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Die Bajadere Mola Pur

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 47

 

Die Bajadere Mola Pur.

 

1. Kapitel.

Das gestörte Fest.

Das Auftreten der berühmten Bajadere Mola Pur mit ihrer Tänzerinnenschar war zweifellos der Glanzpunkt des Festes, das der Radscha Gharo Mir Tossar von Kotarani aus Anlaß seiner Begnadigung wegen fahrlässiger Tötung seinen Freunden und Bekannten gab.

Der Riesensaal im Erdgeschoß der alten Radschaburg, eigentlich eine Säulenhalle von ungeheuren Abmessungen, war durch eine verschwenderische Fülle von elektrischen Lampen aller Art in strahlende Helle getaucht.

Den Saal füllten etwa 4000 Personen. Alle Stände, alle Berufe des kleinen Fürstentums waren vertreten bis hinab zum Elefantenwäscher.

An der einen Schmalseite war eine Bühne erbaut, auf der die von Mola Pur eigens für dieses Fest vorbereitete Pantomime zur Aufführung gelangen sollte.

Wir, Harald Harst, Lord Erverlyn, der Reporter Stuart Tompkinson und ich waren dem Radscha bereits vor zwei Tagen durch dessen Leibarzt Doktor Ismail Chotan vorgestellt worden.

Der Radscha war eine schlanke, sympathische Erscheinung. Er trug den rotblonden Bart spitz geschnitten und kehrte in allem den aufgeklärten Geist hervor.

Mit Harst hatte er sich hauptsächlich bei der Audienz unterhalten. Wir wurden am selben Tage auch noch zur Abendtafel geladen. Auch bei Tisch saß Harald rechts neben dem Radscha. Links von diesem hatte die Fürstin, die Rhani Dschawira, ihren Platz. Ich saß den dreien gegenüber. Die Fürstin war noch sehr jung. Man sagte 24 Jahre. Jedenfalls war sie eine Tochter eines der vornehmsten Radschputen des Landes und sah mit ihrer hellen, nur leicht gelblichen Haut mehr wie eine Italienerin aus.

Für das große Fest hatten wir vier Freunde, ebenso auch Doktor Chotan, in der zweiten Sesselreihe hinter der Bühne Plätze zugewiesen erhalten. Vor uns saßen der Radscha, die Fürstin Dschawira und hohe englische Militärs und Zivilbeamte, ferner die benachbarten Fürsten.

Ich kann im Rahmen dieser Erzählung diese künstlerische Darbietung nur kurz streifen, ebenso wie ich auch über die Bajaderen nur das zum Verständnis des Folgenden Notwendige erwähnen will.

Bajadere ist eine ursprünglich portugiesische Bezeichnung für die indischen Tempeltänzerinnen, die richtig Devadasis heißen. Man unterscheidet zwei Arten Devadasis: solche, die den Tempel nie verlassen dürfen und die allein bei den großen religiösen Festen des Brahmanismus mitwirken; dann die „freien“ Devadasis, die Berufstänzerinnen sind und ihre Kunst für Geld sehen lassen. – Die Bezeichnung Bajadere trifft nur auf die „freien“ Devadasis zu. Ihre Tänze, Natsch genannt, stellen stets Pantomimen dar, deren Inhalt entweder aus der Göttergeschichte oder dem Liebesleben gewählt ist. Es sind also gewissermaßen ganze Theaterstücke, die man von den besseren Bajaderen zu sehen bekommt. – Die Bajadere Mola Pur und ihre Truppe war zu jener Zeit in Indien am berühmtesten.

Die Pantomime begann. Sie war nichts als eine für europäischen Geschmack allzu phantastische Liebesgeschichte.

Mola Pur trat erst nach einer ganzen Weile auf. Sie wurde sofort mit stürmischem Beifall begrüßt, zu dem der Fürst das Zeichen gab, indem er ihr – ein Brillantgeschmeide zuwarf, das sie geschickt auffing.

Ob sie schön war? – Ja, ohne Frage. Sie hatte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Fürstin Dschawira, fand ich. Während jedoch das Gesicht der Rhani in all seiner Schönheit wie erstarrt schien und mehr wie ein sehr lebenswahres Ölgemälde wirkte, verriet das Antlitz der berühmten Bajadere durch so und so viele kleine Zeichen eine leidenschaftliche Seele, wiederum aber in dem bis aufs höchste vollendeten Mienenspiel eine außergewöhnliche schauspielerische Begabung. –

Ich saß links neben Harald.

„Wie gefällt sie Dir?“ flüsterte ich ihm zu.

Der Saal war jetzt verdunkelt. Farbige Scheinwerfer beleuchteten die Bühne.

Er antwortete nicht. Ich wiederholte die Frage, indem ich mich näher zu ihm hinüberbeugte.

„Störe mich nicht,“ flüsterte er kurz.

Was hatte er nur?! – Ich lehnte mich wieder bequem in den Armsessel zurück, dessen niedrige, runde Lehne mit Elfenbein- und Goldmosaik wundervoll verziert war.

Ich schaute Harald prüfend von der Seite an. Auch er saß ganz bequem da. Nur den Kopf hatte er etwas vorgereckt. Seine Augen schienen starr geradeaus gerichtet zu sein, jedoch nicht auf die Bühne.

Da wurde der Saal plötzlich wieder hell. Die gelben Seidenvorhänge der Bühne rauschten zusammen. Der erste Akt der Pantomime war vorüber.

Abermals gab der Radscha Gharo das Zeichen zum Beifall, indem er sich erhob und gegen den Seidenvorhang drei wundervolle, halberblühte gelbe Rosen schleuderte. –

Dann ertönte der Gong. Alles nahm wieder Platz.

Die Musik setzte ein. Der Saal wurde dunkel. Doch der Vorhang blieb geschlossen. Das Orchester verstummte plötzlich.

Ich sah, daß ein Hofbeamter des Radschas diesem hastig etwas meldete.

Der Fürst schnellte förmlich hoch, zog den Beamten bei Seite.

Die Lichter flammten wieder auf. Ich konnte dem Radscha gerade ins Gesicht blicken. Es war verzerrt. Der Fürst war aschfahl.

Dann wandte er sich um, winkte Harst.

Harald drängte sich durch die vordere Sesselreihe durch. Der Radscha sprach leise auf ihn ein.

Ich wußte jetzt: es war etwas geschehen, irgend etwas, wobei man Haralds Beistand in Anspruch nehmen wollte.

Harst blickte nach mir hin, machte eine kurze Kopfbewegung. Ich verstand. Ich sollte ihm folgen.

Der Radscha setzte sich. Der Hofbeamte und Harst verließen nach links den Saal durch eine der zahlreichen Türen.

Ich war ebenfalls aufgestanden. Man machte mir Platz. Die Musik begann wieder zu spielen. Der Saal wurde dunkel, und die Vorhänge rauschten zur Seite.

Das war das letzte, was ich sah, bevor ich durch die Tür in das große Prunkgemach eintrat, in dem Harst und der indische Hofbeamte auf mich warteten.

„Die Bajadere Mola Pur ist soeben tot in dem ihr als Ankleidezimmer zur Verfügung gestellten Raume aufgefunden worden,“ sagte Harald hastig. „Der Radscha wünscht, daß dieser traurige Vorfall zunächst verschwiegen wird. Wir sollen uns aber die Tote ansehen, bat er. Denn – sie scheint ermordet worden zu sein.“

„Sie hat einen Dolchstoß ins Herz erhalten,“ erklärte der Inder. „Die Waffe steckt noch in der Wunde. – Das Festspiel soll zu Ende geführt werden, befiehlt der Radscha. Eine andere wird Mola Pur vertreten. Es soll verbreitet werden, Mola Pur sei plötzlich erkrankt.“

„Gehen wir,“ meinte Harst.

Der Inder schritt uns voran durch drei Gemächer, öffnete eine in einen langen Flur mündende Tür und deutete nun auf eine Tür schräg gegenüber. Vor dieser Tür stand einer der Leute der fürstlichen Leibwache.

Harald ging und stieß die nur angelehnte Tür auf.

Es war ein großes Zimmer mit modernen, hellen Satinmöbeln; zumeist Spiegelschränke. Zwischen den beiden Fenstern stand ein Frisiertisch mit drei hohen Spiegeln. Auf einem Diwan rechts lagen allerhand Kleidungsstücke.

Und vor dem Frisiertisch auf dem dunklen Parkettfußboden sahen wir Mola Pur auf dem Rücken liegen, hell beschienen von der elektrischen Krone.

Harald drückte die Tür zu. – Wir drei standen mehrere Minuten regungslos. Wir hörten vom Festsaale her ganz schwach die Musik herüberschallen.

„Wer fand die Tote?“ fragte Harst den Inder dann.

Es war dies ein älterer Mann mit grauweißem Vollbart. Er hieß Mahattmi und bekleidete die Stellung eines Geheimsekretärs des Fürsten, war aber gleichzeitig auch Zeremonienmeister und Verwalter des Staatsarchivs. Mahattmi hatte bereits dem Vater des jetzigen Radschas gedient und war der Vertraute des Sohnes geworden. Er gehörte zu den einflußreichsten Personen des Hofes. Seine Treue hatte er dadurch bewiesen, daß er den Fürsten, als dieser in die Thar-Wüste floh und dort jahrelang in der Einöde hauste, begleitete und bei ihm ausharrte, bis für den Radscha die Stunde der Erlösung schlug. –

Mahattmi erwiderte:

„Es war die Dienerin Mola Purs.“

„Ich möchte sie sofort sprechen,“ meinte Harald, ohne den Blick von der Leiche zu wenden.

Der Inder ging hinaus.

„Natürlich Mord,“ flüsterte Harst. „Das sieht man schon an dem Gesichtsausdruck der Toten. Es spricht daraus ein wildes Entsetzen, eine grauenvolle Angst –“

Mahattmi trat mit einer jungen Inderin ein. Er mußte sie stützen. Sie hatte die Hände vor das Gesicht gedrückt und schluchzte ununterbrochen.

Harald redete ihr freundlich zu. Dann fragte er:

„Wie heißt Du?“

„Alora –“

„Du hast Deine schöne Herrin sehr lieb gehabt, nicht wahr?“

Das Mädchen nickte und schluchzte noch lauter.

„Du möchtest doch wohl gern mithelfen, daß der entdeckt wird, der Deine Herrin tötete –“

„Ja. Alles will ich tun, Sahib, alles –“

„Dann werde jetzt erst einmal ruhiger, Alora. – Hier, setze Dich mit dem Rücken nach der Toten hin nieder.“

Er schob ihr einen Stuhl zurecht. Wir standen noch immer dicht an der Tür.

Die Inderin ließ sich ganz matt auf den Sitz fallen.

„Nun erzähle,“ meinte Harst.

„Sahib, ich weiß ja nichts –“

„Deine Herrin war hier eine Weile allein, nicht wahr? Hatte sie Dich hinausgeschickt?“

„Ja, Sahib. Sie war fertig mit dem neuen Anzug. Sie mußte sich doch umkleiden. Und als ich ihr die linke Sandale zugeschnürt hatte, sagte sie, ich solle Bescheid geben, daß die Musik beginnen könne. Ich ging in den Flur und traf dort den Kapellmeister, Sahib –“

„Wo trafst Du ihn? Hier dicht an der Tür?“

„Nein. Weiter unten, wo die Tür auf die Bühne führt.“

Da mischte sich der alte Mahattmi ein.

„Mr. Harst, der Kapellmeister und ich standen dort zusammen. Als Alora uns meldete, daß der zweite Akt beginnen könne, eilte der Kapellmeister davon. Ich blieb stehen und sah, wie Alora wieder dieses Zimmer betrat. Dann hörte ich einen gellenden Schrei, und da kam das Mädchen auch schon wieder wie eine Wahnsinnige herausgestürzt. Sie fiel mir halb bewußtlos in die Arme. Ich ahnte, daß etwas Furchtbares geschehen sein müsse, zog sie mit mir bis an diese Tür, erblickte Mola Pur mit dem Dolch im Herzen, lief hier ins Zimmer und erkannte dann sofort, daß Mola Pur ermordet sein müsse. Ich habe dann einen Mann der Leibwache durch Alora herbeirufen lassen und blieb hier vor der Tür stehen, bis der Soldat erschien. Das dauerte nur drei Minuten – höchstens –“

„Es ist also außer Ihnen und Alora niemand nach dem Mörder durch diese Tür in dieses Zimmer gekommen?“

„Niemand. – Doch, Mr. Harst, der Mörder kann diesen Eingang nicht benutzt haben. Ich hätte ihn sehen müssen. Ich stand mit dem Gesicht hierher gewandt, als Alora uns sagte, daß Mola Pur mit dem Umkleiden fertig sei.“

„Danke,“ meinte Harald. „Wollen Sie uns jetzt bitte hier allein lassen –“

 

2. Kapitel.

Der Brief.

Harald riegelte hinter ihnen die Tür zu[1], setzte sich dann auf denselben Stuhl, den soeben die Dienerin der berühmten Bajadere benutzt hatte.

„Da – bitte!“ und er zog einen zweiten Stuhl neben den seinen.

„Es gibt da linker Hand zwischen den Schränken noch eine Tür,“ sagte ich leise.

Er antwortete nicht, regte sich nicht.

Ich blickte nach der Toten hin. Sie trug jetzt das Kostüm eines altindischen Kriegers. Das Haar war unter eine helmartige, mit sprühenden Steinen besetzte Ledermütze gezwängt, die einen mit Goldplatten beschlagenen Kinnriemen hatte. Dieser Kopfschmuck war nur wenig verschoben infolge des Sturzes nach dem tödlichen Stoße.

Ich sah noch mehr: um die Hüfte hing der toten Tänzerin an einem reich verzierten Riemen ein kleiner, krummer Säbel in Elfenbeinscheide. An demselben Riemen bemerkte ich eine leere Dolchscheide.

Hatte der Mörder etwa die Waffe aus dieser Scheide gerissen und sie der Bajadere ins Herz gestoßen?

Ich wandte mich nach Harst hin. Er hatte die Augen geschlossen und das Gesicht der elektrischen Krone zugedreht.

Aber – ich nahm nichts von geistiger Abspannung in seinen Zügen wahr. Sie hatten vielmehr etwas Müdes, Gleichgültiges.

Trotzdem störte ich ihn nicht.

Nach einer kurzen Zeit zog Harald seine Uhr aus der Frackweste.

„Wir sind jetzt eine Viertelstunde hier,“ sagte er darauf. „Das genügt. Gehen wir.“

„Gehen?!“ Ich war sprachlos vor Staunen. „Nennst Du das einen Mord aufklären?“

„Nein. Das nenne ich vielmehr auf eine Sache verzichten, die uns unbedingt das Leben kosten würde.“

Ich stierte ihn an. Seine Augen ruhten fest und ernst auf meinem Gesicht.

„Ich werde dem Radscha erklären, wir hätten hier nichts von Belang gefunden. Ich hielte es daher für richtig, den Detektivinspektor aus Bikaner (der Nachbarstadt der kleinen Residenz des Fürstentums) mit der Untersuchung zu betrauen. Lieber Alter, wir würden hier in ein Wespennest fassen. Und diese Wespen würden tödliche kleine Stiche uns versetzen. Außerdem –“

Jemand hatte von draußen die Türklinke herabgedrückt.

„Riegele auf,“ meinte Harst.

Doktor Ismail Chotan, der Leibarzt des Radschas, und der uns bereits von Bikaner her bekannte Detektivinspektor Lopsing traten ein. Im Flur bemerkte ich noch Lord Erverlyn und den kleinen „Reporterkönig“ Tompkinson.

Edward Lopsing drückte die Tür wieder zu.

„Der Privatsekretär des Fürsten hat mir den Vorfall gemeldet,“ sagte er zu Harst. „Ich bin zuständig, auch für Kotarani. Wir wollen zusammenarbeiten, Mr. Harst. Es wird mir eine Ehre sein.“

Harald erwiderte recht matt:

„Ich fühle mich leider gar nicht wohl, Mr. Lopsing. Die Hitze im Saale war zu drückend. Schraut und ich haben noch gar nichts unternommen. – Lieber Chotan, am liebsten führe ich heim,“ wandte er sich an den Arzt. „Ich bin furchtbar abgespannt, Doktor,“ wiederholte er nochmals. „Ich bitte Sie, entschuldigen Sie uns bei dem Radscha und gestatten Sie, daß wir Ihr Auto benutzen. Ich fürchte ohnmächtig zu werden –“

Chotan erklärte, wir würden das Auto auf dem Schloßhofe finden.

„Ich muß hier bleiben, Mr. Harst,“ sagte er noch wie entschuldigend. „Ich bin ja gleichzeitig auch Polizeiarzt für Mr. Lopsings Distrikt.“

Daß Harald diese Komödie glänzend spielte, brauche ich nicht zu betonen. Wir verabschiedeten uns und verließen das Zimmer. Draußen im Flur fielen sofort Erverlyn und Tompkinson mit Fragen über uns her. Harst winkte ab.

Ein Diener holte dann unsere Staubmäntel, und wir gingen in den Hof hinaus.

Der Chauffeur Doktor Chotans schlief auf dem Führersitz. Erverlyn und Tompkinson wollten uns durchaus begleiten. Es war jetzt ¼11 abends. Die Luft war gewitterschwül; der Himmel dicht bewölkt.

Wir vier alten Freunde stiegen ein. Das Auto rollte davon. Als wir die Hauptstraße erreicht hatten, überholte uns ein Motorradfahrer. Es war ein Inder mit einer großen Autobrille vor den Augen.

Sehr geschickt blieb er neben uns, rief:

„Sahib Harst – ein Brief –“

Ich nahm ihm den Brief ab, und er raste weiter.

Harald faßte in die Tasche seines Staubmantels und holte die kleine elektrische Lampe hervor. Er schnitt den Umschlag auf, nahm einen Briefbogen von dickem Papier heraus, beleuchtete die Schrift, faltete ihn wieder zusammen und schob ihn in die innere Frackwestentasche.

Von wem war der Brief?! – Ich hatte deutlich gesehen, daß das Briefpapier sehr kostbar war.

Ich riet auf den Radscha als Absender. Er mochte inzwischen erfahren haben, daß Harald sich nicht ganz wohl gefühlt hatte, und konnte ihm ein paar teilnehmende Zeilen nachgeschickt haben.

Doch nein: dann wäre der Motorradfahrer einer der Angestellten des fürstlichen Hofhalts gewesen und hätte die Abzeichen seiner Zugehörigkeit zu dem Dienstpersonal des Radschas getragen. Der Mann war jedoch – und das hatte ich deutlich bemerkt – wie ein ärmlicher Inder angezogen gewesen. –

Unser Auto lenkte in die Europäervorstadt von Bikaner ein. Hier bewohnte Doktor Chotan einen großen Bungalow in einem parkähnlichen Garten.

Wir als seine Gäste waren auf unseren eigenen Wunsch in einem pavillonartigen Sommerhäuschen dicht am Ufer eines kleinen künstlichen Sees untergebracht worden.

Dieser Holzpavillon hatte nur vier Räume und eine in den See hinausgebaute, auf Pfählen ruhende Veranda.

Wir stiegen aus und schritten still unserem idyllischen Heim zu. Das Wetterleuchten war noch stärker geworden. Als Erverlyn die Tür zu dem Pavillon aufschloß, vernahmen wir das erste ferne Grollen des Donners.

Harald schaltete das Licht ein. Der Lord stellte sich dicht vor ihn hin, legte ihm beide Hände auf die Schultern und fragte leise:

„Was bedeutet das alles, Harst. Sie sind doch nicht krank, zum Teufel! Reden Sie! Ich denke, wir vier kennen uns so gut, daß wir keine Geheimnisse voreinander zu haben brauchen.“

„Stimmt, lieber Douglas,“ nickte Harald und lächelte trübe. „Im Auto saß der Chauffeur vorn. Er hätte immerhin ein Wort aufschnappen können. Bitte, suchen wir mal zunächst das Häuschen hier ab. Ich glaube, wir haben Grund, recht vorsichtig zu sein.“

Wir fanden nichts Verdächtiges. Die Stabjalousien der Fenster waren geschlossen, und die Fensterriegel sämtlich zu; auch die oberen, nur mit Gaze bespannten Luftscheiben waren unbeschädigt.

„Gehen wir auf die Veranda,“ meinte Harst. „Hier drinnen ist’s entsetzlich stickig. Wir können ganz gut draußen im Dunkeln sitzen. Die Blitze werden uns leuchten.“

Wir schoben die Korbsessel um ein rundes Rauchtischchen zusammen. Erverlyn hatte als einziger den Frack anbehalten. Wir andern saßen in Hemdärmeln da.

Die Zigarren und Zigaretten brannten. Tompkinson trank schon den dritten Kognak. Harald schwieg noch immer.

„Verdammt!“ rief der temperamentvolle Lord, „nun fangen Sie endlich an, Harst! Diese Ermordung der Bajadere, wette ich, wollen Sie nicht aufklären! Deshalb sind Sie aus Kotarani ausgekniffen.“

„Wollen?!“ meinte Harald und beugte sich vor. „Wenn meine Theorie stimmt, ist’s da mit „Wollen“ vorbei.“

Ein heller Schein eines neuen Blitzes lief über den nachtschwarzen Himmel hin. Für einen Moment konnten wir nun unsere Gesichter in geisterhafter Beleuchtung sehen.

„Sie wissen also, wer der Mörder ist,“ ließ sich der kleine Reporter hören, der in seinem Sessel die Füße auf den Sitz gezogen hatte und wie ein Gnom dahockte.

„Nein, Tompkinson. Den Mörder kenne ich nicht. Der spielt aber auch eine Nebenrolle. Ich glaube aber die Anstifterin dieses Mordes zu kennen. Weil ich nun genau weiß –“

Ein langanhaltender Donner verschlang Harsts nächste Worte. Die Scheiben des Verandadaches klirrten. Als das Grollen nachgelassen hatte, fuhr ein heulender Windstoß über den Park hin. Wir vernahmen das Rauschen der Bäume, das Krachen eines abgebrochenen Astes.

Dann wieder Stille.

„– genau weiß, daß ich in diesem Falle gegen eine mir überlegene Macht ankämpfen würde, verzichte ich auf diesen Kampf. Mein Leben ist mir doch zu wertvoll, es einem Eifersuchtsdrama zu opfern.“

„Himmel – er meint die Rhani!“ rief Lord Erverlyn. „Er kann nur die Fürstin meinen! Der Radscha war ja auch –“

Ein Blitz und ein sofort folgender Donner brachten Erverlyn zum Schweigen.

„Der Radscha war allzu eifrig mit seinem Beifall,“ sagte Harald nun. „Und in den schönen, kalten Zügen der Rhani verbarg sich schon das kommende Unheil, als wir vorgestern abend zur Tafel gebeten waren. Ein Ehepaar, das seine Wiedervereinigung nach Jahren völliger Trennung feiern darf, benimmt sich anders. Zwischen dem Radscha und der Rhani herrschte jener übertrieben höfliche Ton, der nur Haß und Feindseligkeit verschleiert. – Und dann heute abend bei dem großen Feste! Ich habe die Fürstin beobachtet. Ich hatte sie halb im Profil vor mir. Ich gewahrte die Blicke, die der Bajadere galten. Und als der Zeremonienmeister[2] dann den Radscha bei Seite nahm, da zitterte die Rhani in ihrem Thronsessel wie im Fieberfrost. Sie wußte, was der alte Mahattmi dem Fürsten meldete –“

Abermals das Dröhnen der Batterien des Himmels; abermals ein kurzer Regenguß.

Dann sprach Harald weiter:

„Der Motorradfahrer überbrachte mir einen Brief der Fürstin. Sie muß also den Festsaal verlassen haben, um die wenigen Zeilen auf das Papier zu werfen. Diese Zeilen lauten:

„Master Harst! Ich beschwöre Sie, versuchen Sie diesen Mord aufzuklären. Nur zu Ihnen habe ich das Vertrauen, daß Sie die Wahrheit an den Tag bringen. Dschawira.““

Tompkinson rief jetzt: „Aber Harst, – die Rhani wird doch nicht Sie mit diesen in der Tat etwas merkwürdigen Zeilen beehren, wenn Sie irgendwie in diesem Verbrechen mitbeteiligt ist!“

„Die Rhani hat einen Blick von mir aufgefangen, als ich mit dem Fürsten und Mahattmi abseits stand,“ sagte Harald nach einer kurzen Pause. „Dieser prüfende Blick war eine Unvorsichtigkeit von mir. Der Brief will mehr als mich nur täuschen: er will mich dorthin locken, wo ich dann irgendwie – kaltgestellt werden könnte, eben im Palast zu Kotarani! – Sie kennen ja die indischen Verhältnisse, Erverlyn und Tompkinson. Sie werden mir recht geben: ich würde in diesem Falle gegen eine Unzahl heimlicher Gegner kämpfen! Die Rhani stammt aus dem vornehmsten, ältesten Radschputengeschlecht, und sie verfügt über Hilfsmittel, die an Zahl und Art so mannigfach sind, daß ich stets der Besiegte bleiben würde.“

„Das hat etwas für sich,“ sagte Erverlyn bedächtig.

„Hm – ich gebe das zu,“ erklärte auch der kleine Reporter. „Nur – die Beweise gegen die Rhani sind etwas dürftig.“

 

3. Kapitel.

Vier Schüsse.

Da – rechts vom Seeufer her eine Stimme:

„Hallo – ich sehe da noch glimmende Zigarren auf der Veranda! Hier Doktor Chotan!“

Tompkinson war schon am rechten Fenster und beugte sich hinaus.

„Sie haben wohl geklopft, Doktor! Wir haben aber die Tür nach dem Vorflur geschlossen und daher nichts gehört. Ich öffne sofort –“ –

Chotan und Tompkinson betraten die Veranda.

„Weshalb sitzen Sie im Dunkeln?“ fragte der Radschpute.

„Des Gewitters wegen,“ erwiderte Harald. „Man soll bei Gewitter das elektrische Licht ausschalten. Nehmen Sie Platz, lieber Chotan. Es plaudert sich im Dunkeln auch gemütlicher. Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen gleich mitteilen, daß ich mich bereits wieder leidlich wohl fühle.“

Chotan setzte sich, nahm eine Zigarette und rieb ein Zündholz an. Ich sah bei dieser schwachen Beleuchtung, daß sein Gesicht um Jahre gealtert schien. Er sah verstört, abgespannt und eingefallen aus.

„Sie sind uns sehr bald gefolgt,“ meinte Harald. „Das Fest ist doch wohl vorzeitig beendet worden, Doktor.“

Chotans Zigarette glühte vor seinem Munde stärker auf. Dann nahm er sie zwischen die Finger, sagte leise:

„Ein furchtbares Fest! Das Gerücht von dem Morde ließ sich doch nicht unterdrücken. Plötzlich riefen von hinten aus dem Saale viele Stimmen nach Mola Pur. Sie solle sich zeigen. – Und kurz vorher war die Rhani – ohnmächtig geworden. Sie kam zwar sofort wieder zu sich. Aber es fiel doch auf, daß sie den Saal verließ. Dann nahte das Gewitter, und ein Blitz schlug in den linken Eckturm ein. Es war nur ein sogenannter kalter Schlag. Trotzdem flüchteten die Zuschauer. Es gab einen wilden Tumult. Der Saal war sehr bald leer, und die davoneilenden Zuschauer wurden noch von einem Platzregen durchgeweicht.“

„Ja, ja, die Hitze im Saale!“ meinte Harst. „Die hat der Rhani fraglos genau so geschadet wie mir. Oder handelt es sich bei der Fürstin doch um eine ernsthaftere Erkrankung, Doktor?“

„Hm – das wird sich morgen herausstellen. Die Rhani ließ mich erst nach einer Weile vor. Sie lag auf einem Diwan[3] und – hatte Schreikrämpfe. – Ein furchtbares Fest! Nun wird das abergläubische Volk, das ja die Mola Pur geradezu anbetet, sich einbilden, die Wiederaufnahme der Regierung durch den Radscha sei unter so ungünstigen Vorzeichen erfolgt, daß dem Lande sicherlich eine Seuche drohe. Der Radscha war ebenfalls wie von Sinnen. Er saß ganz stumpfsinnig auf seinem Sessel in dem Riesensaale. Und die anderen Fürsten und hohen Gäste verschwanden dann auch so nach und nach. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß –“

Dann geschah das andere, – dann ereignete sich das, wodurch uns das Blut in den Adern stockte und wodurch wir zu regungslosen Gestalten wurden.

Harsts Stimme zerschnitt jäh des Radschputen begonnenen Satz:

„Sitzt still, ganz still. Am Boden kriechen Schlangen umher. Regt Euch nicht –!“

Eine Weile nichts. Unsere Blicke durchforschten das Dunkel zu unseren Füßen.

Und wirklich: Da schob sich unter Erverlyns Sessel etwas langes Grau-Gelbliches hin. Und da – auch rechts von seinem Sessel glitt etwas wie ein helleres Band über den Fußboden.

Das war’s, was ich bemerkte. Was die anderen sahen, weiß ich nicht.

Abermals Haralds Stimme: „Es sind graugelbe Dschiras, Wüstenschlangen –“ – Er flüsterte nur. „Bewegt Euch nicht. Ich allein habe schon sechs gezählt –“

Ich dachte an die Rhani! Dachte an das, was Harald vorhin über die Hilfsmittel, an Zahl und Art so mannigfach gesagt hatte.

Hier war ja schon der Beweis, daß man nicht nur Harst beseitigen wollte! Hier waren Dschiras irgendwie in die Veranda eingeschmuggelt worden, diese so überaus giftigen, tückischen Wüstenschlangen, die so leicht reizbar sind und die sich im Sande einzuwühlen pflegen, um den flinken Wüstenmäusen aufzulauern. –

Harald beugte sich jetzt vor, legte die Arme auf den kleinen Rauchtisch. Er richtete diese Bewegungen so ein, daß die Veränderung der Haltung seines Oberkörpers ganz allmählich und ganz geräuschlos vor sich ging.

Jeder weiß ja, wie leicht Korbsessel knarren. Es war recht schwer, seine Stellung auf einem solchen Sessel ohne Geräusch zu wechseln.

„Verdammt – so eine Bestie kriecht mir am Bein hoch,“ hauchte Tompkinson, und seine Stimme zitterte merklich.

Ein Flämmchen leuchtete auf dem Tische auf. Harst hatte ein Streichholz angerieben. Mit der Linken knüllte er jetzt den Brief der Rhani zusammen, außerdem eine Zigarettenschachtel; auch eine zweite Zigarettenschachtel leerte er schnell, knüllte sie flach und drehte sie mit in den Brief ein.

Das Papier begann zu brennen. Und als diese kleine Fackel nun ordentlich in Brand war, warf er sie unter den Tisch.

Erst schien’s, als ob sie erlöschen wollte. Dann flackerte sie wieder höher auf.

Wir sahen, wie drei, vier der meterlangen Dschiras aus dem Bereiche des knisternden Feuers flüchteten.

„Gott sei Dank – meine Bestie hat sich verzogen,“ flüsterte Tompkinson.

Harst hatte nach unten geblickt, sprang jetzt mit den Füßen auf den Sitz.

„Ziehen Sie alle die Beine an!“ rief er.

Dann setzte er seinen Sessel durch ruckweises Vorschieben nach der Flügeltür in Bewegung. Dort befand sich der elektrische Schalter.

Lord Erverlyn aber brüllte nun genau so unvermittelt, wie Harst es der Dschiras wegen getan hatte:

„Harst – kein Licht! Ich habe drüben am Ufer soeben zwei Kerle bemerkt, als das Wetterleuchten des entschwundenen Gewitters aufglomm. Die Schufte schienen hier nach dem Pavillon –“

Der Knall eines Schusses und ein Aufschrei Tompkinsons erklangen im selben Augenblick.

Dann – wieder ein Knall – noch einer, ein vierter.

Die Kognakflasche auf dem Tisch zersplitterte. Doktor Chotan rutschte plötzlich von seinem Sessel auf den Fußboden und blieb regungslos liegen. Tompkinson schrie: „Mein linkes Ohrläppchen ist futsch! Diese Schufte!“

Nun Haralds Stimme – bereits aus dem Salon her:

„Ruhe! – Die Türglocke schrillt!“

Im Salon wurde es hell. Nur für Sekunden. Dann wieder dasselbe Dunkel.

„Der arme Chotan,“ sagte Erverlyn. „Ich hörte den Aufschlag gegen den Schädel. Kopfschuß! – Diese Schurken!“

Mir liefen die eiskalten Schweißperlen über die Stirn. Es war das eine Situation, wie ich sie in solcher Verworrenheit nicht oft durchgemacht hatte.

Wir hockten auf den Lehnen der Korbsessel, wir drei Lebenden: Erverlyn, Tompkinson und ich! – Und dort die helle Masse am Boden war Doktor Chotan mit seinem weißseidenen Turban und der Federstutz daran. Und dort irgendwo in den Ecken der Veranda krochen die Dschiras umher.

„Wo nur Harst bleibt,“ meinte der Reporter. „Wer mag denn nur Einlaß begehrt haben?“

„Drüben – ein Licht!“ rief Erverlyn.

Ja – am andern Ufer des kleinen, etwa vierzig Meter breiten Sees irrte in der noch immer nachtschwarzen Finsternis wie ein heller Strich der Lichtkegel einer Taschenlampe bald hierhin, bald dorthin. Dann flammte eine große Laterne auf. Wir sahen mehrere Gestalten auf einem Fleck stehen. Ein einzelner Mann leuchtete mit einer Taschenlampe den Boden ab. Und dies war Harst.

„Verdammt – eine nette Nacht!“ brummte Erverlyn.

„Ich habe ein dauerndes Andenken daran – mein fehlendes linkes Ohrläppchen!“ sagte Tompkinson grimmig. „Aber – so wahr ich Stuart Tompkinson heiße und der Reporterkönig genannt werde: den Schuft, der mir das Ohrläppchen wegschoß, bringe ich ins Loch oder besser noch an den Galgen!“

Erverlyn begann plötzlich mit seinem Sessel die ruckweise Fahrt nach der Flügeltür anzutreten.

„Wir benehmen uns hier wie die alten Weiber,“ sagte er, als er einmal haltmachte. „Ich werde jetzt den ekelhaften Dschiras zu Leibe rücken.“

Er hatte die Tür erreicht, schaltete die Lampe ein, die über dem Rauchtischchen hing. Dann war er mit einem Satz im Salon. Auch dort flammte das Licht auf.

In dem kleinen Vorflur hing eine Dekoration von altindischen Waffen, darunter auch ein paar Wurfspeere mit breiter, langer Eisenspitze.

Erverlyn brachte drei dieser Speere bis an die Flügeltür, warf uns jedem einen zu.

Die graugelben Dschiras – es waren im ganzen neun – lebten nicht mehr lange. Wir warfen die zertrennten Leiber in den See. Dann suchten wir noch den Salon genau ab. Es hatte sich jedoch keins der Reptile dort verkrochen. –

Des armen Doktors Leiche lag noch in derselben Stellung, halb auf der Seite, auf dem Bastteppich. Erverlyn besichtigte gerade die Wunde des Toten, als Harald und – der Radscha Gharo Mir Tossar den Salon betraten.

Der Radscha trug jetzt einen Sportanzug mit Kniehosen und eine gleichfarbige Mütze. Die Mütze hatte er in der Linken. Er kam bis zur Verandatür, verbeugte sich und starrte entsetzt auf die Leiche seines langjährigen Vertrauten und Leibarztes.

Er sah so aus, als wäre er soeben nach langem Krankenlager zum ersten Male aufgestanden.

„Wollen wir nicht im Salon Platz nehmen, Hoheit?“ fragte Harst. „Es dürfte sich empfehlen, nicht hier in der Veranda im hellen Lichte zu stehen. Die beiden Leute, die auf uns vom jenseitigen Ufer feuerten, könnten zurückkehren, obwohl wir ihre Spuren mit Hilfe der einen Autolaterne bis über den Park hinaus verfolgt haben.“

„Wirklich tot?“ fragte der Radscha leise und stierte regungslos weiter auf die Leiche.

„Kopfschuß,“ erklärte Lord Erverlyn.

Der Fürst drehte sich langsam um.

„Ja, Mr. Harst, setzen wir uns –“

Die Verandatüren wurden geschlossen und die Vorhänge zugezogen.

Wir saßen dann um den großen Tisch herum, der vor einem Ledersofa stand. Der Radscha nahm in der rechten Ecke des Sofas Platz; neben ihm Harst. Wir drei anderen hatten uns Rohrsessel von der Veranda genommen.

Der Radscha hatte die ihm angebotene Zigarette angeraucht und hielt sie nun unbeachtet in der über die Sofalehne schlaff herabhängenden Rechten. Auf dem rechten Zeigefinger trug er einen großen, altindischen Wappenring. Um das Wappen glühten und sprühten jene so seltsamen schwarzen Diamanten, deren Feuer das der farblosen Brillanten bei weitem übertrifft.

Wir warteten bis er sprechen würde. Abermals fiel mir jetzt auf, wie sehr der Radscha doch einem Europäer glich. Das englische Blut in seinen Adern hatte aus ihm einen Mischling von ausgesprochen englischem Gesichtsschnitt gemacht.

Er saß wieder ohne jede Bewegung da. Seine Augen waren auf irgend einen Punkt der Tischplatte gerichtet.

Harald beobachtete ihn unauffällig. Er hatte sich schräg gesetzt und verhielt sich im übrigen ebenso regungslos.

Diese Stille bekam sehr bald etwas Lähmendes. Aber dieser Eindruck schwand, und ich fühlte in allen Nervensträngen eine wachsende Unruhe. Die Luft des kleinen, behaglichen Salons schien wie mit elektrischer Spannung gesättigt.

Ich hatte nun das Gefühl, daß der Radscha absichtlich schwieg – aus Diplomatie. Er wollte von Harald angeredet werden; er wollte sich vielleicht durch die ersten Sätze keine Blöße geben.

Erverlyn, der als englischer Lord und als Brite selbst in dem Radscha wohl nur den „Farbigen“, eben den Menschen zweiter Klasse, sah, hatte schon zweimal sehr ungeniert gegähnt. Dann sagte er plötzlich:

„Ich bin verdammt müde –“

Der Fürst blickte auf. Er war ganz der tadellos erzogene Weltmann, als er nun erklärte:

„Ganz recht, ich nehme die Zeit der Herren allzu sehr in Anspruch. – Mr. Harst, Sie sagten mir ja bereits draußen am Seeufer, daß sich Ihr Befinden gebessert hat. Würden Sie nicht so liebenswürdig sein und den Mord an der Tänzerin Mola Pur aufklären helfen? Es ist jetzt ja noch ein zweites Verbrechen hinzugekommen, das Sühne verlangt. Diese Mordbuben müssen gefunden werden – müssen! Von meiner Seite werden Sie jede Unterstützung finden, Mr. Harst, – jede und gegen jeden, wer es auch sei!“

Er betonte den letzten Satz sehr scharf. Sein Gesichtsausdruck war dabei hart und streng geworden.

„Inspektor Lopsing nimmt einen Raubmord an,“ fuhr er lebhafter fort. „Ich glaube nicht an dieses Tatmotiv, wenn auch der ganze Schmuck der Tänzerin verschwunden ist. Der Mörder kann die Juwelen nur deshalb geraubt haben, um die Tat zu verschleiern. Es ist schon durch Lopsing festgestellt worden, daß der Mörder durch die in das unbenutzte Nebenzimmer führende Tür sich eingeschlichen und unter dem Diwan gelegen hatte, bis eben die Dienerin Mola Purs den Garderobenraum verließ. Jene Seitentür war durch einen Schrank halb verstellt gewesen. Sie war unverschlossen. Den Schrank hat der Mörder etwas abgerückt –“

Der Radscha blickte Harst erwartungsvoll an. Er hoffte auf irgend eine Entgegnung.

Harald schwieg und schaute vor sich hin.

„Wollen Sie mir also beistehen, Mr. Harst, und die Mörder, auch den meines braven Chotan, der Gerechtigkeit überantworten helfen?“ fragte der Fürst dann etwas unsicher.

 

4. Kapitel.

Die Rhani Dschawira.

Harald hob den Kopf. Die Augen der beiden Männer ruhten ineinander.

„Nein, Hoheit, zu meinem Bedauern kann ich diesen Kriminalfall nicht übernehmen,“ erklärte er sehr bestimmt. „Ich setze mein Leben und das meiner Freunde nie leichtfertig aufs Spiel. Hier würde ich es mit Gegnern zu tun haben, denen gegenüber alle Vorsicht und alle Erfahrung in solchen Dingen nichts hilft. Das wissen Sie ebenso gut wie ich, Hoheit. Denn – Sie haben genau denselben Verdacht wie ich.“

Dem Radscha schoß das Blut ins Gesicht. Er wurde verlegen. Die Zigarette entfiel seiner Hand. Er bückte sich danach. Als er sich wieder aufrichtete, war sein Antlitz noch fahler als bisher.

„Sprechen Sie diesen Verdacht aus,“ stieß er dann mit farbloser Stimme hervor. „Sprechen Sie, – gegen wen er sich auch richten mag! Diese Nacht verlangt ihre Sühne. Das Volk ist in wilder Bestürzung davongeeilt. Morgen wird es in ganz Kotarani heißen: die Götter sind gegen unseren Fürsten! Mola Pur wurde ermordet, Doktor Chotan wurde ermordet! Und beide in der Nacht, die für das Land eine Freudennacht werden sollte! – Ich will dem Volke beweisen, weshalb diese Morde verübt wurden; ich will gerecht sein bis zur letzten Konsequenz, Mr. Harst! – Sprechen Sie!“

„Ich habe schon gesprochen, Hoheit. Hier vor meinen Freunden, die zu schweigen wissen. – Nach dem, was ich bisher weiß und beobachtet habe, muß ich Ihre Gemahlin für die Anstifterin des Mordes an der Bajadere halten und ebenso auch für die des Attentats auf uns hier im Pavillon – der beiden Attentate, – Gift und Kugel! Und der Kugel ist Doktor Chotan zum Opfer gefallen.“

Der Radscha hatte die Lippen fest zusammengepreßt.

Eine Weile Stille. Wieder so eine beklemmende Stille, die das Herz schneller schlagen läßt.

„Meine Frau hat Ihnen einen der Diener ihres Bruders nachgeschickt,“ sagte er dann leise. „Der Mann hatte einen Brief für Sie, Mr. Harst. In meinem Palast geschieht nichts, was ich nicht erfahre. Was enthielt das Schreiben?“

„Die dringende Bitte, den Mord an Mola Pur aufzuklären – nichts weiter, Hoheit.“

Der Radscha hatte sich mit jäher Bewegung halb umgewandt und schaute Harald ungläubig an.

„Das – das begreife ich nicht,“ flüsterte er. „Nein, das begreife ich nicht –“

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich wieder. In trübem, schmerzlichem Sinnen starrte er an Harst vorüber.

Wieder Schweigen.

Dann sagte Harald: „Ich glaube nicht, Hoheit, daß es einem Menschen gelingen wird, die Verüber dieser Morde zu finden. Es ist aussichtslos, gegen eine Rhani von Kotarani zu kämpfen. Man würde, falls man es erlebt, vielleicht eine Menge Indizienbeweise zusammentragen können. Aber – mehr auch nicht. Wenn Ihre Gattin aus Eifersucht Mola Pur beseitigt und dann, aus Furcht vor einer Entdeckung der Wahrheit durch mich, die Attentate gleichfalls veranlaßt hat, so wird sie auch dafür gesorgt haben, daß es – bei einem Raubmord und bei einem Attentat von Seiten dieses Raubmörders bleibt. Der Brief, Hoheit, ist dann eben eine schlau berechnete Täuschung gewesen.“

Der Radscha legte Harald mit jäher Bewegung die Hand auf die Schulter.

„Mr. Harst, ich weiß jetzt, was und wie Sie denken,“ sagte er hastig. „Sie verschanzen sich hinter der angeblichen Aussichtslosigkeit dieses Falles nur aus dem Grunde, weil Sie glauben, daß meine Frau mit Recht Grund zur Eifersucht gehabt hätte und weil Sie Gentleman genug sind, eine betrogene Gattin nicht als Mörderin oder doch als Anstifterin entlarven zu wollen. – Mr. Harst, ich gebe Ihnen hiermit mein Wort: meine Frau ist in einem Irrtum befangen! Mola Pur galt mir nicht mehr als jede andere Tänzerin, – das heißt, mir, dem Manne! Als Fürst von Kotarani stand sie mir aus anderen Gründen näher. – Ich will Ihnen hier die volle Wahrheit über den inneren Zusammenhang dieser Geschehnisse mitteilen. – Ich habe fünf Jahre in freiwilliger Verbannung in der Thar-Wüste mit drei Getreuen gelebt. Einer dieser Getreuen war mein Oberstallmeister Saratta. Er war heimlich mit Mola Pur vermählt. Er beichtete mir dies erst, als wir bereits in die Wüste geflüchtet waren. Doktor Chotan hat Mola Pur dann verschiedentlich mit nach unserem Versteck in der Wüste gebracht. – Als wir vor sechs Tagen nach Kotarani zurückkehren durften, empfing mich meine Gattin, die ich aus Liebe geheiratet habe und die ich noch liebe, mit all der Zärtlichkeit, die ich nach der langen Trennung erwarten durfte. Dann aber lud ich Mola Pur ein, damit sie die Vorbereitungen zu dem Feste leite. Meine Gattin glaubte nicht, daß die Tänzerin die Frau Sarattas sei. Das Mißtrauen erwachte bei ihr. Doktor Chotan erwähnte dann noch, daß Mola Pur wiederholt in unserem Versteck in der Thar gewesen sei. Kurz: die Rhani, die an mir mit großer Liebe hängt, wurde kühl und förmlich zu mir. Ich spürte, daß die Eifersucht sie quälte. Ich suchte diese törichten Gedanken zu zerstreuen. Schließlich geriet ich selbst durch diese Verblendung in eine gereizte Stimmung. – Ich muß nun noch nachholen, daß Saratta und Mola Pur nicht derselben Kaste angehören. Sie kennen ja wohl die strengen, altüberlieferten Gesetze, Mr. Harst, die die einzelnen Kasten voneinander trennen. Eine rechtsgültige Ehe zwischen Saratta und Mola Pur konnte nur geschlossen werden, wenn die Kaste Sarattas durch eine Abstimmung in Kotarani Mola Pur in diese aufnahm. Ich wollte nun Mola Pur Gelegenheit geben, bei dem Feste sich durch ihre Kunst bei den Mitgliedern der Kaste Sarattas noch beliebter zu machen, wollte also der rechtsgültigen Eheschließung der beiden die Wege ebnen. Deshalb nur zeichnete ich Mola Pur derart aus; nur deshalb machte ich ihr das reiche Geschenk in Gestalt des Brillantgeschmeides. – Ich hatte meiner Gattin all dies ebenfalls mitgeteilt. Aber – sie war so völlig von Mißtrauen erfüllt, daß sie nur mit einem bitteren Lächeln antwortete. Ich hätte Mola Pur unter diesen Umständen am liebsten wieder weggeschickt. Aber ich war Mola Pur gegenüber durch mein Wort gebunden. Ich hatte ihr versprochen, ihre gesetzliche Eheschließung nach Kräften zu fördern. So war ich denn in einem bösen Zwiespalt. Hätte ich ahnen können, daß die Eifersucht Dschawira bis zu solch ungeheuerlichen Verbrechen treiben würde, dann –“

Der Radscha lehnte sich in seine Sofaecke zurück. Seine Stimme gehorchte ihm nicht mehr. Er beendete den Satz nicht, starrte wieder trübe vor sich hin. –

Ich legte mir unwillkürlich die Frage vor: Ist eine solche Handlungsweise aus blinder Eifersucht von Seiten einer Frau möglich? – Und zweitens: Konnte sich die Rhani derart in einen Irrtum verrennen? – Beides mußte ich mir mit Ja beantworten. – Wir befanden uns eben im Orient, im glutheißen Indien, wo die Leidenschaften stärker in den Seelen der Menschen aufflammen als bei uns im alten Europa. –

Dann sagte Harst nach einer längeren Pause:

„Hoheit, ich habe das Gefühl, daß Sie doch so etwas wie ein leises Empfinden von Mitschuld an diesen tragischen Ereignissen in einem Winkel Ihres Herzens spüren. Der Mann in Ihnen würde die Anstifterin schonen, glaube ich; der Fürst will es nicht, weil er gerecht sein muß.“

Der Radscha erwiderte nichts. Daher fügte Harald hinzu:

„Ich werde mir alles nochmals überlegen, Hoheit. Ich sende Ihnen heute mittag Bescheid. Lehne ich eine Untersuchung des Falles ab, so wird mich der 1 Uhr-Mittagszug mit meinen Freunden aus Bikaner entführen. Mein Bescheid an Sie wird dann ein schriftlicher Abschiedsgruß sein.“

Der Radscha saß noch eine Weile regungslos da. Dann reichte er Harst wortlos die Hand, verbeugte sich vor uns und schritt der Flurtür zu. Wir begleiteten ihn bis an sein Auto. Er stieg ein, winkte uns nochmals mit der Hand zu. Dann fuhr das Auto in die Nacht hinaus. –

Doktor Chotans Dienerschaft stand wie eine verängstigte Herde vor dem großen, weißen Bungalow. Harst ließ die Leiche jetzt aus der Veranda in einen Kellerraum des Bungalow schaffen und befahl den Dienern, bis auf zwei sich niederzulegen. Diese beiden sollten auf das Eintreffen Inspektor Lopsings warten, den Harst nun telephonisch von dem hier Vorgefallenen benachrichtigte. Lopsing war noch im Polizeigebäude. Er wollte sofort herkommen.

Wir gingen dann wieder langsam durch den Park dem Pavillon und dem kleinen See zu. Inzwischen war der Nachthimmel etwas klarer geworden. Das Wetterleuchten hatte ganz aufgehört. Hier und dort bemerkte man am Firmament bereits ein paar Sterne.

Tompkinson hatte den Pavillon hinter uns abgeschlossen gehabt. Er öffnete die Eingangstür; wir traten ein, und er riegelte von innen ab. Ich hatte die Tür nach dem kleinen Salon geöffnet. Das Licht brannte dort noch.

Ich fuhr unwillkürlich zurück.

Dort saß in einem Korbsessel die – Rhani Dschawira, und neben ihr, leicht auf die Lehne eines hohen Armstuhles gestützt, stand der Geheimsekretär des Fürsten, der alte Mahattmi.

Die Rhani trug einen langen, schottischen Seidenmantel über einem schlichten, hellen Kleide, dazu einen schwarzen Lackhut.

Harald drängte mich bei Seite und ging auf die Fürstin zu, verneigte sich und sagte:

„Hoheit entschuldigen. Wir waren auf Damenbesuch nicht vorbereitet –“

Wir gingen in unsere Schlafzimmer und zogen unsere Fräcke über. Wir waren noch immer in Hemdärmeln gewesen. Nur Lord Erverlyn hatte wie erwähnt seinen Frack anbehalten gehabt. Er blieb denn auch im Salon.

Als wir drei wieder eintraten, saß Erverlyn in der einen Sofaecke und sprach mit Mahattmi über das Gewitter. Auch wir nahmen Platz.

In dem Antlitz der Rhani lag ein deutlicher Ausdruck von Entschlossenheit. Harst hatte sich ihr gegenüber gesetzt. Ihre Blicke hielten den seinen ruhig stand, als er sie jetzt fragte:

„Hoheit wissen, daß der Fürst soeben hier war?“

„Ja. Ich weiß es. Ich weiß alles, Mr. Harst. Ich bin in den Augen meines Gatten eine – Mörderin. Er hat meine Gemächer sogar bereits bewachen lassen, damit ich mit niemandem mich in Verbindung setzen könnte. Mahattmi allein hat es möglich gemacht, daß ich den Palast verlassen konnte.“

Der Geheimsekretär stand noch immer neben der Rhani.

„Mr. Harst, dieses Unheil muß von dem Fürstenpaare abgewendet werden,“ sagte er ernst und mit warmer Teilnahme. „Die Fürstin hat in ihrer Not mich rufen lassen. – Mr. Harst, es liegt hier eine Reihe unseliger Zufälle vor, die das Bild der wahren Geschehnisse verzerren. – Hoheit, jetzt sprechen Sie bitte –“

Die Rhani senkte den Kopf. Es wurde ihr schwer, ihre Seele vor uns zu entblößen.

„Mich hatte die Eifersucht auf Mola Pur halb wahnsinnig gemacht. Ich war ungerecht, war blind. Zu spät erkannte ich das –“ Ihre Stimme war mehr wie ein scheues Flüstern. „Ich hatte drei der Diener meines Bruders bestochen, Mola Pur am Abend des Festes gewaltsam zu entführen. Sie sollten sie nach dem Schlosse meines Bruders in Churu bringen. Mein Bruder Gurri liebt mich. Er hielt mich gleichfalls für eine betrogene Gattin. Wir glaubten, daß der Oberstallmeister Saratta nur zum Schein den Liebhaber der schönen Bajadere spielte. Kurz vor Beginn des Festes belauschte ich dann Mola Pur und Saratta. Da erst gingen mir die Augen auf. Es war jedoch nicht mehr möglich, jene drei Diener zu verständigen.“ Die Fürstin führte dies näher aus. „Sie können sich vorstellen, Mr. Harst, in welcher Erregung ich mich befand. Ich hatte meine Kammerfrau beauftragt, die drei Diener zu suchen und ihnen meine Gegenbefehle zu übermitteln –“

„Ich verstehe jetzt alles, Hoheit,“ erklärte Harald. „Sie saßen nun während des ersten Aktes der Festpantomime in ständiger Angst da, ob Ihre Gegenbefehle auch rechtzeitig den drei Leuten überbracht seien. – Nicht wahr, Hoheit, Sie hatten doch diesen Leuten das Zimmer neben der Garderobe Mola Purs als vorläufiges Versteck angewiesen?“

„Ja, Mr. Harst. Mola Pur sollte eben verschwinden, ohne daß jemand etwas merkte –“

„Danke, Hoheit. – Hat Ihre Kammerfrau die drei Diener noch rechtzeitig sprechen können?“

„Ja. Die Leute befanden sich bereits in jenem Nebenzimmer, verließen es dann sofort und begaben sich wieder in das Wirtschaftsgebäude, wo die Dienerschaft untergebracht war. Das geschah noch vor Beginn der Pantomime. – All das ist die volle Wahrheit, Mr. Harst. Als Mahattmi dann meinen Gatten über irgend etwas so hastig und so verstört Meldung erstattete, mußte ich annehmen, daß –“

„Danke, Hoheit. – Der Fürst teilte Ihnen dann die Ermordung Mola Purs mit, und Sie fielen in Ohnmacht. Nachher schickten Sie mir den Brief nach.“

„Ja, Mr. Harst. Meine Kammerfrau hatte mir in meinen Gemächern sofort zu meiner Beruhigung berichtet, daß nicht etwa einer der drei Diener als Mörder in Frage käme. Sie hatte jenes Nebenzimmer hinter den dreien abgeschlossen und den Schlüssel bei sich behalten. Ich wollte nun, daß der Mord um jeden Preis aufgeklärt würde. Daher mein Brief an Sie, Mr. Harst. Ich spürte ja das Mißtrauen meines Gatten ganz deutlich. Der Ohnmachtsanfall hatte ihn stutzig gemacht. – Ich bin hergekommen, um Ihnen all dies zu gestehen und um Sie nochmals zu bitten, mir zu helfen. Ich liebe den Fürsten. Und – ich will mir mein Glück erhalten. Das kann nur dann wieder ein ganzes Glück werden, wenn der Mörder Mola Purs entdeckt wird, wenn jeder Verdacht von mir genommen wird.“

Haralds Augen ruhten wieder fast durchdringend auf dem Gesicht der Fürstin. Und wieder hielt sie diesem Blick stand. Nur etwas wie ein schmerzliches Lächeln zuckte um ihren Mund.

„Hoheit, ich werde Ihnen helfen,“ sagte Harst nun.

Die Rhani erhob sich schnell, reichte ihm die Hand.

„Ich danke Ihnen, Mr. Harst.“

Dann verließen die Fürstin und Mahattmi uns. Harald begleitete sie hinaus.

Gleich darauf erschien er wieder. „Sie waren in einem Wagen gekommen,“ erklärte er lebhaft. „In den verschlossenen Pavillon sind sie von der Veranda aus eingedrungen, wie Mahattmi mir noch entschuldigend mitteilte. Wir hatten die Verandatür nur angelehnt, als Chotans Leiche weggebracht worden war und wir wieder nach dem Bungalow hinübergingen. Sie sind mit dem kleinen Boot über den See gerudert. Das Boot müßte also noch an den Pfählen der Veranda angekettet sein. Gehen wir uns jetzt mal die Veranda ansehen.“

 

5. Kapitel.

Der weiße Turban.

Der Morgen graute bereits. – Das Boot war nicht mehr da. Es lag am anderen Ufer – genau an jener Stelle, von der aus die beiden Unbekannten auf uns gefeuert und Doktor Chotan getötet hatten.

„Merkwürdig,“ meinte Harst. „Wer hat das Boot zurückgebracht? Es muß jemand in der Veranda gewesen sein, der zunächst schwimmend sie erreichte, uns und die Rhani belauschte und dann mit dem Boot davonruderte.“

Er schaltete das Licht ein. „Ah – da sind ja auch noch feuchte Stellen auf dem Bastteppich und auf den Dielen,“ sagte er nachdenklich und schritt tief gebückt hin und her. „Und hier,“ rief er, „hier ist in die Dielen mit einem großen Zentrumbohrer ein Loch gebohrt worden. – Ah – das Schlangenattentat klärt sich. Das Loch ist von unten gebohrt worden. Während wir hier bei Beginn des Gewitters saßen, ist jemand mit dem Boote unterhalb der Veranda gewesen, hat das Loch hergestellt – der Donner übertönte das Knirschen des arbeitenden Bohrers – und hat die Schlangen durch das Loch hier hineinschlüpfen lassen –“

Wir standen und starrten auf das Bohrloch hinab, das sich in der linken Ecke dicht an der Brüstung befand.

„Sie halten die Rhani jetzt also für unschuldig, Harst?“ fragte Tompkinson ganz unvermittelt.

„Ja. Sie hat die Wahrheit gesprochen, Tompkinson.“

„Hm!“ brummte der kleine Reporter zweifelnd.

Harald zuckte nur die Achseln und meinte: „Wir wollen uns jetzt mal das Boot ansehen.“

Wir verließen den Pavillon. Es war mittlerweile draußen so hell geworden, daß man künstliches Licht nicht mehr brauchte.

Als wir nach rechts um den See herumschritten, näherte sich Inspektor Lopsing mit zwei eingeborenen Polizeibeamten.

Harst und der Inspektor sprachen über die beiden Attentate.

Mit einem Male rief Harald: „Mir ist da soeben etwas eingefallen,“ und eilte in den Pavillon zurück. Er suchte hier nach den Kugelspuren. Die Kugeln waren sämtlich durch die Verandatür in die Hinterwand des Salons eingeschlagen, hatten diese durchbohrt und saßen im Holze der Außenwand des Pavillons, also in der Wand des Vorflurs. Wir fanden hier drei Geschosse. Es waren längliche Hartbleikugeln. Harst hatte sie vorsichtig herausgeschnitten.

„Vier Schüsse hörten wir,“ sagte er jetzt. „Die vierte Kugel tötete Chotan. Die Geschosse sitzen alle dicht beieinander. Ich behaupte, daß ein und derselbe Mann aus einer Winchesterbüchse feuerte und zwar auf ein bestimmtes Ziel.“

„Bei der Dunkelheit?!“ warf Erverlyn zweifelnd ein. „Gewiß, es wetterleuchtete noch. Aber –“

Er schwieg, da Inspektor Lopsing soeben die abgeplatteten Bleigeschosse besichtigt und gerufen hatte:

„Mr. Harst, das war keine Winchesterbüchse. Das ist eine Browningbüchse gewesen. Ein Winchestergewehr hätte nicht eine solche Durchschlagskraft gehabt.“

Harald lehnte an der Flurwand und schaute mit zugekniffenen Augen die Schußlöcher an.

„Dieselbe Richtung – dasselbe Ziel,“ murmelte er. „Es galt vielleicht – –“ – Er ließ den Satz unvollendet.

„Wem galt es?“ fragte Lopsing.

„Einem vielleicht, der zuviel wußte,“ meinte Harst. „Es wäre das eine überraschende Lösung. – Mr. Lopsing, besitzt der Radscha eine Browningbüchse, bei der man bekanntlich nur abzudrücken braucht, da das System ein Selbstspanner ist?“

Der Inspektor blickte Harst unsicher an.

„Meinen Sie etwa, daß –“

„Ich meine jetzt noch gar nichts,“ unterbrach Harald ihn. „Hat der Fürst also eine Browningbüchse?“

„Ja.“

„Sonst noch jemand hier in Bikaner oder Kotarani?“

„Der Resident Sir Boobsal und ich, Mr. Harst.“

„Sie beide kommen nicht in Betracht,“ erklärte Harald völlig ernst. „Nun die zweite Frage: befindet sich im Palast zu Kotarani eine Tischlerwerkstatt? Der Bohrer, mit dem das Loch im Fußboden der Veranda hergestellt wurde, hat einen so großen Durchmesser, daß er nur von einem Berufstischler angeschafft worden sein kann.“

„Hm – Tischlerwerkstatt ist wohl zu viel gesagt. Aber der Radscha hat allerlei Handwerker, die lediglich für die Reparaturen im Palaste da sind und die mit zu seinem Hofhalt gehören.“

„Gut. – Dann die dritte Frage: Können Sie mir erklären, Mr. Lopsing, wo jemand so schnell Dschiras herbekommen kann? – Sie müssen bedenken, daß das Schlangenattentat nicht etwa von langer Hand vorbereitet worden ist, sondern daß die Attentäter sich plötzlich dazu entschlossen haben.“

„Der Radscha hat in seinem Park ein großes Raubtierhaus. Dort hält er außer einheimischen Tieren auch in Glaskäfigen sämtliche Schlangenarten, die es hier gibt. Ich empfehle Ihnen einen Besuch des Raubtierhauses, meine Herren. Die Giftschlangen-Sammlung ist geradezu berühmt.“

„Also gibt es dort auch Dschiras, Mr. Lopsing?“

„Dutzendweise. – Aber, – nochmals, Mr. Harst. Sie denken doch nicht etwa, daß der Radscha –“

Harald wehrte durch eine rasche Handbewegung ab.

„Was ich denke, wird sich heute mittag herausstellen, wenn ich dem Radscha meinen Abschiedsbesuch mache. Bitte, unternehmen Sie bis dahin nichts und – schweigen Sie! Finden Sie sich aber um 12 Uhr im Palast in Kotarani ein. – So, jetzt lege ich mich schlafen. Auf Wiedersehen, Mr. Lopsing.“ –

Tompkinson und Erverlyn hatten kein Glück bei Harst mit ihren Fragen. Er hüllte sich in Schweigen, meinte nur: „Ihr werdet ja dabei sein –“ –

Um ½10 frühstückten wir. Um 10 telephonierte Harald den Geheimsekretär Mahattmi an und bat ihn, uns bei dem Fürsten für 12 Uhr zu einer Abschiedsaudienz anzumelden. Mahattmi war untröstlich, daß wir abreisen wollten. Harst ließ sich jedoch auf ein längeres Gespräch nicht ein.

Um ½12 fuhren wir mit Doktor Chotans Auto nach Kotarani. Wir waren wieder in großer Toilette: Frack! Ganz dem Zweck unseres Besuches angemessen.

Es war ein sonnenklarer, nicht zu heißer Tag. Das Klima in den fruchtbaren Landstrichen Radschputanas, dieser ausgedehnten Provinz des indischen Reiches, ist sehr gesund. – Als wir durch die Straßen der Residenz kamen, merkten wir deutlich, daß sich die Bevölkerung in großer Erregung befand. Überall standen Gruppen von Leuten umher, die offenbar die Ereignisse durchsprachen.

Die alte Radschaburg Kotarani liegt inmitten eines riesigen Parkes auf einer flachen Bergkuppe. – Der düstere, langgestreckte Bau war heute von der Leibwache des Fürsten für jeden abgesperrt. Unser Auto ließ man durch.

Mahattmi empfing uns in der großen Vorhalle und führte uns über weiße, läuferbelegte Marmortreppen in die Privatgemächer des Fürsten.

Der Radscha erwartete uns in seinem Arbeitszimmer, kam uns entgegen und sagte sofort:

„Mr. Harst, Sie wissen nicht, wie nahe es mir geht, daß Sie nun doch abreisen wollen –“

Er reichte uns nacheinander die Hand. Wir mußten Platz nehmen.

„Hoheit, Sie besitzen eine Browningbüchse,“ begann Harald ohne Umschweife. „Wo befindet sie sich?“

Der Radscha blickte Harst erstaunt an.

„In meinem Gewehrschrank. Und der steht im Billardzimmer.“

„Ich möchte die Büchse sehen, Hoheit,“ bat Harald und stand auf.

Wir gingen durch drei Zimmer in das Billardzimmer. – Erverlyn flüsterte mir zu: „Schraut – der Radscha wird sich wundern!“

Der Schlüssel steckte im Schlosse des Gewehrschrankes. Der Radscha öffnete und reichte Harald die Büchse. Dieser trat damit ans Fenster.

„Sie ist frisch gereinigt,“ meinte er. „Hoheit, die Schüsse sind aus dieser Büchse auf uns abgefeuert worden. Der Mörder Chotans hat die Patronenhülsen vom Boden aufgelesen. Ich hätte sonst eine Hülse am Seeufer finden müssen. – Wird dieses Zimmer verschlossen gehalten?“

„Nein, Mr. Harst. Es kann hier jeder hinein.“ Der Radscha war jetzt ganz bestürzt. „Wer sollte aber gewagt haben, meine Büchse –“

„Hoheit,“ erklärte Harst sehr bestimmt. „Lassen Sie bitte Ihre sämtlichen Hofbeamten unter dem Vorwande zusammenrufen, daß wir uns von den Herren verabschieden möchten.“ –

Ein kleiner Saal im Erdgeschoß wurde so zur Stätte des Gerichts. Den Ankläger spielte Harald. Wir drei hätten als Zeugen gegen den Angeschuldigten dienen können. Doch man brauchte unser Zeugnis nicht mehr.

Einige zwanzig Hofbeamte, alles Radschputen, alles stolze, schlanke Gestalten, waren hier versammelt. – Der Radscha hatte auf einem Sessel Platz genommen. Wir standen hinter dem Sessel.

„Master Saratta,“ wandte sich Harald an den uns von Ansehen bereits bekannten Oberstallmeister, einen sehr hellhäutigen, stattlichen Mann. „Wo waren Sie gestern nacht, nachdem Sie von der Ermordung Mola Purs Kenntnis erhalten hatten?“

„Ich hatte mich in meine Zimmer eingeschlossen. Mola Pur war mein Weib. Ich wollte allein sein mit meinem Schmerz.“ – Das klang so ruhig und so aufrichtig, daß jeder sich dadurch hätte täuschen lassen.

„Waren Sie allein in Ihren Zimmern?“

„Mein Diener Bangra war bei mir. – Was sollen die Fragen, Mr. Harst?!“ – Der letzte Satz war wie eine Drohung. –

„Hoheit, ich bitte, daß auch die Rhani hier erscheint,“ sagte Harst jetzt zu dem Radscha.

Wenige Minuten drauf trat die Fürstin ein. Man hatte bereits einen Sessel für sie bereitgestellt.

Harald verbeugte sich vor der schönen Frau und fragte: „Sie haben gestern kurz vor Beginn des Festes Mola Pur und Saratta belauscht, Hoheit. Was sprachen die beiden miteinander?“

„Mola Pur machte Saratta leidenschaftliche Vorwürfe, weil er sich nur noch in Gegenwart anderer ihr gegenüber höflich und liebenswürdig benehme.“

„Danke, Hoheit, – also eine Eifersuchtsszene war es. – Master Saratta, wie reimt sich Ihr Verhalten Mola Pur gegenüber mit deren Wunsche zusammen, der Fürst möchte Mola Purs Aufnahme in Ihre Kaste fördern?“

Das regelmäßige, undurchdringliche Gesicht des Radschputen veränderte sich jetzt doch unmerklich. Er suchte offenbar nach einer befriedigenden Antwort.

Da sprach Harst schon weiter. „Doktor Chotan saß in der vergangenen Nacht der Verandabrüstung am nächsten. Er hatte noch den weißen Seidenturban mit dem Federstutz auf – vom Feste her. Wir anderen saßen rechts und links von ihm. Der weiße Turban muß selbst bei der gestrigen Dunkelheit infolge des geringen Lichtes, das die Oberfläche des Sees wie jedes Gewässer auch nach Erlöschen eines Wetterleuchtens noch reflektiert, vom anderen Ufer als heller Fleck zu erkennen gewesen sein. Die vier Schüsse hatten sämtlich eine Richtung – auf den Turban, das heißt, auf Chotans Leben war es abgesehen! Auch die Schlangen galten nur ihm. Ob wir gleichfalls gebissen wurden, war den Attentätern gleichgültig. – Chotan sollte sterben! Das war mir plötzlich klar geworden. Weshalb gerade er?! – Da fiel mir ein: er war der Vertraute der Bajadere Mola Pur gewesen! Er hatte sie mit in das Versteck des Radschas in der Wüste genommen. Vielleicht wußte er irgend etwas von Mola Pur, das dem Mörder gefährlich werden konnte. – Und weiter fragte ich mich: Wie war denn eigentlich das Verhältnis zwischen Mola Pur und dem Manne, den sie gern zum rechtmäßigen Gatten haben wollte, zu Saratta?! Lag Saratta wirklich etwas daran, diesen Herzensbund auf gesetzmäßige Art zu einer Ehe zu erheben?! – Seine Hoheit der Radscha hatte nur davon gesprochen, daß Mola Pur ihn angefleht hätte, ihre Aufnahme in die Kaste Sarattas zu befürworten. Daß Saratta ebenfalls hierum dringend gebeten, hatte er mit keiner Silbe erwähnt. – Sollte, fragte ich mich schließlich, hier nicht Saratta die ihn unbequem gewordene Mola Pur haben beseitigen lassen? Doktor Chotans Tod, die auf ihn abgefeuerten Schüsse sprachen dafür. Chotan mag von Mola Pur erfahren haben, daß Saratta sie gern – los sein wolle! – Ich werde nun folgendes tun: Erstens den großen Bohrer suchen; zweitens feststellen, ob aus dem Raubtierhause Dschiras verschwunden sind und wer sie herausgeholt haben kann; drittens Sarattas Diener Bangra verhören. Und – so werde ich in einer Stunde mit den Beweisen Ihrer Schuld wieder hier sein, Saratta! Ich behaupte: Bangra ermordete die Tänzerin, und Sie und Bangra waren die Attentäter! Sie haben Chotan erschossen! Ich kann in Gesichtern lesen! Und in Ihrem Gesicht lese ich – eine doppelte Blutschuld!“

Der Radschpute war aschgrau geworden. Es war keine Blässe, die seine Wangen entfärbte; es war jene häßliche Farbe, die auch das Gesicht von Spaniern annimmt, wenn sie erbleichen.

Aber stolz aufgerichtet wie vordem stand er da. Dann verbeugte er sich vor dem Radscha.

„Ich gehe!“ sagte er laut und klar. „Mein Geheimnis nehme ich mit mir.“

Seine rechte Hand fuhr blitzschnell in die Höhe.

Ein Knall, und die neben ihm Stehenden fingen seinen umsinkenden Körper auf. – Er war tot – Schläfenschuß. –

Der Diener Bangra legte angesichts der Leiche seines Herrn ein volles Geständnis ab. Was Harst vermutet, stellte sich als richtig heraus. Saratta hatte mit der Browningbüchse des Fürsten Doktor Chotan erschossen, nachdem Bangra die Tänzerin ermordet und zum Schein die Juwelen geraubt hatte. Weshalb Mola Pur hatte sterben sollen, wußte der Diener nicht. – Bangra erhängte sich drei Tage darauf im Gefängnis in Bikaner. –

Der Radscha und die Rhani söhnten sich vollständig aus. Wir drei – Harst, Erverlyn und ich – mußten als Gäste in den Palast übersiedeln. Tompkinson führte sein Beruf nach Bombay zurück. Über sein abgeschossenes linkes Ohrläppchen hat er nachher fünf lange Artikel geschrieben. –

Was es mit dem „Geheimnis“ Sarattas auf sich hatte, das findet der Leser in der nächsten Erzählung bis ins einzelste geschildert.

 

 

Der Tiger Madaui.

 

1. Kapitel.

Bir Mossars Beobachtungen.

„Madaui, schmoß wa (leg’ Dich!)“, sagte der Oberwärter des Raubtierhauses zu dem prachtvollen Königstiger, der in dem großen Käfig bis dahin ruhelos auf und abgewandert war.

Und die gelbe Riesenkatze gehorchte.

Madaui, das Prachtexemplar, der schönste unter den acht Tigern des Radschas von Kotarani, schaute uns drei Europäer, die wir dicht vor dem Gitter standen, mit so deutlicher Geringschätzung an, daß Bir Mossar, der Oberwärter, wie entschuldigend sagte:

„Madaui ist ganz sicher ein hogri Goradma –“ –

Dieses „hogri Goradma“ muß ich näher erklären. Die Hindu-Religion, der Brahmanismus, gipfelt in dem Glauben an die Seelenwanderung. Je nach den Verdiensten hier auf Erden fährt die Seele des Hindu in ein Tier oder in ein soeben geborenes Kind. Bevor sie in „den Himmel Brahmas“ eingeht, muß sie vielleicht mehrfach solche „Läuterungsprozesse“ durchmachen. Wenn ein Hindu nun von einem Tiere sagt, es sei ein hogri Goradma (was sich etwa mit „hochstehender Besessener“ übersetzen läßt), dann meint er damit, daß in diesem Tiere die Seele irgend eines verstorbenen Fürsten oder hohen Würdenträgers wohne.

Der Oberwärter schaute sich jetzt um, ob auch kein Lauscher in der Nähe sei, und fuhr dann fort:

„Sahib Harst, Sarattas Vater wohnt in Madaui, glaube ich –“ – Er flüsterte nur, und er trat jetzt noch einen Schritt vom Gitter weg. Wir blickten ihn neugierig an. Kein Wunder: Sarattas Name war gefallen! Und mit der Person des toten Oberstallmeisters des Radschas hing noch irgend ein Geheimnis zusammen, dem Harald jetzt seit vier Tagen offenbar nachspürte, wenn er auch Erverlyn und mir gegenüber so tat, als ob er nichts besonderes vorhätte.

„Weshalb glaubst Du dies, Bir Mossar?“ fragte Harst und hielt dem Oberwärter sein geöffnetes Zigarettenetui hin, auf dessen einer Seite unter dem gelben Seidengummiband eine zusammengefaltete Banknote lag.

„Beide Seiten, Bir Mossar!“ meinte er. „Bediene Dich beiderseits –“

Der graubärtige Hindu ließ die Banknote mit anerkennenswerter Fixigkeit verschwinden und steckte die Zigarette für später in die Brusttasche seines Leinenkittels.

Diese etwas merkwürdige Füllung des Zigarettenetuis bewies mir, daß Harald es heute, als er uns vor zehn Minuten zu einem Morgenspaziergang durch den Park aufgefordert hatte, von vornherein auf diese Unterhaltung mit dem Oberwärter abgesehen gehabt hatte.

Bir Mossar erwiderte jetzt auf Haralds Frage:

„Saratta hat Madaui so und so oft Leckerbissen gebracht: eine Hammelkeule, ein Ziegenviertel und anderes. Er war mit Madaui noch vertrauter als ich. Auch er durfte Madaui getrost den Kopf krauen, und wenn er es wollte, scheuchte er Madaui ohne zu sprechen bis in den hintersten Winkel des großen Käfigs. Das vermag ich nicht einmal.“

„Das war, bevor der Radscha in die Wüste fliehen mußte?“ meinte Harst.

„Gewiß, Sahib, gewiß. Der Vater Sarattas starb vor sieben Jahren. Und vor fünf Jahren ging der Radscha in die Wüste, und Saratta ging mit ihm, wie Du schon wissen wirst. Aber –“ – Der alte Inder zögerte etwas und blickte scheu nach dem Tiger hin, der jetzt den Kopf auf die Vorderpranken gelegt hatte und uns unausgesetzt anstierte.

„Nun – aber?“ munterte Harst den Oberwärter auf.

Bir Mossar winkte uns und trat noch ein paar Schritte von dem Gitter weg.

„Sahib,“ flüsterte er dann. „Saratta war während dieser letzten fünf Jahre des öfteren hier bei Madaui.“

„Hm – Du wirst Dich getäuscht haben. Sprachst Du denn mit Saratta?“

„Nein, Sahib. Ich habe ihn aber ganz genau erkannt. Es war Mondschein in der ersten Nacht, als ich ihn bemerkte. Die Tiere waren mit einem Male sehr unruhig. Dort steht mein Häuschen, Sahib, und ich habe einen sehr leisen Schlaf. Ich stand auf und schlich hinaus. Es sind ja doch nur ein paar Schritt bis hierher. Als ich dort um die Hecke bog, sah ich einen Mann, der vor Madauis Käfig kniete –“ –

„Er kniete?“ fragte Harst und blickte nach dem Raubtierhause hinüber.

„Ja, Sahib, er kniete. – Ich glaubte, es sei einer der drei Wärter. Ich rief, was er denn dort jetzt mitten in der Nacht treibe. Da schnellte der Mann empor und huschte nach links in die Büsche. Es war der Oberstallmeister des Fürsten, es war Saratta.“

„Wann geschah dies, Bir Mossar?“

„Im zweiten Jahre nach der heimlichen Flucht des Fürsten, im Oktober. Es war gerade Vollmond.“

„Und wann erblicktest Du Saratta zum zweiten Male?“

„Im folgenden Frühjahr, wieder nachts, im April.“

„Und Du hast Dich auf keinen Fall in der Person geirrt, Bir Mossar?“

„Nein, Sahib. Ich sah ihn im ganzen fünf Mal. Nur im letzten Jahre bemerkte ich ihn nicht mehr.“

„Wurden die Tiere stets unruhig? Wurdest Du dadurch geweckt?“

„Stets, Sahib.“

„Du bist also überzeugt, Saratta kam nur des Tigers wegen her, und niemand wußte darum?“

„So ist es, Sahib. Nur Madauis wegen kam er heimlich in der Nacht. Er wollte wohl mit der Seele seines Vaters beratschlagen.“

Harald erklärte in nachdenklichem Tone:

„Du magst recht haben, Bir Mossar. – Ist Dir bei diesen Besuchen Sarattas noch irgend etwas aufgefallen? – Überlege Dir die Antwort genau. Vergegenwärtige Dir, was Du in jenen Nächten beobachtet hast.“

„Ob mir ist etwas aufgefallen ist, Sahib?“ meinte der Alte sinnend. „Ja – das eine Mal, als ich mein Häuschen nachts verließ, weil die Tiere so laut heulten und knurrten, da war’s mir, als würde hier am Raubtierhause eine der Gittertüren zugeworfen. Ich meine eine der großen Türen, die sich in den Außengittern befinden. Als ich dann um die Hecke bog, eilte Saratta schon davon. Ich habe mir eine Laterne geholt damals und habe die Gittertüren nachgesehen. Sie haben sämtlich zwei Schlösser. Sie waren alle fest zu.“

„Hast Du Saratta bei den anderen Malen nie angerufen?“

„Wie sollte ich das wagen, Sahib?! – Es hieß doch, er sei ins Ausland gereist. Und ich bin nur Oberwärter. Nein – ich bin stets dort hinter der Hecke stehen geblieben, bis er verschwunden war.“

„Glaubst Du, daß die Tiere nur durch die Anwesenheit Sarattas so unruhig wurden? Hast Du in diesen fünf Jahren, als der Fürst mit Saratta, dem Geheimsekretär Mahattmi und noch zwei Getreuen in der Wüste lebte, auch bemerkt, daß die Tiere nachts ohne Ursache sich unruhig zeigten? Sind sie häufiger nachts erregt und brüllen und fauchen?“

„Sie sind sehr selten unruhig, Sahib. Nur wenn eine der Herden der zahmen Affen, die der Radscha hier im Parke in Freiheit hält, dem Raubtierhause nahekommt, regt sich in den Tigern und Panthern die Jagdlust. Aber die Affen bleiben den Käfigen fern. Sie wittern die Feinde. – Und Deine andere Frage, Sahib: Ja, nur Sarattas Erscheinen kann die Tiere wild gemacht haben, obwohl ich nicht recht begreife, wie das geschehen konnte. Er kannte sie ja alle. Er hat sich so viel mit ihnen beschäftigt. Er hat sogar zwei junge Panther dressiert. – Und schließlich noch das letzte: Ja, Sahib, die Tiere zeigten sich in diesen fünf Jahren verschiedentlich auch ohne Ursache sehr erregt, so daß ich ebenfalls nachts aufgestanden war, ohne jedoch jemand zu bemerken. Ich habe dann dort eine ganze Weile hinter der Hecke gestanden und gedacht, Saratta würde in der Nähe sein. Ich wartete, aber es kam niemand.“

„Und die Tiere?“

„Sie blieben unruhig. Ich ging schließlich nach den Käfigen und sprach mit ihnen. Das half. Wenn ich mich dann wieder niedergelegt hatte, begann das Fauchen und Knurren von neuem. Ich bin darüber schließlich eingeschlafen.“

„Sonst ist Dir nichts aufgefallen bei alledem?“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Nichts, Sahib.“

Harst blickte nach Madaui hin.

„Ein prachtvolles Tier ist’s,“ sagte er leise. „Auch Mahattmi, der Geheimsekretär, liebt diesen Tiger, glaube ich.“

Bir Mossar machte ein sehr erstauntes Gesicht.

„Nein, Sahib, – da irrst Du Dich,“ meinte er. „Mahattmi hat sich nie um die Tiere gekümmert, nie.“

„So?! Dann habe ich ihn wohl letztens falsch verstanden. – Etwas anderes, Bir Mossar. Weshalb hast Du gerade mir gegenüber von diesen heimlichen Besuchen Sarattas hier in Kotarani gesprochen? – Du kannst ganz offen sein. Was Du uns, mir und meinen Freunden Erverlyn und Schraut anvertraust, bleibt in unserer Brust fest verschlossen. Wenn Du allen anderen Leuten diese Besuche verschwiegen hast, dann mußt Du doch einen besonderen Grund gehabt haben, gerade mit mir über all das zu reden.“

Der alte Inder schaute Harst offen an.

„Sahib, jeder hier im Palast kennt die letzten Worte Sarattas,“ flüsterte er hastig. „Jeder spricht darüber, was Saratta wohl mit dem „Geheimnis“ gemeint haben könnte, das er erwähnte, bevor er sich erschoß. Und – jeder glaubt, daß Du jetzt hier bei dem Fürsten mit Deinen Freunden wohnst, um dieses Geheimnis – zu suchen.“

„Du drückst Dich richtig aus,“ nickte Harald. „Um das Geheimnis zu suchen! Denn – um ein Geheimnis aufzuklären, muß man es erst kennen. – So, die Leute nehmen dies also an? – Lieber Bir Mossar, Du kannst den Leuten getrost sagen, daß sie sich irren. Ich suche dieses Geheimnis nicht! – Da, nimm noch eine Zigarette, und nun wollen wir Madaui eine Freude machen. Hole ein Stück Fleisch. Ich möchte es dem Tiger durch das Gitter zureichen.“

Der Alte eilte um die Außenkäfige herum durch den Seiteneingang in das langgestreckte Raubtierhaus. Wir wußten schon, daß es da drinnen einen Keller gab, in dem das Büffelfleisch für die Bestien aufbewahrt wurde.

Wir traten näher an das Gitter heran. Madauis Käfig war etwa zehn Meter breit und sechs Meter tief. In der hölzernen, mit Eisenblech benagelten Rückwand befand sich eine Zugtür, durch die der Tiger in den kleineren, im Innern des Gebäudes liegenden Käfig gescheucht werden konnte, wenn der Außenkäfig gründlich gereinigt werden sollte.

Die Raubtierkäfige lagen in einer Reihe nebeneinander. Ihre Einrichtung war – auch für die Panther – die gleiche. Das ganze Gebäude, ehemals ein Wohnhaus für die fürstlichen Hofbeamten, maß in der Länge vierzig Meter. Man hatte es vor etwa acht Jahren, als der jetzige Radscha sich Raubtiere halten wollte, nur diesem neuen Zweck entsprechend etwas umgebaut. Es wirkte daher auch recht imposant, da man die Säulen der Vorhalle hatte stehen lassen und da auch an der Dacharchitektur nichts geändert war. –

Der Tiger Madaui starrte uns wieder unverwandt an.

Harald sprach leise auf die regungslose Bestie ein. Ich sah, daß er den Tiger dabei durchdringend fixierte. Auch Erverlyn paßte jetzt auf das auf, was Harst offenbar beabsichtigte.

Der Tiger ließ seine Augen noch ein paar Sekunden auch über Erverlyn und mich hingleiten. Dann hatte Harst gesiegt.

Das mächtige Tier war durch Haralds intensives Anstarren leicht gereizt worden, ließ ein dumpfes Knurren hören.

Wieder sprach Harst leise und schmeichelnd zu Madaui, dessen Knurren nun in jenes behagliche Schnurren überging, durch das auch Löwen ihre gute Laune ausdrücken.

Da kam auch schon Bir Mossar mit einem Stück Büffellende zurück, das gut dreißig Pfund wiegen mochte.

Harald ging ihm entgegen, packte das bereits stark riechende Fleischstück und stellte sich wieder dicht an das Gitter.

Madaui hatte sich aufgerichtet. Der lange Schweif pendelte hin und her. Geifer floß ihm aus dem Maule.

Harald hielt das Fleisch hoch.

„Madaui, schmoß wa!“ befahl er.

Der Tiger zögerte etwas. Dann tat er sich wirklich nieder.

Jetzt hob Harst das Fleischstück durch die Gitterstäbe. Blitzschnell packte Madaui mit den langen Krallen zu, – dann ein Biß, ein paar Sätze, und er lag mit seiner Extragabe oben auf der Anhäufung von Felsstücken im Hintergrunde des Käfigs.

„Nicht wahr, Bir Mossar, Madaui verzehrt dort stets seine Mahlzeit?“ fragte Harst den Oberwärter.

„Ja, Sahib, – stets.“

„Dann auf Wiedersehen, Bir Mossar. Was wir heute sprachen, bleibt unter uns!“

„Du kannst Dich darauf verlassen, Sahib.“

 

2. Kapitel.

Wir reisen ab.

Wir schritten tiefer in den Park hinein.

„Was sollte das alles, Harst?“ fragte Lord Erverlyn gespannt. „Dahinter steckte doch eine ganz bestimmte Absicht. Woher wußten Sie, daß Bir Mossar diese merkwürdigen Besuche Sarattas beobachtet hatte? – Sie müssen doch etwas davon gewußt haben. Sie hatten sich schon vorgestern und gestern mit dem Oberwärter so sehr angefreundet.“

Harald ging auf eine künstliche Felsgruppe zu, auf der ein kleiner Glaspavillon stand. Eine eiserne Treppe führte zu dem Pavillon empor.

„Dort oben werden wir vor Lauschern sicher sein,“ meinte Harst. „Wir haben nämlich Lauscher zu fürchten, lieber Douglas. Mahattmi hat mich heute früh gewarnt. Er kam schon um 6 Uhr in mein Schlafzimmer.“

Harst stieg die Treppe hinan. Wir folgten.

Oben im Pavillon standen ein paar Bambusstühle. Wir setzten uns. Wir hatten von hier eine hübsche Aussicht über den Riesenpark und auf die alte Radschaburg.

Erverlyn schnitt die Spitze von einer seiner schwarzen Brasil-Zigarren ab und meinte:

„Gewarnt! Hm – kann mir schon denken, vor wem. Der Oberstallmeister hat hier bei Hofe seine Freunde. Und die betrachten einen gewissen Harald Harst als Störenfried; die sagen sich sehr richtig: wenn dieser Deutsche nicht seine Nase in diesen Mola Pur-Mord gesteckt hätte, lebte Saratta noch heute! – Mola Pur war ja schließlich nur eine Bajadere! Und Saratta gehörte einem der vornehmsten Radschputen-Geschlechter an.“

„Stimmt, lieber Douglas. Ähnlich hat auch der Geheimsekretär heute gesprochen, als er zu mir kam. Und er kam um 6 Uhr morgens, damit ihn niemand bemerkte. Auch er fürchtet den Anhang Sarattas.“

„Und wer sind diese Intriganten? – Verwandte Sarattas befinden sich nicht hier in Kotarani. Das hat der Radscha uns ja selbst gesagt.“

„Nein. Saratta ist in Dschaipur zu Hause. Dort wohnt ein Bruder von ihm, der bei dem Fürsten von Dschaipur dasselbe ist, wie hier Mahattmi: Geheimsekretär! Mithin ist dieser Bruder in Dschaipur eine der einflußreichsten Persönlichkeiten. – Was die hiesigen Freunde Sarattas betrifft, so hüllte Mahattmi sich in Schweigen. Er gab mir jedoch den Rat, schleunigst abzureisen.“

„Ah – also darauf läuft’s hinaus!“

„Mahattmi meint es gut mit uns, lieber Douglas. Das steht außer Zweifel.“

„Mag sein. Ich persönlich traue jedem Inder nur gerade so weit, als ich ihn sehe. Biegt er um eine Ecke, traue ich ihm nicht mehr.“

„Mahattmi ist aufrichtig,“ sagte Harst sehr bestimmt. „Und weil ich ihm vertraue, werde ich auch seinen Rat befolgen. Wir werden abreisen – heute nachmittag. Dem Radscha gegenüber werde ich die Ausrede gebrauchen, daß wir nun endlich Ihr Tigerrevier besuchen wollen, Erverlyn.“

Wir starrten Harald ungläubig an.

„Meinst Du das ernst?“ fragte ich.

„Völlig ernst. – Wir werden nach Bikaner fahren, von dort den Nachtzug nach Bahawalpur benutzen und –“ – er machte eine lange Pause – „und von Bahawalpur aus dem Geheimnis Sarattas zu Leibe rücken!“

„Dacht’ ich’s doch!“ rief Erverlyn. „Dacht’ ich’s doch! Also ein strategischer Rückzug zur Verschleierung eines erneuten Vormarsches! Famos, Harst! Ich mache mit! Ich merke ja, Sie haben hier doch schon so einiges über dieses „Geheimnis“ festgestellt.“

„Ja, lieber Douglas. Ich sagte ja auch zu Bir Mossar: „Ich suche dieses Geheimnis nicht!“ – Das war etwas diplomatisch ausgedrückt. Ich brauche es nämlich nicht mehr zu suchen. Ich habe es heute gefunden.“

„Vor dem Tigerkäfig!“ platzte Erverlyn heraus. „Leugnen Sie nicht: es ist so!“

„Stimmt – vor dem Käfig des Bewahrers der Seele des Vaters Sarattas – vor dem Käfig des Tigers Madaui!“

„Und was hat diese prächtige Bestie mit dem Geheimnis zu tun?“

„Sehr viel. – Doch darüber reden wir später, lieber Douglas. Jetzt wollen wir mit dem Radscha die verabredete Partie Tennis spielen und ihm dabei mitteilen, daß wir den Staub Kotaranis von unseren Füßen zu schütteln gedenken –“

„Halt – so kommen Sie mir nicht davon!“ rief der Lord. „Woher wußten Sie oder ahnten Sie etwas von den heimlichen Besuchen Sarattas hier im Parke? – Das eine müssen Sie mir beantworten. Sonst kündige ich Ihnen die Freundschaft.“

„Mahattmi hat mich ungewollt darauf gebracht. Er erzählte mir so verschiedenes über Saratta, der stets so allerlei Heimlichkeiten gehabt haben soll. Während der fünf Jahre, die der Radscha mit seinen Begleitern auf der Insel im Kolar-See in der Thar lebte, war es Saratta, der durch Jagdausflüge die Einsiedler mit Fleisch versorgte. Einige Male dehnten sich diese Jagdstreifen über zwei Wochen aus, bevor er sich wieder einfand. Er gab dann stets als Grund seines langen Ausbleibens an, daß er von Banditen verfolgt worden sei. – – Außerdem erwähnte auch Mahattmi Sarattas große Vorliebe für die Insassen des Raubtierhauses und vertraute mir weiter an, er habe Saratta stets im Verdacht gehabt, diese angeblichen Jagdausflüge zu heimlichen Reisen irgendwohin benutzt zu haben. Dieser Verdacht sei deshalb in ihm aufgestiegen, weil Saratta zu den Leuten gehörte, die im Schlafe zuweilen sprechen. Und da hätte er eben Saratta einmal nachts belauscht und aus dessen unzusammenhängenden Worten doch immerhin das eine geschlossen, daß dieser hier in Kotarani gewesen sei und mit dem Tiger Madaui etwas Aufregendes erlebt haben müsse, – etwas derartig Aufregendes, daß dies ihn sogar bis in seine Träume verfolgte und zu allerhand unbewußten Äußerungen veranlaßte.“

„Ah – nun begreife ich den Zusammenhang,“ meinte Erverlyn. „Auf diese Weise kamen Sie auf den Tiger Madaui. Dann hat Mahattmi das alles aber schon früher Ihnen erzählt, Harst, nicht erst heute. Sonst hätten Sie sich nicht doch schon vorgestern derart mit Bir Mossar angebiedert.“

„Ganz recht. Mahattmi hat mich heute nur gewarnt. Über Sarattas Traumgespräche äußerte er sich bereits am Tage nach dessen Selbstmord.“

„Und das „Geheimnis,“ Harst,“ meinte der Lord und schaute Harald bittend an.

„Werden wir gemeinsam aufklären, lieber Erverlyn. – Nun kommen Sie. – Es ist zehn Uhr. Der Radscha soll nicht warten. Es dürfte die letzte Tennispartie sein, die wir mit ihm spielen.“ –

Um neun Uhr abends reisten wir mit dem Schnellzuge nach Bahawalpur ab. Der Radscha gab uns bis auf den Bahnsteig in Bikaner das Geleit. Auch Mahattmi und einige andere Hofbeamte waren mitgekommen.

Als der Zug einlief, nahm der Radscha uns drei bei Seite.

„Meine Herren, so ungern ich Sie scheiden sehe,“ sagte er leise, „ebenso sehr fühle ich mich aber auch durch Ihre Abreise in Ihrem Interesse erleichtert. Ich will dies nicht näher ausführen. – Nochmals: Sie waren mir liebe Gäste, und ganz besonders Ihnen, Mr. Harst, werde ich mein Leben lang eine dankbare Erinnerung bewahren. Sie haben mein Eheglück wiederhergestellt. Das vergesse ich Ihnen nie!“

Er reichte uns nacheinander die Hand. – Wir stiegen ein. Der Zug rollte davon.

Wir hatten nur noch ein Abteil 1. Klasse für uns bekommen. Die Schlafwagenplätze waren sämtlich belegt gewesen.

Harst hatte zum Fenster hinausgewinkt. Auch Erverlyn und ich schauten jetzt noch hinaus. Der Radscha stand und wehte mit dem seidenen Schnupftuch.

Dann entschwand der Bahnsteig unseren Blicken. Wir wandten uns um. Harst hatte sich gesetzt, hielt einen Brief in der Hand.

„Einen Abschiedsgruß des Anhangs Sarattas, lieber Douglas. Als ich Ihnen und Schraut am Fenster Platz machte und mich umdrehte, lag dieser Brief dort auf dem rechten Polstersitz neben der Gangtür. Der Umschlag trägt in Maschinenschrift die Adresse: „An Harald Harst“. – Also kurz und bündig. – Dieser Briefbogen enthält nur den ebenfalls getippten englischen Satz:

Es wird nichts vergessen und vergeben. Das ist ebenfalls kurz und bündig und – deutlich!“

„Teufel, dann hat Mahattmi nicht übertrieben,“ meinte Erverlyn.

„Und der Radscha hat geahnt, daß es uns an den Kragen gehen sollte,“ sagte Harald. „Er hat’s geahnt und hat sich doch machtlos gefühlt. Aber er war ehrlich! Er sah uns frohen Herzens davondampfen.“

Der Lord und ich nahmen Harst gegenüber Platz.

„Die Geschichte beginnt sehr ernst zu werden,“ fügte Harald hinzu. „Der Brief kann erst in unser Abteil hineingelegt worden sein, als der Zug schon in Bewegung war. Mithin befindet sich jemand im Zuge, der gegen uns nicht gerade freundliche Absichten hegen dürfte. Immerhin ist es gut, daß wir dies wenigstens wissen. Wir werden danach handeln. Vielleicht sind ein paar Kerle im Zuge, die für Geld uns kalt machen wollen. Nun – sie wollen uns kalt machen, und wir werden sie warm empfangen. Wir werden uns nachher behaglich ausstrecken, die Lampe verdunkeln und dann abwarten. – Zunächst wollen wir aber zur Vorsicht unter die Sitze schauen. Ich denke an die Dschiras – die graugelben Wüstenschlangen! Vielleicht haben die Herrschaften hier einen ähnlichen Scherz vorbereitet!“

Wir zogen die Gardinen der Gang- und der Türfenster zu, so daß niemand uns beobachten konnte.

Wir fanden nichts. Harst schaute sich alles sehr genau an, auch die Wände nach den Nebenabteilen.

Dann mußte Erverlyn in den Gang hinausgehen und zum Schein aus Langerweile auf und abschlendern. Er sollte feststellen, wer in den Nebenabteilen saß.

Nach einer Viertelstunde trat er wieder ein, schob die Tür zu und berichtete, daß rechts drei Engländerinnen säßen, links aber zwei vornehme Inderinnen.

Als 10 Minuten später ein Schaffner die Fahrkarten kontrollieren kam, gab Harst dem Inder ein sehr reichliches Trinkgeld.

„Wo sind die beiden Damen dort neben uns eingestiegen,“ fragte er den Mann.

„In Lipondi, Sahib.“

„Und die drei englischen Damen?“

„In Dschaipur.“

Der Schaffner ging wieder.

„Lipondi ist die Station vor Bikaner,“ sagte Erverlyn leise.

„Ja – und mittags war im Palast zu Kotarani bereits bekannt, daß wir abreisen würden,“ flüsterte Harst. „Die beiden Damen da neben uns gefallen mir nicht. Der Radscha hatte telephonisch von Nagaur aus dieses Abteil reservieren lassen. Und Nagaur liegt vor Lipondi.“

Wir drei saßen mit vorgebeugten Oberkörpern da.

„Am besten ist, ich besorge uns ein anderes Abteil,“ meinte Erverlyn. „Wenn es sein muß, setzen wir uns auch in eins zu anderen Leuten. Diese Nachbarschaft ist auch mir unbehaglich.“

Harst blickte nachdenklich vor sich hin.

„Man soll die Vorsicht auch nicht übertreiben, lieber Douglas,“ erklärte er. „Ich sagte: die Damen gefallen mir nicht! – Das hieß nur: Sie können den Brief uns hier ins Abteil gelegt haben! Sie können etwas gegen uns planen. – Das hieß aber nicht: Ich gedenke vor ihnen auszureißen. Im Gegenteil, wir werden ihnen einen Streich spielen, falls es nötig ist.“

„Womit ich ebenfalls sehr einverstanden bin,“ nickte Erverlyn.

 

3. Kapitel.

Der tote Harst.

Es war jetzt ¼11 abends. – Wir hatten unsere Koffer für alle Fälle mit ins Abteil genommen.

Es begann nun bei verriegelter Tür, fest geschlossenen Vorhängen und halb verdunkelter Lampe nach Harsts Vorschlag eine geheimnisvolle Arbeit.

Der Lord und ich waren mit allem Eifer dabei. Harald hatte ja ganz recht, wenn er uns soeben auseinandergesetzt hatte, daß man den Feind auch in einen Hinterhalt locken könne und daß vor Mitternacht sich nichts ereignen würde. Noch war es im Gange zu lebhaft. Die Reisenden gingen hin und her, und die Speisewagenkellner hatten noch dauernd zu tun. Erst hinter der Station Chasra, die wir gegen ¾11 erreichten, würde Ruhe eintreten. Von Chasra ab bis Moschgarh, also bis morgens 5 Uhr, gab es keine Zwischenstationen mehr. Auf dieser langen, durch unwirtliche Teile der Thar-Wüste führenden Strecke war die beste Gelegenheit für ein Attentat oder dergleichen. –

Unsere „Arbeit“ war sehr bald erledigt. In Chasra ging Erverlyn wieder in den Gang. Die Tür blieb etwas offen. Nachdem wir den Bahnhof verlassen hatten, setzten der Lord und ich uns in die Fensterecken. Harst in seinem hell karierten Sportanzug lehnte in der linken Ecke an der noch immer halb offenen Tür und hatte die Beine genau wie wir weit von sich gestreckt. Die Lampe war ganz verdunkelt. Harald hatte seine helle Reisemütze halb über das Gesicht gelegt.

Das heißt: Harst befand sich gleichzeitig auch anderswo!

An Schlaf war für Erverlyn und mich natürlich nicht zu denken. Wir hatten im Schoß unter den Zipfeln der Jacke unsere Schußwaffen entsichert liegen.

Im Gange draußen waren die Lampen ebenfalls halb verdunkelt. Immerhin fiel ein heller Schein zu uns hinein, der hauptsächlich Harsts Beine traf, die karierten Kniehosen und die hellbraunen Wickelgamaschen und Schnürschuhe.

Ich war gespannt, ob sich etwas ereignen würde. Ich nahm es eigentlich mit ziemlicher Bestimmtheit an. Hätte Harald all diese Zurüstungen getroffen, wenn er nicht überzeugt gewesen wäre, daß die beiden vornehmen Inderinnen nebenan, die tief verschleiert waren und die, wie Erverlyn in Chasra festgestellt hatte, noch von zwei Dienern in einem Abteil 3 Klasse begleitet waren, etwas gegen uns unternehmen würden?

Kein Wunder, daß sich meiner jene nervöse Erregung bemächtigte, die jeder kennen lernt, der auf irgend ein ungewisses Geschehnis wartet.

Im Gange wurde es stiller und stiller. Es mußte jetzt gegen 1 Uhr sein, schätzte ich.

Ich behielt den hellen Streifen der halb offenen Tür beständig im Auge.

Da – draußen huschte ein Mensch schnell vorüber. Es war ein Zugschaffner gewesen.

Nach einer Weile kam er zurück, blickte wieder in unser Abteil hinein, blieb an der Tür stehen und fragte leise:

„Wann soll ich wecken?“

Niemand antwortete. Er verschwand. – Ich hatte genau gesehen: es war nicht der Schaffner, der unsere Fahrkarten kontrolliert hatte. Es war ein Mensch mit einem sehr langen schwarzen Bart, der zu seiner schmächtigen Gestalt nicht recht paßte. Aber – er trug die Abzeichen des Bahnbeamten!

Wieder ein paar Minuten nichts. Nur das Rollen der Räder, das leise Summen der während der Fahrt vibrierenden Fensterscheibe.

Dann tauchte ein anderer Mann auf, ein Kerl mit einem Turban und einem dunklen Schleier vor dem Gesicht.

Blitzschnell erschien er; blitzschnell trat er in die Tür, holte mit dem rechten Arme aus – und stieß Harst ebenso blitzschnell ein Messer in die Brust.

Erverlyn und ich regten uns nicht, ganz wie verabredet.

Der Mensch verschwand.

In unserem Abteil hatte sich nur das eine geändert, daß Harst nach dem Stoße zur Seite auf das Polster gesunken war.

Und wieder verstrichen Minuten. Dann kam der schmächtige Schaffner vorüber, warf einen raschen Blick auf die umgesunkene Gestalt, kehrte wieder um und ließ sich nicht mehr blicken.

Bei uns änderte sich auch jetzt nichts. Nur daß Erverlyn und ich uns nicht mehr so streng bemühten, die fest Schlafenden zu spielen.

Mit einem Male wurde die Gangtür wie von einer unsichtbaren Kraft leise zugeschoben. Dann stand Erverlyn auf und riegelte sie ab, zog auch den Türvorhang zu.

Ich klappte die dunklen Stoffhalbkugeln der Lampe hoch. Es wurde hell.

Und unter der rechten Polsterbank kroch dann der wahre Harst hervor.

Der „Erdolchte“ war nur eine Puppe gewesen, die wir aus einem mit Zeitungen gefüllten Pappkarton als Brustkasten, aus Wäschestücken und anderem primitiven Material hergestellt hatten. Auf das „Gesicht“, das nur eine mit einem Schminkstift gefärbte Wäschekugel gewesen war, hatte der Mörder gar nicht geachtet. Ihm hatte es genügt, Harsts karierten Anzug zu erkennen. Der Kopf hatte ja auch in der dunklen Polsterecke gelegen, und nur die Unterpartie des Körpers war durch das vom Gange aus einfallende Licht deutlicher zu sehen gewesen.

Wir untersuchten die Puppe jetzt. Der Dolchstoß saß gerade in der linken Brustseite und hätte bei einem lebenden Menschen fraglos das Herz getroffen. Er war mit großer Kraft geführt worden. Die in dem Karton befindlichen Zeitungen und zusammengeknüllten Papierstücke waren glatt durchbohrt. Die Waffe mußte ein zweischneidiges Messer gewesen sein.

Erverlyn war mißtrauisch und musterte jetzt nochmals ganz genau die Wand nach dem Nebenabteil hin.

„Lieber Douglas,“ flüsterte Harst. „Das ist überflüssig. Die Leute werden niemals so töricht sein, ein Löchlein in die Wand zu bohren, um uns zu beobachten. Sie rechnen doch mit einer strengen Untersuchung dieses Mordes. Und da würde ein solches Löchlein die Inderinnen neben uns sofort verdächtig machen.“

„Sie haben recht, Harst,“ meinte der Lord. „Es wird draußen schon hell. Wann soll nun der zweite Akt beginnen?“

„Sehr bald. Warten Sie nur ab.“

Wir setzten uns. Harald zog seinen durchlöcherten Anzug wieder an. Die Puppe verschwand.

Erverlyn rauchte schmunzelnd seine Zigarre.

„Ich freue mich mächtig auf die Gesichter der vier Herrschaften, wenn sie in Moschgarh verhaftet werden,“ sagte er. „Wer weiß, wer die Damen sein mögen? Hm – vielleicht sind es auch gar nicht Damen, sondern verkleidete Männer. Sie sind ja so dicht verschleiert, daß –“

Er schwieg. Der Zug fuhr plötzlich langsamer. Die Bremsen wurden so scharf angezogen, daß der Zug nur noch ruckweise weiterglitt.

„Was bedeutet das?! Da hat doch jemand die Notbremse in Tätigkeit gesetzt,“ rief Erverlyn leise.

Harst schnellte mit einem Male hoch, rannte in den Gang. Die Tür hatte er hastig aufgerissen.

Wir sofort hinterdrein.

Er rüttelte an der Tür des Nebenabteils, wo die beiden Inderinnen saßen. Die Vorhänge waren geschlossen; die Tür verriegelt.

Dann schlug er die Türscheibe ein, langte hindurch, öffnete den Klappriegel.

Das Abteil war leer; das Fenster hinuntergelassen.

Erverlyn schob die Stoffhüllen der Lampe hoch.

Nichts war hier mehr zu finden – nichts – keine Handtasche, kein Koffer.

Harald hatte sich weit zum Fenster hinausgelehnt. Der Zug stand jetzt.

„Dort fliehen sie – dort!“ rief Harst. Wir drängten uns neben ihn.

Tatsächlich: vier Leute flüchteten in die kahlen Felsenhügel hinein, die nach Osten zu als niederer Höhenzug parallel der Bahnstrecke emporragten.

Es waren zwei Frauen und zwei Inder. Die Männer trugen jeder einen kleinen Koffer.

Der Morgen graute. Man erkannte sie im Zwielicht ganz deutlich. – Bahnbeamte liefen am Zuge entlang, fragten, wer die Notbremse gezogen habe.

Harst rief den Zugführer an. Der Beamte, ein älterer Inder, kam dann in unser Abteil.

Die ganzen Fahrgäste waren munter geworden. Man scharte sich im Gange vor unserem Abteil zusammen. Es war bekannt geworden, daß der deutsche Detektiv Harald Harst im Zuge sei. Schon in Bikaner waren wir neugierig gemustert worden.

Harst weihte den Zugführer in alles ein.

Der Inder hatte gesehen, daß der Radscha von Kotarani uns zur Bahn gebracht hatte; er wußte, daß das Abteil für uns telephonisch vorbestellt worden war. Haralds Vorschläge nahm er ohne weiteres an. –

Wir fuhren weiter. Aber nach kaum fünf Minuten hielt der Zug wieder. In einem sandigen Tale rechts der Bahn lag da ein armseliges Dörflein, kaum dreißig Steinhütten insgesamt.

Wir stiegen aus. Unsere Koffer stellte man auf den Bahndamm. Der Zug dampfte weiter. An allen Fenstern standen Fahrgäste. Wie ein Lauffeuer hatte sich das Gerücht verbreitet, daß wir hinter vier Verbrechern her seien. Man rief uns allerlei gut gemeinte Wünsche zu.

Als der Zug verschwunden war, schleppten wir unsern Koffer hinter ein paar magere Büsche. Harst ging dann nach dem Dorfe hinüber. Es waren bis dahin etwa 800 Meter. Erverlyn und ich bewachten die Koffer.

„So sind wir doch die Hereingefallenen,“ meinte der Lord. „Die Schufte haben Unrat gewittert. Harst hofft ja, sie noch zu fangen. Aber – ich habe so meine Zweifel!“

Er holte eine Spezialkarte der Thar-Wüste hervor.

Wir schauten uns die Örtlichkeit an.

„Aha – dies hier ist das kleine Dorf da drüben,“ sagte Erverlyn und tippte mit dem Finger auf die Karte. „Und dies ist ein größeres Dorf. Dort in der Nähe haben die vier den Zug zum Stehen gebracht. Sehr schlau! Denn dort können sie Reittiere kaufen. Ob wir in diesem Dörflein da etwas Reittier-Ähnliches werden einhandeln können, möchte ich sehr in Frage stellen.“

Jetzt kam Harst mit fünf abgerissenen Indern zurück. Einer davon war der Dorfälteste. Die Leute nahmen unsere Koffer. Wir gingen mit dem uralten, schon recht gebrechlichen Dorfoberhaupt voran. Der Mann konnte das Englische nur so zur Not radebrechen.

„Drei Reitkamele habe ich schon gekauft,“ meinte Harst. „Fünf besitzt das Dörfchen nur. Der Dorfälteste behält unsere Koffer in Verwahrung. Die Reitkamele stehen schon da. Wir brauchen also nur aus unseren Koffern das Nötige herauszunehmen. Unsere Gewehre lassen wir in den Koffern. Es hat keinen Zweck, sie mitzuschleppen. Wir werden die vier Leute sehr bald erreichen.“

In aller Eile brachen wir dann auf. Die Kamele waren elende Schinder. Die Sättel noch schlechter. Die Tiere „stießen“ beim Traben derart, daß ich schon nach zehn Minuten halb seekrank war. Es waren natürlich keine Reittiere, sondern ganz gewöhnliche Lastkamele. Die Inder hatten sich jedoch diese Biester als feinste Reitdromedare bezahlen lassen.

Es ging nach Süden an der Bahn entlang, dem größeren Dorfe zu, das nach der Karte hinter den Felsenhügeln liegen mußte.

Als wir die Stelle gefunden hatten, wo die vier Leute – Harald glaubte jetzt selbst, daß verkleidete Männer die beiden vornehmen Inderinnen gespielt hätten – aus dem langsamer fahrenden Zuge gesprungen waren, ritten wir auf der Fährte der Leute in die Felsenhügel hinein. Die Täler zwischen den Anhöhen waren mit Sand angefüllt. Die Spur war ganz deutlich zu erkennen.

Dann kam das Dorf Goswiri in Sicht, wie es auf der Karte benannt war.

Goswiri stellte auf viele Meilen rundum die einzige größere Niederlassung dar. Es lag auf einem Felsplateau unweit eines sumpfigen, in der Thar sehr seltenen weiten Dschungelgebietes. Das Dorf war mit einer hohen Steinmauer umgeben, an deren Fuß überall Dornen angepflanzt waren zum Schutz gegen die in den Dschungeln hausenden Tiger.

Es war acht Uhr morgens, als wir auf dem Versammlungsplatz vor dem Hause des Dorfältesten hielten.

Erverlyn brüllte ein paar herumlungernden Indern zu, den Dorfältesten herauszurufen. Die drei Leute verschwanden.

„Hm – nicht mal Kinder sind zu sehen,“ meinte Harst. „Sehr verdächtig! Es dürfte sich empfehlen, die Pistolen zur Hand zu nehmen.“

Der Lord lachte.

„Lieber Harst, ich möchte den Inder kennenlernen, der es wagte, Douglas Erverlyn, Major in der indischen Armee, hier zu belästigen.“

Er ließ sein Tier niederknien, sprang aus dem Sattel und schritt auf das Haus des Dorfältesten zu, das durch die große Blechtafel neben der Tür als Gemeindeamt gekennzeichnet war.

„Erverlyn, Vorsicht!“ warnte Harst.

Der Lord hatte schon die Tür des großen Steinhauses aufgestoßen und trat ein.

„Hallo – wo ist denn hier der Mofla?“ hörten wir ihn rufen.

Dann wurde es still.

Harst hatte jetzt die entsicherte Clementpistole in der Rechten.

„Ich wette, mein Alter, die vier Inder haben uns hier angeschwärzt,“ flüsterte er. „Wer weiß, was sie dem Dorfältesten vorgelogen haben.“

Dann kam auch schon die Überraschung.

Aus der Tür des Hauses stürzten vier Inder mit Gewehren heraus. Hinter den Nachbargebäuden tauchten noch ein Dutzend auf. Wir waren im Nu umzingelt.

„Siehst Du,“ meinte Harald. „Ich hatte recht. Ein indisches Dorf ohne ein halbes Hundert nackter Rangen ist ein Unding –“

Die Inder trauten sich doch nicht recht an uns heran. Ein langer, recht würdiger Mann mit prachtvollem Bart trat jetzt vor. Sein Englisch war leidlich zu verstehen.

„Ich bin der Mofla, der Gemeindevorsteher,“ begann er. „Ich muß Euch verhaften. Ihr habt vier Reisende überfallen –“

Jetzt brachte man auch Erverlyn aus dem Hause ins Freie. Fünf Männer hatten ihn gepackt.

Er begann sofort loszuwettern. Das, was der Mofla an Grobheiten zu hören bekam, hätte für einen langen Beleidigungsprozeß genügt.

Der Mofla, wie alle die Dörfler ein Radschpute, wurde durch diese „Schmeicheleien“ gereizt. Die Radschputen sind stolz. Ihnen gilt der Europäer weniger als anderen Indern. Die ganze Provinz Radschputana besteht ja aus kleinen Fürstentümern mit der bekannten Schein-Selbständigkeit.

Harald suchte den Lord zu beruhigen. Aber Erverlyn, überhaupt ein sehr temperamentvoller Mensch, hörte auf nichts.

Der Mofla rief plötzlich den Leuten, die Erverlyn hielten, ein paar Worte zu. Der Lord wurde zu Boden gerissen. Man warf ihm eine Decke über den Kopf und schleppte ihn wieder ins Haus.

Die Situation war jetzt recht kritisch. Die anderen Männer drängten näher heran.

Der Mofla befahl uns, abzusteigen. Haralds Kamel kniete nieder. Er rutschte aus dem Sattel. Dann war er auch schon mit einem Sprung neben dem Mofla, schlug ihm die Vorderladeflinte aus der Hand und hielt ihm die Pistole vor die Stirn.

„Wenn Du Dich rührst, schieße ich,“ sagte er laut, aber beinahe in gemütlichem Tone. „Laß jetzt die Männer zurücktreten – sofort! Wir sind keine Räuber oder dergleichen. Du hast soeben einen englischen Lord wie einen Wegelagerer behandelt. Es ist Lord Douglas Erverlyn, der Tigerjäger.“

Der Mofla und die Männer hatten sich jetzt von dem ersten Schreck erholt.

Harald steckte mit einem Male die Pistole in die Tasche. Er durfte es getrost wagen, denn wir hörten, wie die Leute jetzt den Namen Erverlyn mit unsicheren Mienen sich zuflüsterten.

Douglas Erverlyn war auch in Radschputana als Tigerjäger geradezu volkstümlich. In einem Lande, wo die Tiger jährlich hunderte von Menschen töten, ist der Tigerjäger ein Wohltäter des Volkes. –

Der Mofla ging auf Harsts Vorschlag ein. Man holte Erverlyn herbei. Er hatte Papiere bei sich, die auf seinen Namen lauteten.

Der Dorfälteste prüfte sie. Dann gab ihm Harst auch seinen Reisepaß, der eine Photographie enthielt. Der Paß war gleichzeitig ein Ausweis gegenüber allen Polizeiämtern. Es war darin vermerkt, daß Harald Harst Detektiv sei und daß man ihm jede Unterstützung gewähren solle.

Der Mofla wurde sehr verlegen. Man nahm Erverlyn die Stricke ab. Er war bereits gefesselt worden. Harald warnte ihn, nicht abermals grob zu werden.

Der Lord nahm die Sache nun von der scherzhaften Seite, lachte und reichte dem Mofla die Hand.

Wir erfuhren jetzt, daß zwei tief verschleierte Inderinnen und zwei Inder hier im Dorfe vier Reitkamele gekauft hätten, nachdem sie dem Mofla ein langes Märchen von einem Überfall erzählt hatten. Sie waren sofort nach Osten zu davongeritten. –

Der Mofla gab uns jetzt drei vorzügliche Reitkamele aus seiner eigenen Herde. Daß in Radschputana Kamele gezüchtet werden und einen wichtigen Handelsartikel bilden, habe ich schon früher erwähnt. (Vergl. „Der Klub der Zwölf“.)

Wir verließen Goswiri gegen neun Uhr vormittags. Die Flüchtlinge hatten vier Stunden Vorsprung.

 

4. Kapitel.

Die Verfolgung.

Hirten, die östlich des Dorfes Schafe und Rinder hüteten, gaben uns die nähere Richtung an, die die vier Leute eingeschlagen hatten. Wir hätten sonst sehr lange in diesem von Tierfährten vielfach durchkreuzten Gelände nach der richtigen Spur suchen müssen.

Als wir dann die frische Fährte der vier Kamelreiter vor uns hatten, ging es im Galopp in die Wüste hinein.

Der Boden wurde immer unfruchtbarer. Die Graszungen, die sich in der Thar meist von einer kleinen Oase strahlenförmig in das Sandmeer hineinziehen, hörten auf. Die Wüste nahm jenen Charakter an, wie wir ihn bereits aus den westlichen Teilen der Thar kannten: Sanddünen, dann wieder eingestreute Felspartien, ein ebenso kahles Felsplateau, wieder Sand, als einzige Vegetation nur die graugelben Wüstenpflanzen, besonders die großen Arten der indischen Disteln.

Erverlyn machte ein recht „bekniffenes“ Gesicht. Harst hatte ihm vorhin so einige freundschaftliche Winke über die Art, wie man Menschen behandeln soll, gegeben.

Der Lord hatte sein Unrecht eingesehen. Er wußte, daß wir nur seinetwegen eine volle Stunde verloren hatten. Er hatte Harald stumm die Hand gedrückt.

Eine Unterhaltung war bei diesem Tempo nicht möglich. Wir hatten uns über die Flucht der vier Leute aus dem Zuge noch nicht aussprechen können. Mir war es unverständlich, wie sie gemerkt haben konnten, daß wir ihnen eine Falle gestellt hatten. Es mußte denn gerade sein, daß der Mörder und der Schaffner – und dies waren ja fraglos die angeblichen Diener der Inderinnen gewesen – erkannt hatten, daß sie einem schlau berechneten Trick des deutschen Detektivs zum Opfer gefallen waren.

Ich will mich hier mit der Schilderung dieser Verfolgung nicht aufhalten. Wir erkannten sehr bald an dem geringeren Grade der Verwehung der Spuren, daß wir den Leuten näher kamen.

Harald nahm jetzt immer häufiger das Fernglas zur Hand und spähte nach vorwärts.

Gegen Mittag sahen wir die Flüchtlinge. Sie rechneten offenbar gar nicht damit, verfolgt zu werden. Sie mußten gelagert haben. Nur durch Haralds Vorsicht vermieden wir es, daß auch sie uns gewahrten.

Erverlyn wollte nun sofort ihnen nach. Harst meinte gutmütig lächelnd:

„Lieber Douglas, die vier haben jetzt ausgeruhte Tiere. Eine Hetzjagd würde wenig Erfolg versprechen. Außerdem könnten sie sich teilen. Und wir sind nur zu dreien. Einer würde uns also bestimmt entwischen. Nein – wir werden jetzt versuchen, neben sie zu kommen. Ich habe gar nicht die Absicht, sie jetzt schon festzunehmen, offen gestanden. Nur im Auge will ich sie behalten.“

„Und weshalb, wenn ich ausnahmsweise fragen darf?“ sagte Erverlyn mit ironischer Anspielung auf Harsts geliebte Geheimniskrämerei.

„Weil ich vermute, daß die vier dorthin sich wenden werden, wo auch wir hin wollen –“

„Ah – nach Kotarani!“

„Ja – nach Kotarani! Und weil ich dann dort mühelos heraus bekommen werde, wer im Palast zu Kotarani zum Anhang Sarattas gehört.“

„Hm – und worauf gründen Sie diese Vermutung, daß die Leute nach Kotarani reiten?“

„Einmal darauf, daß sie jetzt einen völligen Haken geschlagen haben. Sie ritten erst nach Osten, jetzt reiten sie nach Südwest. Und diese Richtung muß sie in das Fürstentum und in die Nähe der kleinen Residenz führen. – Dann zweitens: der Kern des Geheimnisses Sarattas liegt in Kotarani. Nur die Fäden dieses Netzes reichen weiter, glaube ich. Der Anhang Sarattas weiß jetzt, daß ich alles aufbieten werde, dieses Geheimnis zu klären. Die vier Leute werden nach dem mißglückten Anschlag auf mich dies ihren Freunden in Kotarani schleunigst mitteilen wollen. Sie werden sich mit diesen beraten, wie man anderswie uns drei unschädlich machen und wie man Vorsorge treffen könnte, sich vor uns zu schützen.“

„Das hat Hand und Fuß,“ erklärte Erverlyn.

Wir waren inzwischen in einem sandigen Tale entlang getrabt. An dieses schlossen sich hohe Sanddünen an, die uns nach rechts hin verbargen.

Harald ritt auf eine der Dünen hinauf, riß sein Kamel aber sofort zurück, winkte uns und vereinigte sich weiter nach Südwesten wieder mit uns. „Wir haben sie jetzt neben uns,“ sagte er. „Sie reiten ebenfalls nur Trab.“

Erverlyn hoffte von Harst nun mehr über das „Geheimnis“ zu erfahren.

„Kramen Sie Ihre Weisheit aus,“ bat er. „Die ganze Sache schwebt für mich noch derart in der Luft, daß ich mir wie ein Blinder vorkomme. – Wie steht’s mit Ihnen, Schraut? Wissen Sie schon, welche Rolle zum Beispiel der Tiger Madaui bei alledem spielt?“

„Bedauere. Ich weiß noch nicht mal, weshalb die vier Leute den Zug verließen, wo sie sich doch ganz sicher fühlen konnten,“ erwiderte ich.

„Na, lieber Alter,“ lachte Harald gutgelaunt, „ob Du es wohl merken würdest, wenn Du einen Pappkarton statt eines Menschen erdolchst?! – Ich gebe zu: ich habe die Leute unterschätzt. Oder besser: ich hätte mir von vornherein sagen müssen, daß der Mörder es merken mußte!“

„Verdammt, Harst, das stimmt,“ rief Erverlyn. „Ich jedenfalls würde es merken –“

„Na also! Deshalb eben hat die Bande in der Nähe von Goswiri die Notleine gezogen. Sie werden erst mit einer sofortigen Verfolgung gerechnet haben. Aber – diesmal war ich schlauer. Die Leute sollten sich in Sicherheit wiegen. Das tun sie jetzt. Sie kalkulieren so: haben wir drei überhaupt den Zug verlassen, dann wird uns der Mofla in Goswiri schon festhalten!“

„Schön – und das Geheimnis?“ fragte Erverlyn geradezu flehend. „Mensch, Harst, – seien Sie barmherzig. Schraut und ich platzen vor Neugier –“

„Schade – diese Katastrophe kann ich leider nicht verhindern! Denn – was ich sicher weiß, ist wenig. Was ich vermute, ist wieder so phantastisch, daß in mir selbst immer aufs neue Zweifel aufsteigen. Ich hoffe aber, wir werden in der kommenden Nacht restlosen Aufschluß erhalten – restlosen!“

„Sie sind ein gräßlicher Mensch!“ meinte Erverlyn seufzend. „Ich zermartere mir mein Hirn und finde doch nicht mal eine leidlich wahrscheinliche Theorie, die all diesen Vorgängen gerecht wird. So rumort mir schon seit gestern dauernd die Frage im Schädel herum, weshalb Saratta nur die Bemerkung über „sein Geheimnis“ gemacht haben mag, bevor er sich erschoß. Logisch betrachtet war das doch eine unglaubliche Unvorsichtigkeit von ihm.“

„Hm – es gibt auch Leute, die im letzten Augenblick noch so etwas renommieren wollen, lieber Douglas. Saratta war eben fest überzeugt, ich würde dieses Geheimnis nie ergründen. Es lag also in dieser kleinen Prahlerei gleichzeitig eine gewisse Rache gegen mich. Ich sollte dadurch blamiert werden, daß ich dieses Geheimnis nicht aufdecken konnte. – Nur so ist die Bemerkung verständlich.“

„Das leuchtet mir ein,“ sagte der Lord. „Nur der Tiger – der Tiger?! Was wollte Saratta ausgerechnet vor dem Raubtierhause, wenn er seine langen „Jagdstreifen“ unternahm?“

„Das werden Sie vielleicht heute nacht mit ansehen, lieber Douglas.“ –

Damit endete dies Gespräch.

Wir blieben weiterhin stets links neben den Flüchtlingen. Oft mußten wir große Umwege machen, oft etwas zurückbleiben und dann im Galopp den Zeitverlust wieder einholen.

Um fünf Uhr lagerten die vier wieder zwischen hohen Felsenhügeln etwa eine Stunde.

Dann ging es weiter. In der Ferne erschien jetzt sumpfiges Buschland; ein breiter Streifen Dschungel. Das Land wurde flach. Nur mit Mühe gelang es uns hier, die vier Flüchtlinge im Auge zu behalten. – Ein Dorf tauchte auf. Die vier Reiter bogen ihm jedoch aus.

Durch den Dschungel führte von dem Dorfe ein aufgeschütteter Weg nach Süden. Wir mußten abermals zurückbleiben. Harst kaufte in dem Dorfe ein paar weiße Leinenanzüge und drei Turbane. Außerhalb des Dorfes zogen wir die Sachen an und trennten uns. Harst ritt weit voraus. Die Verfolgten konnten in ihm jetzt nur einen Eingeborenen vermuten.

Der Dschungel lag hinter uns. Die Dörfer mehrten sich. Wir waren bereits im Gebiete des Radschas von Kotarani.

Gegen acht Uhr sahen Erverlyn und ich weit vor uns die Türme der drei Hindutempel der kleinen Residenz und links davon die alte Radschaburg.

Harst kam uns jetzt entgegen.

„Sie haben sich dort in jenen Büschen gelagert,“ sagte er. „Haltet mein Tier. Ich will versuchen, sie zu beschleichen.“

Erst um neun Uhr kehrte er zurück.

„Ich habe nicht viel gehört,“ meinte er. „Aber immerhin genug, daß wir uns danach richten können. Einer der vier ist allein weitergeritten – nach Kotarani. Die eine der Frauen ist tatsächlich ein Weib. Sogar ein junges und schönes Weib. Die andere war ein schmächtiger, älterer Mann. Sie haben jetzt ebenfalls Männerkleidung angelegt. Um 1 Uhr nachts wollen sie sich mit dem, der jetzt davonritt, an der hinteren Parkpforte des Parkes des Palastes treffen.“

Er bestieg sein Reitkamel wieder.

„Vorwärts – nach Bikaner zu Inspektor Lopsing!“ meinte er und jagte uns voran einen schlechten Landweg entlang.

 

5. Kapitel.

Vor dem Tigerkäfig.

Inspektor Lopsing war daheim. Wir hatten unsere Tiere in einem Unterkunftshause eingestellt, die Inderanzüge aber über unseren Sachen anbehalten.

Ein Diener hatte uns Lopsing nur als „drei alte Bekannte“ gemeldet. Der Inspektor ahnte jedoch, um wen es sich handelte, kam uns bis an die Gartenpforte entgegengelaufen und drückte uns hocherfreut die Hände.

„Die Geschichte von dem Attentat im Zuge ist hier schon allgemein verbreitet,“ erklärte er. „Kommen Sie, meine Herren, – kommen Sie. Sie bringen ja sicher Neuigkeiten.“

Wir mußten sofort im Speisezimmer Platz nehmen. Die Diener trugen allerhand leckere Sachen auf.

Aber erst nach Tisch in Lopsings Arbeitszimmer wurde im Flüsterton bei einer Tasse Mokka das Thema „Geheimnis Saratta“ verhandelt.

Harst erzählte dem Inspektor alles, was er von Mahattmi über Sarattas heimliche Jagdstreifen und von dem alten Bir Mossar über Sarattas Besuche im Parke des Palastes erfahren hatte.

Lopsing konnte nur immer wieder den Kopf schütteln.

„Aus alledem vermag ich mir keinen Vers zu machen,“ meinte er.

„Schraut und ich genau so wenig,“ sagte Erverlyn spitz. „Und Harst hüllt sich in Schweigen –“

Harald lehnte in der Sofaecke und blies Rauchringe. Erst nach einer Weile fragte er Lopsing.

„Besitzen Sie vielleicht zufällig eine Photographie des gesamten Hofstaates des Radschas von Dschaipur?“

Lopsing sann nach. „Ja, – eine Aufnahme von einem großen Fest vor drei Jahren,“ erklärte er dann. „Der Radscha von Dschaipur hatte mich gerade damals gebeten, die Diebstähle aufzuklären, die in seiner Schatzkammer seit langem verübt wurden. Sie wissen ja wohl, meine Herren, daß der Fürst von Dschaipur der reichste der indischen Vasallenfürsten ist. Ich bin mit auf dem Bilde. Ich habe es dort im Schranke liegen.“

Es war eine sehr große und sehr deutliche Aufnahme. Sie war im Garten des Palastes in Dschaipur hergestellt worden. Der Fürst und die Fürstin saßen in der vorderen Reihe auf Thronsesseln aus Elfenbein.

Harald behielt das Bild auf den Knien.

„Der Radscha von Kotarani und der von Dschaipur sind nicht befreundet?“ meinte er.

„Nein,“ erklärte Lopsing. „Sie entzweiten sich Sarattas wegen, als dieser in die Dienste des Radschas Gharo Bir Tossar trat. Sarattas Vater hatte sehr verschwenderisch gelebt und hinterließ nur Schulden. Der Bruder Sarattas wurde Geheimsekretär bei dem Fürsten von Dschaipur. Saratta sollte ebenfalls dort eine Anstellung erhalten. Inzwischen hatte er sich jedoch mit Radscha Gharo angefreundet, und dieser ernannte ihn zu seinem Oberstallmeister, was etwa so viel bedeutet wie: Gehaltsempfänger ohne Pflichten. – Die Brüder entzweiten sich dieserhalb. Der Ältere, jener Geheimsekretär Daugli, trug es Saratta nach, daß er nicht –“

Harst hatte nach der Uhr gesehen, unterbrach jetzt den Inspektor:

„Entschuldigen Sie. Aber wir müssen mit dieser Klärung der Sache schneller zu Ende kommen. – Wer ist der Geheimsekretär Daugli auf diesem Bilde?“

Der Inspektor zeigte auf einen Inder in der Reihe hinter dem Fürstenpaar.

„So, also der!“ meinte Harald. „Dann ist dieser Daugli das verkleidete Weib gewesen. Ich erkenne ihn hier auf dem Bilde genau wieder. – Und wer ist diese bildschöne Inderin, lieber Lopsing, die in der vierten Reihe steht?“

„Die einzige Tochter des Hausmeisters des Fürsten von Dschaipur namens –“

„– namens Bardja,“ ergänzte Harst. „Es ist die zweite verschleierte Frau aus dem Nebenabteil.“

„Unmöglich!“ rief Lopsing. „Bardja ist so unnahbar, so stolz, so ganz moderne junge Dame, daß sie sich auf derartige –“

„Sie können mir’s schon glauben, Inspektor,“ fiel Harald ihm ins Wort. „Ich habe gute Augen. Und ich lag dicht am letzten Lagerplatz der Flüchtlinge in den Büschen –“

Lopsing wiegte zweifelnd den Kopf hin und her.

„Wenn Sie das nicht behaupten würden, Mr. Harst! Einem anderen glaubte ich das nicht – niemals!“

„Sie würden es jedem glauben, der Sie durch den Augenschein überzeugt. – Bitte, bestellen Sie doch sofort Ihr Dienstauto hierher. Wir wollen eine Gaunerbande dingfest machen. Es geht nach Kotarani. Aber wir steigen schon vor der Stadt aus!“

„Soll ich noch Beamte mitnehmen?“

„Nur einen Revolver, lieber Lopsing. Das genügt! –“

Es war elf Uhr, als wir Bikaner im Auto verließen und der nahen kleinen Residenz zufuhren. Harst hatte sich über Sarattas Geheimnis auch jetzt nicht näher ausgelassen.

Sehr begreiflich also, daß wir drei – Lopsing, Erverlyn und ich – den kommenden Dingen mit größter Spannung entgegensahen.

Der Himmel war jetzt leicht bewölkt. Ein frischer Wind blies über die Ebene hin, die wir auf der fast schnurgeraden Straße mit dem Kraftwagen durchsausten.

Dann hielt das Auto. Wir stiegen aus. Harald und der Inspektor gingen voran. Erverlyn und ich folgten als zweites Paar.

Lopsing führte uns um die Stadt herum bis zur westlichen Parkmauer der Radschaburg. Wir kletterten hinüber und schlichen dann mit aller Vorsicht von hinten an Bir Mossars Häuschen heran, das keine fünfzig Meter rechts vom Raubtierhause hinter Hecken versteckt sich erhob.

Harst pochte ganz leise an das Fenster. Nach einer Weile wurde der Alte munter, ließ uns ein und wollte sofort Licht machen.

„Nicht doch, Bir Mossar! Wir gehen sofort wieder,“ erklärte Harald. „Ich will Dir für diese Nacht nur ein paar Verhaltungsmaßregeln geben. Die Tiere werden unruhig werden. Verlasse aber auf keinen Fall Dein Häuschen, was auch geschehen mag. Ich warne Dich sehr nachdrücklich. Sollte jemand nachher bei Dir anklopfen, so öffne nicht, sondern tu’, als schliefest Du fest. Hier hast Du noch eine Kleinigkeit. Wahrscheinlich wird Dir der Radscha noch mehr schenken – der Radscha von –“

Das letzte Wort verschluckte er. – Wir schlichen davon.

Harald blieb jetzt hinter der Hecke stehen.

„Hier haben wir den Käfig Madauis dicht vor uns,“ flüsterte er. „Kriechen wir in die Hecke hinein. Es werden sich dicht am Boden schon ein paar kahle Stellen finden, wo wir uns hineinzwingen können.“

Harald und ich fanden nebeneinander Platz. Rechts lag Erverlyn, links der Inspektor. Die Hecke war sehr breit. Wir konnten hier unmöglich entdeckt werden.

Ich zog meine Taschenuhr. Das Leuchtzifferblatt zeigte mir, daß es genau ½1 Uhr nachts war.

Der Mond stand im abnehmenden Viertel. Die Wolken segelten nur vereinzelt über das Firmament hin. – Die Käfige lagen zumeist in matter Beleuchtung da. Die Tiger witterten uns. Sie strichen an den Gittern ruhelos entlang. Weiter rechts, wo die Panther untergebracht waren, erklang zuweilen das katzenähnliche Fauchen dieser kleineren Bestien.

Etwas links von uns befand sich der Käfig Madauis. Dieser Tiger lag ganz vorn am Gitter wie eine Statue und hatte den Kopf so gedreht, als starre er unverwandt nach uns hin.

Nach etwa zehn Minuten gewahrte ich einen Inder mit hellem Turban, der von links her an den Käfigen entlanghuschte. Er trug in der rechten Hand ein Bündel.

Die Tiger wurden plötzlich noch lebhafter. Sie knurrten, rannten hin und her.

Der Inder hatte vor Madauis Gitter halt gemacht, griff jetzt in den Sack hinein (es war ein Sack, wie ich nun erkannte) und warf dem Tiger etwas zu. Es mußten kleinere Fleischstücke sein, die Madaui sofort verschlang. Zum Schluß folgte ein ganz großes Stück. Madaui zerrte es durch das Gitter und sprang dann mit dem Riesenhappen auf sein gewohntes Plätzchen auf die Steine im Hintergrunde des Käfigs. Der Mann aber huschte wieder davon.

Bei den anderen Tigern regte sich der Freßneid. Sie knurrten, fauchten und wollten gar nicht zur Ruhe kommen.

Eine Viertelstunde verstrich. Nichts geschah.

Dann aber nahte von links derselbe Inder, kam jetzt jedoch auf die Hecke zu, glitt wie ein Schatten bis zum Fenster des Häuschens Bir Mossars und blieb dort mindestens fünf Minuten lauschend stehen.

Ich hatte den Kopf gedreht. Ich sah ihn nur undeutlich, wie er das Ohr dicht an die Scheibe hielt.

Die Tiger waren etwas ruhiger geworden. Der Inder schien nun überzeugt zu sein, daß der Oberwärter fest schlafe. Er huschte wieder davon.

Abermals vergingen zehn Minuten. Dann kamen von links her dicht hintereinander fünf Leute herbeigeschlichen. Der vorderste war der kleine, dürre Kerl von vorhin.

Sie blieben vor dem Käfig Madauis stehen. Der Kleine warf wieder etwas vorn zwischen die Gitterstäbe, – Fleischstücke fraglos.

Aber der Tiger erschien nicht.

Der Kleine begann jetzt an den Schlössern der Gittertür herumzutasten. Ich hörte das Kreischen eines schlecht geölten Riegels.

Der Mond wurde leider gerade in diesem Moment von einer dichteren Wolke verdunkelt.

Die Gestalten dort am Käfig verschmolzen infolge des schwachen Lichtes zu einem Klumpen. Dann war es mir, als ob die Leute einzeln den Käfig betraten.

Da kam das Mondlicht zurück, – ganz plötzlich.

Die Stelle vor dem Käfig war leer.

„Verdammt – was bedeutet das?!“ flüsterte der Lord.

„Das werden Sie sofort sehen!“ meinte Harst. „Raus aus dem Versteck – raus mit den Pistolen! Folgt mir –“

Wir eilten auf die offene Käfigtür zu. Harald schlüpfte hinein.

„Kommt nur,“ beruhigte er uns. „Sie haben Madaui betäubt –“

Seine Taschenlampe blitzte auf. Oben auf den Steinen lag der Tiger und regte sich nicht.

Und dicht vor der Steingruppe gab es noch etwas anderes zu sehen: da war eine der großen, achteckigen Steinplatten des Fußbodens, der noch aus jener Zeit stammte, als das Gebäude ein Wohnhaus für die Hofbeamten gewesen war, hochgeklappt.

Harst leuchtete in das Loch hinein. Eine kleine eiserne Leiter war zu sehen.

Dann schaltete er die Lampe auch schon wieder aus.

„Draußen wollen wir sie erwarten,“ flüsterte er. – Wir verließen den Käfig, stellten uns in den Schatten der Hecke. – Die Tiger waren wieder sehr erregt. Kein Wunder, daß Bir Mossar dadurch so oft geweckt worden war.

Fünf Minuten waren vorüber.

Dann erschien in der Gittertür des Käfigs einer der Inder. Er trug einen Sack auf dem Rücken. Die anderen folgten. Nur einer der fünf, eine mittelgroße, zierliche Gestalt, war nicht mit einem Bündel beladen.

Der Kleine hatte seinen Sack auf die Erde gestellt, verschloß die Käfigtür wieder.

„Vorwärts,“ flüsterte Harst. „Und jeder von einer Seite –“

Wir glitten auf die fünf Leute zu.

„Hände hoch!“ brüllte Lopsing. „Hier Detektivinspektor Lopsing –“

Die fünf waren förmlich zurückgetaumelt.

„Hände hoch!“ drohte Lopsing nochmals.

Da – der Zierliche hatte plötzlich den rechten Arm vorgestreckt.

Ein Knall. – Lopsing schrie auf.

Da feuerte Erverlyn auch schon.

Der Zierliche schnellte hoch, schlug nach vorwärts zu Boden.

Die Tiger und Panther vollführten jetzt einen Höllenlärm.

Lopsing war in die Knie gesunken. Auch er schoß jetzt.

Drei von den Leuten standen mit hochgestreckten Armen da. Der vierte, der Kleine, fiel vornüber quer über den Zierlichen. –

Das Drama dieser Nacht war zu Ende.

Ich will dazu nur noch ein paar kurze Erklärungen abgeben. Der Kleine war Daugli, Sarattas Bruder. Der Zierliche war die schöne Bardja. Der dritte aber war ein Hofbeamter des Radschas von Kotarani. Und die beiden anderen Leute wieder gehörten zum Hofstaate des Fürsten von Dschaipur. Daugli und Bardja waren tot. Lopsing hatte einen Schuß ins Knie erhalten.

Die Säcke enthielten Juwelen und goldene Geräte, die Daugli im Verein mit Bardjas Vater aus der Schatzkammer des Radschas von Dschaipur seit Jahren gestohlen und in dem geheimen Keller des Raubtierhauses verborgen hatte. Die Brüder Saratta und Daugli waren nur scheinbar entzweit. Desto sicherer glaubten sie eben ihre Beute hier im Parke des Radschas von Kotarani verborgen zu haben. Die schöne Bardja und Saratta, die zur selben Kaste gehörten, hatten sich heiraten wollen. Bardjas wegen war die Bajadere Mola Pur ermordet worden. Das Versteck hatten die Verbrecher jetzt aus Furcht vor Harst ausräumen wollen.

Harald war auf den Gedanken, der Käfig des Tigers könnte ein Versteck für Diebesbeute enthalten, durch eine beiläufige Bemerkung Mahattmis gekommen, der ihm gegenüber die stetig sich wiederholenden Beraubungen der Schatzkammer des Fürsten von Dschaipur erwähnt hatte. Die häufigen Besuche Sarattas, die stets dem Tigerkäfig gegolten hatten, deutete Harst sofort sehr richtig als Besuche des Verstecks, um neue Beutestücke dort unterzubringen. Der alte Steinplattenboden des Käfigs wieder hatte ihn darauf gebracht, daß eine der Platten den Eingang in das Versteck bilden könne. –

Die auf diese Weise beschlagnahmte Diebesbeute hatte einen Wert von rund acht Millionen. Der Radscha von Dschaipur belohnte den alten Bir Mossar, der so viel zur Aufdeckung dieser frechen Diebstähle beigetragen hatte, wahrhaft fürstlich.

Harst, Erverlyn und ich waren acht Tage in Dschaipur Gäste des Fürsten. Hier in Dschaipur durften wir dann den merkwürdigen Fall erledigen, über den ich im nächsten Bande berichten will, in

 

Das goldene Gongong.

 

 

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Der Goldschatz der Azoren

Die glänzende Erzählerkunst Walter Kabels, welcher doch nun schon seit Jahren tausende Leser an die Detektiv-Abenteuer unseres Harald Harst fesselt, schenkt uns in dem soeben erscheinenden großen Sensationsroman

Der Goldschatz der Azoren

ein neues Werk von so eigenartiger und packender Schönheit, daß auch dieser Roman zahlreiche Freunde finden und die Lesergemeinde der Kabelschen Arbeiten noch vergrößern wird.

Ein ganz eigenartiges Motiv hat sich der Autor für diese Arbeit gewählt: Die Macht des Goldes. Deutsche Männer und Frauen haben während des Krieges in unseren afrikanischen Kolonien einen großen Goldschatz gefunden, den sie dem Vaterlande schenken. Ein deutsches U-Boot nimmt das Gold an Bord, um es nach Deutschland zu schaffen. Im Atlantischen Ozean aber erleidet das U-Boot einen Maschinendefekt, es wird von einem englischen Kriegsschiff verfolgt und in der Nähe der Azoren-Inseln in den Grund gesenkt. Nur ein einziger der Besatzung, der Steuermann Hartwich, kann sich auf die Insel San Miguel retten, wo er drei Jahre lang als Robinson lebt. Als er dann nach Beendigung des Krieges in die Heimat zurückkehrt, findet er sein Vaterland am Boden liegend, das deutsche Volk unsäglich an den Folgen des Krieges leidend. Nun beschließt er den gewaltigen Goldschatz zu heben, um damit die Leiden seiner deutschen Volksgenossen zu lindern. Er trifft mit seinem Jugendfreunde Viktor v. Gaupenberg zusammen, der ein ganz neuartiges Luftschiff konstruiert hat, und mit Hilfe dieses Luftschiffes wollen die Freunde den Schatz bergen. Doch durch einen Zufall haben andere von dem Goldschatz erfahren, die nun mit allen Mitteln versuchen, für sich das Gold zu gewinnen. Und um diesen riesigen Goldschatz entbrennt nun einen Kampf, wie er gewaltiger und packender nicht geschildert werden kann.

Gratis und franko

erhält jeder Leser der Harst-Erzählungen das 1. Heft des „Goldschatz der Azoren“. Wir bitten um Einsendung der Adresse, worauf wir sofort vollständig kostenlos das erste Heft senden.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „au“.
  2. In der Vorlage steht: „Zermonienmeister“.
  3. In der Vorlage steht: „Divan“.