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Der Klub der XII

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 46

 

Der Klub der Zwölf[1]

 

1. Kapitel.

Der Schmetterling auf Seide.

Lord Douglas Erverlyn, Major in der indischen Kolonialarmee, gehörte zu den begeistertsten Verehrern Harald Harsts. Er war bei einem Attentat auf Harst hinterrücks niedergeschossen und dann nach Bangalore in das Krankenhaus gebracht worden. Nach seiner Heilung teilte er uns seine Ankunft telegraphisch mit.

Wir holten Erverlyn von der Bahn ab. Der Zug traf abends 10 Uhr ein.

Der Lord sah noch recht leidend aus, war aber wie immer heiter und guter Dinge, stellte uns seinen Freund Thomas Long vor und sagte dabei gleich auf dem Bahnsteig:

„Lieber Harst, ich bringe Arbeit. Haben Sie in den Bombayer Zeitungen etwas über die Schicksale der Expedition Professor Tamblays gelesen?“

„Allerdings,“ meinte Harst.

Wir schritten dem Auto zu, das wir vorher bestellt hatten.

Wir wohnten damals bei Detektivinspektor Greaper, der dem Leser nicht mehr fremd sein dürfte.

Der Inspektor war heute dienstlich verhindert gewesen, mit auf den Bahnhof zu kommen. Er hatte Harst jedoch aufgetragen, Lord Erverlyn zu bitten, gleichfalls sein Gast zu sein. Wir nahmen daher auch Erverlyns Freund Long mit zu Greaper.

Hier wurden wir mit einem großartigen Abendessen erwartet. Zunächst wurde bei Tisch nur über Erverlyns Krankheit gesprochen. Harst machte dem Lord Vorwürfe, weil er bereits die lange Eisenbahnfahrt gewagt hatte.

„Sie sind der reine Schulmeister, Harst,“ lachte Erverlyn. „Sollte ich etwa Tom (das war Thomas Long) allein herschicken und mir diesen fraglos sehr aussichtsreichen Fall entgehen lassen?“

„Los denn, Mr. Long,“ meinte Harst. „Ich sehe ja, Erverlyn zappelt schon vor Ungeduld. Er kann nicht erwarten, meine Meinung über die Schicksale der Expedition Tamblay zu hören.“

„Oh,“ sagte Long, ein junger, reicher Kaufmann aus Dehli, „die Expedition Tamblay hängt mit dem, was ich erlebt habe, nur sehr lose zusammen.“

„Das denken Sie, Long!“ rief der Lord. „Ich wette, daß Harst anders darüber urteilt.“

„Fangen Sie jetzt an, Mr. Long,“ meinte Harald. „Wir alle sind ja nun genügend durch Erverlyns Andeutungen in Spannung versetzt worden.“

„Daß ich in Dehli wohne, wissen Sie schon, Mr. Harst,“ begann der junge Großkaufmann. „Ich bin seit einem Jahr Chef der Firma Albert Long, die in allen größeren Städten Indiens Niederlassungen hat. Ich fand nun, als mein Vater gestorben war, – meine Mutter ist schon lange tot, und ich bin das einzige Kind – in seinem Schreibtisch in einem Geheimfach, das nur er selbst angelegt haben kann, drei Briefe und ein viereckiges Stück Seide, auf das ein großer Schmetterling gemalt war. Dieser Schmetterling war offenbar Handmalerei und stammte von einem Künstler her. Das heißt: ich nahm an, daß nur ein Künstler einen in der Farbentönung so wundervollen Schmetterling herstellen könnte –“

Hier wurde Long durch den Eintritt des Pförtners Dschama unterbrochen. Der Inder verbeugte sich tief und reichte Long einen zusammengefalteten Zettel, der mit gewöhnlichem Stearin an Stelle von Siegellack dreimal versiegelt war.

„Sahib, dieses Schreiben überbrachte soeben ein kleiner Junge,“ erklärte der Diener. „Du möchtest es sofort lesen, sagte der Junge. Dann lief er davon.“

„Sonderbar,“ meinte Long und wollte die Stearinsiegel aufbrechen.

„Einen Moment,“ rief Harald. „So sehr eilig kann diese Nachricht kaum sein, Mr. Long. Erzählen Sie bitte erst zu Ende.“

„Gern,“ nickte der junge Chef der Weltfirma Long. „Der Zettel wird auch tatsächlich kaum etwas Wichtiges enthalten können. Ich begreife überhaupt nicht, wie jemand wissen kann, daß ich gerade hier bei Mr. Greaper weile. Ich steige sonst stets im Imperial-Hotel ab.“

Er legte den Brief neben sich auf den Tisch.

Harald saß rechts von ihm, sagte nun: „Sie gestatten wohl,“ nahm den versiegelten Zettel und schaute ihn sich flüchtig an.

„Bitte, Mr. Long, – Sie fanden also drei Briefe und den Schmetterling,“ munterte er seinen Nachbar auf.

„Ja, so war’s. Der Schmetterling war ja nun ganz harmlos. Eben nur eine Malerei auf Seide. Aber die drei Briefe waren es nicht. – Ich möchte mich dahin verbessern: es waren nicht vollständige Briefe mit Umschlag, sondern nur Briefbogen. Ich habe sie ja übrigens hier. Auch den Schmetterling. Ich bin ja nur von Dehli nach Bangalore gereist, um Sie zu sprechen, Mr. Harst. Sie waren jedoch nicht mehr im Schlosse der Mistreß Bangsey. Nur Erverlyn fand ich im Krankenhause vor.“

Thomas Long wandte sich jetzt etwas zögernd an Harald.

„Mr. Harst, Sie haben in der Zerstreutheit den versiegelten Zettel eingesteckt, nicht wahr?“

„Ja. Ich gebe ihn Ihnen nachher schon. – Zeigen Sie mal jetzt die Briefe und den Schmetterling.“ –

Das Stück gelbe Seide war etwa vierzig Zentimeter im Quadrat groß. Der Schmetterling bedeckte die Seide fast vollständig. Es war ein Schmetterling, wie man ihn auf ganz alten chinesischen Malereien findet. Die Flügel und der Leib bestanden aus geraden Linien. Das wirkte aber durchaus nicht plump. Es war eben ein Phantasiefalter. Die Bemalung der Flügel und des Leibes mußte man wirklich künstlerisch nennen.

Dann die drei Briefe. Ich saß neben Harald, und wir sahen sie uns gemeinsam an.

Es waren Briefbogen aus gutem, dauerhaftem Papier. Beschrieben war bei allen dreien nur die Vorderseite.

Die Schrift war verstellt. Das sah man auf den ersten Blick. Die lateinischen Buchstaben waren ganz kindlich gemalt.

Die Briefe trugen oben in der linken Ecke Bleistiftzahlen, waren numeriert: 1, 2, 3.

Thomas Long sagte uns, diese Zahlen habe fraglos sein Vater geschrieben.

Die deutsche Übersetzung der Briefe lautete:

Brief 1:

Es wird Zeit. Der Klub wartet nicht länger. Der Beitrag muß bezahlt werden. Alles Sträuben ist umsonst. Bitte also den Leuten andere Befehle zu erteilen. XII.

Brief 2:

Es ist ein recht gewagtes Spiel. Der Klub wartet nur noch drei Tage. Es muß sonst eine Mahnung erfolgen, deren Inhalt bekannt ist. Der Kassenbote wird übermorgen des Beitrags wegen nochmals vorsprechen. XII.

Brief 3:

Die Mahnung wird jetzt erfolgen. Der Kassenbote wird den Beitrag auf andere Art einziehen. XII.

Ort, Datum, Anrede und Unterschrift fehlten. Nur die römische XII fand sich stets am Ende dieser kurzen Mitteilungen.

Wir ließen nun auch Greaper die Briefe sich ansehen. Erverlyn kannte sie schon.

„Das sind Erpresserbriefe, nichts weiter,“ erklärte uns der Inspektor.

„Mag Mr. Long erst noch berichten, was er noch über diese Briefe und den Schmetterling weiß,“ meinte Harald.

„Oh, viel ist es nicht mehr,“ sagte Long. „Als ich diese Briefe kurz nach meines Vaters Tode gefunden hatte, ließ ich sie und den Schmetterling in dem Geheimfach ruhig liegen. Ich hatte plötzlich als Chef der Firma so viel Arbeit bekommen, daß ich mich um andere Dinge nicht kümmern konnte. Nach drei Monaten erschien dann ein Herr bei mir, der sich mir als Professor Reginald Tamblay vorstellte. Er sagte, er habe meinen Vater früher mal gekannt und sei jetzt zufällig in Dehli, und da habe er zu seinem Bedauern gehört, daß mein Vater gestorben sei. Er sei Kunstmaler von Beruf. Er habe nun seiner Zeit meinem Vater eine kleine, chinesische Malerei auf Seide geschenkt, die einen Schmetterling darstelle.“

„Ich möchte Sie nun bitten,“ fuhr er fort, „diese Malerei mir wieder zurückzugeben. Ich besaß ein Duplikat davon. Das ist mir verbrannt. Für Sie hat die Malerei keinen Wert. Für mich ist sie ein teures Andenken.“

„Mr. Harst, ich hatte gegen diesen Professor vom ersten Augenblick an ein gewisses Mißtrauen,“ sagte Thomas Long nun. „Der Herr war merkwürdig nervös. Leute, die wie er ihre Augen hinter schwarzen Kneifergläsern verbergen und die eine Perücke tragen – denn dieser Tamblay hatte eine dunkelblonde Scheitelperücke – sind ja an sich nicht von vornherein als verdächtig anzusehen. Bei diesem Tamblay kam aber einmal seine Nervosität hinzu, und dann erinnerte der Herr mich auch an einen Menschen, der meinen Vater wiederholt zu sprechen gewünscht hatte, stets jedoch abgewiesen worden war. Kurz und gut: ich war argwöhnisch geworden und erwiderte dem Herrn sehr höflich, ich wüßte nichts von einer chinesischen Malerei auf Seide.

Er bat mich darauf, ich möchte doch danach suchen. Um ihn loszuwerden, versprach ich es ihm. Er wollte nach drei Tagen wiederkommen. Inzwischen war ich nach Europa gereist und blieb dort fast ein halbes Jahr. Seitdem habe ich Tamblay nicht wiedergesehen. Er ist damals nach seinem ersten Besuch wieder in meiner Wohnung gewesen. Mein Hausmeister sagte ihm, ich sei verreist und ich ließe ihm bestellen, die Malerei sei nicht zu finden. – So, das ist alles.“

„Nein, das ist nicht alles,“ rief Erverlyn und schlug mit der Hand auf seine Sessellehne. „Denn nun kommt eben die Tamblay-Expedition heran!“

„Das kenne ich aus den Zeitungen,“ meinte Harst.

„Ja – und ich wette, daß dieser Professor Tamblay, dessen Expedition in die Thar-Wüste von einer Bande Strauchdiebe aufgerieben worden ist, derselbe Tamblay sein muß, der damals –“

Harald hatte dem Lord zugewinkt.

„Die Frage wollen wir später erörtern, Erverlyn. – Mr. Long, bitte, hier ist der versiegelte Zettel. Sie sehen, das Stearin ist mit einer Münze als Petschaft breitgedrückt worden. Wollen Sie bitte den Zettel aufschneiden, nicht aber die Siegel aufbrechen. Das Geschriebene wird sich auch so lesen lassen. Im übrigen glaube ich zu wissen, was der Zettel enthält: eine an Sie gerichtete Drohung, mir nichts von dem Besuche Tamblays mitzuteilen.“

Thomas Long schaute Harst ungläubig an.

„Eine Drohung?! Aber – wie kommen Sie nur darauf?“

„Schneiden Sie den Wisch nur auf. Man sieht ja von außen, daß es ein Stück gewöhnliches Schreibpapier ist.“

Long nahm sein Federmesser und öffnete den Zettel durch zwei Schnitte.

Dann legte er die Teile zusammen. Sein Gesicht veränderte sich plötzlich. Er wurde blaß, seine Hände zitterten.

„Mein Gott, Sie haben recht!“ stieß er hervor. „Wirklich, Mr. Harst, – es ist eine Drohung!“

Er reichte Harald die beiden Teile des Zettels.

Dieser war mit Bleistift beschrieben. Die Schrift war verstellt. Der Inhalt lautete ins Deutsche übertragen:

„Wenn Sie Harald Harst etwas von dem Besuche Tamblays bei Ihnen und von dem Schmetterling mitteilen, werden wir Sie zu vernichten wissen. Lassen Sie sich warnen! Uns ist bekannt, daß Sie Harst obiges anvertrauen wollen. Ihr Leben dürfte Ihnen doch einigermaßen wertvoll sein. Einem Geheimnis nachzuspüren, das Sie selbst nichts angeht, ist sinnlos. – Der Klub der XII.“

Harst hatte dies halblaut vorgelesen.

Er ließ die Hand sinken und lächelte ganz wenig.

„Sie sehen, Mr. Long, meine Vermutung war richtig,“ sagte er. „Allerdings war es nicht schwierig, auf den Gedanken zu kommen, dieser Zettel müsse eine Drohung enthalten. Der Junge, der ihn gebracht hatte, lief davon. Das ist schon immer bedenklich. Und dann, – das betonten Sie selbst bereits: wer konnte wissen, daß Sie hier bei Greaper weilen, wo Sie doch soeben erst in Bombay eingetroffen sind?! Doch nur jemand, der Ihnen heimlich gefolgt war!“

Long schüttelte den Kopf.

„Mr. Harst, dann hätte der Betreffende mich schon in Dehli ständig beobachtet haben und mir nach Bangalore nachgereist sein müssen! – Ich bitte Sie: ich habe ja niemandem in Dehli gesagt, was ich vorhatte. Ich erklärte im Geschäft, ich wolle Lord Erverlyn im Krankenhause in Bangalore besuchen.“

„Ja – und das genügte für den Klub der XII, Mr. Long. Erverlyn ist mit mir befreundet. Die Zeitungen Indiens haben genug über das Eisenbahnattentat berichtet. Da gehörte für die Klubleute nicht viel Geist dazu, um sich zusammenzureimen, daß Sie nicht eine so weite Reise lediglich Erverlyns wegen unternehmen. Ich behaupte, man hat Sie seit Ihrer Rückkehr aus England nicht mehr aus den Augen gelassen.“

„Aber weshalb in aller Welt?!“

„Das werden wir schon feststellen. – Ich will Ihnen nun auch offen mitteilen, weshalb ich Sie den Zettel nicht sofort bei Tisch lesen ließ. Ich fürchtete eben, daß die Drohung so wirken würde, daß Sie von Ihrem Vorhaben Abstand nehmen und mich nicht um Rat bitten würden.“

„Oh, da kennen Sie mich schlecht,“ rief Long. „Nein – ich bin keiner von denen, die sich fürchten. Fragen Sie nur Erverlyn, Mr. Harst. Ich habe mit Erverlyn viermal Tiger gejagt, wir beide ganz allein, ohne Treiber und Elefanten.“

„Das freut mich, Mr. Long. Sie werden Ihren Mut jetzt auch vielleicht beweisen müssen. Ich möchte mit Schraut diese Sache nun in Ruhe besprechen. Entschuldigen Sie uns eine Stunde etwa. Wir gehen hinüber in unseren Wohnsalon.“

 

2. Kapitel.

Das Opfer des Klubs.

Harald nahm die drei Briefe, den Schmetterling und den Zettel mit den Stearinsiegeln mit.

Wir setzten uns in dem kleinen behaglichen Zimmer an den Tisch, nachdem Harst noch die Stabjalousien und die Vorhänge geschlossen hatte.

„Na, mein Alter, was hältst Du von der Geschichte?“ meinte Harald.

Er suchte aus den auf dem Tische liegenden Zeitungen ein Blatt heraus und deutete auf einen Artikel. – Er erwartete offenbar von mir keine Antwort. So schwieg ich denn.

„Ich will Dir diesen Artikel über das Ende der Tamblay-Expedition nochmals vorlesen,“ sagte er. „Gib genau acht. Also:

„Am 15. Januar dieses Jahres verließ die kleine Expedition Professor Reginald Tamblays, im ganzen acht Kopf stark, die inmitten der Thar-Wüste gelegene Staat Bikaner, die zugleich Station der das Wüstengebiet durchschneidenden Eisenbahn ist. Professor Tamblay ist bekanntlich ein sehr vielseitiger Privatgelehrter. Er hatte gehört, daß an einer bestimmten Stelle der Thar Reste vorsintflutlicher Tiere gefunden seien. Er wollte dort nun Nachgrabungen veranstalten. Am 2. Februar langte der Professor, nachdem man bis dahin nichts von den Schicksalen der Expedition gehört hatte, in Bikaner zu Fuß und völlig erschöpft wieder an. Er hatte eine Stichwunde in der Schulter und einen Streifschuß am Bein. Die Expedition war durch eine Bande Wegelagerer überfallen und bis auf Tamblay niedergemetzelt worden.““

Harald legte die Zeitung weg.

„So, das wäre also der Artikel. Erverlyn hat nun ja den Verdacht ausgesprochen, dieser Tamblay könnte derselbe sein, der damals bei Long war und sich nach dieser chinesischen Malerei erkundigte.“

Er hob das Stück Seide hoch.

„Zunächst, mein Alter: es ist keine chinesische Malerei. Nein, es ist Malerei, die fraglos ein Europäer angefertigt hat. Dieser Zettel wieder ist nicht von derselben Person geschrieben, die die drei Briefe herstellte. Die drei Briefe rühren aber von derselben Person her. Es sind also mindestens zwei Leute beteiligt.“

„Na – Klub der XII! Das läßt auf noch mehr Genossen schließen.“

„So?! Klub der XII?! – Darüber denke ich anders. Wenn Du einen Klub gründen würdest mit nur zwölf Mitgliedern, würdest Du dann ausgerechnet ihn „Klub der XII“ nennen? – Nein, richtig wäre dann: „Klub der zwölf“ – nämlich zu ergänzen: „der zwölf Mitglieder“. Diese römische XII besagt hier ganz etwas anderes, glaube ich.“

„Was denn?“

„Da fragst zu viel, lieber Alter. – Wir wollen jetzt etwas anderes unternehmen. Bitte öffne mal schleunigst unseren Requisitenkoffer. Wir werden uns schnell in zwei indische Kulis verwandeln. Braun genug sind wir ja durch die Sonne geworden. Es genügen also zwei schöne schwarze Bärte –“

In zehn Minuten waren wir fertig. Was Harald vorhatte, wußte ich noch immer nicht. Wir schlichen dann zum Hause hinaus in den großen Garten, kletterten über eine Mauer, gelangten so auf den Hof der Firma Jefferson, trafen den Hofwächter, sagten ihm Bescheid und wurden von dem Inder auf die Straße gelassen.

Wir schlenderten um den Häuserblock herum und bogen die enge Seitenstraße ein, in der Greapers Grundstück lag.

Gegenüber dem Vorgarten des Inspektors befand sich ein ähnliches Wohngrundstück, auch mit Bungalows und hohem Eisenzaun.

Mit einem Male blieb Harst stehen. Wir waren an dem Gitter dieses Vorgartens schon vorüber.

„Hast Du ihn bemerkt?“ flüsterte er. „Er lag im Gebüsch, der Greaperschen Gartenpforte genau gegenüber. – Hm – wir wollen doch lieber weitergehen. Der Mensch wird ja sehr bald merken, daß Long bei Greaper logiert. Dann wird er seinen Beobachtungsposten aufgeben –“

Wir schlenderten noch hundert Schritt auf derselben Straßenseite entlang. – Harald machte abermals halt.

„So, hier werden wir über diesen Holzzaun klettern und uns durch die Vorgärten recht nahe an den Kerl heranmachen.“

Haralds Plan gelang. Gegen ¾2 Uhr morgens schlich der im Gebüsch versteckte Spion davon. Aber – nun kam die Überraschung für uns! Er hatte es nicht weit bis zu seiner Wohnung – nur etwa 25 Schritt! Denn – er verschwand in der Haustür des weißgestrichenen, langgestreckten Gebäudes, das Greapers Gegenüber war. Er verließ den Garten also überhaupt nicht. Er konnte es kaum bequemer haben!

„Der Kerl hat sich dort eingemietet,“ flüsterte Harald. „Es war ein hagerer, graubärtiger Europäer. Die Sache wird spannend.“

Wir krochen nun auf allen Vieren um das Haus herum. Es war ein Bungalow mit umlaufender Veranda, wie hier die villenartigen Eigenheime der Europäer meist gebaut sind.

Harst hoffte, daß irgendwo noch ein Fenster erleuchtet sein würde. Aber dies war nicht der Fall. – Wir machten also kehrt und gelangten auf demselben Wege wieder in Greapers Garten.

Als wir die hintere Veranda betraten, kam uns schon der Diener Dschama entgegengeeilt.

„Sahib Harst, ein Unglück!“ rief er. „Sahib Long ist verschwunden –“

Dann tauchte auch schon Greaper auf.

„Eine ganz verwünschte Geschichte, Harst!“ berichtete er hastig. „Als Sie beide gar nicht wiederkehrten, ging ich in Ihr Zimmer. Ich fand Sie nicht, dann sah ich aber Ihre Anzüge liegen und reimte mir zusammen, daß Sie im Kostüm ausgeflogen seien. Als ich in die Bibliothek zurückkehrte, saß dort nur noch Erverlyn und – schlief in seinem Sessel. Long war, wie der Lord nachher erklärte, auf die Veranda gegangen. Aber – jetzt ist er futsch, gänzlich futsch. Wir haben schon den Garten mit Laternen durchsucht, aber –“

„Halt – waren Sie im Vordergarten, Greaper?“ fragte Harald.

„Nein. Dort waren wir allerdings nicht –“

„So, dann wollen wir da mal nachsehen. Aber – bitte nur Schraut und ich –“ –

Wir hielten uns stets im Schatten der Büsche. Vor dem Hause war ein runder Rasenplatz. Der Hauptweg von der Straßenpforte her war mit weißem Muschelkies bestreut. Im Schatten eines weit über den Weg hängenden Strauches lag eine dunklere Masse.

Harald hatte meinen Arm gepackt.

„Zu spät, mein Alter!“ flüsterte er gepreßt. „Dort liegt Long. – Jetzt hat es keinen Zweck mehr –“ Er führte den Satz nicht zu Ende. „Komm’, wir wollen uns erst umziehen.“

Wir schritten genau so vorsichtig durch die Bretterzaunpforte zurück. Erverlyn und Greaper standen auf der Treppe der Veranda.

„Warten Sie, wir sind sofort wieder da,“ sagte Harst nur. – In wilder Hast fuhren wir dann in unsere Anzüge.

„Die drüben sollen nicht wissen, daß wir uns in Inder verwandelt hatten, obwohl es –“

Auch jetzt ließ Harald wieder den Rest des Satzes weg. –

Dann wurde zum Schein im Vorgarten nach Long gesucht. Wir riefen auch laut seinen Namen.

Nun standen wir vor dem regungslosen Körper.

Harsts und meine Taschenlampe blitzten gleichzeitig auf. Harald kniete neben Long nieder. Er beleuchtete die Augen. Sie waren glanzlos und weit aufgerissen. Das Gesicht war verzerrt. Es hatte einen Eindruck wildester Angst.

„Tot,“ sagte Harst leise.

Er besichtigte dann den übrigen Körper, betastete die Kleider und wälzte die Leiche auf den Rücken. Long hatte halb zusammengekrümmt auf der rechten Seite gelegen.

Dann hatte Harst die einzige Wunde, eine kleine blutige Stelle unter dem linken Ohr, gefunden. Es war nur ein winziges Loch. Es konnte von einem Schrotkorn herrühren.

Greaper und Erverlyn trugen den Toten ins Haus. Wir hatten unsere Lampe wieder ausgeschaltet und standen im Dunkeln auf dem Gartenwege.

„Besinnst Du Dich, – es kam ein Auto vorüber, als wir drüben auf der Lauer lagen,“ flüsterte Harald.

„Aus dem Auto ist auf Long geschossen worden?“ fragte ich. Die Frage lag so sehr nahe.

„Nein. Aber das Geräusch des vorüberratternden Kraftwagens verschlang das andere Geräusch.“

„Das eines Schusses?! – Hm – das will mir nicht so recht scheinen.“

„Und doch ist es so. – Sobald es hell geworden ist, werden wir das Geschoß suchen.“

„Ah – keine Kugel, sondern –?!“

„Sondern der Pfeil einer Luftbüchse, – einer jener Pfeile mit Stahlspitze und einem Wollbüschelchen hinten. Das Wollbüschelchen dieses Todespfeiles war rot. Der Pfeil flog dicht über den Rand des weißen Kragens Longs hinweg, wurde dadurch höher gelenkt. Am Kragenrande blieben zwei Wollfäserchen hängen. Und am linken Daumennagel war ebenfalls etwas von diesen Fäserchen zu sehen. Er hat den Pfeil eben sofort herausgerissen und ihn im ersten Schreck weggeworfen. Den Schuß erhielt er nicht hier, sondern näher nach dem Gitter hin. – Gehen wir jetzt ins Haus. Bevor es nicht hell geworden ist, können wir hier doch nichts ausrichten.“

Der Tote war auf die Veranda gelegt worden. Die elektrischen Lampen brannten. Das ganze Haus war in Aufregung.

Greaper hatte nach dem Polizeiarzt telephoniert. Bis dieser eintraf, setzten wir uns wieder in die Bibliothek.

Es war ein seltsames Gefühl, sich vorstellen zu müssen, daß Thomas Long nun tot war. Er hatte ein so sympathisches, frisches Gesicht gehabt, war ein so angenehmer Gesellschafter gewesen. Armer Long!

 

3. Kapitel.

Der Diebstahl.

Harald sprang plötzlich auf.

„Einen Moment. Ich bin sofort wieder da –“

Er eilte hinaus.

„Was hat er nur?!“ meinte Greaper.

Wir schwiegen und warteten. Dann kehrte Harst zurück, setzte sich.

„Ich bin sehr unvorsichtig gewesen,“ sagte er, und auf seiner Stirn lagen die drei Falten ganz tief. „Der Schmetterling, die Briefe und die Zettelstücke sind, obwohl wir uns im Hause eines Detektivinspektors befinden, aus meinem Kleiderkoffer – gestohlen worden –“

Greaper fuhr hoch.

„Unmöglich, Harst! Das wäre ja eine so unglaubliche Frechheit, daß –“

„Bitte – gehen Sie sich nur die aufgesprengten Schlösser ansehen. Alle drei Koffer hat der Dieb aufgebrochen –“

Dann kam der Polizeiarzt. Vor der Leiche erklärte Harst nun auch den anderen drei Herren, daß hier als Mordwaffe nur eine Luftbüchse in Frage käme.

„Die Spitze des Pfeiles war natürlich vergiftet,“ fügte er hinzu. „Mit irgend einem Teufelszeug von Nervengift, das fast blitzartig wirkt, wenn es in die Blutbahn gelangt.“

Der Arzt bestätigte diese Annahme.

„Die Wundränder sind bereits schwarz,“ sagte er. „Und die Genickmuskeln sind wie im Krampf noch immer gespannt. Es kann der Saft der Kassia-Liane gewesen sein. Die Pflanze ist sehr selten und wächst nur auf Boden, der besonders gedüngt ist. Dieser Saft trocknet schnell zu einer hellgelben, zähklebrigen Masse ein.“ –

Der neue Tag begann. Der Himmel wurde lichter und lichter.

Der Arzt verabschiedete sich. Greapers Diener mußten den Pfeil im Vorgarten suchen. Wir vier saßen wieder in der Bibliothek. Die Leiche sollte sofort abgeholt werden.

„Schrecklich!“ sagte Erverlyn. „Der arme Long. – Was werden Sie nun unternehmen, um den Mörder zu finden?“ – Die Frage war an Harst gerichtet.

Harald antwortete nicht. Er lag tief in seinem Klubsessel und blies gedankenvoll Rauchringe.

„Wer wohnt in dem weißen Bungalow Ihnen gegenüber?“ fragte er ganz unvermittelt.

„Drüben? – Eine Witwe mit zwei Töchtern, Mistreß Robinson; ihr Mann war Hauptmann in der Kolonialarmee. Sie vermietet an Fremde. Es sind hochachtbare Damen. Sie haben sozusagen feste Kundschaft. – Weshalb erkundigen Sie sich nach den Robinsons?“

„Weil der Schuß aus dem Vorgarten der Robinsons abgefeuert wurde.“

„Woher wissen Sie das?“

„Wir haben den Mörder gesehen, Greaper.“

„Wirklich?! – Ah – als Sie beide die lange Zeit als Inder sich draußen herumgetrieben haben –“

„Ja. Ich wollte feststellen, ob Ihr Haus nicht Longs wegen beobachtet würde. Es war so. Es lag da bei den Robinsons ein Mann dicht am Gitter in den Büschen. Der Mann ging nachher ins Haus. Entweder trug er das Luftgewehr bei sich oder er hat es in den Büschen vorläufig liegen lassen. Wir hörten das schwache Klacken des Schusses nicht, weil gerade ein Auto die Straße entlangkam. Und dieses Auto spielt bei dem Morde noch eine andere Rolle.“

Er schwieg und blickte mich an.

„Du sahst es ja auch, Schraut. Was fiel Dir an dem Auto auf?“

Ich sann nach.

„Nichts,“ meinte ich kleinlaut.

„Erverlyn,“ sagte Harald nun zu seinem Verehrer, „Sie wollen ja von mir lernen. Sie sind ganz erpicht darauf, selbst ein wenig Detektiv zu werden. – Würden Sie nachts mit einem Luftgewehr auf etwa dreißig Meter einen Menschen gerade da treffen können, wo ein Pfeil glatt in die Haut eindringen kann, eben am Kopfe oder am Halse?“

„Nein,“ antwortete Erverlyn zögernd. „Das Ziel müßte denn gerade sehr –“

„– ja, sehr hell beleuchtet gewesen sein,“ führte Harst den Satz zu Ende. „Und – das war es auch. Der eine Scheinwerfer des Autos, der linke, war etwas nach links gedreht. Das Auto fuhr langsam. So wurde denn Ihr Vorgarten, Greaper, taghell mit einem Male. – Ich sah dies, als wir dem Manne auflauerten. Aber den Zweck erkannte ich erst später – als wir Long fanden. Long selbst bemerkte ich nicht. Er muß neben einer der Palmen gestanden haben –“

Harst hatte jetzt den Kopf tief auf die Brust gesenkt und die Augen fast ganz geschlossen. – Wir nahmen auf ihn Rücksicht und schwiegen. Er war ja fraglos in Gedanken hinter dem Mörder her.

Dann sagte er, ohne sich irgendwie zu regen:

„Erverlyn, denken Sie scharf nach. Hörten Sie irgend etwas, bevor Long aufstand und hinausging. – Er muß doch einen Grund gehabt haben, das Haus zu verlassen. Weshalb ist er zum Beispiel in den Vorgarten gegangen? Was wollte er dort? Denken Sie nach, Erverlyn! Hier ist jede Kleinigkeit wichtig!“

„Hm, lieber Harst, – ich war so etwas eingenickt, als Greaper nach Ihnen sehen ging,“ sagte der Lord. „Nicht ganz eingenickt. Ich fühlte mich recht matt. Es war so eine Art Halbschlaf. Long saß hier neben mir. Mit einem Male legte er hastig seine Zigarre auf den Aschbecher. Diese schnelle Bewegung machte mich munter. Ich sah, daß Tom aufrecht dastand und nach dem Fenster blickte. Dann flüsterte er so halb, als ob er mich aus meiner Schläfrigkeit nicht aufrütteln wollte: „Ich will mal etwas an die frische Luft, Erverlyn.“ – Und dann war er schon hinaus. – Mehr weiß ich nicht. Gehört habe ich nichts, – ich meine kein Geräusch von draußen, von der Veranda her –“

Er richtete sich plötzlich kerzengerade auf.

„Verdammt – ich habe doch etwas gehört!“ rief er. „Ja, jetzt fällt’s mir ein. Sie kennen doch das häßliche Husten des Tamalla-Laubfrosches, Harst, das so klingt, als ob ein Mensch Pfeffer in die Kehle gekriegt hat und nun vor Krächzen fast erstickt. Dieses Husten hörte ich. – Und – ja, vielleicht horchte Long auch danach hin. Er hatte ja den Kopf nach dem Fenster gedreht. Seine Körperhaltung verriet eine gewisse gespannte Aufmerksamkeit.“

Harald hatte jetzt die Augen weit geöffnet.

„Erverlyn, dann hat Long uns nicht alles über diese Briefe, den Schmetterling und den Professor Reginald Tamblay erzählt,“ erklärte er sehr bestimmt. „Dann hat er uns vielleicht einen ihm gleichgültig dünkenden Nebenumstand verschwiegen. Es muß so sein. – Greaper, haben Sie Tamalla-Frösche in Ihrem Garten?“

„Noch besser! Nicht einen. Ich ließe jeden sofort totschlagen.“

„Na also!“ meinte Harald. „Der Tamalla war hier ein Mensch. Und Long hat dieses Zeichen gekannt. Er wußte, daß draußen im Garten jemand ihn erwartete. Die Sache klärt sich. – Dieser falsche „Tamblay“ hat Long dann nach vorn gelockt, in den Vorgarten. – vor das Luftgewehr des Mörders.“

„Unglaublich!“ murmelte Erverlyn.

„Ich gehe jetzt in den Vorgarten,“ meinte Harald. „Bleiben Sie nur hier. Ich will mir die Örtlichkeit so etwas anschaun –“

In demselben Moment brachte einer der Diener den Stahlpfeil mit dem roten Wollbüschelchen.

Harst sagte nur: „Leg’ ihn auf den Tisch –“

Dann ging er hinaus, kehrte jedoch bald wieder zurück.

„Im Vorgarten ist nichts zu finden,“ meinte er. „Die Stelle, wo Long gestanden haben muß, habe ich freilich entdeckt, – neben der dritten Palme links von der Gitterpforte. Bis drüben‚ wo der graubärtige Europäer in den Sträuchern lag, sind es etwa 20 Meter nur. Ein gutes Luftgewehr trägt weiter. Allerdings muß der Mörder ein sicherer Schütze gewesen sein und sich auf die Waffe eingeschossen gehabt haben. Ich bin neugierig, was wir drüben bei den Robinsons an Logiergästen finden werden. Den Mörder jedenfalls nicht.“

„Na nu?!“ rief Greaper.

Harald blickte ihn wie verwundert an.

„Halten Sie diese Leute, die diesen Mord ausführten, für dumm, Greaper?“ fragte er.

„Nein, das nicht. Im Gegenteil. Einen Mord bei Scheinwerferbeleuchtung auszutüfteln und auch zu vollbringen, ist in seiner Art ein Geniestreich.“

„Na also!“ nickte Harst. „Dann wird auch der Mörder nicht so dumm sein, sich von mir so ohne weiteres greifen zu lassen. Er rechnete doch damit, daß ich diesen Mord untersuchen würde. Und daß ich da auch das Haus der Robinsons aufs Korn nehmen würde, sagte er sich ebenfalls. – Lieber Greaper, ich fürchte, wir werden hier eine harte Nuß zu knacken kriegen. Denn wie frech diese Leute sind, beweist ja auch der Diebstahl in unserem Zimmer.“

„Wann werden wir zu den Robinsons hinübergehen?“ fragte Greaper ein wenig verstimmt. Er hatte sich die Festnahme des Täters doch zu leicht vorgestellt.

„So gegen 7 Uhr morgens. Hier in Bombay steht man ja früh auf.“

Erverlyn sagte jetzt grüblerisch:

„Mir ist immer so, als ob Toms Vater, der alte Herr Long, mal in meiner Gegenwart irgend eine Bemerkung über die Ziffer XII machte. Ich weiß nur nicht, wie diese Bemerkung war und bei welcher Gelegenheit sie fiel. Jedenfalls wurde ich damals so etwas stutzig.“

Harald beugte sich in seinem Sessel vor.

„Was war der alte Long für ein Mann?“

„Ein famoser alter Herr, Harst! Na – alt kann man ja eigentlich nicht sagen. Er war noch sehr rüstig, sah wie ein Vierziger aus.“

„Woran starb er denn?“ wollte Harst wissen.

„Hm – woran?! Ich denke an Schlaganfall oder Herzschlag. Man fand ihn morgens im Park seines Hauses dicht an der Hinterpforte. Er muß damals sehr früh aufgestanden und dorthin gegangen sein.“

Harald gähnte zwanglos. „Es ist ½4 Uhr morgens. Wir wollen uns noch etwas niederlegen. Um ¾7 bin ich zu Ihrer Verfügung, Greaper.“ Er stand auf. „Gute Nacht!“

Ich folgte ihm. Es war jetzt ganz hell draußen. Harald riegelte die Tür ab und deutete ins Schlafzimmer hinein auf unsere Koffer.

„Ich habe die Schloßklappen nur etwas verbogen, damit die Sache leichter zu reparieren ist,“ flüsterte er und zwinkerte mir zu.

„Wie?! Du –“

„Ja – ich war selbst der Dieb, mein Alter. Die Geschichte muß mit in die Morgenzeitungen. Vorhin, als ich im Vorgarten war, schnüffelte draußen schon Freund Tompkinson vom Bombay Rekorder herum. Der kam mir gerade recht. Ich habe ihm so einiges erzählt.“

Stuart Tompkinson, der Reporterkönig, war eines jener Originale, wie man sie gerade in dieser Berufsklasse häufiger findet.

„Und weshalb schwindeltest Du Greaper und Erverlyn das vor?“ fragte ich noch immer ganz sprachlos vor Staunen.

„Weil ich den Klub der Zwölf auf diese Weise zu entdecken hoffe, – das heißt, seine Ziele, Mitglieder, früheren Taten – und so weiter. Wenn ich Greaper und Erverlyn nicht belogen hätte, würden sie vielleicht nicht genug über den frechen Diebstahl anderen gegenüber geschimpft haben. Und – sie sollen schimpfen und darüber reden. Dann wirkt das Ganze natürlicher. – So, nun lege ich mich in Kleidern aufs Bett. Tu’ dasselbe, mein Alter. Schlafe Vorrat! Vielleicht wirst Du sehr bald ein Bett entbehren müssen. – Gute Nacht.“ –

Um 7 Uhr gingen wir vier – Greaper, Erverlyn und wir beide – zu Mistreß Robinson hinüber.

Die alte, hagere Dame mußte uns ihre Mieter aufzählen nebst der Dauer des bisherigen Aufenthalts.

1. Ehepaar Wormbler aus Allahabad. 8 Tage. Der Mann war Kaufmann und hielt sich hier in Bombay häufiger geschäftehalber auf.

2. Doktor Albert Doving, Arzt aus Patna. 2 Tage. Nahm hier an einem Kursus für Bezirksärzte über Seuchenbekämpfung teil.

3. Howard Branting, Oberingenieur nebst Tochter, aus Alwar. 2 Tage. Die Tochter sollte hier einen berühmten Augenarzt konsultieren.

4. Chester Davidson aus Meerut. Künstler; trat im Olympia-Theater als Humorist und Tierstimmenimitator auf. 4 Tage.

5. Ehepaar Smith aus Kolombo. Kaufmann. 12 Tage.

6. Miß Helen Orvid, Lehrerin. 6 Monate.

7. Miß Grace Pance, Lehrerin. 8 Monate.

Harst beschrieb Mistreß Robinson nun den Graubärtigen.

„Bedauere,“ meinte die Dame, „von den bei mir jetzt wohnenden Herren hat nicht einer einen Vollbart.“

„Der Herr war lang und dünn,“ sagte Harst wieder.

„Oh – Doktor Doving ist sehr groß, und Master Smith ebenfalls. Auch Master Branting und Master Wormbler sind nicht gerade klein.“

„Mistreß Robinson,“ meinte Harald, „ich will Ihnen nun auch den Zweck meines Besuches mitteilen. Es ist in der vergangenen Nacht ein Herr mit einem Luftgewehr erschossen worden – drüben in Greapers Vorgarten, und es ist nicht ausgeschlossen, daß der Mörder von Ihrem Vorgarten aus den Schuß abgegeben hat.“

Frau Robinson hatte sich etwas verfärbt.

„Mein Gott – mit einem Luftgewehr? – Ach, da will ich nur gleich sagen, daß wir eins zum Zeitvertreib für die Gäste besitzen. Es steht in der Vorhalle.“

„So so,“ nickte Harst. „Schießen die Gäste öfters nach der Scheibe damit?“

„Ja. Gestern abend wurde noch so eine Art Preisschießen veranstaltet.“

„Wer regte das an?“

„Das weiß ich nicht.“

„Die Luftbüchse schießt gut?“

„Sehr gut.“

Frau Robinson mußte die Büchse holen. Es war eine Waffe mit ziemlich kurzem Lauf, aber doppelter Druckspannung.

Harald blickte Greaper an.

„Wollen Sie noch die einzelnen Herrschaften vernehmen?“ fragte er. „Ich verspreche mir nichts davon.“

Wir hatten[2] vereinbart, daß auf keinen Fall verraten werden sollte, daß wir den Mörder beobachtet und hier ins Haus hatten gehen sehen.

„Dann lassen wir’s,“ sagte Greaper. Er verstand den Wink Harsts, daß wir hier das Feld räumen sollten.

„Diese Luftbüchse kann die Mordwaffe nicht sein,“ erklärte Harald noch beiläufig. „Sie hat einen zu kurzen Lauf, und gibt einen zu unsicheren Schuß. – Entschuldigen Sie, Mistreß Robinson, daß wir Sie belästigt haben –“

Wir kehrten in Greapers Haus zurück. Auf der Veranda sagte Harst leise: „Es war doch die Luftbüchse der Robinsons. Aber – wer war der Mörder?!“

Wir setzten uns an den Frühstückstisch, Greaper war schlechter Laune.

„Wenn’s nach mir gegangen wäre,“ meinte er, „hätte ich doch die ganzen Logiergäste einzeln vernommen.“

„Tun Sie es doch noch jetzt, Greaper. Ich halte diesen Fall hier für hoffnungslos und reise ab –“

Greaper sprang auf: „Wie – Sie wollen –“

„Ja – abreisen! Ich will erst mit Erverlyn ein paar Tiger schießen und mich etwas erholen. Dann komme ich wieder, Greaper. Das verspreche ich Ihnen. Und dann suche ich den Mörder, den Klub der Zwölf und – noch jemand!“ –

Dabei blieb es. Abends um 10 Uhr entführte uns der Zug nach Norden, nach der Stadt Bahawalpur, in deren Nähe Erverlyn häufiger Tiger gejagt hatte.

 

4. Kapitel.

In der Thar-Wüste.

Das diese „Tigerjagd“ eine Menschenjagd werden würde, war mir klar, obwohl Harald es abstritt, als ich es ihm unter vier Augen sagte.

Ich hatte ja leider nicht Zeit gehabt, ihn lange allein zu sprechen. Als wir unsere Koffer packten, wich er mir aus, erzählte von allem möglichen, nur das Thema „Klub der Zwölf“ berührte er nicht. Und in der Bahn waren wir stets mit Erverlyn zusammen, der sich geradezu kindlich freute, daß er uns in seine berühmten Jagdgründe führen dürfe.

Wir langten morgens in Bahawalpur an. Der Leser findet es auf jeder besseren Karte Indiens rechts vom Indus genau südlich der weit größeren Stadt Multan.

Bahawalpur ist Eisenbahnknotenpunkt. Von hier zweigt eine Linie nach Südosten ab, die die unfruchtbaren Einöden des nördlichen Radschputana durchschneidet. Dieser Bezirk des indischen Kaiserreichs besteht aus 21 Fürstentümern unter einheimischen Herrschern. Die Bewohner, in der Hauptsache Radschputen, eine besonders stolze, würdevolle Hindukaste, treiben zumeist Ackerbau und Viehzucht. Radschputana liefert ganz vorzügliche Reitkamele und Pferde. Die Kamelmärkte in Tilwara im südlicheren Bergstaat Dschodhpur sind berühmt.

Aber – Radschputana schließt auch die ungeheuren Sand- und Felseinöden der Wüste Thar in sich ein, die nach Südwesten bis in die Provinz Bombay hineinreicht. – Ich muß dies alles erwähnen, weil es eben für den weiteren Verlauf des XII-Problems wichtig ist.

Wir hatten uns noch in Bombay jeder eine Remington-Büchse neuesten Systems mit 12 Schuß im Patronenlager gekauft. Alles weitere schafften wir in Bahawalpur an. Hier kam es nun zwischen Harst und Erverlyn zu einer kleinen erregten Auseinandersetzung wegen der Reittiere. Erverlyn wollte Pferde kaufen, Harald Reit- und Lastkamele. Harst setzte seinen Willen durch. Der Lord war verstimmt. Er hielt Harald jetzt fraglos für einen schlimmen Dickkopf.

Zwei Tage später brachen wir morgens mit vier Lastkamelen und vier ebenfalls berittenen Dienern auf. Unsere Reitkamele waren besser als die, mit denen wir einst die Halbinsel Sinai durchstreift hatten. Wir nahmen Proviant für 12 Tage mit. Unsere Koffer gaben wir einem Bekannten des Lords in Verwahrung. Wir drei Europäer trugen Korkhelme und dazu graue Touristenanzüge mit Kniehosen und Wickelgamaschen.

Es ging zunächst scharf nach Osten. Hier begannen sehr bald weite Dschungeln. Mittags erreichten wir ein Dorf. Es hieß Kolodari. Harst klärte jetzt Erverlyn und mich darüber auf, daß er ganz etwas anderes vorhabe als Tigerjagden. Der Lord war einfach sprachlos. – Die Diener ließen wir hier unter einem Vorwand zurück. Sie wurden für fünf Tage bezahlt. Falls wir bis dahin nicht zurück sein sollten, durften sie nach Bahawalpur heimkehren und die Kamele dort unterstellen. Wir nahmen nur zwei Lastkamele mit. Zum Schein ritten wir dann nach Nordost, bogen aber bereits nach einer Stunde nach Süden ab und später nach Südwest.

Wir beeilten uns sehr. Harst hielt die Spitze, und der Trab eines guten Reitkamels ist wie der Galopp eines mäßigen Pferdes. Abends hatten wir bereits den Rand der Thar-Wüste erreicht. In einem Dorfe kauften wir Wasserschläuche. Das Wasser in ganz Radschputana ist schlecht. Die Cholera wütet hier daher häufiger als anderswo in Indien. Wir haben dieses Wasser nur abgekocht und mit einem geringen Zusatz von Weinstein genossen. – Um acht Uhr lagerten wir einige Meilen südwestlich dieses Dorfes. Wir wachten abwechselnd. Die Thar ist berüchtigt als Sammelplatz aller derer, die für einige Zeit aus Indien verschwinden müssen.

Um elf ging der Mond auf. Es wurde nun fast taghell. Wir brachen auf. Harald musterte wiederholt vom Kamelsattel herab die Umgegend mit seinem Glase. Ich gewann den Eindruck, daß er mit Verfolgern rechnete.

Erverlyn und mir hatte er über diese Tour in die Wüste lediglich gesagt: „Ich hoffe dort weiter nach Süden zu die zu finden, die Thomas Long ermordeten.“

Er als Führer orientierte sich nur nach dem Kompaß. In scharfem Trab ging es die ganze Nacht weiter, oft durch Täler hindurch, in denen große Rinder- und Schafherden weideten, von bewaffneten Radschputen bewacht. Die Nacht war kalt. Es waren höchstens drei bis vier Grad Wärme. Nachtfröste sind in der Thar nichts Seltenes.

Gegen Morgen tauchte ein hoher, felsiger Kamm vor uns auf, der wie eine einzige erstarrte Welle sich nach Westen hinzog. In einem Seitentale dieses Felsenrückens lagerten wir zum zweiten Male.

Der Ritt hatte uns alle angestrengt. Ein Reitkamel hat oft Mucken. Und unsere drei Stuten hatten sogar sehr viel Mucken. Es gefiel ihnen, hin und wieder einen Galoppsprung zu tun, und deshalb mußte man stets auf der Hut sein. Unsere Sinai-Tiere (vergl. „Eine Löwenjagd im Sinai“) waren in dieser Hinsicht angenehmer gewesen.

Harst übernahm, nachdem wir unsere Konservenmahlzeit gehalten hatten, die erste Wache. Erverlyn und ich schliefen sofort ein. Wir erwachten erst um 10 Uhr vormittags, als Harald uns weckte. Er tat dies, indem er uns anrief. Und er brüllte so, daß wir ganz entsetzt hochfuhren.

„Der Tee ist fertig,“ meinte er. Er saß an einem kleinen Distelfeuer, das scheußlich qualmte. Über dem Feuer hing der eine Aluminiumkessel an dem Aluminiumdreibein.

„Weshalb haben Sie uns nicht geweckt?“ meinte Erverlyn. „Sie müssen doch zum Umsinken müde sein, Harst.“

„Wir haben ja keine Weckuhr mit, lieber Erverlyn.“

„Weckuhr?! – Ah – Sie waren ebenfalls eingeschlafen?“

„Keine Rede. Ich hätte Sie beide nur wecken können, wenn ich eine Weckuhr hier gelassen hätte.“

„Verdammt, Sie müssen doch immer auf Umwegen mit allem herausrücken,“ brummte der Lord und füllte sich den Becher mit Tee. „Sie waren also auf und davon, Harst –“

„Ja. Ich habe nach unseren Begleitern ausgeschaut. Der Klub ist jedoch zu schlau. Die Herrschaften waren nicht zu finden. Daran trug der Mond die Schuld, der sich unfreundlicherweise hinter Wolken versteckte. Spuren waren nicht zu erkennen. Nur dies habe ich gefunden.“

Er zog ein Taschentüchlein hervor, so ein winziges Ding mit Spitzenrand. Es war ein Monogramm darin:

E. B.

Harst zeigte es uns. „Das Monogramm genügt mir,“ meinte er.

Dann reichte er das Tüchlein Erverlyn.

„Riechen Sie mal, Douglas –“

Erverlyn beschnupperte es.

„Parfüm,“ sagte er und zog die Stirn nachdenklich kraus. „Ein nicht häufiges Parfüm. Aber – ich kenne es doch. Verdammt – wo roch ich es nur zum letzten Male? Wo nur?“

„Vielleicht in Bangalore?“

„Hm – Bangalore?!“ Der Lord überlegte. „Ja!“ rief er dann. „Nun weiß ich’s! Es war in Bangalore. Tom (also Thomas Long) hatte ein Taschentuch bei sich, als er mich das erste Mal im Krankenhause besuchte. Und das Tuch roch nach demselben Parfüm.“

„So so. Es stimmt also. – Wann war Long zum ersten Male bei Ihnen? Ich meine, wann traf er in Bangalore ein?“

„Am zweiten Abend nach meiner Überführung in das Krankenhaus.“

„Dann können die Leute am Morgen voraus nach Bombay gereist sein und bereits bei der Robinson tagelang gewohnt haben. Auch das stimmt also.“

„Welche Leute?“ fragte Erverlyn rasch.

„Die Klubleute, Lieber Douglas. – Aber nun etwas anderes. Wissen Sie, ob Long in zarten Banden schmachtete, wie es so poetisch heißt, wenn einer sich von einem Weibe an der Nase herumführen läßt.“

„Hm – ich glaube ja. Long war in dieser Beziehung recht verschwiegen. Aber so vor zwei Monaten deutete er mal in Dehli an, daß er sich gern verloben und verheiraten würde. Der Vater seiner Auserwählten sei jedoch gegen ihn irgendwie voreingenommen.“

„Der arme Long! Wie hat er sich nur „einwickeln“ lassen!“ sagte Harald und öffnete eine Fleischkonservenbüchse.

Erverlyn wurde jetzt ungemütlich.

„Harst, es ist infam, uns so mit Andeutungen abzuspeisen!“ rief er. „Ich will jetzt wissen, was eigentlich los ist. Es sind also dieselben Leute hinter uns her, die Tom umbrachten. Wer ist das?“

„Bedauere. Die Personenzahl weiß ich nicht. Aber der Professor Reginald Tamblay dürfte sich unter ihnen befinden.“

„Ah – es lichtet sich etwas,“ nickte Erverlyn. „Tamblay hat eine Tochter –“

„Halt,“ lachte Harst. „Schon der Anfang ist falsch. Das Monogramm lautet E. B. und nicht E. T. Der Professor könnte also nur eine Stieftochter –“

Hier wurde Harald durch eine andere Stimme unterbrochen. Wir lagerten dicht an einer etwa sechs Meter hohen Felswand. Uns gegenüber gab es ebenfalls eine solche Felswand, auf der Disteln in Menge wucherten. Das Tal war nur zehn Meter breit.

Und hinter diesen Disteln hervor erklang die andere Stimme, hell und scharf:

„Rührt Euch nicht! Wir drücken sofort ab –“

„Verdammt!“ knurrte Erverlyn. „Vier Büchsenläufe. Etwas viel!“

„Steht auf!“ kommandierte der Unsichtbare weiter. Man sah hinter den Disteln nur ungefähr die Umrisse von vier Gestalten, die dort lang ausgestreckt lagen.

Harst gehorchte. Aber er beeilte sich nicht.

„Schneller!“

Krach – klatschte schon eine Kugel hinter uns gegen die Felswand.

„Halunken!“ brummte Erverlyn. „Wir sind nette Wüstenläufer! Wie die Idioten haben wir uns überrumpeln lassen.“

„Hebt die Arme hoch!“ lautete der neue Befehl.

Wir taten es.

Dann warf jemand – also ein fünfter Kerl – von der Felswand hinter uns Schlingen über unsere Arme, zog sie mit einem Ruck zu und zerrte uns mit dem Rücken gegen den Felsen, wo wir nun mit den hochgereckten Armen beinahe auf Zehenspitzen stehen mußten, da der Bursche die Stricke ganz straff gespannt und oben irgendwo befestigt hatte.

Wir waren nun völlig wehrlos.

Da – Harsts geflüsterte Worte zeigten uns die Lage plötzlich in tröstlicherem Lichte:

„Keine Sorge. Ich hatte damit gerechnet –“

„Wenn’s so ist!“ flüsterte Erverlyn zurück.

„Aber bitte sich nichts merken lassen!“ gab Harst uns die Weisung.

Gleich darauf kam ein langer Kerl mit einem grauen vorgeklebten Vollbart und blauer Brille auf uns zu. Es war ein Weißer. Und ich hätte mein ganzes Vermögen darauf gewettet: es war derselbe Mensch aus dem Vorgarten der Robinsons.

Er sagte nichts, begann nur unsere Kleider zu durchsuchen. Drüben aus den Disteln ragten noch immer die vier Büchsenläufe hervor.

Er befühlte und betastete uns, ganz besonders Harst. Dann tat er dasselbe bei unserem Gepäck. Er suchte mit Ruhe und Ausdauer. Sogar die Kamelsättel nahm er vor. Jede Konservenbüchse besichtigte er.

So verging eine Stunde. Da wurde er unruhig. – Er begann die Arbeit von vorne. Noch sorgfältiger sah er unsere Sachen durch.

Schließlich konnte Erverlyn doch nicht mehr an sich halten.

„Verdammt, was wollen Sie eigentlich von uns?“ rief er dem Langen mit dem falschen Barte zu.

„Das wissen Sie ganz gut!“ erwiderte er wütend. „Wenn Sie nicht mit der Zeichnung herausrücken, werden wir Sie drei so lange nackt auf die Felsen binden, bis die Sonne Sie gesprächig gemacht hat.“

„Sie sind verrückt,“ brauste der temperamentvolle Erverlyn auf. „Wir haben keine Zeichnung.“

Der Kerl lachte. „Ihr habt sie! Das wissen wir. An den Schwindel mit dem Diebstahl haben wir nie geglaubt! Das war Mache – von Harst!“ Er blickte Harald giftig an.

Harst lächelte.

„Lieber Erverlyn, die Leute suchen bei uns den Schmetterling. Das ist nämlich nur scheinbar ein Schmetterling gewesen. In Wirklichkeit war es eine Landkarte, ein Kunstwerk von Landkarte. Der Leib des Falters war dieser lange Höhenkamm, der sich etwa zehn Meilen hinzieht. Das linke Auge des Falters aber sollte die Stadt Bikaner darstellen. Wenn man genau hinsah, bemerkte man in dem Auge ein winziges B. Das linke Fühlhorn sollte die Eisenbahnlinie Bikaner–Bahawalpur sein. Und so hatte alles an dem Schmetterling seine Bedeutung. Die Hauptsache daran war der linke Flügel: die Thar-Wüste. In diesem farbenfrohen Falterflügel stellten die Grenzlinien der verschiedenen Farben in der Mitte eine Geländeskizze dar. – Nicht wahr, Master, so ist es?“ wandte er sich an den Langen. „Wenn man Detektiv ist, Master, sieht man mehr als andere. Auf die Thar-Wüste war ich ja schon durch den Bericht von der verunglückten Expedition Professor Tamblays aufmerksam geworden. Da war die Erkenntnis der wahren Eigenschaften des Schmetterlings nicht schwer –“

 

5. Kapitel.

Die höhere Diplomatie.

Der Lange trat jetzt dicht vor Harst hin.

„Wo haben Sie die Zeichnung?“ brüllte er ihn an. „Heraus damit. Wir fackeln nicht lange!“

„Sie sollen sie haben. Aber nur dann, wenn Sie mir die volle Wahrheit sagen,“ erklärte Harst gelassen. „Zunächst fesseln Sie uns mal auf anständigere Art. Diese Stellung mit hochgereckten Armen ist auf die Dauer eine Marter. Ich habe die Zeichnung in dieser Nacht versteckt. Und Sie bekommen sie nur unter gewissen Bedingungen. Ermorden werden Sie uns nicht. Dann ist der Schmetterling für Sie auf immer verloren, und mit dem Schmetterling auch das – andere!“

Der Lange starrte vor sich hin. Dann rief die helle Stimme von oben herab:

„Tu’ ihm den Willen!“

Der Kerl band uns die Füße zusammen, dann die Hände auf dem Rücken. Harst setzte sich sofort nieder und lehnte sich an die Felswand.

„Ich habe Krampf in den Waden!“ sagte er ärgerlich. „Ein Glück, daß Sie so verständig waren und uns die weitere Marter ersparten.“

Auch Erverlyn und ich nahmen dicht neben Harald Platz. Harst saß in der Mitte zwischen uns.

Der Lange zog jetzt einen Revolver und blieb vor uns stehen. Die Büchsenläufe oben verschwanden. Die vier Leute kamen ins Tal herab. Es waren drei Europäer und eine schlanke Frau im kurzen, geteilten Reitrock aus Lodenstoff. Diese vier trugen schwarze Masken, die aus Seide geschnitten waren und bis auf die Brust reichten.

Sie setzten sich auf dieselben Steine, die wir als Stühle benutzt hatten.

Jetzt übernahm ein mittelgroßer Mann, der ebenfalls tadellos englisch sprach, die Führung der weiteren Verhandlungen. Er war bedeutend höflicher und drückte sich beinahe etwas geziert aus.

„Mr. Harst, wir müssen die Zeichnung haben. Sie ist das gemeinsame Eigentum mehrerer gewesen. Daß der alte Albert Long sie in Verwahrung hatte, ist Ihnen ja von dessen Sohne wohl mitgeteilt worden. Ich bedauere sehr, daß Thomas Long so töricht war, die Warnung, die wir in Gestalt eines Zettels sandten, nicht zu beachten. Unsere Geduld gegen alles, was den Namen Long trug, war jedoch erschöpft.“

„Albert Long haben Sie ja ebenfalls ermordet,“ sagte Harst ohne besondere Betonung. „Nach dem dritten Drohbriefe, in denen stets von dem „Beitrag“ die Rede war. Das war eben der Schmetterling, den er herausgeben sollte.“

„Bitte, diese Dinge gehen Sie nichts an, Mr. Harst,“ erklärte der Maskierte durchaus höflich bleibend. „Es handelt sich hier nur um die Frage: Wollen Sie uns die Zeichnung aushändigen oder nicht?“

Ich muß hier noch folgendes bemerken. Der Lange hatte uns die Taschen völlig ausgeleert und deren Inhalt einfach auf den Boden geworfen. Auch unsere Pistolen, ebenso Erverlyns beide Revolver lagen zwischen den Steinen.

Die vier Männer und das Weib hatten ihre Büchsen aus den Händen gelegt und tranken jetzt unseren Tee. Gewiß: ihre Waffen lagen griffbereit. Aber einem Manne wie Harst gegenüber war es doch reichlich unvorsichtig, daß auch nicht einer der fünf wenigstens einen Revolver schußfertig in den Fingern hatte.

Ich hatte nun schon vorhin mit Aufmerksamkeit beobachtet, wie Harald seine Beine an sich zog und wieder ausstreckte, als wollte er die angebliche Wadenkrämpfe durch diese Bewegung vertreiben. Er saß also nicht still. Dann stieß er mich mit dem Ellenbogen an.

Das hieß: Achtung! – Wir saßen, wie schon erwähnt, dicht nebeneinander. Jetzt spürte ich einen Stoß gegen meine auf dem Rücken gefesselten Hände. Zwischen meinen und Haralds Beinen lag ein großer Stein, der den Fünfen am Feuer drüben die Aussicht versperrte.

Ich griff zu – und hielt das Heft eines Jagdmessers in den Händen. Da erst fiel mir ein: unsere Jagdmesser nebst Scheiden hatte der Lange nicht bei uns gefunden! Selbst das Erverlyns fehlte!

Ich beugte mich etwas vor. Es gehört Fingerfertigkeit dazu, mit gefesselten Händen die Spitze eines Messers zwischen die Strickwindungen zu schieben. Es gelang mir aber. Und sechsmaliges Hin- und Herziehen des Messers trennte den Strick denn auch durch. Ich war durch diese Arbeit so in Anspruch genommen, daß ich gar nicht mehr recht verstand, was der höfliche Maskierte weiter noch gesagt hatte.

Ich hüstelte jetzt und gab Harald einen leichten Stoß mit dem Ellenbogen. Ich hatte die Hände frei. Was nun geschehen würde, wußte ich.

„Los!“ flüsterte Harst. – Wir warfen uns trotz der gefesselten Füße nach vorn. Wir konnten gerade unsere Pistolen fassen.

„Hände hoch!“ brüllte Harst.

Dann schoß er schon. Der Lange hatte nach seinem Revolver gegriffen, schrie jetzt auf und schlenkerte mit der blutenden rechten Hand hin und her.

Die anderen vier saßen wie die Ölgötzen da. Dann feuerte Harst zur Warnung dem Höflichen eine Kugel am Kopf vorbei. Da fuhren ihre Arme empor. –

Während Harald die fünf bewachte, schnitt ich unsere Fuß-Stricke entzwei und befreite Erverlyn. Der Lord und ich nahmen ihnen nun die Waffen weg. Dann banden wir ihnen die Arme. Das genügte. Es waren keine Gegner, die uns noch gefährlich werden konnten.

Sie mußten sich jetzt dort niedersetzen, wo wir gesessen hatten. Vorher hob Harald an dieser Stelle aber noch ein paar Steine dicht an der Felswand auf und – nahm unsere Jagdmesser heraus. Das, womit wir uns befreit hatten, gehörte Erverlyn. Auch die Masken hatten wir den drei Männern und dem Weibe von den Gesichtern entfernt. Das Weib war ein junges, hübsches Mädchen, an deren Antlitz nur die schmalen, dünnen Lippen und ein versteckter, tückischer Blick störten. Die Männer – auch der Lange – waren ältere Leute, so etwa zwischen vierzig und fünfzig und sämtlich bartlos. Wir kannten keinen von ihnen. Die Gesichter waren uns fremd. Nur Erverlyn schaute den „Höflichen“ prüfend an und sagte: „Sie habe ich in Dehli gesehen. Wer sind Sie?“ – Der Mann schwieg.

Harst setzte sich auf einen der Steine und begann nun Abrechnung zu halten.

„Sie sind mir in die Falle gegangen,“ sagte er, ganz behaglich eine Mirakulum rauchend. „Ich wußte, daß ich in Bombay gegen den Bund der Zwölf nichts ausgerichtet hätte. Ich wollte Sie alle zusammen festnehmen. – Sie, Miß Ellen Branting, haben sich mit Long auf Geheiß Ihres Vaters“ – er deutete auf den Höflichen – „auf einen Flirt eingelassen. Aber Sie konnten trotzdem aus Long nicht herauslocken, wo der Schmetterling verborgen war. Dann reiste er nach Bangalore zu Erverlyn. Sie folgten ihm. Als Sie erst sicher wußten, daß er mich in Bombay aufsuchen würde, fuhren Sie ihm voraus dorthin. In Bombay trafen Sie sich sämtlich. Sie wohnten bei den Robinsons. – Sie, der Lange, sind Doktor Doving. Sie da dürften Chester Davidson sein, der „Künstler“. Ihr Gesicht verrät den häufigen Gebrauch von Schminke. Wie Sie, der fünfte heißen, wird sich schon noch herausstellen. Vielleicht sind Sie Tamblay. – Miß Branting hat Long damals nachts durch das ihm bekannte „Liebessignal“ des Hustens des Tamalla-Frosches in den Garten gelockt. Ich sagte mir gleich, daß ein Weib hier die Hand mit im Spiele haben müsse. Ich sah, wie Long bei Greaper einmal heimlich ein Damentaschentuch an die Lippen führte. – Miß Branting ging mit Long in den Vorgarten. Dann wird sie irgendwie dem Auto signalisiert haben, daß es Zeit sei. Das Auto kam, und der Mörder schoß den vergifteten Pfeil ab. Long lief noch ein paar Schritt, sank tot um, und seine verbrecherische Geliebte verbarg sich im Vorgarten Greapers, da sie uns inzwischen erspäht hatte, als wir dem Mörder nachschauten. Da es sehr schwer geworden wäre, die Schuldigen an diesem Morde zu überführen, schlug ich den Weg der höheren Diplomatie ein. Ich tat, als wäre die Zeichnung gestohlen. Das stand dann auch im Bombay Rekorder. Ich kalkulierte so: wenn Du jetzt sofort Bombay verläßt, werden die „Klubleute“ sich sagen, Harst hat die Zeichnung noch immer und will nach der Skizze die Stelle in der Thar-Wüste aufsuchen, die durch ein kleines Kreuz im linken Flügel des Schmetterlings bezeichnet ist. Sie werden Dir folgen, um Dir die Zeichnung abzunehmen, und Du wirst Dich dann, plante ich sofort, von ihnen überfallen lassen, vorher aber die Jagdmesser verstecken, um wieder nach Belieben freizukommen. Die Örtlichkeit war so, daß ich mit ziemlicher Sicherheit damit rechnen konnte, ich würde dort an der Felswand als Gefangener sitzen. Wäre das nicht geschehen, so hatte ich in meinem Ärmelaufschlag noch immer mein Federmesser stecken. – Doktor Doving, Sie haben den Schuß abgegeben. Mitschuldig sind Sie alle.“

„Bitte – ich war dagegen!“ rief Davidson jetzt. „Ich bin überhaupt nur eine Nebenfigur in diesem Drama. Ich war damals vor zehn Jahren Diener bei Professor Tamblay“ – er deutete auf den Fünften –, „als die vier Herren Long, Branting, Doving und Tamblay bei einem Jagdausfluge hier in der Thar in einer Schlucht die reiche Kupferader entdeckten. Es war dies am 12. Oktober. Tamblay fertigte die Zeichnung des Schmetterlings an, die er nachher in Farben genauer ausführte. Wir schworen uns gegenseitig, das Geheimnis zu bewahren, bis Kupfer auf dem Weltmarkt im Preise gestiegen sei. Die Drohbriefe hat dann Tamblay geschrieben. Er wählte nur zur Verschleierung die Bezeichnung Klub der XII, weil die Mine doch an einem 12ten gefunden worden war. Albert Long wollte aber die Zeichnung nicht herausgeben. Da hat ihn denn Doktor Doving ermordet – durch einen Stich in die Kopfhaut mit einer vergifteten Nadel. Long spekulierte selbst mit Kupferminenaktien und hatte kein Interesse mehr an der Sache. Im übrigen stimmt alles, was Sie vorhin sagten, Mr. Harst. Nur Tamblay war es, der dem Auto das Zeichen gab, – vom zweiten Nebengarten Greapers aus. Das Auto hatte Branting besorgt. Er als Ingenieur war ja auch am interessiertesten an der Mine. Tamblay hat den Ort mit seiner Expedition ohne die Zeichnung zu finden versucht. Es gelang ihm aber nicht. – Ich will mit alledem nichts mehr zu tun haben.“ –

Zwei Tage später stießen wir auf dem Rückmarsch nach Bahawalpur auf eine Streifabteilung des indischen Kamelreiterkorps. Ihnen übergaben wir die Gefangenen und machten dann kehrt, um nach der Skizze die Kupfermine zu suchen. Harst hatte das Stück gelbe Seide, die Briefe und den Drohzettel in jenem Felsentale unter einem Steine versteckt gehabt. Was es mit dem Klub der Zwölf auf sich hatte, war nun geklärt. Daß Chester Davidson uns in einigen Punkten belogen hatte, merkten wir erst später – auf der Insel im Kolar-See.

 

Die Insel im Kolar-See.

1. Kapitel.

Der Bhat.

Unsere Reit- und Lastkamele weideten im Hintergrunde des langgestreckten Felsentales das dürre, spärliche Gras ab.

Lord Douglas Erverlyn spielte am Lagerfeuer Koch. Ich lag auf einer Wolldecke und schaute ihm zu, wie er in dem Aluminiumtopf die Konservenbouillon umständlich umrührte.

„Harst wird nun ja überzeugt sein, daß die Schmetterlings-Geländeskizze falsch ist,“ sagte er nun und hob den Topf vom Feuer. „Ich jedenfalls kraxele in diesen verwünschten Bergen nicht länger umher. Morgen reite ich heim – der Kultur entgegen, und wenn ich allein aufbrechen müßte. Ich habe die Thar-Wüste satt. Wir sehen bereits braunschwarz wie die Somalineger aus, und – meine Zigarren sind auch gleich aufgeraucht. Ohne Zigarren bin ich nur ein halber Mensch.“

Es war jetzt 6 Uhr nachmittags. Die Sonne war bereits hinter den Felsenhügeln verschwunden. Aber das Gestein strömte die tagsüber aufgesogene Hitze wieder aus, und von einer Abkühlung der Luft war noch nichts zu merken.

Harald war um 3 Uhr nachmittags wieder zu Fuß davongegangen, um festzustellen, ob er sich bei der Entzifferung der merkwürdigen Schmetterlingszeichnung nicht geirrt hätte. So trieb er es nun bereits drei Tage. Bis gestern hatten wir ihm Gesellschaft geleistet. Heute streikten wir. Es war eben zwecklos, noch nach der Kupfermine des Klubs der Zwölf zu suchen. Erverlyn hatte ganz recht: die Skizze mußte einen Fehler enthalten. Dort, wo sich auf dem linken Flügel des Falters das kleine Kreuz befand, gab es nichts als ein weites, sandiges Tal. –

Ich war zu träge, Erverlyn etwas zu erwidern. Er faßte mein Schweigen wohl anders auf, denn er fügte nun hinzu:

„Na – so schlimm meine ich’s nicht, Schraut. Ich wäre ein schlechter Kamerad, wenn ich Harald zum Aufbruch drängen wollte. Es ist nur so scheußlich langweilig hier. Hm – was mögen die Aasgeier dort nur haben? Sehen Sie, dort drüben, wo das zweite Tal sich dem unteren anschließt. Sie kreisen gerade über der Schlucht, die die Verbindung zwischen beiden Tälern bildet.“

Ich blickte hin. Es waren sechs der scheußlichen, nackthalsigen Vögel. Sie verschwanden jedoch bald wieder.

Erverlyn nahm sein Fernglas und stellte es auf die Schlucht ein.

„Schraut, die Viecher sitzen alle auf dem linken Höhenrande der Schlucht. Sie müssen dort etwas für ihre Schnäbel erhoffen. Ich werde mal hinübergehen –“

Er langte nach seinem Gewehr und schlenderte an unseren fünf Tieren vorbei auf die etwa 400 Meter entfernte kanonartige Schlucht zu.

Ich stand jetzt auf. Harst hatte uns dringend ermahnt, recht vorsichtig zu sein. Daß die Thar-Wüste für allerlei Gesindel ein willkommener Schlupfwinkel war, erwähnte ich schon.

Wir hatten zwar in diesen drei Tagen, seit wir hier[3] lagerten, nichts von der Anwesenheit von Menschen bemerkt, aber ich hielt es doch für ratsam, jetzt, wo ich allein war, wachsamer zu sein.

Dann erschien der Lord und winkte eifrig. Ich konnte doch aber unser Gepäck nicht allein lassen. Ich winkte zurück und blieb. Erverlyn verschwand wieder.

Nach einer Weile kam er abermals zum Vorschein. Er trug jetzt einen Menschen in den Armen. Der Kleidung und dem turbanartigen Kopftuche nach war es ein Inder. – Hin und wieder ruhte der Lord sich aus. Ich ging ihm nun doch entgegen.

Wir schleppten den bewußtlosen, schwarzbärtigen Menschen, der einen total zerfetzten Leinenanzug anhatte, gemeinsam bis zum Lagerplatz.

Das Gesicht, Hals, Hände und die nur in Sandalen steckenden Füße des Inders waren mit schwarzen Blutflecken übersät. Erverlyn fühlte nach dem Puls.

„Sehr schwach,“ meinte er. „Die Whiskyflasche her, Schraut –“

Wir hatten den Mann auf meine Decke gelegt und ihm einen Sattel als Kopfpolster untergeschoben.

Gerade jetzt erschien Harald. Er hatte die Büchse über die Schulter gehängt. Er war frisch wie immer, ließ sich von Erverlyn erzählen, wie und wo wir den Inder gefunden hätten und sagte dann zu mir:

„Wollen mal nach der Schlucht hinübergehen. – Erverlyn, passen Sie hier derweil gut auf. Ich habe von einer Kuppe aus vor einer Stunde nach Osten zu in der Sandwüste ein paar Punkte gesehen, die sich sehr schnell bewegten. Erkennen konnte ich nicht, was es war. Aber es dürften Reiter gewesen sein.“ –

Harald und ich schritten der Schlucht zu.

„Der Inder ist ein Radschpute und zwar ein Bhat oder Tscharan, wie die winzige Stirntätowierung verrät,“ sagte Harald nach einer Weile. „Merkwürdig, wie der Mann hier in diese Wildnis gelangt ist.“

„Bhat oder Tscharan? Was ist das? Eine Tätowierung habe ich auch nicht bemerkt,“ erklärte ich.

„Die Tätowierung ist ein kleiner Stern dicht unter dem Haaransatz. Bhat oder Tscharan sind Konkurrenten der Brahmanen, aus denen ja die Hindupriester hervorgehen. Nur bei den Radschputen findet sich seit Jahrhunderten neben diesen Priestern noch die Kaste der Zeichen- und Sterndeuter, eben die Bhat oder Tscharan. Bhat bedeutet eigentlich Buch. Die Bhat führen nämlich auch die Verzeichnisse der vornehmen Radschputen-Geschlechter. Tscharan heißt alles mögliche: Zeichen, Siegel, auch Sand. Jedenfalls sind diese radschputischen Zeichendeuter durchweg gebildete Leute und so etwas wie verfeinerte Yogi oder Fakire.“

Wir betraten jetzt den engen Felsenkanon. Harst ging gebückt mir voran.

Dann deutete er auf einen Stein, dessen Oberseite einen bräunlichen Fleck zeigte.

„Blut. – Der Bhat blutete, als er hier zusammenbrach,“ erklärte er. „Nun stellten sich auch bald die Geier ein. Der Mann wird hier vielleicht eine Stunde gelegen haben, bevor Erverlyn ihn holte.“

Er schritt langsam, noch tiefer sich bückend, durch den Kanon dem anderen Tale zu. Dieses war noch größer und ein richtiger Felskessel mit steilen Wänden. Es schien nur diesen Ein- und Ausgang zu geben.

Harald suchte mit größter Sorgfalt nach kleinen Blutflecken. Es waren dies ja die einzigen Spuren, die das nackte Gestein angenommen hatte.

So näherten wir uns nun der rechten, östlichen Wand des Tales und einer Menge Felsbrocken, die hier teilweise in Haufen übereinander lagen.

Harst fand wiederum ein paar der braunschwarzen Flecken. Wir kamen zwischen die Felstrümmer, dann um einen Steinschutthügel herum und standen plötzlich vor – einem toten, gesattelten Reitkamel.

Das Tier hatte drei Kugeln erhalten, zwei in den Leib, eine in die Brust.

„Es ist kaum drei Stunden tot,“ meinte Harald. „Bei dieser Hitze wäre der Leib bereits mehr aufgetrieben worden. Die Leichenstarre ist auch noch nicht eingetreten.“

Er durchsuche die Sattelsäcke des Tieres. Sie waren leer bis auf einen Rest Maiskörner und Heu.

„Das Tier hat dem Bhat gehört,“ meinte Harst. „Wie ist der Mann aber in dieses Tal gelangt? Es hat doch keinen zweiten Zugang. Der Bhat hätte doch an uns vorübermüssen, um –“

Er schwieg plötzlich, bückte sich und hob ein rundes, geschliffenes Stück Glas, eine Glaslinse von etwa vier Zentimeter Durchmesser auf.

„Hm – für die Thar-Wüste ein seltsamer Fund,“ sagte er sinnend. „Gehen wir mal an den Talwänden entlang. Mir ist da ein Gedanke gekommen, der –“

Er beendete den Satz nicht. Wir hatten uns an dem Kamel vorübergedrängt und waren nun zwischen dem Steinhaufen und der steilen Talwand. Hier gab es eine kleine Halde fruchtbaren Bodens: Gras, Disteln, Dornen und die stachligen Ranken der hellblau blühenden Schlangen-Winde zogen sich bis zur Höhe der Felswand hinan. Das Gras unten zeigte Spuren von Kamelhufen und plumpen Schuhen.

„Also doch!“ sagte Harald nur. Dann stieg er die kleine Sandfläche hinan und schob mit dem Büchsenkolben die Dornen und Disteln auseinander,

„Ein richtiges Felsentor,“ rief er leise. „Dazu noch mit einem stachligen Vorhang. Mein Alter, dieser Sterndeuter kennt diese Gegend hier besser als wir –“

Es war nicht leicht, sich durch diesen Naturvorhang durchzudrängen. Unsere Gesichter und unsere Hände bluteten, als wir nun in dem hohen Felsenloche standen und die Lichtkegel unserer Taschenlampen in das Dunkel vor uns gleiten ließen.

Der Gang senkte sich allmählich, wurde auch breiter. Nach etwa zweihundert Meter schimmerte vor uns Licht. Auch hier fanden wir einen ähnlichen Vorhang vor dem Ausgange, nur noch dichter. Aber hier hatte der Bhat mit seinem Reittier schon etwas Bresche in die Dornen geschlagen. Trotzdem kostete es abermals verschiedene Kratzer und Blutstropfen, bevor wir ins Freie und auf eine Felsterrasse gelangten, von der aus wir nach Norden zu einen weiten Ausblick über die Felsenhügel hatten, die sich hier allmählich abflachten und in das Sandmeer der Wüste übergingen.

Das war es jedoch nicht, was unsere Blicke jetzt für Minuten bannte.

Nein – unter uns, eingebettet zwischen schroffen Höhen, lag da ein See mit blendend weißen Ufern.

Diese Ufer schimmerten, als läge dort Schnee.

Und in der Mitte des Sees sahen wir eine kleine Insel, ebenfalls mit weißen Gestaden, – ein Inselchen wie ein Haufen von Felsblöcken. Aber – ein seltsames Bild in dieser trostlosen Einöde! – auf diesem Eiland schimmerte es wie von grünen Sträuchern, und etwa ein Dutzend Bäume erhoben sich dort als ein sicherer Beweis fruchtbaren Bodens.

„Zum zweiten Male heute,“ sagte Harst leise. „Ja – zum zweiten Male sehe ich diesen Salzsee, mein Alter. Ich hatte heute mal eine andere Richtung eingeschlagen, eben nach Norden. Und so erspähte ich diesen See von dort drüben. Nach der Spezialkarte der Thar-Wüste, die ich daraufhin prüfte, kann dies nur der Kolar-See sein, ein Salzsee, wie es in der Thar viele gibt. – Prüfen wir, woher der Bhat kam, bevor er in diesen ihm offenbar bekannten Felsengang eindrang. Aber – beobachte Du die Umgebung. Die Sache scheint mir hier nicht geheuer!“

Die Terrasse fiel nach Norden schroff ab. Dann folgten weitere Terrassen. Es war eine förmliche Stufenlandschaft.

Harald hatte es hier noch schwerer, Spuren zu entdecken. Nach einer Weile meinte er:

„Der Radschpute hat seinem Reitkamel die Hufe umwickelt gehabt. Man müßte doch ein zermalmtes Steinchen irgendwo finden. Aber – nichts ist da – nichts.“

Er mühte sich noch eine halbe Stunde ab. Dann gab er es auf, und wir kehrten durch den Felsengang in das zweite Tal zurück.

Bei dem Kadaver des Reitkamels blieb Harald stehen.

„Der Mann muß doch noch andere Dinge in den beiden Sattelsäcken gehabt haben,“ sagte er nachdenklich und schaute hierhin und dorthin. „Jeder, der diese Einöden aufsucht, nimmt doch –“

Der Satz blieb unvollendet. Er zog die Linse aus der Tasche.

„Sie ist, behaupte ich, aus einem Fernrohr älterer Konstruktion herausgefallen,“ meinte er nun. „Ihr habt dem Bhat doch die Taschen befühlt. Er trägt nichts bei sich. Wo ist also das Fernrohr?“

Seine Augen glitten weiter umher. Dann ging er an dem toten Kamel vorüber auf einen kleineren Steinhaufen zu. Ich folgte ihm. Er deutete auf ein paar Blutflecke vor dem Steinhaufen. Dann begann er einzelne Steine zu entfernen. Und – mit einem Male schimmerte etwas Helles uns entgegen, ein hellgrauer Stoff.

Harst holte ein Bündel hervor. Es war ein mantelartiger Umhang, in den folgende Dinge eingewickelt waren:

Ein Revolver; ein Säckchen mit dreißig Patronen. Ein kleines Messingfernrohr, an dem die vordere Linse fehlte. Das Fernrohr war zerbeult. Ein indischer Dolch mit reichverzierter Scheide. Ein modernes Feuerzeug mit Lunte und Stahlrädchen, ein Arztbesteck mit Messern und Instrumenten, eine Flasche Karbol und Verbandzeug.

„Ganz interessant,“ meinte Harald, packte alles wieder zusammen und verbarg das Bündel in dem Steinhaufen.

„So – nun wollen wir mal sehen, ob der Radschpute schon zu sich gekommen ist,“ sagte er darauf. Wir schritten lebhaft aus.

„Daß dieser Bhat hier in der Wildnis nicht zum Vergnügen herumritt, steht wohl außer Zweifel,“ fügte er hinzu. „Wir dürften also in seiner Person wieder auf ein kleines Geheimnis gestoßen sein, lieber Alter. Das wird uns für den Reinfall mit der Kupfermine und der Skizze entschädigen. – Die Skizze ist falsch. Ihre Angaben stimmen nicht. Das ist nun auch meine Überzeugung.“

„Vielleicht hat Professor Tamblay sie absichtlich falsch gezeichnet, um nachher allein das richtige Tal herauszufinden,“ meinte ich eifrig.

Harst schüttelte den Kopf.

„Das muß sich anders verhalten. Bedenke: Tamblay konnte sich doch ein Duplikat der Skizze anfertigen, – eine richtige Skizze! Aber – er besaß eine solche nicht. Das beweist doch die Vorgeschichte dieser unserer Wüstentour. – Nein, da sind noch verschiedene dunkle Punkte, was diesen Klub der Zwölf anbetrifft. Doch – das alles ist jetzt gleichgültig. Diese Mörderbande ist unschädlich gemacht und wird in Bombay abgeurteilt werden. – Ah – der Radschpute sitzt aufrecht, und Erverlyn füttert ihn mit Zwieback. – Daß wir den Gang und das Bündel entdeckt haben, verschweigen wir zunächst mal.“

 

2. Kapitel.

Auf der Insel.

Wir traten nun an das Lager des Fremden heran. Des Radschputen große, dunkle Augen schauten uns entgegen. Mir schien es, als ob in seinen Blicken eine gewisse Unruhe lag. – Wir hatten uns die Gesichter und Hände von den Blutspuren der Dornen gesäubert. Es war also nichts Auffälliges an uns.

Harald begrüßte den Mann mit einigen Worten und versicherte ihn unseres Beistandes.

Der Radschpute antwortete in fehlerfreiem Englisch und mit einer fast imponierenden Würde.

„Master Harst, ich habe Lord Erverlyn bereits für sein Hilfe gedankt,“ sagte er. „Ich wiederhole diesen Dank auch Ihnen beiden gegenüber. Ich befand mich auf der Reise nach Phulaudhi[4], einem Orte am Südrande der Thar. Heute nachmittag überfielen mich dort im Westen Räuber. Mein Reitkamel trug mich trotz mehrerer Wunden noch meilenweit. Dann brach es zusammen. Mühsam schleppte ich mich bis dort in die Schlucht. Ich hatte die feine Rauchsäule Eures Lagerfeuers gesehen und hoffte, hier gute Menschen zu finden. Ich heiße Chotan und bin ein Bhat aus Ghoshgarh.“

Wir setzten uns neben sein Lager. Erverlyn war ordentlich stolz darauf, daß er den Inder bereits wieder so „herausgepflegt“ hatte, wie er sich ausdrückte.

Harst rauchte eine Zigarette und meinte so beiläufig:

„An diesem Lagerfeuer hättest Du aber auch abermals Räuber treffen können, Chotan. Du hast Glück gehabt. Dein Kamel sahen wir dort in dem Nachbartale. Du hättest nicht ohne Waffen reisen sollen. Die Thar ist gefährlich.“

„Ich habe meine Büchse auf der Flucht verloren,“ erklärte der Radschpute.

Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Master Harst, Ihr Name ist mir nicht fremd. Ich las ihn oft in indischen Zeitungen. Sie würden mir nun einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie mir eines Ihrer beiden Lastkamele leihen wollten. Ich muß schleunigst weiter.“

Harald überlegte. „Gut, Chotan. Wähle Dir eins aus. Fühlst Du Dich bereits kräftig genug, wieder aufzubrechen?“

„Ja. Ich muß aufbrechen.“

Er stand auf. „Ich werde jetzt meinen Sattel und den Zaum von meinem toten Tiere holen. Bitte, bemühen Sie sich nicht. Ich kann schon allein gehen.“ –

Er schritt gemessen davon. Es war ein großer, schlanker Mann in den besten Jahren.

Erverlyn blickte uns an und meinte: „Ja, was doch der Whisky macht! Und dabei war dieser Chotan eine halbe Leiche, als wir ihn fanden.“

Harald lächelte.

„Lieber Douglas, Sie sind blind gewesen, und mein guter Schraut ebenfalls. Dieser Bhat war nie bewußtlos.“

„Na – das ist ja das Allerneueste!“ rief Erverlyn. „Nicht bewußtlos?! Ich habe ihm doch den Puls gefühlt und der ging ganz schwach –“

„Das werden Sie sich nur eingebildet haben,“ sagte Harald sehr bestimmt. „Die Hälfte von dem, was der Radschpute uns erzählt hat, ist Schwindel. Er wird doch nicht auf der Reise von Ghoshgarh nach Phulaudhi“ – er faltete die Spezialkarte der Thar auseinander – „hier vorübergekommen sein. Dann hat er ja einen ungeheuren Bogen nach Osten gemacht. Daß er lügt, geht auch schon daraus hervor, daß wir drüben im zweiten Tale einen verstecken Felsengang fanden, der auf eine Terrasse oberhalb des hier auf der Karte mit einem Fragezeichen versehenen Kolar-Sees mündete. Das Fragezeichen bedeutet: die Lage des Sees steht nicht genau[5] fest, ebensowenig seine Größenverhältnisse.“

Erverlyn ließ ein „Hm – hm!“ hören.

„Ja, lieber Douglas,“ fuhr Harst fort, „mit diesem braunen Zeichendeuter, der doch fraglos ein sehr gebildeter Mann ist, wird es schon seine besondere Bewandtnis haben.“ Er erzählte dann noch von dem Bündel, das wir gefunden hatten.

„Wie – ein ärztliches Besteck und eine Flasche Karbol und Verbandzeug?!“ meinte der Lord kopfschüttelnd. „Wozu schleppt dieser Chotan das alles hier mit sich herum?“

„Ja – wenn wir das wüßten!“ sagte Harald achselzuckend. „Wir haben allen Grund, sehr auf unserer Hut zu sein. Dieser Chotan macht ja gerade keinen ungünstigen Eindruck. Aber – trauen kann ich ihm doch nicht. – Ich nehme an, er ist tatsächlich überfallen worden und durch den Gang in das Nachbartal geflüchtet. Dann hat er den Rauch unseres Feuers wahrgenommen, hat sich Gesicht, Beine und Hände noch mehr durch Dornen zerkratzt und ist in der Schlucht so weit vorgedrungen, bis er sehen konnte, wer hier lagerte. Nun spielte er den Bewußtlosen, lag geduldig still. Die Aasgeier erschienen. Damit rechnete er. Er wollte eben von Euch beiden gefunden werden. Daß Ihr Europäer wart, sah er schon vorher. Ihm lag daran, zu erfahren, was für Weiße hier lagerten, das heißt, er wollte sein ferneres Verhalten nach deren Charakter, Beruf und so weiter einrichten.“

„Harstchen, das klingt gekünstelt,“ brummte Erverlyn. „Aber ich unbedeutendes Menschenkind –“

Wir fuhren alle drei zusammen.

Vom Nachbartale drang der Knall von drei, vier Schüssen herüber.

Wir sprangen auf.

„Ihr bleibt hier,“ befahl Harst. „Ich will allein nachsehen, was dort vorgefallen ist –“

Er nahm seine Büchse und lief davon.

Erverlyn entsicherte seine Waffe und sagte:

„Schraut, mit der Langeweile sind wir hereingefallen! Wir haben uns zu früh beklagt –“

Er ging unser Tal aufwärts bis an den südlichen Zugang. Das Tal verengerte sich dort, und jenseits dieses zweiten Kanons fiel eine Geröllhalde in eine weite, sandige Mulde ab.

Ich sah, wie der Lord sich dort auf einen Stein setzte und so diesen Zugang zu unserem Lager bewachte. Ich hatte meine Augen dann auf den zweiten nördlichen Kanon gerichtet, in dem Harald verschwunden war.

Eine halbe Stunde verging. Das Abendrot verglühte. Nichts geschah – nichts.

Ich wurde unruhig. Harst konnte dort im Nachbartale leicht in einen Hinterhalt gefallen sein.

Erverlyn war jetzt wieder aufgestanden und schritt nervös auf und ab. Ich merkte, auch er war in Sorge Haralds wegen.

Plötzlich winkte er. Ich lief zu ihm hinüber. Es waren kaum fünfzig Meter.

„Was gibt’s?“ fragte ich hastig.

Er deutete in das sandige Tal hinab. Dort standen am Rande einer kleinen Felsgruppe auf der anderen Seite der Mulde ein paar gelbe Wüstenpflanzen.

„Es bewegte sich hinter den Pflanzen etwas,“ sagte er erregt. „Ich habe mich nicht getäuscht. Ob Mensch oder Tier, weiß ich nicht.“

„Tier?“

„Na ja – es gibt hier doch Bergschafe, wenn auch nur vereinzelt. – Soll ich mal nachsehen, was es war?“

„Nein, warten wir auf Harst. Die ganze Geschichte hier ist anrüchig –“

„Dasselbe Gefühl habe ich ebenfalls –“

Hinter uns ein Ruf:

„Hallo – hierher!“

Es war Harald. Erverlyn rief zurück:

„Kommen Sie mal her, Harst –“

Er berichtete ihm dann, was er beobachtet hatte.

„Gut – ich werde feststellen, was es war,“ meinte Harald.

Er ging im Bogen auf die Felsgruppe zu. Dann tauchte er hinter den Felsen unter. Es mußte da eine Senkung geben. Man sah genau, daß er hinabkletterte. –

„Verdammt – er ist schon zehn Minuten weg,“ brummte der Lord. „Es wird dunkel. Wo bleibt er nur?“

Wir standen und starrten in die Mulde hinab. Die Felsgruppe wurde immer undeutlicher.

„Der Teufel halte das aus! Warten Sie hier, Schraut,“ sagte Erverlyn und hastete in langen Sprüngen auf die Felsen zu. Dann verschwand auch er. –

Kaum war er einige Minuten fort, da tauchten hinter den Felsen Reiter auf – Kamelreiter, drei.

Im Galopp kamen sie auf mich zu.

Ich wollte mich hinwerfen, wollte hinter einem Stein hervor feuern. Es waren ja fraglos Leute, die nichts Gutes im Schilde führten.

Da – von hinten flog mir etwas gegen die Kniekehlen – ein großer Stein.

Ich stürzte vornüber. Und fühlte auch schon, daß sich jemand auf mich warf.

„Liegen Sie still!“ brüllte eine Stimme, die mir nicht fremd war. „Ich steche sonst zu, Master Schraut!“

Die Kamelreiter waren schon heran, ließen ihre Tiere niederknien, sprangen ab.

Ich erkannte die Leute jetzt: es waren die Mitglieder des Klubs der Zwölf! Und der, der auf mir lag, war Doktor Doving, der lange Dürre. Nur Ellen Branting fehlte. Aber auch sie fand sich gleich darauf ein, als ich bereits gefesselt war.

Ja – sie waren es, alle fünf: Branting, Tamblay, Doving, Davidson und die schöne Ellen!

„So,“ meinte Doving, „nun hätten wir die drei Helden ja! Und – die Zeichnung haben wir jetzt auch, Mr. Schraut! Das Blättchen wendet sich mitunter, und selbst der superkluge Harst läßt sich fangen!“

„Lassen Sie doch das Höhnen, Doktor,“ sagte Branting ärgerlich. Und zu mir gewandt: „Sie sehen, wir sind unserer Eskorte entschlüpft. Wir müssen Sie drei jetzt für einige Zeit kaltstellen, Mr. Schraut, bis wir unser Geschäft hier beendet haben. Sie werden ja nicht so töricht sein, Widerstand zu versuchen. Wir binden Ihnen die Füße wieder los. – Vorwärts, Davidson, den Lappen her –“

Mir wurden die Augen verbunden. Dann führte man mich davon. Es ging gut zwei Stunden über Felsen, Sand und Geröll zu Fuß weiter. Eine Strecke hinter mir schienen Harst und Erverlyn in derselben Weise weggeschleppt zu werden. Der, der mich am Arm gepackt hielt, war der „Künstler“ Davidson. Er konnte es sich nicht verkneifen, mit seiner Intelligenz so ein wenig zu prahlen.

„Mein Geständnis damals war zur Hälfte Humbug,“ sagte er unter anderem. „Ich tat nur so, als ob ich den Verräter spielte. Nein, mein verehrtester Mr. Schraut, wir vom Klub der Zwölf halten treu zusammen. Und daß wir dann die Kamelreiter loswurden, – das habe ich mit Doving zusammen befingert. Die fünf braunen Kerle vermodern jetzt dort im Sande, jeder mit einem vergifteten Schluck Whisky im Leibe. Unser Doktor kuriert die Leute gründlich! Ellen Branting hat das Gift in die Flasche getan! Die uniformierten braunen Gentlemen hielten es für überflüssig, einer jungen Dame die Hände zu fesseln. Aber: die Idee stammte von mir. Tamblay war dagegen. Aber – er hat nichts zu sagen! Hier führt Branting das Wort.“

Bald darauf wurden wir – Harald und Erverlyn waren tatsächlich hinter mir gewesen – in – ein Boot verladen. Wir mußten uns setzen. Das Boot stieß ab. Nur Branting und der Doktor waren mit in dem Nachen, der kaum sehr groß sein konnte.

Das Boot landete nach kaum fünf Minuten Fahrt. Ich hatte mir inzwischen schon überlegt, daß wir sehr wahrscheinlich nach der kleinen Insel im Kolar-See gebracht würden.

Wir mußten aussteigen. Doving warnte uns nochmals vor einem Fluchtversuch.

Sehen konnten wir nichts. Man hatte uns die Lappen mehrfach um den Kopf gewickelt. Es war jetzt auch längst Nacht.

Man führte uns über Steingeröll, dann ein paar Steinstufen empor, dann wieder eine Steintreppe abwärts. Nun kreischten verrostete Türangeln; dann ein lauter Knall. Wir waren allein.

Wir hörten undeutlich die sich entfernenden Schritte.

Harald und Erverlyn hatten bisher kein Wort gesprochen. Jetzt sagte Harst, als ob es sich um die gleichgültigste Sache von der Welt handelte:

„Knoten wir uns gegenseitig die Stricke auf. Die Kerle rechnen damit, daß wir es tun.“

In wenigen Minuten hatten wir die Hände frei, rissen uns die Lappen von den Augen.

Aber – wir sahen nichts. Es war stockdunkel in unserem Gefängnis.

Wir standen dicht beieinander.

„Schade, daß die Halunken uns die Taschen völlig geleert haben,“ meinte Harald. „Ich hätte mir unseren Kerker gern mal angesehen. Bleibt stehen. Ich will die Umgebung abtasten –“

Es roch hier nach Moder. Als ich nun den Kopf hob, gewahrte ich hoch über mir einen ganz schwachen Lichtschein. Es mußte dort so etwas wie ein Fenster oder ein Loch geben.

Ich machte Harald darauf aufmerksam. Er ging jetzt hin und her, erklärte dann:

„Vier Meter im Quadrat etwa. Mauern aus Steinquadern. Der Fußboden ebenfalls Steinplatten. Im übrigen absolut leer. Ein sehr wenig komfortabler Raum!“

„Wie können Sie noch Witze machen, Harst!“ rief Erverlyn.

„Soll ich weinen, lieber Douglas? Dazu ist später noch Zeit. – Kommen Sie her, Erverlyn. Stellen Sie sich an die Mauer. So. Ich will auf Ihre Schultern steigen!“

All das spielte sich in nachtschwarzer Finsternis ab.

„Ah – ein längliches Loch!“ meldete Harst. „So was wie eine Schießscharte. Ich kann drüben den hellen Strich des Salzgestades sehen, wo das verdunstete Wasser die Salzkristalle zurückgelassen hat. – Also die Insel im Kolar-See. Wer hätte gedacht, daß wir sie auf diese Weise kennenlernen würden!“

Er kletterte wieder herab.

„Setzen wir uns auf den Boden,“ meinte er.

„Wie steht’s denn mit der Tür?“ fragte Erverlyn.

„Schmal, niedrig, – verrostetes Eisen, aber fraglos ausbruchsicher, lieber Douglas!“

Dann setzten wir uns und lehnten uns mit den Rücken an die Steinquaderwand.

 

3. Kapitel.

Liebesgaben.

Die Nacht verging. Wir waren vor Müdigkeit doch eingeschlafen.

Nun fiel durch die schmale Fensteröffnung oben eine freundliche Lichtbahn zu uns herein. So herrschte denn in unserm Kerker ein Halbdunkel, das immerhin genügte, uns gegenseitig zu erkennen.

Ich war als letzter aufgewacht. Alle Knochen taten mir weh.

„Erverlyn klagt über Hunger,“ meinte Harst.

Der Lord rief gereizt:

„Und wenn die Schurken sich nicht weiter um uns kümmern?! Dann sind wir in fünf Tagen dem Hungerwahnsinn nahe! – Wie können Sie nur gegenüber einer so ungeklärten Lage so gleichgültig bleiben, Harst?!“

Harald saß an der Wand: Erverlyn lief in dem engen Raume hin und her, und ich leistete mir ein paar Freiübungen, um die steifen Glieder wieder gelenkig zu machen.

„Setzt Euch neben mich,“ sagte Harst. „Ich möchte Euch etwas mitteilen. Aber ich möchte nicht gerade brüllen. Und das müßte ich, wenn Sie weiter so wild umherrasen, lieber Douglas.“

Erverlyn konnte gar nicht schnell genug neben Harald Platz nehmen.

„Nicht wahr, Sie haben Mittel und Wege entdeckt, wie wir von hier flüchten können?“ fragte er ganz leise.

„Nein, das nicht gerade,“ erwiderte Harald. „Aber – ich war jedenfalls auf diesen Überfall durch die Klubleute etwas vorbereitet. Ich habe Schraut schon erzählt, daß ich gestern nachmittag in der Wüste rasch sich bewegende Punkte gewahrte, Reiter eben. Es waren fünf Reiter. Und sie kamen auf unserer alten Fährte daher, die doch der Wind in den drei Tagen fast ganz verweht haben mußte. Da dachte ich gleich an unsere fünf Freunde. Ich hätte mich dann gestern abend auch nie so unvorsichtig dort in die breite Spalte hinter der Felsgruppe hineingewagt, hätte nie mich derart überrumpeln lassen, wenn ich nicht weiter nach Süden zu das hübsche Satansfrätzchen der Ellen Branting für einen Moment zwischen zwei Steinen erspäht hätte. Kurz: ich wollte mit diesen fünf Leuten nochmals zusammengeraten! Das war’s! Ich wollte ergründen, was in Wahrheit hinter dieser Schmetterlings-Skizze steckt. Ich behaupte, dieser Davidson hat uns damals belogen –“

„Das stimmt,“ sagte ich schnell. „Er hat es mir gegenüber schon eingestanden –“

„Ah – also wirklich!“ meinte Harst.

Ich erzählte, was Davidson mir alles in so prahlerischer Art mitgeteilt hatte.

„Diese – diese Mordgesellen!“ rief Erverlyn ergrimmt. Dann fügte er hinzu: „Ihr Spiel ist sehr gewagt, Harst. Wenn die Halunken uns nun hier –“

„Keine Sorge,“ unterbrach Harald ihn. „Ich vertraue auf die Dankbarkeit eines Mannes, dem wir nur Gutes erwiesen haben –“

„Den Radschputen meinst Du?“ fragte ich sehr gedehnt. „Was ist denn aus ihm geworden? Du hast noch gar nicht berichtet, was dort im Nachbartale vorgefallen war. Was bedeuteten die vier Schüsse? Wo ist der Bhat geblieben?“

„Er war verschwunden. Ich habe das Tal genau abgesucht.“

„Aber die Schüsse?“ meinte Erverlyn. „Was halten Sie von alledem? Ob etwa noch andere anrüchige Gentlemen in der Nähe waren? Ob’s die waren, die den Radschputen überfallen haben?“

„Ich fand nichts, Erverlyn, nichts,“ sagte Harald „Das Tal war leer. Aber – ich hoffe dennoch auf Chotans Beistand. Vielleicht ist er entkommen –“

„Hören Sie mal, Harst, – Sie verschweigen uns etwas!“

„Vielleicht das, daß ich in der verflossenen Nacht, als Ihr schlieft, hier nebenan Geräusche hörte.“

Er schwieg und sog die Luft prüfend ein.

„Riecht Ihr was?“ flüsterte er dann.

Erverlyn verneinte. Ich aber erwiderte:

„Ja – es riecht nach – nach Karbol –“

„Stimmt – Karbol! – Und das paßt genau zu dem, was ich mir in Gedanken zurechtgelegt habe,“ sagte Harald noch leiser. „Das paßt zu den Geräuschen in der Nacht – und zu dem anderen –“

Da – jetzt hörte auch ich etwas wie ein Stöhnen.

Woher es kam, konnte ich nicht entscheiden.

„Teufel, was ist das?“ flüsterte Erverlyn. „Da – da stöhnt jemand. Ob das von draußen durch die schmale Öffnung hereindringt?“

Harald blieb stumm. Wir lauschten.

Dann – dann flog von oben durch das Mauerloch etwas zu uns hinab: ein Bündel!

„Aha,“ meinte Harst. „Der Radschpute meldet sich.“

Das Bündel enthielt sechs Pakete Dauerzwieback in Original-Fabrikverpackung, vier Büchsen Konservenfleisch, einen Büchsenöffner und eine Patent-Gummiflasche, unzerbrechlich, mit aufgeschraubtem Aluminiumbecher.

Eingewickelt waren diese Dinge in einen aufgeschnittenen Sack, der als Firmenstempel ein gleichseitiges Dreieck mit einem Papagei darin, darunter die Buchstaben „S. B. u. L.“ und darunter wieder den Namen „Bikaner“ zeigte. –

Erverlyn machte sich sofort über die Eßwaren her.

„Sie sind wahrhaftig der reine Prophet, Harst,“ meinte er und schraubte den Becher von der Patentflasche ab.

Ich warnte ihn. „Denken Sie an Davidsons Äußerung,“ sagte ich. „Das Getränk kann vergiftet sein.“

„Es ist Wasser mit Zitronensaft, dem Geruche nach,“ meinte der Lord, „Hegen Sie ebenfalls Argwohn gegen diese feuchte Gabe, Harst?“

„Nein, bestimmt nicht. Füllen Sie mir den Becher, Erverlyn. So – ich trinke zuerst –“

Er trank. Und als ihm nach zehn Minuten noch genau so behaglich war wie vordem, tranken wir ebenfalls. Harst lachte darüber.

„Ihr seid Angsthasen. Wir werden hier –“

Da war schon wieder etwas zu uns hineingeflogen, aber nur eine kleine Papierkugel.

Harst faltete sie auseinander, hielt den Papierstreifen ganz hoch, damit das Licht die Schrift darauf besser träfe, und las vor:

„Linke Eckplatte neben Tür. Dort Versteck.“

Die Sätze waren in englischer Sprache geschrieben.

„Diese knappe Nachricht,“ erklärte Harst, „weist uns an, die leeren Büchsen und so weiter dort zu verbergen, falls sich einer der Klubleute hier einfinden sollte.“

Wir stellten dann fest, daß die Fußboden-Steinplatte links in der Ecke sich etwas lüften ließ, wenn man sie auf der einen Seite herunterdrückte. Man konnte sie auf diese Weise ausheben. Sie war etwa sechzig Zentimeter im Quadrat groß. Darunter gähnte eine Öffnung, die Harald nun, indem er sich lang hinlegte, nach unten und nach den Seiten mit den Händen abtastete.

„Offenbar ein größeres Gewölbe,“ meldete er. „Geben Sie mal eine der leeren Büchsen her, Erverlyn. Da wir nicht sehen können, wie tief es hier hinabgeht, wollen wir es durch einen fallenden Körper zu ergründen suchen.“

Dort unten herrschte schwärzeste Finsternis. Auch nicht ein Lichtstrahl war zu erblicken.

Harald ließ jetzt die Konservenbüchse los. Dann zählte er:

„Eins, zwei, drei –“

Da klatschte die Büchse unten auf.

„Sechs Meter,“ meinte Erverlyn.

„Vielleicht etwas mehr,“ sagte Harst. „Sieben bis acht. Wenn wir unsere Taschenlampen hätten, könnten wir das Souterrain unserer Behausung bequemer erforschen. – Decken wir die Steinplatte wieder über die Öffnung.“ –

Erverlyn, der nun wieder besserer Stimmung war, wollte jetzt von Harald durchaus wissen, weshalb dieser sich so bestimmt auf die Hilfe Chotans verlassen hätte.

„Sie müssen doch aus irgend welchen Umständen kombiniert haben,“ sagte er, „daß der Radschpute unseren Transport hierher beobachten würde oder beobachtet hatte. Spielen Sie doch nur nicht wieder den Geheimnisvollen, Harst! Schraut brennt sicherlich genau so vor Neugier wie ich!“

Wie saßen jetzt wieder nebeneinander an der Wand. Es mochte etwa elf Uhr vormittags sein.

„Ihr beide seid denkfaul,“ meinte Harald leise. „Ihr habt jetzt den Karbolgeruch dauernd in der Nase, und Euch fällt trotzdem nicht ein, daß sich in dem Bündel des Radschputen in dem Steinhaufen eine Flasche Karbol befand. – Schraut, Du hast diese Flasche ja gesehen. Äußere Dich darüber –“

„Es war eben eine Flasche Karbol. Auf die Flasche war ein Schildchen geklebt mit der Warnung: „Gift! Karbol. Gift!“ – Und man roch es auch, was die Flasche enthielt.“

„Komisch, daß Du gerade die Hauptsache übersehen hast,“ flüsterte Harst. „Sprecht leiser. Ich habe guten Grund zu der Annahme, daß wir belauscht werden. – Die Hauptsache war, daß die Flasche Karbol aus der Apotheke in Bikaner stammte. Der Ortsname stand mit auf dem Schildchen. Und der aufgeschnittene Sack ist ebenfalls mal Eigentum einer Firma in Bikaner gewesen.“

„Ah – ich begreife,“ meldete sich Erverlyn jetzt. „Der Bhat Chotan hat die Flasche Karbol hierher mitgenommen. Es muß sich neben unserem Kerker ein Raum befinden, wo er die Flasche vielleicht aus Unachtsamkeit zerschlagen hat. Nun dringt der Geruch durch irgend eine offene Mauerfuge zu uns.“

„Das hat Hand und Fuß, lieber Douglas,“ sagte Harald darauf. „Um nun aber den Schleier etwas zu lüften: ich folgte Chotan durch den Felsengang und kroch auf die Terrasse hinaus, von der aus man diesen Salzsee unter sich liegen sieht. So wurde ich mit Hilfe meines Fernglases Zeuge, wie Chotan mit seinem Bündel hier nach der Insel hinüberfuhr.“

„Aber die vier Schüsse, die wir hörten –“

„Waren Revolverschüsse, die Chotan fraglos selbst abgegeben hat, um uns zu täuschen. Er wollte nur sein Verschwinden in geheimnisvolles Dunkel hüllen.“

„Ja, aber weshalb in aller Welt tat er das?! Und – weshalb gibt er nun hier wieder so angenehm-genießbare Zeichen seiner Anwesenheit?“

„Die Frage kann ich Ihnen leider noch nicht beantworten, Erverlyn. Oder besser: ich könnte Ihnen meine Vermutungen ja mitteilen, aber – ich pflege nur über feststehende Tatsachen zu sprechen. Hier fehlt noch so einiges, was in meinem geistigen Besitz ist, eben dieses Fehlende, dann sollen Sie den Rest hören, lieber Erverlyn.“

„Sie sind ein gräßlicher Mensch, Harst!“ knurrte Erverlyn. „Unter diesen Umständen verzichte ich auf Ihre Gegenwart und lege mich schlafen.“

Er faltete den Sack zu einem Kopfpolster zusammen und streckte sich lang hin.

Auch Harald schlief im Sitzen. Ich hatte ihm versprochen, munter zu bleiben. Einer mußte wachen, falls jemand von den Klubleuten nahte. Dann mußten die noch vorhandenen Lebensmittel verschwinden.

Erverlyn und Harald schliefen ganz fest und atmeten tief und ruhig. Ich vernahm nichts wie ihre Atemzüge.

Nein – ich hörte doch noch etwas. – Ja, da war es wieder, dieses Stöhnen, das irgendwoher an mein Ohr drang. Jetzt – jetzt auch ein Geräusch, ein Scharren, – auch nicht zu ergründen, woher.

Nun war alles wieder still.

Und dann – dann verdunkelte sich oben die schmale Fensteröffnung.

Mit dumpfem Krach schlug etwas auf den Boden unseres Kerkers auf.

Erverlyn und Harst waren sofort wach.

„Eine neue Gabe Chotans,“ sagte ich.

„Hoffentlich sind Zigarren drin,“ meinte Erverlyn. „Zu einem anständigen Kerker gehört etwas Rauchbares –“

 

4. Kapitel.

Der gute Freund.

Harald hatte sich gebückt und hob das Bündel hoch.

„Ah – da ist ja eine Schnur angebunden, die durch die Fensteröffnung läuft,“ rief er leise. „Schau’ – ein Zettel hier oben auf dem Bündel! – Hm – was bedeutet das nun wieder?“

Er löste den in die Schnur eingeknoteten Zettel ab. Es war eine Seite aus einem großen Notizbuch.

Harst hielt ihn wieder hoch gegen das Licht.

„Bleistiftzeilen!“ sagte er. „Die andere Nachschrift war mit Tinte geschrieben, und die Schrift ist nicht dieselbe. Diese Bleistiftzeilen schrieb jemand, der sehr häufig schreibt und daher seine Handschrift verschludert hat –“

Er las vor:

„Die Insel wird von drüben ständig bewacht. Der Eingang zu der Ruine liegt so, daß man mich sehen würde, wollte ich Ihnen jetzt zu Hilfe kommen. Sobald es dunkel ist, befreie ich Sie. – Vorläufig grüßt nur ein guter Freund.“

Erverlyn hatte inzwischen das Bündel – die Umhüllung war die Hälfte einer wollenen Decke – geöffnet.

„Famos!“ rief er. „Dieser gute Freund ist ein Mann von Geist. Da – hier sind zwei Päckchen Zigaretten! Dann Zwieback, zwei Büchsen Fleisch, eine Schachtel Zündhölzer und – auch nicht zu verachten! – ein Messer und ein Revolver.“

„Der gute Freund draußen ruckt dauernd an der Schnur,“ sagte Harald jetzt hastig. „Ich nehme an, er will die Decke wiederholen, die wir hier schlecht verstecken könnten, wie er wohl glaubt. Also auspacken!“

Gleich darauf wurde die Decke wieder emporgezogen und verschwand durch die Fensteröffnung.

Erverlyn hatte schon eine Zigarette im Munde.

„Nun soll die Bande nur kommen!“ brummte er und rieb ein Zündholz an. „Wir haben jetzt einen Revolver und wir haben ein Messer! – Bitte, lieber Harst, bedienen Sie sich.“

Er hielt Harald das geöffnete Zigarettenpäckchen hin, dann auch mir.

„Sind Sie denn gar nicht neugierig, wer dieser „gute Freund“ ist?“ fragte Harald den Lord.

„Das wohl. Wer ist’s denn?“

„Keine Ahnung. Jedenfalls nicht Chotan. Vielleicht ist’s einer der Klubleute, obwohl auch diese Annahme sich nur schwer begründen läßt. Nun – sobald es dunkel ist, werden wir ja erfahren, wie’s sich mit diesem guten Freund verhält.“

Wir setzten uns wieder. Harald rauchte eine Zigarette nach der andern, beteiligte sich aber nicht an der Unterhaltung, die zwischen Erverlyn und mir über das Thema „Chotan, der Bhat“ geführt wurde.

Zwischenein aßen wir wieder, tranken auch den Rest Zitronenwasser aus.

Harald blieb schweigsam.

„Worüber grübeln Sie eigentlich nach, Harst?“ fragte der Lord, als es draußen dunkel zu werden begann. Wir erkannten dies ja daran, daß auch bei uns die Dämmerung allmählich in die unangenehme Finsternis überging.

„Über das Ende dieses Abenteuers,“ erwiderte Harald. „Ich bin sehr gespannt darauf, wie Chotan sich mit dem „guten Freund“ auseinandersetzen wird. Ist meine Theorie nämlich richtig, so muß dieser Zigarettenspendierer dem Chotan höchst ungelegen kommen. Ich habe mich zum Beispiel soeben gefragt, ob der „gute Freund“ von Chotan nicht kaltgestellt werden wird, bis der Radschpute seine Geschäfte hier erledigt hat.“

„Sie sprechen wieder wie die berühmte Pythia, die altgriechische Wahrsagerin, deren Auskünfte sogenannte doppelsinnige Weisheiten waren, lieber Harst. Im übrigen wäre es von Chotan doch sehr albern, unsern Zigarettenspender irgendwie „kaltzustellen“, da er selbst uns doch mit Lebensmitteln versorgt hat. Er sollte sich – das wäre logischer – lieber mit dem Zigarettenmann verbünden und die fünf Klubherrschaften zusammenschießen.“

Harst lachte leise auf. „Das wäre nicht logischer, Sie blutgieriger Mensch. – Lassen wir aber diese Erörterungen. Es muß jetzt gegen neun Uhr abends sein. Wenn bis gegen Mitternacht der gute Freund nicht erscheint, dann – handele ich; dann ist eben das passiert, was ich vermute.“

„Handeln – gut gesagt!“ meinte der Lord. „Was denn?! Wie denn?!“

„Abwarten –“ –

Wir saßen still nebeneinander und hingen unseren Gedanken nach. Erverlyn gähnte oft.

„Drüben ist jetzt alles ruhig,“ sagte Harst nach einer langen Weile. „Ich schätze auf elf Uhr. – Der gute Freund könnte längst hier sein –“

Wieder Stille.

Dann – von weither drangen ganz schwache Knalle bis in unseren Kerker hinein.

„Schüsse!“ flüsterte Erverlyn.

„Ja, lieber Douglas. Und vielleicht geht es jetzt den Klubleuten an den Kragen, falls diese eben –“

Der Satz wurde nicht vollendet.

Wir richteten uns alle drei mit einem Ruck auf. Aus dem Souterrain – ganz fraglos kam es von dorther – vernahmen wir etwas wie ein Gemurmel. – Es sprachen dort Leute, ohne Zweifel.

„Pst!“ machte Harst. „Erverlyn, ein Streichholz anreiben!“

Das Flämmchen zuckte auf.

„Leuchten Sie! Ich will die Steinplatte lüften,“ flüsterte Harald.

Das Streichholz war abgebrannt. Aber Harst hatte die Platte schon gepackt und richtete sie langsam und geräuschlos auf.

Wir neigten die Köpfe ganz tief über die Öffnung. Unten schwärzeste Finsternis.

Dann eine Stimme, halblaut, englische Worte:

„Daß ich verdammter Esel mich so überrumpeln ließ! – Zum Teufel, der Kerl hat die Stricke zu fest angezogen! – Siehst Du, Stuart, das kommt davon, wenn man seine Nase allzutief in fremder Leute Geheimnisse steckt!“

Stuart – Stuart hatte er gesagt! Und diese Stimme! Das konnte nur der Reporterkönig sein, der berühmte Stuart Tompkinson vom Bombay Rekorder!

Da rief auch schon Harald halblaut hinab:

„Tompkinson, Sie waren also der Zigarettenspender! Es freut mich, Sie hier zu treffen. Wir werden sofort bei Ihnen sein. Sie wollten uns befreien. Nun ist’s gerade umgekehrt gekommen. – Erverlyn, ein Streichholz an –“

Er drehte dann aus dem Papier der Zwiebackpakete eine Fackel, leuchtete nun in das Souterrain hinab.

„Ich werde springen,“ meinte er. „Es ist nicht allzu hoch.“

Er ließ sich in die Öffnung hinab, hielt sich mit den Fingern am Rande fest, plumpste dann abwärts.

Erverlyn warf die Papierfackel hinterdrein. Harst hob sie auf. Sie brannte noch. Der Lord und ich lagen mit den Köpfen jetzt in dem Fußbodenloch und schauten zu, wie Harald Tompkinson die Fesseln aufknotete. Der Reporterkönig hatte in einer Ecke des großen Kellergewölbes gelegen.

Was die beiden sprachen, verstanden wir nicht. Harst ließ[6] sich dann die Zündhölzer zuwerfen, ebenso den Revolver.

Die beiden öffneten an der rechten Wand eine Tür und verschwanden. Nach fünf Minuten hörten wir vor unserer Tür Schritte. Zwei Riegel wurden zurückgeschoben. Die Tür ging auf, und Harst und der kleine, magere Reporter, mit dem wir in Bombay kürzlich noch ein etwas aufregendes Erlebnis gehabt hatten (vergl. „Acht Stunden Frist“), traten ein. Harald trug eine Karbidlampe mit Glocke in der Hand, also ein ganz modernes Beleuchtungsmittel.

Stuart Tompkinson streckte mir beide Hände entgegen.

„Mr. Schraut, ist das nicht wieder ein geradezu großartiges Abenteuer! Das gibt mindestens acht Artikel zu je 400 Zeilen – mindestens! Das macht an Honorar für mich eine Stange Gold.“

„Kommt,“ meinte Harald da. „Wir können es uns ja behaglicher machen.“

Er ging voran. Wir kamen über eine Treppe in eine Art Halle, in der überall Unkraut wuchs. In einer Ecke war eine Tür aus Steinplatten in einem Eisenrahmen. Die Tür fügte sich in die Hallenwand ganz genau ein. Jetzt stand sie offen. Dahinter lief eine Steintreppe in ein Gewölbe hinab, das durch eine Mauer in zwei Räume geteilt war. Wir fanden hier eine vollständige Einrichtung; die Möbelstücke waren auf das einfachste, aber sauber und zierlich gearbeitet.

Der eine Raum enthielt vier Betten. Hier roch es sehr stark nach Karbol. Der andere Raum war als Wohngemach ausgestattet. An den Wänden stand auch ein Bücherregal, das von oben bis unten gefüllt war.

In der Mitte luden einige sesselartige Stühle, die um einen großen Tisch gruppiert waren, zum Platznehmen ein.

Harald hatte die Lampe auf den Tisch gestellt.

„Machen wir es uns bequem,“ meinte er. „Ah – dort liegen ja Zigaretten. – So, nun erzählen Sie, Tompkinson.“

Wir hatten uns gleichfalls gesetzt.

„Ich will mal nicht lügen,“ begann der kleine, ulkige Reporter. „Also: ich bin Ihnen von Bombay aus heimlich nachgereist, Mr. Harst. Ich ahnte, daß Sie nicht Tiger jagen wollten. Mir war ja diese Tamblay-Expedition auch schon so ein bißchen merkwürdig vorgekommen. Ich kaufte ein Reit- und ein Lastkamel in Bahawalpur. Sie waren eben erst von dort aufgebrochen. Ich verlor Ihre Spur. Dann stieß ich auf die Leichen von fünf Kamelreitern des Korps aus Jodhpur. Die Leichen waren im Sande verscharrt. Ich witterte ein Verbrechen, folgte der Spur von fünf anderen Reitern, kam so hierher, wurde Zeuge, wie man Sie drei nacheinander überwältigte. Helfen konnte ich Ihnen nicht. Ich hatte als Waffe nur ein Messer und einen Revolver bei mir. Sie wissen ja: meine beste Waffe ist mein Mundwerk. Na – in diesem Falle hätte ich gern eine Büchse gehabt. – Ich beobachtete Ihre Überführung nach der Insel hier. Als die vier Gentlemen und die Miß sich vom Seeufer verzogen hatten, kletterte ich in den Kahn und ruderte hierher. Dann entkleidete ich mich, brachte den Kahn schwimmend wieder ans Seeufer zurück, kehrte um, kleidete mich an und kroch auf allen Vieren um den alten Steinkasten von Ruine herum, bis ich das Kellerfenster gefunden hatte. Ich hörte Sie unten sprechen. Inzwischen hatte sich drüben bei dem Kahn einer der Gentlemen als Wächter eingefunden. Ich mußte also warten, bis –“

„Wissen wir schon, Tompkinson.“

„Gut. Ich glaubte natürlich, daß sich außer Ihnen dreien und mir kein Mensch hier auf der Insel befände. Ich irrte mich. Als es dunkel zu werden begann, kroch ich die Stufen zum Eingang des verdammten Steinkastens empor. Mit einem Male sprang mir jemand auf den Rücken und drückte mir die Kehle zu, bis ich das Bewußtsein verlor. Ich habe den Kerl nicht zu Gesicht gekriegt. Er war stark wie ein Ochse. Und ich hatte mich bei alledem so dämlich, wie ein Ochse benommen. Nachher erwachte ich gefesselt in dem Kellersalon, in dem Sie mir dann die Stricke abnahmen, Mr. Harst. Das ist alles. Und kein Wort davon ist gelogen – ausnahmsweise –“

Erverlyn nickte dem Reporterkönig zu.

„Sie gefallen mir, Mr. Tompkinson. Ich lade Sie hiermit zu einer Tigerjagd ein.“

„Das hat noch Zeit,“ meinte Harald ernst. „Sie vergessen, meine Herren, daß wir hier nicht in Bombay in einem eleganten Restaurant, sondern mitten in der Thar sitzen, und daß ich mir in den Kopf gesetzt habe, herauszubekommen, was es eigentlich mit der Schmetterlings-Skizze in Wahrheit auf sich hat.“

Tompkinson holte ein Notizbuch hervor und begann eifrig zu schreiben.

„Ich notiere mir hier einiges für später, Mr. Harst. Das ist mein Beruf. Gestatten Sie: Was ist mit dem Schmetterling los?“

Harald berichtete im Depeschenstiel das Nötigste.

„Wer hat hier in der Verborgenheit gehaust?“ fragte Tompkinson weiter und schrieb ohne Unterbrechung dabei.

„Das müssen wir später feststellen. Ich weiß es nicht.“

„Gut. Was werden wir jetzt tun?“ Der Reporterkönig steckte sein Notizbuch ein.

„Schlafen – bis Tagesanbruch. Im Dunkeln in dieser Gegend umherzustreifen, ist nicht ratsam.“

Tompkinson nickte. „Schlafen Sie nur. Ich bin nicht müde. Ich werde arbeiten – schreiben! Sie können also in aller Ruhe sich niederlegen.“

 

5. Kapitel.

Des Rätsels Lösung.

Nachdem uns Tompkinson um 5 Uhr morgens geweckt und wir schnell einen Imbiß eingenommen hatten, verließen wir das halb verfallene Bauwerk.

Das Boot lag drüben am Ufer. Tompkinson schwamm hinüber und holte es. Er rief uns dann schon von weitem zu:

„Am Ufer liegt Ihre ganze Habe: Büchsen, Pistolen, Ferngläser, Messer, Zigarettenetuis und so weiter.“

Wir beeilten uns, wieder in Besitz unserer Sachen zu gelangen. Als wir nun dort tatsächlich alles vorfanden, was uns gehörte, selbst die Taschenuhren und die Taschenlampen, meinte Erverlyn:

„Die Klubleute haben sich die Geschichte überlegt. Reue ist in ihre schwarzen Seelen eingezogen. Deshalb diese Rückgabe der Beutestücke.“

Harald schaute den Lord ernst an. „Lieber Erverlyn, die schwarzen Seelen dürften zur Hölle gefahren sein.“

Er nahm seine Sachen auf, hing die Büchse entsichert in den Arm und stieg das Felsenufer hinan.

Und – was fanden wir hier in einer kleinen Talmulde dicht am See? –: unsere fünf Kamele, außerdem noch die beiden Tiere Tompkinsons!

Der kleine Reporter war genau so starr vor Staunen wie Erverlyn und ich. Nur Harst erklärte ebenso ernst wie vorher:

„Wir werden jetzt nach den vier Männern und nach Ellen Branting suchen. Aber – wir werden sie nicht finden. Wenigstens nicht lebend. Ich erinnere Euch an die Schüsse, die wir in der Nacht hörten –“ –

Tompkinson und ich blieben als Wache bei den Tieren. Harst und Erverlyn schritten zu Fuß davon, nahmen auch Proviant mit.

Sie kehrten erst nachmittags gegen vier Uhr zurück, beide mit Gesichtern, die deutlich verrieten, was sie erlebt oder gesehen haben mußten.

Sie hatten in jenem Tale, in dem der Bhat Chotan sein Bündel unter den Steinen versteckt gehabt hatte, die Leichen der fünf Klubleute unter einem Hügel von Felsstücken gefunden, außerdem noch zwei andere Leichen, zwei Inder. Die sämtlichen Toten wiesen Schußwunden auf. Die Inder hatten jeder allein vier Brustschüsse.

„Und wer waren die Feinde der Klubleute?“ fragte Stuart Tompkinson, der schon wieder seinen Bleistift bei der Hand hatte und eifrig schrieb. „Natürlich der Bhat Chotan – natürlich!“ beantwortete er sich die Frage selbst. „Der Radschpute also und die Leute, die dort auf der Insel gelebt haben. Übrigens – in der Nacht, als Sie drei schliefen, habe ich das Wohngemach sozusagen um und um gekrempelt. Ich hoffte irgend etwas zu finden, das mir über diese Einsiedler Aufschluß gegeben hätte. Ich entdeckte nichts – nichts! Kein Schriftstück – gar nichts! In keinem der Bücher stand der Name des Eigentümers.“

„Das wußte ich vorher, Tompkinson. Deshalb suchte ich auch nicht,“ meinte Harald. „Was die Gegner der nunmehr ausgelöschten Klubleute betrifft, so bin ich derselben Ansicht. Vier Männer wohnten auf der Insel im Kolar-See. Chotan kam als fünfter zu ihnen. Er war ihr Freund, ihr Vertrauter, ihr – Helfer. Als wir nach der Insel geschafft und dort eingekerkert wurden, wollte Chotan sich dankbar erweisen. Er wußte aber auch, daß ich nachher das Geheimnis der Einsiedler entdecken würde. Deshalb verließen diese ihren Schlupfwinkel, nachdem sie den einzigen, der Augenzeuge ihres Abzuges hätte werden können, ebenfalls eingesperrt hatten, und das waren Sie, Tompkinson. Chotan wußte jedoch ebenso bestimmt, daß ich durch die Fußbodenöffnung unserer Zelle zu Ihnen hinabgelangen und Sie befreien würde. Die vier Einsiedler und Chotan hatten nun fraglos mit den Klubleuten eine alte Rechnung wettzumachen. Ich denke, es werden die Klubleute gewesen sein, die Chotans Kamel erschossen und die auch ihn selbst verwundet hätten, wenn die Kugel nicht das kleine Messingfernrohr getroffen haben würde, das er sehr wahrscheinlich in der Brusttasche stecken hatte. Als er es später herauszog, um es in dem Bündel mit zu verbergen, fiel die obere Linse heraus. – Es kam zum Kampf fünf gegen fünf. – So, jetzt wollen wir einen guten Lagerplatz suchen und –“

„Nein, nein!“ rief der Reporterkönig da. „Das geht wider meine Berufspflichten. Ich muß sofort hinter den – ja, hinter den noch lebenden beiden Einsiedlern und Chotan her! Ich muß wissen, wer die Leute sind, unbedingt!“ –

„Das werden Sie auch erfahren, Tompkinson,“ sagte Harst und blickte den kleinen Mann scharf an. „Gewiß – ich habe Ihnen nicht zu befehlen. Aber – ich warne Sie! Die drei Leute, denen Sie nachsetzen wollen, würden ihr Geheimnis mit Kugeln schützen!“

„Na – dann warte ich eben!“ meinte Tompkinson. „Auf einen anderen würde ich nicht hören. Wenn der große Harst sagt, ich werde alles erfahren, so glaube ich ihm!“

Harald bat uns dann, das Thema „Chotan“ nicht mehr anzuschneiden.

Uns allen war klar, daß er noch mehr wußte, als er auch nur angedeutet hatte.

Abends am Lagerfeuer konnte Erverlyn sich die Bemerkung doch nicht verkneifen:

„Lieber Harst, wo werden wir dieses Geheimnis denn eigentlich enthüllen? Wohin geht es jetzt? Nach Bahawalpur, oder nach Ghoshgarh, wo Chotan angeblich zu Hause ist?“

„Es geht dorthin, wohin die Spuren deuten, die wir auf der Insel fanden,“ erwiderte Harald kurz. –

Am Morgen brachen wir auf. Harst machte den Führer. Wir verließen die endlose Hügelkette und bogen in die Sandwüste genau nach Osten zu ein. Harald hatte es nicht sehr eilig. Wir machten nur kurze Tagesreisen. Am dritten Abend stießen wir auf die ersten großen Herden der radschputischen Großgrundbesitzer. Die Wüste nahm Steppencharakter an. Bald trafen wir auch auf ein Dorf. Hier rasteten wir einen ganzen Tag. – Die Dörfer mehrten sich jetzt. Wir erreichten die erste Straße, einen Lehmweg, der nach der Stadt Bikaner führte. Daß diese Stadt von einigen 25 000 Einwohnern an der Bahnlinie liegt, die die Thar von Nord nach Süd durchschneidet, erwähnte ich bereits.

Am Morgen des sechsten Reisetages langten wir gegen 7 Uhr in Bikaner an. Wir suchten eines der Unterkunfthäuser auf, die hier zumeist von der Regierung verwaltet werden.

Harald verließ uns nachher für eine Stunde. Als er zurückkehrte, sagte er nur:

„Der Sack mit dem Firmenaufdruck und die Karbolflasche waren die richtige Fährte. Der indische Arzt Doktor Ismail Chotan aus der Kaste der Bhat wohnt hier in Bikaner. Er ist gestern abend erst von einer Vergnügungsreise nach Bombay zurückgekehrt, wie ich hörte. Nun – diese Reise war keine Vergnügungsreise. – Tompkinson, Sie sind doch mit allen Vorfällen sensationeller Art in Indien vertraut. Wissen Sie mir etwas über den Radscha von Kotarani zu berichten? Kotarani heißt ja das kleine Fürstentum, das mit seinen westlichen Grenzen an die Stadt Bikaner stößt.“

Tompkinson dachte angestrengt nach.

„Halt – nun hab ich’s!“ rief er dann. „Das ist der Radscha, der mit seinem Rennauto vor vier Jahren mehrere Leute totfuhr. Er hatte die Gewalt über den Kraftwagen verloren. Er sollte natürlich vor Gericht gezogen werden, vergiftete sich aber, um nicht als Fürst ins Gefängnis zu wandern. Die Familien seiner Auto-Opfer hatte er vorher überreich entschädigt. Es war ein noch junger Mann, dieser Radscha – hm – richtig, er hieß Gharo Mir Tossar. Seine Gattin herrscht jetzt an seiner Stelle, bis der Sohn volljährig ist.“

Harald forderte uns dann auf, ihn zu begleiten. Wir durchquerten die Stadt, kamen in das Europäerviertel. Hier bewohnte Doktor Ismail Chotan einen großen Bungalow.

Ein Diener führte uns in die Vorhalle. Wir nahmen Platz. Gleich darauf trat ein europäisch gekleideter, stattlicher Inder ein: der Bhat Chotan!

Er begrüßte uns durchaus unbefangen mit dem sicheren Benehmen des intelligenten, würdevollen Radschputen.

„Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, meine Herren?“ fragte er dann und setzte sich zu uns. „Wünschen Sie mich zu konsultieren?“

Er tat, als wären wir ihm völlig fremd.

„Master Chotan, ich denke, wir geben diese Komödie auf,“ erwiderte Harst leise. „Ich möchte Ihnen jetzt sofort in meinem und im Namen meiner Freunde versichern, daß wir Ihr Geheimnis bewahren werden. Ich will nur von Ihnen einiges bestätigt haben. Der Radscha Gharo ist nicht tot. Sie waren sein Leibarzt. Der Selbstmord wurde nur vorgetäuscht. Der Radscha lebte dann mit drei Getreuen auf der Insel im Kolar-See. Sie, Doktor Chotan, wollten den Radscha operieren. Sie hatten Nachricht erhalten, daß er erkrankt sei.“

Der Inder nickte. „Es ist so, Mr. Harst. Der Radscha hatte ein Geschwür am Schenkel. Ich wurde unterwegs von vier Europäern und einem Weibe überfallen, entkam mit knapper Not.“

„Danke. Das wissen wir ja. Wir haben die sieben Leichen unter dem Steinhügel gefunden. Wie kam es zu dem Kampf zwischen Ihnen und jenen Europäern, als Sie die Insel verlassen hatten.“

„Wir hörten ein paar Revolverschüsse. Diese lockten uns in jenes Tal. Dort hatte der Vater des blonden Weibes gerade einen seiner Begleiter und dessen früheren Diener (also Tamblay und Davidson) niedergeschossen. Wir belauschten sie. Sie sprachen davon, daß der eine Tote eine Geländeskizze absichtlich falsch gezeichnet hätte, damit eine Silberader[7], die von den Männern einst entdeckt war, ihm allein gehöre. Die beiden noch lebenden Männer und das blonde Weib bemerkten uns, feuerten sofort, und es kam zum Kampf. – Radscha Gharo haben wir jetzt anderswo verborgen, bis das Gnadengesuch, das seine Gattin an den König von England eingereicht hat, genehmigt ist und der Radscha wieder öffentlich sich zeigen darf.“

Harald erhob sich. „Ich danke Ihnen, Master Chotan. Wir wissen nun alles, und wir werden schweigen. Unser Wort darauf.“

Der Radschpute ließ uns jedoch nicht so ohne weiteres wieder fort. Wir mußten als seine Gäste bei ihm wohnen. – Abends[8], als wir zu Bett gingen, sagte Harst noch zu mir: „Tamblay hat die Skizze also tatsächlich „gefälscht“ gehabt. Aber – er hat keinen Nutzen davon gehabt. Er selbst konnte die Silberader nicht mehr finden. Ich habe mich bei diesem Problem nur in einem Punkte geirrt: Ich glaubte, daß die Skizze noch irgendwie mit den Schicksalen der Einsiedler auf der Insel im Kolar-See zusammenhing. – Gute Nacht, mein Alter. Die Weine Doktor Chotans waren etwas schwer. Ich bin müde –“ –

Wie wir dann noch den Radscha Gharo kennen lernten und was wir in dessen alter Burg erlebten, erzähle ich in:

 

Die Bajadere Mola Pur.[*1]

 

 

Verlagswerbung:

Der Goldschatz der Azoren

Die glänzende Erzählerkunst Walter Kabels, welcher doch nun schon seit Jahren tausende Leser an die Detektiv-Abenteuer unseres Harald Harst fesselt, schenkt uns in dem soeben erscheinenden großen Sensationsroman

Der Goldschatz der Azoren

ein neues Werk von so eigenartiger und packender Schönheit, daß auch dieser Roman zahlreiche Freunde finden und die Lesergemeinde der Kabelschen Arbeiten noch vergrößern wird.

Ein ganz eigenartiges Motiv hat sich der Autor für diese Arbeit gewählt: Die Macht des Goldes. Deutsche Männer und Frauen haben während des Krieges in unseren afrikanischen Kolonien einen großen Goldschatz gefunden, den sie dem Vaterlande schenken. Ein deutsches U-Boot nimmt das Gold an Bord, um es nach Deutschland zu schaffen. Im Atlantischen Ozean aber erleidet das U-Boot einen Maschinendefekt, es wird von einem englischen Kriegsschiff verfolgt und in der Nähe der Azoren-Inseln in den Grund gesenkt. Nur ein einziger der Besatzung, der Steuermann Hartwich, kann sich auf die Insel San Miguel retten, wo er drei Jahre lang als Robinson lebt. Als er dann nach Beendigung des Krieges in die Heimat zurückkehrt, findet er sein Vaterland am Boden liegend, das deutsche Volk unsäglich an den Folgen des Krieges leidend. Nun beschließt er den gewaltigen Goldschatz zu heben, um damit die Leiden seiner deutschen Volksgenossen zu lindern. Er trifft mit seinem Jugendfreunde Viktor v. Gaupenberg zusammen, der ein ganz neuartiges Luftschiff konstruiert hat, und mit Hilfe dieses Luftschiffes wollen die Freunde den Schatz bergen. Doch durch einen Zufall haben andere von dem Goldschatz erfahren, die nun mit allen Mitteln versuchen, für sich das Gold zu gewinnen. Und um diesen riesigen Goldschatz entbrennt nun einen Kampf, wie er gewaltiger und packender nicht geschildert werden kann.

Gratis und franko

erhält jeder Leser der Harst-Erzählungen das 1. Heft des „Goldschatz der Azoren“. Wir bitten um Einsendung der Adresse, worauf wir sofort vollständig kostenlos das erste Heft senden.

 

 

Anmerkung des Verlages:

  1. ↑* Bajaderen sind indische Tänzerinnen.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hefttitel auf der Umschlagseite: „Der Klub der XII“.
  2. In der Vorlage steht: „hattne“.
  3. In der Vorlage steht: „her“.
  4. „Phulaudhi“ / „Pulaudhi“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Phulaudhi“ geändert.
  5. In der Vorlage steht: „gnau“.
  6. In der Vorlage steht: „Harst hob ließ …“ – Überflüssiges Wort „hob“ entfernt.
  7. Jetzt auf einmal Silber? Davor war doch immer von Kupfer die Rede! – Text so belassen.
  8. In der Vorlage steht: „Abend“.