckt. Drei Meter gab es etwa nach. Weiter aber auch nicht eine Spanne.

„Vorwärts!“ befahl Reiter da. „Nehmen wir die Zugschlingen um! Wir müssen feststellen, ob wir die unheimliche Bestie heute endlich am Haken haben.“

Gerade wollten sie wie die Schleppknechte auf einem Treidelpfad sich in die Riemen legen, als Menke erschien. Mit stierem, insichgekehrtem Blick schaute der arme Kranke auf die Gefährten. Dann verzog sich sein sonst völlig unbewegliches Gesicht zu einem grimmen Lächeln. Wortlos zog er die vierte Schlinge über die Brust und sah Reiter erwartungsvoll an.

Der rief jetzt wie der Wortführer einer Arbeiterschar, die gemeinsam eine schwere Last taktmäßig weiterschaffen will:

„Hei ho – los!“ – Pause. „Hei ho – los!“

Und wirklich – man kam vorwärts, wenn auch nur schrittweise. Der rauhe, felsige Boden gab den Füßen genügend Halt. Und, wenn der Widerstand, den die vier Deutschen fanden, einmal besonders groß war, dann beugten sie sich ganz vornüber, packten mit den Händen Felszacken an und ließen die Muskelkraft der Arme ebenfalls noch mithelfen.

Machten sie gelegentlich eine längere Atempause, so blickten sie stets nach der Oberfläche des Sees hin, ob dort nicht schon irgendetwas zu bemerken war. Aber sie sahen nur die Leine der Angel, die straff in die Tiefe hinablief. Nicht einmal eine Bewegung des Wassers, kleine Wellen oder dergleichen, wurde sichtbar.

Bald rann ihnen der Schweiß über die Gesichter. Und dabei hatten sie erst vielleicht zwanzig Meter des ledergeflochtenen Taues eingezogen. Nun mußten auch die Schlingen wieder weiter nach dem Wasser zu an der Leine angebracht werden. Vorher wurde diese um denselben Felsblock geschlungen, der bisher schon als Verankerung gedient hatte. Fürchtete Reiter doch, das rätselhafte Geschöpf könnte plötzlich versuchen, wieder mehr die Mitte des Seegrundes zu gewinnen, so daß dann die ganze bisherige Arbeit vergeblich gewesen wäre.

Nach den nächsten zehn Metern wurde der Widerstand erheblich schwächer. Immerhin mußten die vier Gefährten aber noch alles an Kraft hergeben, was sie besaßen. Ihre Ermüdung nahm schnell zu. Aber als nun die Hälfte der Leine eingezogen war, nachdem die Zugschlingen noch viermal an anderer Stelle befestigt worden waren, begann ein furchtbarer Kampf zwischen dem noch immer unsichtbaren Untiere und dem Angelgerät.

Ein Ruck, der die vier Deutschen ein Stück zurückriß, leitete diesen Kampf ein. Zum Glück hatte man das Seil noch um den Felsblock geschlungen, so daß der unheimliche Bewohner des Sees nur wenige Meter durch diese unvermutete Rückwärtsbewegung gewann.

Dann begann die Leine im Wasser hin und her zu pendeln, immer dabei straff gespannt bleibend, – bald nach dem Ost-, bald nach dem Westufer zu. Es war klar, daß das rätselhafte Lebewesen alles versuchte, sich von dem Haken zu befreien, der jetzt sicher gefaßt hatte, oder aber die Leine zu zerreißen.

Der Wasserspiegel selbst bewies nun auch, was in der Tiefe sich abspielte. Kleine Wirbel und Blasen stiegen hoch, hin und wieder schäumte das Wasser auf und bildete Wellen, die immer schwächer werdend, nach allen Seiten hin sich fortpflanzten.

Längst war die Sonne aufgegangen und beleuchtete mit blendender Helle dieses Schauspiel, bei dem die Phantasie sich so gut ausmalen konnte, was auf dem Grunde des Gewässers vorging.

Reiter fürchtete, die Leine könnte reißen, obwohl Haifischhaut vielleicht mit der widerstandsfähigste Stoff ist, den man für diesen Zweck finden konnte. – So verging eine Viertelstunde. Dann schien das Untier den Kampf aufzugeben. Das Tau der Angel lief nun wieder nach der Mitte des Seegrundes zu. Das Wasser war wieder ruhig, und das Sonnenlicht lag in flimmernder breiter Bahn auf der Oberfläche des Binnensees.

„Vorwärts – wir haben uns ausgeruht! Jetzt ist es an uns, zum Angriff überzugehen!“ rief Reiter.

Und wieder klang in Pausen sein aufmunterndes „Hei – ho – los!“ – „hei – ho – los!“ über das stille Eiland hin.

Meter um Meter wurde geschafft.

Wieder eine Atempause … Erich Rendler blickte als erster zurück, schrie dann sofort – nein! – brüllte laut heraus:

„Da – da ist es …!!“

Drei Köpfe flogen herum … Aber die erstaunten, halb entsetzten Ausrufe Reiters und Falks wurden von einem gellenden Schrei übertönt, den Menke ausstieß …:

„Die Spinne – die Riesenspinne …!!“

Gleichzeitig war er ein paar Schritte vorgesprungen, stand an allen Gliedern zitternd da, hielt die rechte Hand nach dem See ausgestreckt und wiederholte in kreischenden Tönen:

„Die Riesenspinne – die Riesenspinne!“

Dann wandte er sich plötzlich den Gefährten zu. Und zum maßlosen, aber desto freudigeren Erstaunen seiner drei Freunde kamen jetzt die Worte über seine Lippen:

„Reiter, – sieh Dir den Kopf des Ungeheuers an, – sieh die furchtbaren, schlangenähnlichen, langen Beine …!! Mit der Bestie habe ich damals gekämpft …!“

Keiner von den dreien dachte in diesem Augenblick an das riesige Untier dort im Wasser … Wichtiger war allen die Erkenntnis, daß Menke durch den Anblick des widerlichen Geschöpfes offenbar zu klarem Verstande gekommen war.

Ein paar an Menke gerichtete Fragen genügten, um diese Annahme vollends zu bestätigen.

Dann erst wandte sich die Aufmerksamkeit der vier wieder dem See zu.

Fürwahr – es war ein Anblick, der sich dort kaum zwanzig Meter vom Ufer entfernt, ihnen bot, wie ihn die Phantasie sich kaum abenteuerlicher und schrecklicher ausdenken konnte.

Über das Wasser ragte eine schmutzigweiße, mit dunkleren Flecken übersäte Masse heraus – ein unförmiger Kopf mit einem riesigen, papageiähnlichen Schnabel und runden, großen Augen. Und in dem Schnabel saß der Haken der Angel fest, von dort lief jetzt die Leine nach dem Standorte der vier Robinsons zu.

Abschreckend häßlich wirkte dieser Kopf, der von dem zum Teil noch über die Oberfläche gleichfalls hinausragenden Leibe nur wenig abgesetzt war. Um den Kopf herum aber wurden gekrümmte, halb durchsichtige Beine sichtbar, die offenbar tief unter Wasser sich an irgend einem größeren Gegenstande festklammerten.

„Eine Tintenschnecke – eine Riesentintenschnecke“, rief Falk jetzt, der früher einmal in Deutschland neben anderen Lehrfächern auch Naturwissenschaften studiert hatte, aber es nie zum Bildner der Jugend brachte, weil ihn, genau so wie auch Menke und Reiter, die Abenteuerlust in die Kolonien getrieben hatte.

Riesentintenschnecken …!! – Man hört nicht oft von ihnen. Und doch kommen sie, wenn auch selten, in allen Meeren vor. Ihren Namen führen sie deshalb, weil ihr Körper aus einem gallertartigen Stoffe besteht, ähnlich dem der Schnecken, und weil sie in einem Beutel eine tintenähnliche Flüssigkeit mit sich führen, die sie, von einem Feinde verfolgt, ausspritzen und so das Wasser weithin trüben, um leichter zu entkommen. Der unförmige, einem aufgeblasenen Sack ähnliche Körper mit dem kaum merklich abgesetzten Kopfe besitzt zwölf Fangarme bis zu vierzehn Meter Länge mit Saugnäpfen am unteren Ende, außerdem in der Haut Leuchtorgane, die ganz nach Belieben in Tätigkeit treten.

Das Aussehen dieser Bewohner der Tiefsee, die in der Tat Riesenspinnen gleichen, ist ebenso abschreckend wie grauenerregend. Dabei verfügen diese Ungeheuer noch über furchtbare Kräfte. Tatsache ist, daß an der schwedischen Küste einmal eine solche Riesentintenschnecke ein Fischerboot angriff und einen der Leute über Bord zerrte. Dabei besaß dieses Tier nur eine Körperlänge von zwei Meter. Ein anderes Tier dieser Gattung wurde tot an die Küste der Insel Neufundland angeschwemmt. Es maß vier Meter mit zwölf Meter langen Fangarmen.

Reiter war sich jetzt auch darüber klar geworden, welcher Art der Gegenstand war, an den sich das Ungeheuer angeklammert hatte. Es konnte nur der Kutter sein, den man gleichzeitig mit der Riesensepia (Sepia, Tintenschnecke) über den schlüpfrigen Grund des Sees mitgeschleppt hatte.

Kein Wunder, daß dieser Gedanke Reiter geradezu elektrisierte. Hier war eine Möglichkeit gegeben, wieder in Besitz des gesunkenen Bootes zu gelangen, mit dessen endgültigem Verlust man sich längst abgefunden hatte.

Ein paar Worte an die Gefährten genügten jetzt, um diese sofort wieder nach den Zugschlingen greifen zu lassen.

Und die Hoffnung, zugleich mit dem Kutter die Aussicht auf eine Beendigung ihres Robinsondaseins zu gewinnen, verlieh den Freunden ungeahnte Kräfte.

Weiter und weiter hob sich der Leib der Riesensepia aus dem Wasser heraus. Jetzt erst sah man, welche Abmessungen das Untier hatte. Der Leib war gut fünf Meter lang, den Kopf mit eingerechnet. Die Fangarme hatten sich fest um den Kutter gelegt, der halb auf der Seite liegend, gleichfalls ruckweise sich nun dem Ufer näherte.

 

5. Kapitel.

Menkes Rache.

Nun schob sich das Boot mit dem darauf hockenden Ungeheuer auf das Trockene, den Bug voran. Aber hier, wo der schlüpfrige Boden aufhörte, wo der harte Fels begann, war die Reibung des Kieles und der Bordwand zu groß, um den Kutter weiter hochzuziehen. Außerdem fürchtete Reiter auch, der Haken könnte plötzlich aus dem Papageienschnabel[1] der Sepia, der aus einer hornartigen Masse besteht, ausreißen, und Boot und Tintenschnecke dann auf Nimmerwiedersehen in die Tiefe des Sees zurückgleiten.

Was aber unter diesen Umständen tun?! Lag doch auch die Möglichkeit nahe, daß das Untier die Umklammerung des Kutters aufgeben könnte, was gleichfalls dessen abermaligen Verlust zur Folge haben würde.

Da erbot sich Menke freiwillig, den jetzt unbenutzten Teil des Seiles der Angel am Heck des Kutters zu befestigen, indem er schwimmend sich diesem von rückwärts nähern wollte.

Lange überlegen durfte man hier nicht. Und gleich darauf hatte Menke schon seine Oberkleider abgestreift und strebte nun mit kräftigen Stößen dem Heck des Motorbootes zu, die Leine dabei mit einer Schlinge über der Brust mit sich ziehend.

Reiter und die beiden anderen aber sorgten dafür, daß das Angeltau selbst stets ganz straff gespannt blieb, damit das Untier nicht etwa auf den waghalsigen Schwimmer einen Angriff unternehmen könne.

Glücklich erreichte Menke das Heck des Fahrzeuges, verknotete hier die Leine um das Steuer und … hätte nun zurückkehren können.

Aber ein langer Bootshaken mit eiserner Spitze, der ein Stück über das Hinterschiff hinausragte, gab seinen Gedanken eine neue Richtung.

Zum Entsetzen der drei am Lande Stehenden schwang er sich an Bord des Kutters, machte vorsichtig den Bootshaken, der sich festgeklemmt hatte, los und … rannte dann diese Waffe der Sepia mit aller Gewalt von hinten in den weichen Leib hinein.

Sofort lösten sich die Fangarme der Bestie von den Bordwänden. Hierdurch geriet aber auch der Kutter ins Gleiten, rutschte in tieferes Wasser, wurde aber durch die an seinem Steuer befestigte Leine schnell wieder gebremst.

Menke war längst nach dem Ufer unterwegs, als die Riesentintenschnecke noch immer mit ihren Fangarmen nach rückwärts griff, um den Feind zu packen, der ihr den Bootshaken bis in den halben Leib hineingestoßen hatte.

Das Ungeheuer machte jetzt, nur noch wenig in seinem eigentlichen Element befindlich, die wildesten Anstrengungen, sich von dem Haken zu befreien, schlang die Fangarme um die Leine, riß und zerrte daran, daß diese oft wie eine Geigensaite vibrierte. Doch das geflochtene Tau hielt … Und den Felsblock, um den es festgebunden war, vermochte auch die ungeheure Kraft dieses gigantischen Bewohners der Tiefsee nicht zu lockern.

Ganz von selbst lief Erich Rendler jetzt nach den Terrassen und holte aus der Hütte alle vorhandenen Waffen, – die Haifischharpunen, die Beile und die kurzen Speere.

Menke schleuderte dann die erste Harpune von der Uferhöhe im Bogen herab. Dicht hinter dem Kopfe drang sie in den schleimigen Leib ein. Reiter aber versuchte es mit gewichtigeren Waffen. Seine Kräfte gestatteten es ihm, große, scharfkantige Felsbrocken zur Vernichtung der seltenen Meeresbestie anzuwenden. Gleich das dritte Felsstück traf von seitwärts den Kopf und riß ihn halb vom Rumpfe los.

Doch die Riesensepia besaß ein zähes Leben. Erst als ein Stein von fast Zentnerschwere abermals den Kopf traf, war die Tintenschnecke erledigt. Rumpf und Kopf rissen auseinander. Ersterer glitt in den See zurück und verschwand in der Tiefe, während die Sieger letzteren jetzt ganz aufs Trockene zogen und nun aus nächster Nähe den hornartigen Papageienschnabel und die seltsamen, runden Augen des Ungeheuers betrachten konnten.

Der Kopf ging dann unter den Einwirkungen der Sonnenstrahlen sehr schnell in Fäulnis über und mußte, nachdem Reiter den harten Schnabel als Andenken herausgelöst hatte, in das Wasser geworfen werden, da er einen furchtbaren Geruch verbreitete.

Am Nachmittage gingen die Gefährten sofort daran, den Kutter zu bergen.

Es war dies noch ein recht schweres Stück Arbeit. Als man das Motorboot aber erst so weit hochgehoben hatte, daß man es, um ein Zurückgleiten zu verhindern, durch Steine stützen konnte, wurde das Wasser ausgeschöpft und so erreicht, daß es noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder schwamm.

Während des Abendessens überlegten die Freunde dann, wie man den schweren Kutter wohl am besten über Land nach dem Meere schaffen könne.

Reiter meinte, es würde nichts anderes übrigbleiben, als alles daraus zu entfernen, was sich nur losschrauben oder sonstwie loslösen ließ, natürlich auch den Motor, der ja ohnehin nach dem wochenlangen Liegen im Wasser auseinandergenommen werden müsse.

Und so geschah es auch.

Acht Tage brauchten unsere Robinsons dazu, den Kutter, so weit es ging, zu entlasten. Dann wurde das entleerte Boot ganz auf das Ufer gezogen und vorläufig hier belassen, bis die Gleitbahn fertig war, die Reiter aus den Brettern der Innenverschläge herstellen ließ, um die noch immer schwer zu bewältigende Last auf die steile Uferhöhe des Binnensees hinaufziehen zu können. Für diese Gleitbahn benutzte man als Schmiermittel, ähnlich wie man bei Stapelläufen Seife zu diesem Zweck verwendet, die schlüpfrige Pflanzendecke des Seegrundes.

Auch bei dieser Gelegenheit bewies Reiter also wieder eine seltene Findigkeit.

Der Transport nach dem Meere hin war dann nach Überwindung des steilen Binnenseeufers eine Kleinigkeit, da die kuppelförmige Oberfläche der Hauptinsel ihn wesentlich erleichterte.

Immerhin vergingen noch zwei Wochen, ehe unsere vier Robinsons mit dem Motorboot von der kleinen Bucht unterhalb der Terrassen aus die erste Probefahrt unternehmen konnten. Diese verlief zur vollen Zufriedenheit. Der Motor arbeitete tadellos. Da man aber nur noch wenig Benzin besaß, war gleichzeitig die Segeleinrichtung des Kutters in Ordnung gebracht worden.

Am Morgen des 4. Januar 1915 stach dann der Kutter, wohlversehen mit Proviant und Trinkwasser, in See. Ein günstiger Wind schwellte die Segel des Bootes und entführte es schnell nach Osten zu.

Immer kleiner wurde das Eiland, das die vulkanischen Gewalten geschaffen hatten, immer mehr entschwand es den Blicken der vier Deutschen, die dort so merkwürdige Dinge erlebt hatten.

Erich Rendler war der Abschied von der Insel besonders schwer geworden. Er hatte sich dort in der freien Ungebundenheit des Robinsondaseins so recht wohlgefühlt, hatte aber auch viele wertvolle Erfahrungen gesammelt.

Menke, der neben ihm auf dem Vorderdeck stand, schaute ebenfalls mit ernstem Blick nach dem Gipfel des Vulkanberges aus, der am längsten sichtbar blieb. Er dachte an das Geheimnis des Binnensees, an den Kampf mit der Riesensepia, die Zeit seiner geistigen Umnachtung und das Erwachen aus dem dunklen Schlaf seiner gestörten Geistesfähigkeiten.

Anders der dicke Falk. Der wirtschaftete schon in der kleinen Kajüte an dem Petroleumkochherde herum und bereitete alles für die nächste Mahlzeit vor.

Reiter aber stand am Steuer und blickte geradeaus … Dort – weit, weit – lagen die Hawaii-Inseln, das Ziel ihrer Fahrt, die sie auch nach zwölftägiger Reise glücklich erreichten.

 

Ende.

 

Das nächste Heft enthält:

Der Schiffsjunge der „Esmeralda“.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkung:

  1. „Papageischnabel“ / „Papageienschnabel“ – Einheitlich auf „Papageienschnabel“ geändert.