Sie sind hier

Auf des Messers Schneide

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 53:

 

Auf des Messers Schneide

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

1. Kapitel.

Daisys Revolver.

Harst hatte in Gwadar, der bedeutendsten Hafenstadt an der Westküste Belutschistans, das Verschwinden des Frachtdampfers Viktoria restlos aufgeklärt. Die beiden Hauptschuldigen, der Reeder Sadi Ahmed und der Kneipwirt O’Brien, ein Schotte, waren tot. O’Brien hatte in seiner Wut Ahmed erschossen und unser chinesischer Diener Tscho wieder hatte zwei Sekunden zu spät auf den Schotten gefeuert.

Am dritten Tage nach diesen aufregenden Ereignissen waren wir zur nochmaligen Vernehmung auf das Polizeibureau gegangen.

Auch Tscho war dabei. Polizeichef Kromer hatte noch zu tun, und so mußten wir drei im Flur warten. Harald Harst und ich saßen auf einer Bank, während unser Tscho daneben an der Wand lehnte.

Links von uns auf einer zweiten Bank saß eine schlanke, kleine Europäerin, die ein weißes Leinenkostüm anhatte und tief verschleiert war.

Unter dem englischen Herrenstrohhut kam ein starker Knoten leicht rötlichen Haares zum Vorschein. – Ich hatte auf die Dame nicht weiter achtgegeben, bis Harald mir zuflüsterte:

„Ich müßte mich sehr irren, lieber Schraut, wenn die Verschleierte dort nicht O’Briens Frau ist, von der sowohl Konsul Gesport als auch Kromer so sehr schwärmten. Gesport sprach von ihrem wundervollen Haar und ihrer tadellosen Figur. Diese Daisy O’Brien soll engelhaft schön sein. Niemand, erzählte mir Gesport gestern, hätte vor zwei Jahren sich erklären können, wo O’Brien, dieser ungeschlachte Riese, diese liebreizende Fee aufgetrieben hätte.“ –

Die Tür des Arbeitszimmers Kromers hatte sich geöffnet. Zwei Seeleute gingen hinaus, und der Schreiber des Polizeichefs rief zuerst Frau O’Briens und dann unsere Namen.

Kromer begrüßte uns durch Kopfnicken. Tscho blieb stehen. Die Rotblonde und wir beide nahmen auf den Stühlen Platz, die der Schreiber zurechtgerückt hatte.

Kromer wandte sich an Frau O’Brien.

„Sie haben gegen den Chinesen Tscho, Diener des deutschen Staatsangehörigen Harald Harst, Strafantrag wegen Mordes gestellt –“ Er erörterte die Vorgänge, die ich in dem letzten Band „Der Tintenlöscher des Sadi Ahmed“ geschildert habe, des näheren und erklärte dann, diesem Antrag auf strafrechtliche Verfolgung Tschos könne nicht stattgegeben werden, da es sich hier um die freilich verspätete Abwehr eines Angriffs auf einen Dritten gehandelt hätte.

Tscho hatte ebenfalls die damaligen Ereignisse nochmals erzählen müssen und betont, daß Harst mit diesem Ausgang nicht hätte rechnen können. Nur er, Tscho, sei so vorsichtig gewesen, den gespannten Revolver für alle Fälle in die Hand zu nehmen. –

Auf diese Ablehnung ihres Antrages hin sagte Frau O’Brien mit leiser Stimme, sie sehe jetzt ein, daß den Chinesen keine Schuld an dem Tode ihres Mannes treffe. „Lediglich Master Harst hat diesen doppelten Mord auf dem Gewissen,“ fuhr sie ebenso leidenschaftslos und eintönig fort. „Hätte er meinen Gatten sofort verhaften lassen, dann –“

Kromer unterbrach sie ungeduldig, „Ihr Mann war ein mehrfacher Mörder und wäre bestimmt hingerichtet worden,“ rief er scharf und unfreundlich. „Master Harst hat der Gerechtigkeit einen großen Dienst erwiesen. Sie sollten froh sein, das nicht gegen Sie eine Untersuchung eingeleitet wird wegen Beihilfe zu all den Verbrechen.“

„Thomas war krank,“ entgegnete sie ebenso leise. „Was er getan hat, davon wußte er nichts. Er war Nachtwandler und –“

Kromer machte eine kurze Handbewegung.

„Es ehrt Sie, daß Sie den Toten verteidigen,“ meinte er etwas liebenswürdiger. „Aber – von Geistesstörung oder dergleichen kann hier keine Rede sein. Ich danke Ihnen, Mistreß O’Brien.“

Sie hatte einen seidenen, reich mit Perlen bestickten Pompadour im Schoße liegen, an dem sie bisher nervös mit den Fingern gezupft hatte.

Kaum waren die letzten Worte über des Polizeichefs Lippen gekommen, als Harst sich erhob und mit zwei schnellen Schritten neben der schönen Daisy stand. Seine Rechte griff nach ihren Händen und dem Pompadour.

„Mistreß,“ sagte er höflich, ohne auf den leisen Aufschrei zu achten, der hinter dem weißen Schleier hervordrang, „Sie sind noch zu jung, als daß Sie bereits das Leben von sich werfen sollten. Ich habe Sie genau beobachtet. Das nervöse Spiel Ihrer Hände war Absicht. Unter der Seide des Pompadours zeichnete sich einmal so etwas wie ein Revolver ab. Gestatten Sie, daß ich die Waffe vorläufig in Verwahrung nehme.“

Sie schluchzte leise und hielt den Kopf gesenkt.

Harald ging mit dem Pompadour an den Schreibtisch Kromers und schüttelte dort den Inhalt heraus. Ein seidenes Tüchlein, ein längliches dünnes Metallröhrchen und ein kleiner Damenrevolver kamen so zum Vorschein.

Daisy O’Brien flüsterte jetzt:

„Aber den Pompadour kann ich doch zurückerhalten?“

Harst tat das Röhrchen und das Tüchlein wieder hinein.

„Bitte!“ – Er reichte ihr den Perlenbeutel mit einer Verbeugung.

Sie standen sich jetzt dicht gegenüber. Mir war’s, als ob die blonde Daisy Harst etwas zuraunte.

Dann ging sie ohne Gruß hinaus.

Harald nahm die kleine Waffe und besichtigte sie.

„Ja, sie ist entsichert,“ meinte er und schob die Sicherung vor.

Kromer starrte Harst forschend an,

„Hm,“ sagte er dann, „glauben Sie wirklich, daß Schön-Daisy nur sich selbst mit einer Kugel bedenken wollte?“

„Ich will es glauben!“ erwiderte Harst.

Kromer trommelte mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte. „Verdammte Weiberbrut!“ murmelte er. „Das galt Ihnen, Harst! Eigentlich müßte ich –“

„Nichts müssen Sie!“ unterbrach Harald ihn. „Diese arme Frau, die nach diesen Geschehnissen mit ihren Nerven wohl völlig herunter ist, wollte sich selbst erschießen! Dabei bleibt’s!“

„Nun gut,“ meinte Kromer. Und er diktierte dem Schreiber, daß bei Mistreß Daisy O’Brien ein Revolver, Kaliber 6 Millimeter, polizeilich beschlagnahmt worden sei, weil – und so weiter.

Darauf sagte Harald zu Kromer, daß wir uns nun auch gleich von ihm verabschieden müßten. „Heute abend geht ein Frachtdampfer nach Aden ab, wie Konsul Gesport gestern beiläufig erwähnte. Wir wollen dieses Schiff benutzen. Ich habe Sehnsucht nach daheim, nach meiner Mutter und dem stillen Hause in der Blücherstraße in Schmargendorf-Berlin. Wir sind nun wieder fast zehn Monate in Indien. Ich möchte mich etwas ausruhen.“

Mir kam dies völlig überraschend. Von einer Heimkehr hatte Harald keine Silbe bisher geäußert.

Kromer bedauerte es außerordentlich, daß wir Gwadar schon wieder verlassen wollten. Mit einem Male schickte er dann seinen Schreiber hinaus und fragte Harst, ob er in Gegenwart Tschos ganz offen sprechen dürfe.

„Tscho ist verschwiegen,“ meinte Harald und nickte dem stämmigen gelben Burschen zu, der seine großen Schwächen hatte, aber auch mit hündischer Treue an ihm hing.

Kromer lehnte sich in seinem Schreibsessel zurück.

„Master Harst, in der verflossenen Nacht ist hier im Polizeigebäude eingebrochen worden, obwohl doch im Erdgeschoß nach vorn heraus ständig eine Wache von fünf Beamten untergebracht ist,“ begann er leise. „Aber – seltsam genug! – es ist nichts gestohlen worden. Ich begreife nicht, weshalb die Diebe sich so viel Mühe gemacht haben.“

Er berichtete weiter, daß der Einbruch erst heute früh um acht Uhr bemerkt worden sei. Die Diebe waren durch den Garten gekommen, hatten die Gartenleiter an die Hauswand gelehnt, eine Scheibe im Hochparterre kunstgerecht mit einem mit Kleister beschmierten Lappen eingedrückt und dann zwei Türschlösser gewaltsam geöffnet. Sie waren so in die Kanzlei gelangt und darauf unverrichteter Sache umgekehrt.

„Dort steht nämlich ein Kassenschrank,“ fügte Kromer hinzu. „Die Spitzbuben wagten sich an den modernen Tresor aber nicht heran, denke ich. Sie hätten auch nicht viel erbeutet.“

„Es fehlt also nichts?“ meinte Harald gleichgültig.

„Nein – gar nichts!“

„Kann ich mir die Kanzlei einmal ansehen? Sie müßten aber vorher die Beamten hinausschicken und dann die Leute selbst überwachen, Master Kromer. Vielleicht rufen Sie sie alle hierher.“

Kromer machte ein sehr verwundertes Gesicht, tat jedoch das, was Harald verlangt hatte. –

Wir beide waren dann in dem großen Bureau allein. Tscho stand draußen vor der Tür, durch die die Diebe eingedrungen waren.

An der einen Wand waren zwei große Aktenschränke und zwischen ihnen das Panzerspind aufgestellt. – Ich lehnte am Fenster und beobachtete Harst, der mit größter Sorgfalt alles untersuchte. Das nahm eine halbe Stunde in Anspruch. Er äußerte sich in keiner Weise, ob er etwas gefunden hätte, was auf die Einbrecher Bezug haben könnte, schickte nur Tscho zu Kromer und ließ bestellen, wir würden nun in den Garten gehen.

Hier lehnte die Leiter, die die nächtlichen Gäste offenbar benutzt hatten, an einer kleinen Bretterbude unweit der Rückfront des Hauses.

Auch diese Leiter besichtigte Harst mit einem Interesse, als wäre es ein Kuriosum. – Kromer stellte sich ein und fragte, ob Harald in der Kanzlei etwas entdeckt hätte.

„Bedauere – nichts!“ meinte Harst. Dann trug er die Leiter an die Hauswand und kletterte bis zur Höhe des Hochparterres hinauf, sah sich das Fenster an, bei dem die mittlere Scheibe eingedrückt war, und stieg in diesen Raum hinein, in dem nur alte Akten aufbewahrt wurden.

Nach fünf Minuten war er wieder bei uns.

„Sie haben ganz recht, Master Kromer,“ meinte er. „Die Leute wollten an den Tresor heran. Es waren geübte Einbrecher. Aber das Panzerspind hätte ihnen zu schwere Arbeit gemacht.“

Dann verabschiedeten wir uns und schritten unserem Bungalow zu, den Konsul Gesport uns zur Verfügung gestellt hatte.

 

2. Kapitel.

Der wracke Zweimaster.

Tscho trottete in respektvoller Entfernung hinterdrein.

„Harald,“ begann ich, „Daisy O’Brien wollte doch auf Dich schießen, nicht wahr?“

„Natürlich.“

„Verläßt Du ihretwegen Gwadar so plötzlich?“

„Natürlich.“

„Hm – so „natürlich“ ist das doch wohl nicht. Weshalb – kneifst Du vor ihr aus, vor einem Weibe!“

Er schob seinen Arm in den meinen. „Diese Daisy, mein Alter, ist eine Tigerin mit dem äußeren Gehabe eines kranken, matten Lämmchens. Weiber von dieser Sorte sind mehr zu fürchten, als ein Dutzend tollkühne Männer. Ein Weib, das sich rächen will und das die Eigenschaften dieser schönen Daisy hat, meidet man am besten. Ich habe nicht Lust, mich mit ihr zu messen. Ein Kampf gegen eine liebreizende Frau, deren Seele ein Krater von Verschlagenheit, Tücke, Verstellungskunst und Unternehmungslust ist, bleibt eine fragwürdige Zerstreuung. Ich wette, sie ist ihres Mannes Vertraute in allem gewesen, wohl auch seine Gehilfin. Jedenfalls: wir reisen ab! Beaufsichtige das Kofferpacken. Der Frachtdampfer „Lord Roberts“ verläßt um sieben Uhr den Hafen. Wir werden schon um vier Uhr an Bord gehen. Kabinenplätze sind fraglos frei. Zur Sicherheit werde ich Tscho zum Hafen hinabschicken und fragen lassen.“

„Und dieser Einbruch im Polizeigebäude?“ meinte ich.

„Am Fensterkreuz waren in einen kleinen Nagel zwei Stückchen Haar eingeklemmt, mein Alter, – rotblondes Haar –“

Ich schaute ihn überrascht an.

„Daisy?“

„Ja – Daisy!“

„Und – was wollte sie in der Kanzlei?“

„Wenn ich das wüßte! Ich weiß es aber nicht –“

Wir betraten den Vorgarten des Bungalows. Einer der Diener kam uns entgegen.

„Master Harst, es war eine Dame hier, eine Europäerin,“ meldete er. „Sie hat einen Brief zurückgelassen. Er liegt auf dem Schreibtisch.“

Der Brief lautete in deutscher Übersetzung:

Sehr geehrter Herr Harst!

Gestatten Sie, daß ich Ihnen danke. Sie sind zwar an dem Tode meines Gatten indirekt schuld, aber Sie glaubten eben, richtig zu handeln, als Sie Thomas wie einen Verbrecher zu Tode hetzten. Sie haben mich heute bei Mr. Kromer vor einem übereilten Revolverschuß bewahrt. Ich werde Ihnen das nicht vergessen. Vielleicht finde ich das Leben auch ohne Thomas noch lebenswert.

Daisy O’Brien.

Harald schaute mich an. „Na, mein Alter? Merkst Du nun, was diese Frau an Heuchelei zu leisten vermag?“

Mir fiel ein, daß sie Harst noch etwas zugeraunt hatte, bevor sie das Bureau Kromers verließ. Als ich ihn dieserhalb fragte, erwiderte er: „Sie flüsterte nur: „Oh – Sie sind bewundernswert!“ – Das war alles.“

Er steckte sich eine Mirakulum an und ging im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor mir stehen. „Ich mache gar kein Hehl daraus, mein Alter,“ sagte er leise. „Ich bin unseretwegen in Sorge. Der Brief ist kein Dank, sondern eine Kriegserklärung. Der Satz „Vielleicht finde ich das Leben auch ohne Thomas lebenswert“ deutet auf ihre Absichten hin. Die Rache soll ihr das Dasein eben erträglich machen.“

Mir war bei alledem auch nicht recht behaglich.

„Hm – wir hätten unter diesen Umständen unsere Abfahrt ganz geheim halten sollen,“ meinte ich.

„Zwecklos, lieber Alter! Sei überzeugt, wir sind von Spionen umgeben. Der Kneipwirt O’Brien hatte das ganze internationale Hafengesindel als Hilfstruppen zur Verfügung. Und seinem Weibe gehorcht diese Bande genau so. – Nein, es gibt nur ein Mittel, sie loszuwerden: wir müssen in Aden verduften und auf Umwegen die Heimat aufsuchen.“ –

Als wir uns dann mit Tscho und unseren drei Koffern gegen vier Uhr nachmittags an Bord des Dampfers, eines recht alten Rattenkastens, einfanden, nahm Harald den Kapitän Groner, einen Landsmann von uns, sofort beiseite und fragte ihn, ob er noch heute irgendwelche Matrosen oder dergleichen angemustert hätte.

Groner verneinte. Er wußte, wer und was wir waren, lächelte schlau und fügte hinzu: „Hm – fürchten Sie Verfolger, Landsmann?“

„Ja. Es gibt Leute, die Schraut, mich und Tscho gern beseitigen möchten.“

Groner nickte. „Gut, gut, werde die Augen ordentlich offen halten, Herr Harst. Sie drei sind die einzigen Passagiere. Und – daß sich niemand an Bord schleicht, dafür garantiere ich.“ –

Wir blieben auf der Kommandobrücke und hielten gleichfalls Ausschau nach verdächtigen Gestalten. Nichts ereignete sich; nichts fiel uns auf.

Um sieben Uhr heulte die Sirene des Dampfers dreimal, und wir steuerten der offenen See zu.

Harald wandte sich um und sagte: „Sie stand am Kai hinter einem Warenstapel, mein Alter. Sahst Du sie? Sie war genau so angezogen wie vormittags, und sie winkte mit dem Tüchlein, das sie aus dem Pompadour nahm, noch lange Zeit dem „Lord Roberts“ nach.“

Ich hatte nichts gesehen und schaute Harald zweifelnd an.

„Es ist so,“ meinte er nachdenklich. „Sie winkte, als ob liebe Bekannte davonführen. Wer weiß, was das nun wieder zu bedeuten hat?! Am unangenehmsten ist, daß wir ihr Gesicht nur verschleiert gesehen haben. Auch die Beschreibung ihrer Züge, die Gesport lieferte, hilft uns nicht viel. – Na – gehen wir in unsere Kabinen. Tscho wird es uns ja wohl schon einigermaßen wohnlich gemacht haben.“

Wir stiegen die Treppe der Kommandobrücke hinab.

Um acht Uhr saßen wir mit Kapitän Groner und dem ersten Offizier beim Abendbrot.

„Es wird eine stürmische Nacht geben,“ meinte Groner. „Wenn wir nur erst in Sicht der arabischen Küste sind, dann kann uns der Weststurm nichts mehr anhaben.“

Der alte Kasten von Dampfer schlingerte und tanzte wie ein leichter Kork. Wir hörten, wie immer häufiger schwere Brecher über das Deck fegten. Die Teller rutschten auf dem Tische hin und her, und das Füllen der Gläser war ein reines Kunststück.

Dann wurde die Tür der großen Wohnkajüte aufgerissen und der Ingenieur Mac Lean stürmte herein.

„Käp’ten, die Schraubenwelle hat sich heiß gelaufen,“ meldete er überstürzt. „Der Steuermann läßt schon die Notsegel hissen –“

Groner, der erste Offizier und Mac Lean eilten hinaus.

„Fängt gut an!“ sagte Harald. „Gehen wir gleichfalls an Deck.“

Die Maschine des Dampfers war verstummt. An den beiden Lademasten waren die Notsegel bereits gesetzt und prall gefüllt.

Der Sturm war im Verlauf einer halben Stunde aufgekommen und auch gleich zu einer orkanartigen Stärke angeschwollen. Dabei zeigte der Nachthimmel nicht eine einzige Wolke. Der Glanz der Sterne verbreitete genügend Licht, um das grausig-schöne Schauspiel der schäumend dahinziehenden Wogenberge genau beobachten zu können.

Wir klammerten uns oben am Brückengeländer fest. Kapitän Groner stand im Steuerhäuschen.

Mit einem Male packte Harald meinen Arm und deutete mit der anderen Hand auf einen Küstensegler, der vor uns schwer gegen den Sturm ankämpfte. Es war eines jener flachen Fahrzeuge mit zwei Masten, die man überall in diesen Gewässern antrifft. Der eine Mast war geknickt und lag zum Teil über Bord. Man erkannte vier Leute, die auf dem Deck hin und her liefen. Ein fünfter stand am Steuer.

Auch Groner hatte das wracke Fahrzeug erspäht, winkte uns ins Steuerhäuschen und rief: „Hilfe unmöglich. Ja, wenn die Maschine arbeitete!“

In demselben Augenblick kam aus dem Maschinenraum ein Klingelzeichen[1] herauf. Groner beugte sich über das Sprachrohr.

„Hallo – was gibt’s?! – Wie – Sand im Gehäuse der Schraubenwelle?! – Ah – gut, dann volle Kraft voraus!“

Die elektrische Kompaßlampe beschien Groners halb verzerrtes Gesicht.

„Master Harst – eine verfluchte Geschichte,“ stieß er hervor.

„Habe gehört – Sand! Daher hat sich die Welle heiß gelaufen.“

„Ist aber schon in Ordnung. – Da – die Maschine arbeitet wieder –“

Das Küstenfahrzeug war bald eingeholt. Groner manövrierte so tadellos, daß man den fünf Leuten Taue zuwerfen konnte.

Ein brauner Kerl kam an Bord und war mit Groner bald handelseinig. Der Dampfer nahm den Segler ins Schlepptau.

„Wir müssen sehr bald in ruhiges Wasser kommen,“ meinte Groner. „Dort halbrechts liegt schon das Kap Raß el Hadd. Sehen Sie die Brandung dort? In zehn Minuten ist der Tanz vorüber –“

Groner behielt recht. Die Wogen wurden kleiner und kleiner. Auf Steuerbordseite leuchteten in der Ferne helle Sanddünen auf: Arabien! – Bald lagen wir Bord an Bord mit dem Küstensegler, dessen Kapitän nun den Schlepplohn bezahlte und sich wortreich bedankte. Dann setzte unser Dampfer die Fahrt fort. –

Gegen elf Uhr saßen wir wieder an der Tafel in der großen Kajüte und stärkten uns nach den vorausgegangenen Aufregungen.

Plötzlich sagte Harald zu Kapitän Groner:

„Nicht wahr, der Mast des Küstenfahrers war auffallend günstig über Bord gekippt?“

Groner stellte das Grogglas hin.

„Das Segel daran und die Taue waren ebenfalls so merkwürdig in Ordnung,“ fuhr Harst fort. „Außerdem hatte der braune Kerl von Kapitän so unruhige Augen.“

Jetzt mischte sich der erste Offizier Mr. Blanley[2] ein.

„Sie haben ganz recht Master Harst,“ meinte er. „Irgend was stimmte da nicht. Das Fahrzeug hätte auch ohne uns sich bis unter Land forthelfen können. Der andere Mast war ganz in Ordnung.“

Groner blickte Blanley unsicher an.

„Was soll das eigentlich?! Meinen Sie etwa, daß der kleine Zweimaster –“

Er kam nicht weiter. Die Tür flog auf. Sechs braune Kerle stürzten herein, Revolver in den Händen.

„Nicht gerührt!“ brüllte ein alter, blatternarbiger Bursche. „Nicht gerührt, oder es knallt!“

„Nette Bescherung!“ sagte Harst sehr laut, ebenfalls auf englisch. „Ein kleines Piratenabenteuer. – Man muß den Leuten Anerkennung zollen, Landsmann Groner; sie haben ihre Sache nicht schlecht gemacht.“

Der Blatternarbige, der in einem blauen Heizeranzug steckte, grinste, ließ aber seinen Revolver nicht sinken.

„Ihr seid natürlich an Bord geklettert,“ sagte Harst zu ihm, „als der Zweimaster neben dem Dampfer lag. Dein Anzug ist naß, Dein Haar ebenso. Ihr habt ein Stück schwimmen müssen und seid auf Steuerbordseite hoch geentert, während alles an der Backbordreling stand und Euren Segler betrachtete.“

„Yes, Master, so ist’s,“ grinste der Kerl triumphierend. „Der Dampfer ist in unserer Gewalt. Euch wird aber nichts geschehen, wenn Ihr vernünftig seid. – Käp’ten,“ wandte er sich an Groner, „Ihr habt für Aden ein Kistchen Perlen an Bord. Rückt damit heraus, oder –“

Er zielte auf Groner.

„– oder wir machen Euch alle stumm!“

Die braunen Banditen sahen ganz so aus, als ob sie diese Drohung wahrmachen würden.

Groner tropfte vor Aufregung der Schweiß von der Stirn.

„Sucht die Perlen, Ihr Schufte!“ keuchte er.

Der Blatternarbige senkte etwas die Revolvermündung. Dann ein Knall, und das Weinglas, das vor Groner stand, ging in Scherben.

„Wir sind unserer zwölf an Bord,“ sagte der Anführer kalt. Sein Gesicht war plötzlich finster und tückisch. „In einer halben Stunde ist unser Zweimaster hier. Ihr hört, die Maschine läuft nicht mehr. – Heraus mit der Kiste!“

Harst sagte jetzt zu Groner:

„Schade, daß mir meine Pistole vorhin über Bord fiel. Ich hätte diesen Halunken sonst gezeigt, daß ich mich zu wehren weiß. Unter diesen Umständen freilich tun Sie am besten, die Perlen herauszugeben.“

Pistole über Bord?! – Ich wußte nichts davon. Ich witterte irgend etwas besonderes! –

Groner fluchte. „Die Pest über Euch Halunken! Die Kiste steht in meiner Kabine unten im Schrank. Es liegt schmutzige Wäsche darüber.“

Der Blatternarbige flüsterte seinen Kumpanen etwas zu. Wir wurden einzeln gebunden. Die Füße ließ man ungefesselt. – Dann räumten die Kerle uns die Taschen aus. Meine Clementpistole steckte der Anführer zu sich.

„Zur Sicherheit werden wir Euch trennen!“ sagte dieser nun. „Bringt diese beiden an Deck.“ – Er zeigte auf Harst und mich.

So wurden wir denn nach oben gezerrt.

Der Mond war inzwischen aufgegangen. Zwei Piraten bewachten uns. Wir saßen auf dem Deckel der einen Ladeluke. Dann schleppte man auch unseren Tscho herbei. Und gleich darauf erschien der Zweimaster, der jetzt wieder seine volle Takelage hatte.

Wir drei mußten das Fallreep[3] hinab und in einen Verschlag des Küstenseglers hinein. An der Decke hing eine kleine Öllampe. Zwei Kerle hocken vor der Tür des Verschlages und beobachteten uns ständig.

Harald verhielt sich völlig schweigsam.

Nach einer geraumen Weile merkten wir an dem Schwanken des Seglers, daß wir den Dampfer verlassen hatten und davonfuhren.

Vor Müdigkeit schlief ich im Sitzen ein, trotz der Schmerzen, die mir die Stricke an den Handgelenken bereiteten.

Und dann – dann kam das Erwachen, kam das Grauen und die wahnwitzige Todesangst, kamen alle Schrecken der Hölle.

 

3. Kapitel.

Der Scharr el Madri.

Ich träumte. – Seltsam genug: gerade von Daisy O’Brien, die vor mir stand und mir den Brief vorlas, den sie Harst geschrieben hatte.

Der Traum ging in die brutalste Wirklichkeit über.

Eine helle Stimme weckte mich, ein schneidendes Hohnlachen. Und als ich völlig munter war, hörte ich Harald antworten:

„Sie irren sich, Daisy O’Brien! Ich habe genau gewußt, daß nur Sie hinter alledem als treibende Kraft steckten und daß der Perlenraub lediglich den wahren Zweck dieses Piratenstreiches verheimlichen sollte. Auf uns drei war es abgesehen!“ –

Die Umgebung war noch dieselbe. Dies festzustellen, genügte ein Blick. – Aber zwischen den beiden Wächtern lehnte an der Tür des Verschlages ein schlanker, brauner Bursche mit hellem Turban in Leinenhosen, buntem Hemd und Revolvergürtel um die Hüften: Daisy O’Brien!

„Darüber können wir uns an Deck unter dem Sonnensegel unterhalten,“ meinte sie jetzt mit ironischer Höflichkeit. „Sie drei sollen noch die Sonne sehen, bevor Sie sterben. – Schafft sie nach oben!“ befahl sie den Wärtern.

Der Küstenfahrer lag jetzt in einer von Sanddünen eingeschlossenen Bucht dicht am Ostufer. Eine Laufplanke war an Land geschoben. Ein Teil der braunen Banditen lagerte ganz in der Nähe unter ein paar Dattelpalmen.

Unter dem Sonnensegel standen auf dem Achterdeck vier Bambusstühle um einen Tisch herum. Wir mußten uns setzen. Auch Daisy O’Brien nahm Platz. Die beiden Wächter und der Pockennarbige blieben in einiger Entfernung stehen und hörten zu. –

Daisy O’Brien glich völlig einem jungen Araber, der etwas auf sein Äußeres hielt.

Ihre Blicke ruhten jetzt mit einem Ausdruck von Haß und Rachgier auf Haralds gleichmütigem Gesicht.

„Der Dampfer ist längst wieder nach Aden unterwegs,“ begann sie dann mit erkünstelter Ruhe. „Kapitän Groner glaubt, Ihr drei seid ertrunken, als Ihr fliehen wolltet. Ich – ich habe Euch in meiner Gewalt!“ Bei den letzten Worten kam doch der Haß zum Durchbruch. Sie kreischte es fast, und ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse des Triumphs und der Schadenfreude.

Harst lächelte ganz wenig. „Bleiben Sie doch Dame, Mistreß O’Brien,“ sagte er kühl.

Sie wurden wirklich verlegen.

Ein paar Möwen strichen mit heiterem Schrei über das Wasser hin.

„Daß nicht Sie es waren, die in Gwadar am Hafenkai stand, wurde mir sehr bald klar,“ fuhr Harald fort. „Ihre Stellvertreterin dort war ein wenig größer als Sie. Und der Schleier war nach hinten zu auch um das Haar gebunden. Ich habe ein gutes Auge für solche Kleinigkeiten. – Dann traf unser Dampfer das scheinbar halb wracke Küstenfahrzeug – scheinbar halb wrack! Da dachte ich an die falsche Daisy O’Brien auf dem Kai und sagte mir, die echte könnte vielleicht auf diesem Segler sein und sich an Bord des Dampfers schmuggeln wollen. Freilich – einen so großzügigen Piratenstreich sah ich nicht voraus. Ich glaubte, Sie würden uns drei nachts im Schlaf abtun wollen, nachdem Sie an Bord gelangt waren.“

Wieder das schneidende Lachen.

„Als ob das eine genügende Strafe für Sie drei gewesen wäre! Sie – Sie haben mir alles genommen: meinen Mann, den Reichtum, die Heimat! Sie werden büßen, Sie werden –“ Ihre Stimme schrillte. Aber sie beherrschte sich plötzlich, sagte eisig:

„Sie werden den Scharr el Madri, die Schneide des Messers, kennen lernen, und zwar sofort. Wir sind in dieser Bucht nicht sicher. Der Dampfer kann einem der englischen Zollboote begegnen, und dann –“ – Sie beendete den Satz nicht, stand schnell auf und rief dem Blatternarbigen zu:

„Sostar, fort mit den dreien! Die Sonne steht hoch genug –“

Die Kerle unter den Palmen kamen herbei. Man stieß uns über die Laufplanke, führte uns unter höhnischen Reden und Spottgelächter durch die Dünentäler auf einen einzelnen, felsigen Höhenzug, dessen vorderster Berg wie ein in Fels erstarrter Wellenkamm aussah.

Roher und brutaler wie dieses braune Gesindel uns über Felsgeröll und Steilwände nach oben trieb, konnte es kaum geschehen.

Dann hatten wir den Kamm des langgestreckten Berges erreicht, dessen Spitze schmal und scharf wie die Schneide eines Messers war.

Man fesselte uns jetzt auch die Beine, band uns durch ein langes Tau aneinander, so daß wir eine Reihe bildeten, und knüpfte das Tau ganz straff gespannt an zwei Felszacken fest.

Wir lagen mit dem Rücken auf dem kahlen, schmalen Felsgrat – wie die Perlen an der Schnur.

Und Daisy O’Brien stand neben Harsts Kopf und rief: „So – dies ist Eure Strafe! Auf dem Scharr el Madri wird die Sonne Euch rösten! Und die Aasgeier werden kommen und warten, bis Ihr Euren letzten Jammergeschrei über die blutleeren Lippen gequält habt! – Harald Harst, das Leben ist mir wieder lebenswert, denn Thomas ist gerächt!“

Wir hörten, wie der Trupp sich entfernte. Steine polterten herab. Stimmengewirr wurde schwächer und schwächer.

Ich hob etwas den Kopf. Ich lag als letzter in der Reihe nach Osten zu. Dann kam Tscho. Unsere Füße berührten sich; und nach Westen zu, mit den Stiefelsohlen fast an Tschos Scheitelhaaren, folgte Harald.

Auch er hatte den Kopf hochgereckt. Wir schauten uns still an. Dann nickte Harald mir zu.

Wir waren nicht geknebelt. Wir konnten miteinander sprechen, konnten uns verständigen, auch um Hilfe rufen.

Harald, nickte wieder und sagte laut:

„Die Rechnung stimmt nicht ganz, Freunde! Daisy O’Brien hat geglaubt, mit der Wahl dieses Scharr el Madri besonders klug und grausam gehandelt zu haben.“

Tschos gelbes Gesicht erschien. Er blickte wild um sich, blickte mich an und rief:

„Oh – wir verloren sein, Master Schraut! Zu beide Seiten tiefer Abgrund!“

Er hatte nur zu recht. Der Grat, auf dem wir lagen, war etwa dreiviertel Meter breit und glich einer Mauer, die sich erst tief unter uns zu steilen Abhängen ausdehnte. Haralds ironische und doch so hoffnungsvolle Worte machten daher auch wenig Eindruck auf mich. Ich hielt unser Schicksal für besiegelt. Wer sollte uns hier beistehen?! Wie sollten wir, an Händen und Füßen brutal gefesselt und dazu noch durch das starke Tau langgereckt und am Boden festgehalten, uns wohl aus eigener Kraft befreien, zumal die Glut der Sonnenstrahlen uns in wenigen Stunden völlig erschöpfen mußte?

Es mochte dem Stande der Sonne nach jetzt sieben Uhr morgens sein. Noch anderthalb Stunden, und das Tagesgestirn würde mit vernichtender Stärke mit seinen Hitzestrahlen auf uns lasten! –

All das schoß mir blitzschnell durch den Kopf, während Tscho jetzt an seinen Fesseln zerrte und Harald spähend den Kopf nach rechts und links drehte.

Dann meldete er sich wieder:

„Tschos Unkenrufe sind überflüssig!“ sagte er und lächelte schwach. „Nur Mut, mein Alter! Wir haben schon anderes erlebt als dies hier! – Uns sind die Hände auf den Rücken gebunden. Fühlt also mit den Fingern den Steinboden ab, ob Ihr nicht im Bereich Eurer Hände eine Felskante findet. Geduld führt zum Ziel! Jeder Strick läßt sich allmählich an so einer Kante durchreiben.“

Ich senkte den Kopf. Die Genickmuskeln taten mir weh.

Fünf Minuten, vielleicht auch mehr, verstrichen.

„Fels sein glatt,“ rief Tscho kläglich.

Ich bestätigte dies, fügte hinzu: „Es ist ausgeschlossen, die Stricke durchzuscheuern. Man würde dazu auf dem glatten Boden einen halben Tag brauchen, falls die Kräfte dazu reichten.“

Harald schwieg. – Wieder verstrich eine lange Zeit. Ich schaute in den blauen Äther empor. Dort schwebten ein paar Vögel, zogen weite Kreise. Vielleicht waren’s die Aasgeier, die Daisy O’Brien uns angekündigt hatte.

Der Schweiß lief mir über das Gesicht. Mein Kopf war ungeschützt. Wir drei hatten keine Kopfbedeckungen. Die Sonne brannte immer heißer hernieder. Und die Todesangst kam dazu, das furchtbare Grauen vor einem qualvollen, langsamen Sterben. –

Harst – was tat Harst?! Weshalb schwieg er?!

Da – ich spürte einen starken Ruck an dem Tau, das man uns um die Brust gebunden und dann durch die Fußfesseln gezogen hatte. Es ging über uns hinweg, beengte uns und war straff wie eine Violinsaite gespannt.

Noch ein Ruck.

Ich hob den Kopf.

Ah – Harst hatte sich völlig zusammengekrümmt, lag auf der Seite und hatte die Beine eng an den Leib gezogen. Es war ihm also geglückt, die Schlingen der Fußfesseln an dem Tau entlangzuzerren.

„Hinlegen!“ rief er da. „Du spannst das Tau noch schärfer!“

Ich gehorchte. Aber ich gab nun auf jeden noch so kleinen Ruck acht, der das Tau bewegte – Was hatte Harald vor?! Weshalb hatte er sich so eng zusammengekrümmt, daß sein Kinn die Knie berührte?! Was trieb er jetzt?!

Dann Tschos plötzlich sehr vergnügte Stimme:

„He, Master Schraut, ich hören deutlich, wie Master Harst zerreißen Leinenstoff –“

Leinenstoff?! – Ah, Harald hatte ja weiße Leinenhosen an! Und die schien er jetzt mit den Zähnen zu bearbeiten! Denn auch ich vernahm das bezeichnende Geräusch zerreißender Leinwand. –

Dann Harsts Stimme: „Ihr dürft Euch jetzt nicht rühren! Ich hatte mir meine Clement unter dem Beinkleid am rechten Knie festgebunden. Es ist ein reines Jongleurkunststück, sie nur mit den Zähnen loszuknüpfen und sie dann auch mit den Zähnen auch fassen. Also – keine Bewegung! Alles hängt davon ab, daß ich die Waffe bis in meine Hände bugsiere. Es wird gelingen, hoffe ich. Wenn sie nur erst auf dem Felsboden liegt, schiebe ich sie schon weiter.“ –

Wir beide verhielten uns ganz still. Mein Herz begann zu jagen. Die Pistole! Und – wenn Harst sie in der Hand hatte, – was nützte uns das?!

Freilich, die Aasgeier würde er verscheuchen! Aber sonst –?!

Da – zwei schwache Rucke am Tau.

Nun Haralds frohlockender Ruf: „Ich habe sie! Wartet – jetzt knallt’s sofort! Ich muß nur eine andere Lage einnehmen –“

Dann – der blecherne, harte Knall der Clement.

Das Tau ruckte scharf an.

Wieder ein Knall. Und abermals ruckte das Tau.

Ich konnte nicht länger schweigen. Ich brüllte mit aller Lungenkraft:

„Du zerschießt das Tau, Harald. – Du –“

Der dritte Schuß schnitt mir den Satz entzwei. Und Harald rief:

„Achtung!“ – Ein starker Ruck, und das bis dahin straffe Seil lag schlaff auf meinem Leibe. –

Es war geglückt! – Harald stand aufrecht da!

„Die Fesseln bin ich bald los,“ meinte er jetzt ganz gelassen.

Er verschwand. – Ich wußte, er suchte eine scharfe Felszacke in der Nähe.

Gleich darauf erschien er wieder – ohne Stricke im freien Gebrauch seiner Glieder.

Er knüpfte Tscho die Knoten auf, half ihm in die Höhe. Dann kam er zu mir, lächelte mich an und meinte:

„Es ist sehr vorteilhaft, wenn einem zur rechten Zeit eine Schußwaffe über Bord fällt.“ Er mühte sich mit meinen Stricken ab und fügte hinzu: „Daß sich irgend etwas ereignen würde, wußte ich, als der Küstenfahrer sein falsches Spiel begann. Ich wollte auf alles vorbereitet sein. Und die braunen Halunken waren dumm genug, daran zu glauben, mir wäre die Clement ins Wasser geplumpst.“

Er richtete mich auf.

„Vorsicht,“ warnte er. „Schau nicht in den Abgrund hinab!“ – Er hielt mich fest, und so gingen wir Schritt für Schritt über den schmalen Grat hinüber auf eine Felsterrasse.

„Oh, Master Harst,“ empfing Tscho uns grinsend. „diese Scharr el Madri, diese Messerschneide, war eine schlechte Plan von die verdammte Mistreß O’Brien.“

„Nein, mein gelber Junge,“ sagte Harald ernst. „Es war sogar ein verteufelt guter Plan. Ohne meine Clement wären wir geliefert gewesen. Nach drei Stunden hätten wir den Sonnenstich gehabt, und abends würden die Geier sich an uns gesättigt haben.“

 

4. Kapitel.

Auf dem Küstensegler.

Hier von der Spitze des Berges hatten wir eine wundervolle Fernsicht. Nach Osten zu lagen die Sanddünen der arabischen Küste und die unendliche Wasserfläche des Indischen Ozeans. Nach Westen hin erstreckte sich die helle, im Sonnenlicht gelbweiß schimmernde Wüste, durchzogen von dunklen Strichen: felsigen Höhen und steinigen, ausgetrockneten Flußtälern.

Die Küste war buchtenreich. Wir bemerkten auch die Spitzen jener Dattelpalmen über den Sandhügeln, unter denen ein Teil der braunen Piraten gelagert hatte.

Harald schaute sehr lange dorthin. Dann wies er nach rechts.

„Sollten das nicht Beduinen sein?!“ meinte er. „Es ist ein Reitertrupp, der nach Süden zu verschwindet.“

„Sind Reiter – fünfzehn Stück, Master Harst,“ rief Tscho eifrig. „Alles Araber und zu Pferde mit Kopftüchern und hellen Mänteln –“

Auch ich sah die fernen Gestalten. Sie verschwanden jetzt in einem Tale und kamen nicht wieder zum Vorschein.

Haralds Augen schweiften nach den Dattelpalmen zurück.

„Hm – vielleicht haben unsere Feinde schlecht abgeschnitten,“ sagte er nachdenklich. „Der Trupp kam aus der Richtung der Bucht, wo der Zweimaster gelegen hatte. Vielleicht hat sich dort etwas abgespielt, wodurch –“

Er begann plötzlich abwärts zu klettern, ohne den Satz zu beenden.

„Schnell!“ munterte er uns auf. „Man soll nichts unversucht lassen.“ –

Eine halbe Stunde drauf näherten wir uns der Bucht. Wir folgten den Spuren, die die Piraten auf ihrem Hin- und Rückweg als breite Fährte in den Sand gestampft hatten.

Nun durchschritten wir das letzte Dünental. Harald winkte uns, und Tscho und ich blieben zurück.

Harst war nach kaum fünf Minuten wieder bei uns.

„Ich habe recht gehabt,“ rief er schon von weitem. „Los denn – wir haben den Zweimaster zu unserer Verfügung!“

Er lief uns voran. – Am Ufer unweit der Dattelpalmen lagen drei der Piraten. Sie waren erschossen worden. Auch der Anführer, der Blatternarbige, war darunter. Ich bückte mich schnell und befühlte seine Taschen. – Wirklich – er hatte meine Clementpistole noch bei sich. –

Harald deutete auf das Deck des Küstenseglers.

„Dort lag das Rettungsboot. Die Kerle sind vor den Arabern nach kurzem Kampf geflohen. – Tscho, Anker hoch! Wir drei werden mit diesem Schifflein schon fertig werden! – Schraut, ans Steuer! Ich will das Großsegel des Vordermastes hissen –“ –

Langsam kam der Zweimaster in Fahrt. Wir mußten kreuzen, um das offene Meer zu gewinnen. Der Wind, eine steife Nordwestbrise, konnte gar nicht günstiger sein. Tscho bewies, daß er Seemann von Beruf war. Die Segel füllten sich; die Taue knarrten, und mit wachsender Geschwindigkeit schoß das flache Fahrzeug dahin.

„Tscho, übernimm das Steuer,“ befahl Harald dann. „Schraut und ich werden das Schiff jetzt genau durchsuchen.“

Die Araber hatten alles mitgenommen, was ihnen brauchbar schien. In der kleinen Achterkajüte und in dem Wohnraum des Vorschiffs sah es wüst genug aus. – Wir fanden eine Laterne und kletterten in den Laderaum hinab. Der Segler führte nur Ballast, keine Ladung. Wir suchten sehr sorgfältig, entdeckten jedoch keine Menschenseele.

Dann kehrten wir in die Achterkajüte zurück. Hier stand ein Schrank, dessen Türen die Beduinen erbrochen hatten. Davor lagen Papiere umhergestreut.

Harald hob einige auf.

„Ah – der Zweimaster ist in Maskat beheimatet und heißt Mudali,“ sagte er. „Kapitän und Eigentümer Mehemed Mansur. Das wird der Blatternarbige sein. Dieser Mansur hat Groner also belogen, denn er behauptete ja, der Segler sei in Bender Abbas zu Hause. Die Schufte hatten den Schiffsnamen am Bug übergepinselt. Jedenfalls sind es dicke Freunde O’Briens gewesen. – So, nun geh’ zu Tscho und leiste ihm Gesellschaft. Ich will hier etwas Ordnung schaffen. Nachher kann Tscho in der Kombüse Koch spielen –“ –

Wir fuhren westlichen Kurs auf Aden zu. – Tscho deutete auf eine schwarze Rauchfahne am Horizont.

„Master Schraut,“ meinte er, „das da sein Kriegsschiff. Sehr schnell fahren, sehr! – Hm – wir hätten sollen suchen nach Boot mit Piraten und Mistreß O’Brien und Kiste mit Perlen. Wenn kriegen, gute Geschäft sein wegen Perlen!“

„Du bist und bleibst habgierig,“ lachte ich. „Sei froh, daß wir nicht mehr auf des Messers Schneide liegen und in der Sonne schmoren.“

„Perlen sehr viel wert,“ brummte er. – Dann weihte er mich so etwas in die Geheimnisse des Steuerns ein und schlenderte nach der Kombüse im Vorschiff.

Der Küstenfahrer hatte kein Steuerrad, sondern nur ein Steuer mit langer, geschweifter Ruderpinne.

Ich stand, hielt die Pinne umklammert und blickte in die Ferne, wo die Rauchfahne immer deutlicher wurde. Bald tauchten die Masten und die beiden Schornsteine eines Dampfers auf. Die Luft war klar, und fünf Minuten später erkannte ich, daß Tscho mit seiner Vermutung recht gehabt hatte: es war ohne Frage ein Kreuzer der jetzt in voller Fahrt auf uns zulief.

Ich berechnete, daß er in spätestens zwanzig Minuten neben uns sein mußte, wollte nun Harald zurufen, daß er doch mal an Deck kommen möge, als um den dicht vor mir liegenden niederen Kajütaufbau ein schlanker, brauner Bursche bog: Daisy O’Brien.

 

5. Kapitel.

Verlorenes Spiel.

In ihrer Hand blinkte ein Revolver. Um ihren Mund lag ein Lächeln.

„Rühren Sie sich nicht,“ sagte sie ohne jede Erregung. „Harst und Tscho sind bereits kalt gestellt. Die Kajüte hat nämlich ein Versteck. Und dort war ich verborgen.“

Ihr Blick schweifte nach dem Kreuzer hinüber. Dann fuhr sie fort:

„Sie haben Glück, ohne Frage. Harst ist einverstanden, daß der Vertrag zwischen mir und Ihnen dreien abgeschlossen wird. Sie verraten mich nicht, und ich schone Sie. Das ist alles. Sind Sie bereit, mir Ihr Wort zu geben? Harst läßt Ihnen sagen, daß Sie sich nicht weigern sollen.“

Ich war so überrascht, daß ich dieses merkwürdige Weib noch immer ganz entgeistert anstarrte.

Dann nickte ich. „Gut, wenn Harst es wünscht!“

Sie steckte den Revolver in die Tasche. Sie trug noch denselben Anzug wie vorhin.

„Ich weiß, ich habe es mit Gentlemen zu tun,“ sagte sie. „Ich werde Harst die Fesseln abnehmen und auch Tscho holen.“

Sie verschwand hinter dem Kajütaufbau.

„Welch ein Weib!“ dachte ich. „Welch eine Gegnerin!“

Dann trat Harald auf mich zu. Er kniff das linke Auge zusammen und meinte achselzuckend:

„Was ist da zu machen?! Sie hätte uns niedergeknallt und ins Meer geworfen!“

Dann kam Tscho. Hinter ihm Daisy O’Brien.

„Master Harst,“ sagte sie höflich, „unsere Abmachung lautet also: Sie drei verraten mich nicht. Ich gelte als Master Schrauts Diener.“

Tscho schnitt ein grimmiges Gesicht. Er wäre dem hübschen Burschen am liebsten an die Kehle gesprungen.

Harst drohte ihm mit dem Finger. „Du hältst Dein Maul, mein Junge! Sonst bist Du die längste Zeit mein Diener gewesen.“

„Wo Perlen sein?“ fragte Tscho schnell.

Daisy O’Brien schaute ihn verächtlich an, „Die haben die anderen im Boot mitgenommen,“ sagte sie zu Harst. Und fügte hinzu: „Sie sorgen also auch dafür, daß wir hier an Bord bleiben können. Auf dem Kreuzer würde ich als Weib zu leicht durchschaut werden. In Aden trennen wir uns. Und dann – dann ist der Friede vorbei!“

Harald verbeugte sich. „Wie Sie wünschen.“ –

Der Kreuzer schickte eine Barkasse. Ein ganz junger Unterleutnant nahm uns ins Verhör. Harst fuhr dann mit der Barkasse nach dem Kreuzer, und der Kommandant schickte uns einen Obermaat und drei Matrosen, die den Mudali nach Aden bringen sollten. Wir bekamen auch Proviant, Wein und Zigaretten. Alles ging nach Wunsch. – Der Kreuzer hatte den Dampfer „Lord Roberts“ getroffen und war auf Groners Bericht hin sofort die Küste entlanggedampft, um den Küstensegler zu suchen. –

Es war gerade drei Uhr nachmittags, als die beiden Schiffe sich trennten. Der Kreuzer nahm Kurs auf Bombay. Der Mudali segelte nach Westen weiter.

Harst und ich hatten die Achterkajüte belegt. Tscho hauste in einem Verschlag neben der Kombüse, und mein Diener „Hassan“ alias Mistreß O’Brien bewohnte die Kammer neben uns, während die englischen Seeleute im Vorschiff sich eingerichtet hatten. –

Abends saßen wir beide in der Kajüte beim Scheine der Öllampe und labten uns an den Speisen, die der vielseitige Tscho zubereitet hatte. Die Tür nach dem Deck stand offen. Vorn spielte einer der Engländer das Schifferklavier, die Ziehharmonika. Rechts lehnte mein schlanker Hassan an der Reling und rauchte eine Zigarette.

„Ein gemütliches Bild,“ meinte Harald. „Friedlich und gemütlich – und doch nicht echt!“

Mein Kopf fuhr herum. „Nicht echt?! Weshalb nicht?!“

„Dein Hassan – oder sagen wir besser – die schöne Daisy hält uns für dumm.“

„Also meint sie es nicht ehrlich?“

„Zum Teil nicht.“ – Er stand auf und drückte die Tür ins Schloß. Er hatte mir bisher das Versteck nicht gezeigt, in dem Mistreß O’Brien sich verborgen gehabt hatte und aus dem sie so schnell hervorgekommen war, daß sie Harald völlig überrumpeln konnte.

Er trat an die linke Seitenwand der Kajüte heran. Es war dies jene Wand, die die kleine Kammer von der Kajüte trennte. Wenigstens glaubte ich dies bis jetzt.

„Hier – zwei Bretter bilden die Tür,“ sagte er und griff nach einem Nagel, an dem ein paar Signalflaggen hingen. So zog er die schmale Tür auf.

Ich schaute mich in dem[4] engen Verschlag um.

„Du siehst, er nimmt die ganze Länge des Kajütaufbaus ein,“ erklärte Harst und rieb ein Zündholz an. „Laß mich dieses Versteck mal durchsuchen.“ Er drängte sich an mir vorbei.

Es war jedoch nur eine Seegrasmatratze darin und ein Tongefäß mit Wasser.

Harst kam wieder heraus und schloß die Tür.

„Hm – sollte ich mich so irren?“ meinte er kopfschüttelnd und setzte sich auf den Holzstuhl. „Sie muß doch eine ganz bestimmte Absicht dabei gehabt haben. Sie hätte es doch darauf ankommen lassen können, ob man sie finden würde!“

„Was heißt das alles?“ – Ich nahm gleichfalls Platz.

Harald hielt mir die Zigarettenschachtel hin.

„Da – rauche! Man behauptet, eine Zigarette regt den Geist an. Rauche zwei, auch drei. Vielleicht fällt Dir dann das ebenfalls auf, was mir auffiel –“

Er reichte mir ein Zündholz.

„Du bist noch immer zu denkträge, mein Alter –“ Er blies den Rauch von sich. „Man muß alles, was geschieht, nicht als Ganzes hinnehmen, sondern man muß es zerlegen. Dann bekommen Geschehnisse manchmal ein ganz anderes Aussehen.“

„Bedauere – auch diese Bemerkungen sind mir zu hoch,“ meinte ich etwas unwillig. „Was ist also los?! Droht uns Gefahr von Seiten Daisy O’Briens?“

„Keine Spur! Bis Aden nicht. Du hörtest ja, wie sie erklärte: Dann ist der Friede vorbei! – Nein, wir können hier ruhig schlafen, ganz ruhig. – Gehen wir an Deck –“

Ich mußte mich mit diesen Andeutungen begnügen.

– – – – – – – –

Drei Tage später gegen elf Uhr abends näherten wir uns Aden. Ich habe diese Felsenfestung am Ausgang des Roten Meeres schon oft erwähnt und beschrieben.

Ein Lotsendampfer kam uns entgegen. Wie eine Illumination wirkten die Lichter der hochgelegenen Stadt. Die stark befestigte Insel Sirah mit ihren Panzertürmen verschwand. Wir umrundeten die Halbinsel, um in den Handelshafen zu gelangen.

Harald und ich hatten an der Reling gestanden. Mit einem Male zog er mich nach der vorderen Ladeluke hin. Sie war offen, da sie zugleich den Zugang zum Mannschaftslogis bildete.

Niemand achtete auf uns. Daisy O’Brien saß in ihrer Kammer, und Tscho arbeitete in der Kombüse.

Wir kletterten die schmale Treppe in den Laderaum hinab. Haralds Taschenlampe beleuchtete die mit Sand gefüllten Ballastsäcke.

„Warten wir,“ flüsterte er. „Sie wird kommen!“ – Er schaltete die Lampe aus. Wir duckten uns in einer Ecke zusammen.

Ich wußte noch immer nicht, worum es sich hier handelte.

Nach vielleicht zehn Minuten tauchte vom Achterschiff her, wo der zweite Zugang war, ein rötlicher Lichtschein auf.

Es war Daisy O’Brien mit einer Laterne.

Sie stellte die Laterne jetzt auf einen der Säcke, bückte sich und schob einen anderen Sack beiseite.

Mit einem Male hatte sie einen Beutel von etwa Kokosnußgröße in der Hand.

Harald schlich lautlos vorwärts. Dann ein Sprung, und er riß dem schlanken Burschen den Beutel weg. –

Daisy O’Brien zitterte vor Wut und Enttäuschung.

„Sie – Sie – sind –“

„– sind nicht oder doch nur schwer zu betrügen,“ vollendete Harald den Satz. „Das ist richtig. Es war doch bei dem schrankenlosen Haß, den Sie gegen uns hegen, sehr verdächtig, daß Sie uns drei nicht niederschossen und in die See warfen, Mistreß O’Brien. Sie hätten es ganz bequem tun können. Niemand hätte etwas davon gewußt, und Sie selbst hätten sich in dem Versteck in der Kajüte verbergen können. Der Kommandant des Kreuzers würde dann angenommen haben, daß die Leute, die sich hier auf dem Schiffe befanden, aus Angst davongeschwommen wären. Aber – man hätte Sie in dem Versteck auch finden können. Es gibt ja böse Zufälle. Und einen solchen Zufall wollten Sie sich nicht aussetzen. Man würde dann fraglos die Wahrheit an den Tag gebracht haben, nämlich, daß Sie ein Weib und Mistreß O’Brien sind und Grund haben, wenigstens Ihren Anschauungen nach, sich an uns zu rächen. Das Ende wäre für Sie der Strick gewesen. – All das haben Sie sich sehr genau zurechtgelegt. Sie sind noch jung und lebenslustig, und wenn die Behörden in Gwadar auch das Vermögen Ihres Mannes mit Beschlag belegt haben, so – hatten Sie doch vielleicht das Kistchen mit den Perlen zur Verfügung, deren Wert Groner auf rund zwei Millionen geschätzt hat. Und diese Perlen waren für Sie wohl ausschlaggebend. Sie konnten sie mit Gewißheit nur dann retten, wenn Sie uns schonten und hier in Aden frei an Land gehen durften. Ich merkte sehr wohl, wie Sie leicht zusammenzuckten, als Tscho Sie nach den Perlen fragte. Der Blick, den sie dem Neugierigen zu warfen, war nicht nur verächtlich, sondern auch der einer ertappten Heuchlerin. Kurz – ich reimte mir das Richtige zusammen.“

Er öffnete den Beutel. Obenauf lag ein Päckchen Papiere.

„Ah,“ meinte Harst, „da haben wir ja auch das, was Sie aus der Kanzlei des Polizeigebäudes in Gwadar stahlen. An dem Schloß des einen Schrankes waren Kratzer zu sehen. Es hatte jemand mit einem Nachschlüssel daran gearbeitet. Und der Schrank enthielt Paßformulare und dergleichen, also etwas, das Sie gut brauchen konnten, wenn Sie unter anderem Namen auftreten wollten. – Sie sind vielseitig, Mistreß O’Brien. Sie wollen den Rachefeldzug gegen uns fortsetzen. Ich warne Sie! – So – gehen Sie jetzt! Wir sind fertig miteinander –“

Die schöne Daisy drehte sich kurz um und verschwand.

In dem Beutel befanden sich außer den Formularen, die mit Stempeln versehen waren, auch sämtliche Perlen. – Eine halbe Stunde später hatte der Küstensegler am Kai in Aden festgemacht. Wir holten unsere Koffer von dem in der Nähe ankernden Dampfer Lord Roberts. Um Daisy kümmerten wir uns nicht weiter. Morgens um fünf Uhr verließ der große englische Passagierdampfer „King Edward“ Aden. Wir hatten zwei Kabinen belegt. Tscho begleitete uns. Es ging heimwärts, aber auf Umwegen. Erst am 5. April trafen wir in Berlin ein. Wir hatten bis dahin von Daisy O’Brien nichts mehr gehört oder gesehen. Und doch war sie – aber das will ich in dem folgenden Abenteuer berichten.

 

 

Der Zopfabschneider der Müllerstraße

 

1. Kapitel.

Der tote Tscho.

„Berlin – Berlin! Alles aussteigen!“ –

Der D-Zug Hamburg–Berlin war mit fünfzehn Minuten Verspätung auf dem Lehrter Bahnhof eingetroffen.

Die nicht allzu zahlreichen Reisenden strebten mit ihrem Handgepäck der Sperre zu. Nur in einem Abteil 1. Klasse befanden sich noch zwei Herren, von denen der größere sich jetzt abermals zum Fenster hinauslehnte und den Bahnsteig hinabspähte.

„Aussteigen!“ rief ein Schaffner, der den Gang des D-Wagens entlangschritt, durch die Schiebetür in das Abteil der beiden Herren hinein.

„Wo nur Tscho stecken mag?!“ sagte Harald ungeduldig zu mir und wandte sich dann an den Schaffner mit den Worten: „Unser Diener saß hinten im Zuge dritter Klasse. Vielleicht ist er eingeschlafen.“

Der Schaffner brummte etwas vor sich hin und ging weiter.

Wir nahmen unsere Reisetaschen und unsere Mäntel und verließen den Wagen, stellten uns draußen vor dem Fenster unseres Abteils auf, wo wir einen großen Pappkarton zurückgelassen hatten, und warteten auf unseren Tscho.

Der Karton war sehr schwer, und wir hatten keine Lust, uns damit zu schleppen.

„Ich werde doch mal nachsehen gehen,“ meinte Harald dann. „Die Sache gefällt mir nicht. Auch das Ende des Zuges muß längst von Schaffnern auf vergessene Gepäckstücke revidiert worden sein. Man hätte Tscho also geweckt, wenn er wirklich so fest geschl…“

Das Wort „geschlafen“ wurde nicht beendet. Dafür rief Harald in ganz anderem Tone:

„Du – es muß etwas passiert sein! Dort haben sich jetzt vier Bahnbeamte vor dem einen Wagen versammelt –“

Er eilte schon davon. – Ich dachte gar nicht mehr an den Pappkarton mit dem so wertvollen Inhalt und blieb dicht hinter Harst, den offenbar die Sorge um Tscho vorwärtstrieb.

Die vier Bahnbeamten schauten Harald überrascht an, als er sie fragte:

„Hat man einen Toten im Zuge gefunden?“

Ein Stationsassistent antwortete mißtrauisch:

„Ja. Einen Chinesen in europäischer Tracht. Aber – wie kommen Sie auf diese Frage? Der Mann saß allein in einem Abteil. Wie können Sie wissen, daß –“

„Mein Name ist Harald Harst,“ unterbrach mein Freund ihn hastig. „Der Chinese ist mein Diener. Ihr aufgeregtes Wesen und der Schaffner, der dort wahrscheinlich nach der Polizeiwache läuft, schienen mir darauf hinzudeuten, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein müßte.“

Der Assistent, ein noch junger Mann, fragte jetzt höflich: „Ich habe doch richtig verstanden, mein Herr, – Sie sind Harald Harst, der Liebhaberdetektiv?“

Harst nickte nur.

„Bitte, wollen Sie dann nicht selbst vielleicht das Abteil betreten?“ meinte der Beamte zuvorkommend.

Gleich darauf standen wir an der halb zugeschobenen Tür eines Abteils 3. Klasse. Harst ging allein hinein.

An einer Ecke am Fenster lehnte in sich zusammengesunken unser Tscho. Der graue Ulster, den Harst ihm in Hamburg gekauft hatte, war über die Knie gebreitet; der weiche Filzhut lag fast auf der Nase.

„Er hat eine ganz blutbefleckte Weste – gerade in der Herzgegend,“ sagte der Assistent, der neben mir in der Tür stand.

Harald beugte sich jetzt über den regungslos Dasitzenden, dessen Mund etwas offen war und die gelblichen Zähne sehen ließ.

Wir konnten nicht erkennen, was Harst tat, aber nach einer Weile erklärte er:

„Tscho ist nur ohnmächtig. Der Puls geht freilich sehr schwach. – Ich werde ihn mit in meine Wohnung nehmen.“

Da erschien auch schon der Kriminalbeamte der Bahnhofswache. Harald hatte sich mit ihm rasch verständigt. Dann wollte ich den großen Pappkarton holen. Leider fand ich ihn nicht. Das Gepäcknetz unseres Abteils war leer.

Als ich Harst dies etwas kleinlaut mitteilte, sagte er nur: „Vielleicht hat ein Schaffner ihn auf dem Bureau abgegeben.“

Während der noch immer bewußtlose Tscho in ein Auto geschafft wurde, stellten wir fest, daß ein älterer Herr von schmächtiger Gestalt mit dem Karton als letzter die Sperre passiert hatte. Der betreffende Schaffner besann sich ganz genau auf den Herrn und den Karton.

Der Kriminalwachtmeister Röbel fragte Harst, was der Karton enthalten hätte.

„Drei antike silberne Kannen, zwei antike Goldteller und zwei vergoldete Krüge,“ erwiderte Harst. „Ich habe die Sachen gestern in Hamburg auf einer Auktion erstanden und 185 000 Mark dafür bezahlt.“

Röbel versprach, sofort alles Nötige zur Verfolgung des Diebes in die Wege zu leiten.

„Ein recht genaues Signalement haben wir ja,“ meinte er. „Dieser alte Herr mit der goldenen Brille ist wahrscheinlich ein Gelegenheitsdieb.“

Dann bestiegen auch wir das Auto. Tscho hatte man in seinen Ulster gehüllt und halb auf den Rücksitz gelehnt.

„Ich komme dann gegen Abend zu Ihnen, Herr Harst,“ sagte Röbel noch und schloß die Tür. Das von einem Kreise von Neugierigen umlauerte Auto fuhr davon. –

Dann die große Überraschung:

Harst sagte ganz gemütlich zu unserem Bewußtlosen: „So, mein gelber Junge, nun kannst Du lebendig werden.“

Tschos Schlitzaugen öffneten sich. Er grinste ein wenig und meinte:

„Hab’ ich gut gemacht die Sache, Master Harst?“ – Diese Frage stellte er in einem unglaublichen Sprachenmischmasch – dreiviertel englisch, ein Achtel deutsch und ein Achtel französisch.

„Tadellos!“ lobte Harst.

Unser Auto glitt durch den im ersten Frühlingsgrün prangenden Tiergarten.

„Sache war so,“ fuhr unser Tscho fort. „Ich schlafen ein sehr bald in Abteil ganz allein –“

„Ja, Du hattest Dir auf dem Bahnhof ein Fläschchen Kognak gekauft, mein Sohn.“

„Ganz kleiner Flasche nur, wirklich! Also – ich schlafen ein. Sehr fest und sehr lange. Bis kurz vor die Bahnhof Berlin. Da – ich wachen auf von eine sehr viele Schmerz in die Brust und sehen Mann stehen mit Dolch vor mir – so!“

Er zeigte uns, daß der Mann stoßbereit vor ihm gestanden habe.

„Oh – Tscho sein schlau,“ grinste er wohlgefällig. „Tscho wissen, daß Mann nochmals stoßen, wenn ich nicht sterben. Ich sterben also, Master Harst, und machen dies so –“

Er lehnte sich in die Ecke zurück, verdrehte die Augen, hob die Arme, ließ sie wieder sinken, holte zweimal keuchend Atem und fiel schlapp in sich zusammen.

„Sehr gut,“ lobte Harald wieder.

Tscho nickte, richtete sich auf und erklärte: „Ich haben schon sehen sterben fünf Leute an Messerstiche, Master Harst. Und so, wie ich sterben, war ganz echt. Darum auch die alte Mann mit Dolch nicht mehr zustoßen.“

„Es war ein Dolch, kein Messer?“

„Dolch. Lange Dolch, persische Dolch, nicht Messer.“

„Und der Mann hatte einen grauen Vollbart, trug eine Brille und war sehr klein und schmal in den Schultern.“

Tscho riß den Mund auf. „Woher wissen, Master Harst?! – Stimmt alles sehr genau: klein, dünn, graue –“

„Schon gut. – Und was geschah weiter?“

„Der Mann denken, Tscho sein tot und gehen weg, Tscho aus Angst, daß zurückkommen, weiter tot sein. Nachher Tscho haben gedenkt: besser, Du bleiben tot, damit Mörder können leichter entdeckt werden von Master Harst und somit Polizei nicht so viel fragen –“

„Ja, und als ich mich dann über Dich beugte,“ meinte Harald lächelnd, „da flüstertest Du: „Tscho leben noch. Nur Rippe blutet, weil Dolch an Geld abgleiten –“ – Das war auch für mich eine ziemliche Überraschung, mein Junge! – Aber gestatte nun mal eine Frage: an was für Geld ist denn die Klinge abgeglitten?“

„Oh – hab’ in Hemd eingenäht indische Goldmünzen,“ erklärte Tscho und schlug den Blick zu Boden.

Hm – das waren fraglos „Ersparnisse“, um die er uns bemogelt hatte!

„So, so, – also Goldmünzen! Und der Stich hat nur die Haut geritzt?“ fragte Harald.

„An Rippe lang – tiefer Schnitt,“ nickte Tscho. „Habe keine Schmerzen, nur viel Blut gehen futsch.“

„Na, den Schnitt näht Dir der Hausarzt meiner Mutter bald zusammen,“ tröstete Harst. „Ich will Dir nun auch eine kleine Überraschung bereiten: der Pappkarton mit den antiken Krügen und Tellern ist von demselben Manne gestohlen worden, der Dich ermorden wollte.“

Jetzt konnte ich mit meiner Weisheit nicht länger zurückhalten und sagte sehr bestimmt:

„Und dieser Mann ist Mistreß Daisy O’Brien! Der persische Dolch verrät sie!“

 

2. Kapitel.

Der Dieb.

Harald schwieg dazu. Nur Tscho meinte:

„Das sein unmöglich, Master Schraut. War keine verkleidete Weib, war echte Mann – ganz echte! Handschuhe tragen und haben so – große Hände! Mistreß O’Brien kleine Hände, ganz kleine.“

„Hm – Du kannst wirklich gut beobachten, Tscho,“ sagte Harald. „Lassen wir das alles jetzt. Blutet Deine Wunde noch?“

„Nicht mehr bluten. Nur brennen. Ich fühlen, Hemd sein angekleben.“ –

Das Auto sauste weiter. Harald hatte sich in seine Ecke zurückgelehnt. Ich merkte, er wollte nicht mehr sprechen.

Wir fuhren den Kurfürstendamm empor. Auch hier hatten die Linden, die den Reitweg einsäumten, ebenfalls schon kleine Blättchen.

Ich schaute zum Fenster hinaus. – Wieder daheim! Endlich! – Und über der Freude des Heimatgefühls vergaß ich alles andere. –

Dann hielt das Auto vor dem Gitter des Vorgartens Blücherstraße 10.

Frau Auguste Harst eilte dem Sohn entgegen, schloß ihn in die Arme. Auch die alte treue Köchin lief herbei.

„Mein Junge – mein Junge – mein Einziger!“ sagte Frau Auguste immer wieder mit bebender Stimme. Dann drückte sie auch mir die Hand.

„Ich bringe leider einen Patienten mit, liebe Mutter,“ meinte Harald etwas zaghaft. „Meinem Diener Tscho ist unterwegs etwas zugestoßen. Man hat ihn im Zuge überfallen –“

Frau Auguste schüttelte den weißen Kopf so kräftig, daß das seidene Spitzenhäubchen verrutschte.

„Wenn Du doch nur ein einziges Mal so wie andere Leute heimkämst!“ seufzte sie kläglich. „Aber Du – Du bringst immer –“

Tscho kletterte jetzt heraus.

Und Frau Harst rief: „Himmel – daß ist ja ein Chinese!“

Tscho grinste freundlich. „Oh, Mistreß, ich eine brave gelbe Junge sein, sagen Master Harst immer.“

Aber selbst diese Selbstempfehlung konnte Frau Harsts Abneigung gegen den Chinesen nicht sofort zerstreuen.

Wir faßten Tscho unter und führten ihn ins Haus. Er war doch recht schwach, und als dann Sanitätsrat Haberland die Wunde sah, meinte er staunend:

„Na – einen solchen Stich hält auch nur ein Asiate aus, ohne sofort auf der Nase zu liegen.“ –

Tscho wurde in dem Zimmer neben meinem Schlafzimmer auf der rechten Seite des Flurs im Erdgeschoß untergebracht.

Erst gegen drei Uhr nachmittags setzten wir uns dann an den Mittagstisch. Jetzt erzählte Harald auch von dem zweiten Mißgeschick, von dem Diebstahl des Kartons mit den antiken Kunstgegenständen.

„Der Mordanschlag und der Diebstahl,“ fügte er erläuternd hinzu, „hängen natürlich eng zusammen. Der Dieb rechnete darauf, daß sich ihm durch den Anschlag auf Tscho Gelegenheit zu einem kühnen Griff nach dem Karton bieten würde. Und – er hatte sich nicht verrechnet. Nun bin ich 185 000 Mark los. Und hatte mich doch so darauf gefreut, Dich mit den wundervollen Krügen und Tellern zu überraschen, liebe Mutter.“

Frau Harst seufzte wieder. „Ich weiß schon, Harald, was jetzt kommt: die Jagd auf den Mordgesellen von Dieb! Dann habe ich gar nichts von Dir – gar nichts! Dann hast Du nur Gedanken für –“

In demselben Augenblick betrat die Köchin das Speisezimmer.

„Kriminalwachtmeister Röbel,“ meldete sie.

„Soll in meinem Zimmer warten,“ sagte Harald kurz. „Wir sind schon beim Nachtisch. Es dauert nicht lange.“

Frau Harst schaute mich vorwurfsvoll an.

„Schraut – na, habe ich nicht recht gehabt?! Kaum seid Ihr beide daheim, ist auch die Polizei schon im Hause!“ –

Röbel nahm die Zigarre mit Dank an. Wir setzten uns.

„Ich bringe gute Nachricht, Herr Harst,“ berichtete er stolz. „Wir haben den Kerl bereits!“

Harald rief ungläubig: „Wirklich?! – Wenn die Sache nur keinen Haken hat!“

„Nicht die Spur, Herr Harst. Natürlich leugnet der Mensch. Aber wir haben den Schaffner von der Sperre bereits dem Diebe gegenübergestellt. – Ich will jedoch alles im Zusammenhang berichten. Ich hatte sofort die Juweliere und Antiquitätenhändler benachrichtigen lassen. Um 1 Uhr meldete sich der Juwelier Modler vom Kurfürstendamm telephonisch und teilte mit, er habe gegen ½1 Uhr von einem alten Herrn die angegebenen Gegenstände gekauft. Der Herr wies sich Modler gegenüber als Doktor Philipp Weng, Privatgelehrter aus, und der Juwelier trug daher kein Bedenken, die kostbaren Stücke zu erwerben. Um ¾1 erhielt Modler dann unsere Warnung. Er bekam aber erst nach einer Viertelstunde Anschluß mit dem Präsidium. Ich fuhr sogleich zu ihm und von da mit zwei weiteren Beamten nach der Müllerstraße 191, wo Doktor Weng wohnen sollte. Er haust da in einer alten Baracke ganz allein. Sie werden die Gegend dort oben im Norden Berlins ja kennen, Herr Harst. Es gibt da noch genug unbebaute Parzellen und Gebäude, die über hundert Jahre alt sind. – Ich traf Weng daheim an. Meine Beamten ließ ich draußen. Der alte Privatgelehrte wurde sehr verlegen, als ich ihm sagte, wer ich sei und weshalb ich käme. Er leugnete alles ab. Ich hatte aber schon vorher nach dem Lehrter Bahnhof telephoniert und den Schaffner herausbestellt. Der sagte denn mit aller Bestimmtheit: „Das ist der Herr, der den Karton trug!“ Und da zog Weng andere Seiten auf und gab zu, heute mittag erst aus Hamburg zurückgekehrt zu sein, schwor aber hoch und heilig, den Karton nicht gestohlen zu haben. Ich machte der Sache ein Ende, indem ich ihn mit zu dem Juwelier Modler nahm. Und Modler erklärte: „Er ist’s. Sowohl das Äußere als auch die heisere, leise Stimme erkenne ich wieder.“ – Nur die Verkäuferin Modlers war im Zweifel, ob Weng derjenige wäre, der die kostbaren Gegenstände an Modler für 110 000 Mark verkauft hatte. Nun – mir genügten die Beweise vollauf, und jetzt ist Weng im Polizeigefängnis. Kommissar Stettenborn hat ihn bereits vernommen. Weng behauptet, er sei zum Vergnügen in Hamburg gewesen, und dort seien ihm im Hotel Drei Mohren seine Papiere samt der Brieftasche gestohlen worden. – Davon hatte er mir gegenüber nichts erwähnt. Stettenborn lachte ihn denn auch aus und meinte, Weng solle doch nicht mit so lächerlichen Ausreden wie der von dem großen Unbekannten kommen. – Das wäre alles, Herr Harst.“

„Ob wir Stettenborn noch im Präsidium antreffen werden?“ fragte Harald, indem er den Rest seiner Zigarette in die Aschenschale legte. „Ich möchte mir diesen Doktor Weng nämlich mal ansehen, Herr Röbel! Mein Diener Tscho hat den Mann, der ihn erstechen wollte, genau so beschrieben wie der Schaffner den alten Herrn mit dem[5] Karton.“

„Nicht möglich!“ rief Röbel. „Das – das würde ja –“ er überlegte kurz – „darauf hindeuten, daß Weng den Chinesen zu ermorden beabsichtigte, um Gelegenheit zu dem Diebstahl zu finden. – Ja, Stettenborn ist noch auf dem Präsidium. Er vernimmt Zeugen in der Sache des Zopfabschneiders der Müllerstraße.“ Der Wachtmeister lächelte. „Klingt wie ’n Kintoppstück-Titel, dies „Zopfabschneider der Müllerstraße“, Herr Harst. Ist aber Tatsache. Seit acht Wochen treibt da ein Kerl im Norden Berlins, hauptsächlich in der Müllerstraße, sein Unwesen und schneidet abends kleinen Mädels mit einem Rasiermesser die Zöpfe ab. Stettenborn hat sich heute die vier letzten Opfer dieses Menschen zur Vernehmung bestellt. Ich gehöre mit zum Dezernat des Kommissars und kenne diese Sache ganz genau.“

Harald stand auf. „Fahren wir,“ meinte er. „Ich muß diesen Weng sehen. Für Zopfabschneider interessiere ich mich nicht.“ –

Kommissar Stettenborn ließ Weng vorführen. Bis dieser kam, setzte er noch die Vernehmung eines der Mädelchen fort. – Wir hatten an der Wand auf Stühlen Platz genommen und hörten zu. Das Kind war ein richtiges Großstadtpflänzchen, durchaus nicht befangen und erzählte mit allen Einzelheiten, wie der Mann sie angesprochen, ihr Schokolade gegeben und mit einem Male gesagt habe, ihre Haarschleife sei lose; er wolle sie ihr wieder festbinden. Dann hätte er sehr stark an ihrem Zopf gerissen und sie mit dem Stock bedroht, als sie laut aufschrie. Sie sei eilends davongelaufen und habe erst nachher bemerkt, daß der Zopf glatt abgeschnitten war.

Den Zopfabschneider selbst beschrieb sie als buckligen, kleinen, ärmlich gekleideten Mann mit fast weißem, langem Haar und weißem Spitzbart. –

Dann wurde Doktor Weng hereingeführt. Das Mädelchen schaute ihn neugierig an und rief plötzlich:

„Ach ne, Herr Doktor, was haben Sie denn berissen?! Dann soll Mutter wohl morjen nich zu Ihnen kommen?“

Weng, der sehr sorgfältig angezogen war und ein frisches, rosiges Gesicht hatte, wurde blutrot vor Verlegenheit.

„Man hält mich für einen Dieb, Minna,“ sagte er leise und mit ziemlich heiserer, hoher Stimme. „Deine Mutter soll daheim bleiben, Kind, bis – bis sich dies hier aufgeklärt hat.“

Die kleine Minna nickte, reichte Weng die Hand und rief in schnippischem Tone Stettenborn zu:

„Sie, Herr Kommissar, der Doktor stiehlt nich. Der is so jut zu alle Menschen –“

„Geh’!“ sagte Stettenborn scharf. Und das etwa achtjährige Mädel machte ihm einen frechen Knicks und ballerte die Tür hinter sich ins Schloß. –

Weng setzte sich auf Stettenborns Aufforderung hin, nachdem dieser ihm unsere Namen genannt hatte.

Seltsam genug: Weng war, als er Harsts Namen hörte, förmlich zurückgeprallt.

Und Stettenborn meinte nun leicht ironisch:

„Es war sehr richtig von Röbel, daß er Ihnen nicht mitteilte, wen Sie bestohlen haben, Herr Doktor Weng. Diese Überraschung wollte er mir vorbehalten. Und – sie ist geglückt. Nicht wahr – hätten Sie gewußt daß Sie ausgerechnet an dem Eigentum des bekanntesten Liebhaberdetektivs sich vergreifen wollten, dann würden Sie wohl lieber auf den Raub verzichtet haben?“

Weng senke den Kopf und murmelte:

„Ich bin kein Dieb! Ich bestreite alles!“

Harald stand auf und lehnte sich vor den Doktor an Stettenborns Schreibtisch.

„Gestatten Sie, daß ich einige Fragen an Herrn Weng richte,“ bat er den Kommissar, der mit einem „Aber gewiß –!“ antwortete.

„Herr Doktor,“ begann Harst, „wie ich sehe, haben Sie im Verhältnis zu Ihrer mächtigen Figur recht große Hände. Trugen Sie heute im D-Zuge Hamburg–Berlin Handschuhe?“

„Ich trage Handschuhe nur im Winter,“ erklärte Weng leise und ohne aufzublicken.

„Welche Wagenklasse benutzten Sie heute?“

„Dritte Klasse, Nichtraucher. Ich saß im dritten Wagen hinter der Maschine.“

„Allein?“

„Nein. Es waren noch zwei Frauen im Abteil. Ich habe der einen, mit der ich mich unterhalten hatte, den Koffer bis zur Elektrischen getragen.“

„Kennen Sie den Namen der Frau?“

„Nein. Aber sie sagte, ihr Mann sei Zahntechniker und sie wohne in der Charlottenstraße.“

Stettenborn mischte sich ein. „Diese Frau hat Doktor Weng auch mir bereits aufgetischt,“ meinte er achselzuckend. „Ich werde selbstverständlich feststellen lassen, ob die Sache stimmt. Sie wird aber nicht stimmen.“

Auf einem Regal neben dem Schreibtisch lag ein Berliner Adreßbuch. Harald nahm es, blätterte darin und sagte dann:

„Hier ist Charlottenstraße Nr. 49, vier Treppen ein Zahntechniker Gutschmidt angegeben. Er hat Telephon – Zentrum 1318. Läuten Sie doch mal an, Herr Stettenborn.“

Der Kommissar bekam sofort Anschluß. Wir hörten gespannt zu.

„Ah – Sie besinnen sich also auf den Herrn. – Hatte er einen großen Pappkarton bei sich? – So – nur eine Handtasche –“

Stettenborn machte ein etwas verblüfftes Gesicht und bat:

„Frau Gutschmidt, wollen Sie sofort im Auto herkommen. Ja, Zimmer 201, Kommissar Stettenborn.“

Er legte den Hörer weg. Und Harald sagte sofort:

„Herr Doktor Weng, Sie sind nicht der Dieb. Sie gestatten aber, daß ich Sie nach Ihrer Freilassung mal besuche –“

Weng benahm sich eher sehr merkwürdig. Er schaute nicht auf. Nein, sein Kopf sank noch tiefer auf die Brust. Dann flüsterte er noch leiser als bisher:

„Ich – ich will alles gestehen. Ja, ich habe den Karton gestohlen. Ich brachte die Frau bis zur Haltestelle, lief dann zurück auf den Bahnsteig!“

„– ohne Fahrkarte?!“ meinte Harst.

„Mit einer Bahnsteigkarte. Und dann nahm ich den Karton aus dem Gepäcknetz.“

Stettenborn sprang auf. „Und vorher, Herr Weng, – was hatten Sie vorher getan?! Weshalb wußten oder hofften Sie, daß der Karton unbewacht sein würde? Weil Sie eben den Diener des Herrn Harst niedergestochen hatten und auf die allgemeine Verwirrung rechneten, sobald der Diener im Abteil gefunden werden würde!“

Weng blieb stumm. Nur Harald sagte ganz laut:

„Schade!“

Worauf Stettenborn ihn fragend ansah und Harst nun erklärte: „Schade, daß ich mich so getäuscht habe!“

Stettenborn entging der Doppelsinn dieser Bemerkung. Mir entging er nicht. Aber – was diese Äußerung sollte, verstand ich trotzdem nicht. –

Gleich darauf hatte Doktor Weng zu Protokoll gegeben, daß er den Chinesen Tscho habe ermorden wollen und daß er den Karton gestohlen hätte. – „Die von dem Juwelier erhaltenen 30 000 Mark Anzahlung auf die verkauften Gegenstände habe ich,“ gestand er ein, „in meiner Wohnung in einem Geheimfach meines Schreibtisches verborgen, wo ich auch noch anderes Bargeld aufbewahre.“ –

Dann erschien Frau Gutschmidt, erkannte Weng sofort wieder und wurde wieder entlassen.

 

3. Kapitel.

Auf der Suche nach der Wahrheit.

Als sie gegangen war, ließ Stettenborn auch Doktor Weng wieder abführen.

Weng blickte nicht auf, selbst als Harst mit merkwürdiger Betonung sagte:

„Auf Wiedersehen, Herr Doktor!“

Stumm folgte Weng dem Beamten, der ihn in seine Zelle brachte.

Wir vier – Stettenborn, Röbel, Harst und ich – waren allein.

Wachtmeister Röbel, der sich bisher ganz schweigsam verhalten hatte, meinte nun zögernd:

„Herr Kommissar, hier stimmt irgend was nicht. – Nicht wahr, Herr Harst, Sie glauben doch dasselbe? Weng ist nicht der Dieb.“

„Oho!“ lachte Stettenborn kopfschüttelnd. „Wer denn sonst?!“

Harald sagte darauf langsam: „Sie hätten Weng den Mordversuch in anderer Weise vorhalten sollen, Herr Stettenborn. Ich erlaubte mir ein „Schade!“ weil Sie leicht hätten feststellen können, daß der Doktor von dem Mordversuch keine Ahnung hatte und daß es somit –“ Da wandte er sich an mich.

„Nun, mein Alter, vollende den Satz –“

Ich tat es. „– daß es somit zwei Männer gegeben haben muß, die sich sehr ähnlich sahen und die heute denselben D-Zug benutzten. Einer stahl den Karton, nämlich Weng, der andere war der Mann mit dem Dolch und den Handschuhen.“

„So ist’s!“ rief Röbel eifrig.

Harst lächelte nur. Und Stettenborn meinte sehr gedehnt: „Hm, dann müssen die beiden gerade Zwillingsbrüder gewesen sein!“

Worauf Harald zerstreut nickte und nach einer Weile zu Stettenborn sagte:

„Ich fürchte, wir sind von der Wahrheit noch meilenweit entfernt. Wir können ihr aber näher kommen, wenn wir ein kleines Experiment wagen.“

„Und das wäre?“ fragte Stettenborn neugierig.

„Wir fahren sofort mit Weng nach der Müllerstraße. Und dort tun Sie alles, Herr Stettenborn, was ich vorschlage, – alles, selbst etwas scheinbar Widersinniges. Wenn Sie mir das versprechen, kläre ich Ihnen diesen Fall innerhalb vierundzwanzig Stunden auf.“

Stettenborn war einverstanden. „Jedem anderen würde ich nicht so ohne weiteres folgen, Herr Harst,“ meinte er. „Bei Ihnen laufe ich keine Gefahr, mich in die Nesseln zu setzen.“ –

Ein Dienstauto brachte uns nach Müllerstraße 191. – Das einstöckige Häuschen lag in einem verwilderten Garten hinter Fliedersträuchern und einer Tannenhecke. Rechts und links befanden sich Neubauten.

Weng hatte während der Fahrt kein Wort gesprochen. Aber sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und seine Hände glitten hin und her. Er gab sich die größte Mühe, seine Aufregung zu unterdrücken. Es gelang ihm aber nicht.

Das Häuschen hatte nur drei Stuben und eine Küche. Die Einrichtung war eigenartig genug. Man glaubte sich eher im Laden eines Raritätenhändlers als in der Wohnung eines Gelehrten zu befinden.

Weng mußte zunächst in seinem Studierzimmer den Schreibtisch und das Geheimfach öffnen. Kaum hatte er einen Blick in dieses geworfen, als er auch schon schrill und heiser ausrief:

„Oh – ich bin bestohlen! Da – das Fach ist leer!“

Harald stand dicht hinter Weng.

„Ich denke, Sie widerrufen Ihr Geständnis, Herr Doktor,“ sagte er sehr höflich. „Sie können der Dieb nicht sein. Wir haben bereits festgestellt, daß niemand mit einer Bahnsteigkarte nach dem D-Zuge geeilt ist. Ich habe leider jetzt nicht Zeit, die Frage aufzuklären, weshalb Sie sich selbst bezichtigt haben. Auch für den Mordversuch kommen Sie als Täter nicht in Betracht. Ich habe soeben die Taschen Ihres Reisemantels durchsucht. Es befinden sich keine Handschuhe darin. Man sieht es auch Ihren Händen an, daß Sie sich ohne Handschuhe viel in frischer Luft bewegt haben. Dann noch Ihre Ausrede, Sie seien bestohlen worden. Ich behaupte, in diesem Geheimfach haben sich niemals jene 30 000 Mark Anzahlung befunden. Ich werde all diese Fragen später prüfen, wenn ich mit Schraut aus Dänemark zurückgekehrt bin. Ich muß heute abend noch abreisen, was ich sehr bedauere. Ihre Person interessiert mich, Herr Doktor Weng. Ich hoffe, Sie werden mir später freiwillig sagen, aus welchem Grunde Sie uns derart zu täuschen versuchten. – Noch eine Frage: haben Sie einen Bruder, der Ihnen ähnlich sieht?“

Weng schaute jetzt zum ersten Male Harst voll an.

„Ich stehe ganz allein da,“ erklärte er leise, aber im Tone vollster Aufrichtigkeit. Dann wurde er verwirrt, senkte wieder den Kopf und fügte hinzu: „Sie – Sie täuschen sich, Herr Harst. Ich habe beides begangen, den Mordversuch als auch den Diebstahl. Ich – ich leide zuweilen an einer Art Geistesgestörtheit. Ich fühle dann den unbezwingbaren Drang, mich als Verbrecher zu betätigen.“

„Wohl möglich,“ meinte Harst leichthin. „Für diese beiden Straftaten kommen Sie aber nicht in Betracht.“

Ich beobachtete Kommissar Stettenborn, der mit einem ganz merkwürdigen Gesicht dastand. Ich merkte, wie schwer es ihm wurde, auf diese Anregung Haralds einzugehen und den Haftbefehl gegen Weng vorläufig aufzuheben.

Als Harst ihn jetzt in besonderer Weise anblickte, sagte er daher nur widerstrebend:

„Sie sind frei, Herr Doktor. Ich muß Sie aber bitten, Berlin zunächst nicht zu verlassen. Der Fall bedarf noch dringend der Aufklärung.“

„Ich werde mich jeder Zeit zu Ihrer Verfügung halten,“ erwiderte Weng in seiner zaghaften, beinahe schuldbewußten Art.

„Dann können wir gehen,“ meinte Stettenborn. „Wachtmeister Röbel hat bei Ihnen ja bereits eine Haussuchung vorgenommen. – Guten Abend, Herr Doktor.“

Weng verbeugte sich stumm, begleitete uns bis in den Vorgarten und kehrte dann in sein kleines Häuschen zurück.

Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Wir bestiegen das Polizeiauto, das auf uns gewartet hatte, und fuhren davon.

Dann sagte Harst: „Bitte, lassen Sie uns beide hier aussteigen, Herr Stettenborn.“

„Was haben Sie vor?“ rief Stettenborn etwas gereizt und drückte auf den Ball der Pfeife.

Das Auto fuhr langsamer, hielt an, und Harald entgegnete: „Sie wissen, daß ich meine besonderen Methoden als Detektiv habe, Herr Stettenborn. Ich hoffe, auf diese Weise auch diesmal ans Ziel zu kommen. Es wird Ihnen nicht leid tun, meinen Rat befolgt und die Verhaftung Wengs aufgehoben zu haben. Er ist schuldig – ohne Frage! Aber man muß es ihm auch beweisen können.“

„Daraus werde der Teufel klug!“ rief Stettenborn temperamentvoll. „Jetzt sagen Sie wieder, er ist schuldig?! Sie meinen natürlich den Diebstahl!“

„Vielleicht –“

Wir stiegen aus, und das Auto rollte davon.

„Kehrt!“ befahl Harald und faßte mich unter. „Aber auf der anderen Seite, mein Alter. Dieser Weng ist ein gerissener Kunde. Man muß vorsichtig sein!“

„Tu mir einen Gefallen und erkläre mir, was dies alles eigentlich bedeutet?!“ bat ich eindringlich, „Stettenborn hat ganz recht: aus alledem wird kein Mensch klug!“

„O doch, lieber Alter! So allerlei ahnte ich schon in Stettenborns Dienstzimmer. Als ich dann Wengs Behausung sah, wurde mir der Rest klar, zumal er ja selbst zugab, daß er nicht – Doch nein, lassen wir das jetzt. Wir werden Weng besuchen, aber heimlich. – Ah – hier ist ja noch ein Eisenwarengeschäft offen. Warte, ich kaufe einiges ein. Es könnten Schlösser geöffnet werden müssen, und wir haben von unserm Handwerkszeug nur unsere Pistolen und Taschenlampen mit.“ –

Er war nach fünf Minuten wieder bei mir. Die Straße war jetzt gegen sieben Uhr abends recht belebt. Vor dem Neubau links von des Doktors Grundstück machten wir halt.

„Ein Wächter wird nicht vorhanden sein,“ meinte Harald. „Der Neubau enthält noch nichts Wertvolles. Also los – klettern wir über den Bauzaun.“

Wir paßten eine gute Gelegenheit ab, als niemand in der Nähe war. Dann standen wir vor der Tür des großen, erst bis zur halben Höhe des ersten Stockes aufgeführten Gebäudes.

„Wir haben noch Zeit,“ sagte Harst. „Weng wird erst später an die Arbeit gehen. Komm’, suchen wir uns ein Versteck in der Nähe des Häuschens. Bäume und Büsche gibt es ja übergenug in dem verwilderten Garten.“

Wir umschritten den Neubau. Eine hohe Dornenhecke und ein schadhafter Holzzaun begrenzten hier des Doktors Besitz.

Da der Himmel stark bewölkt war, fiel es uns schwer, einen Durchschlupf durch die Dornenhecke zu finden. Gerade als wir über einen Haufen Bauschutt kletterten, sahen wir vor uns undeutlich die Gestalt eines Mannes, der einen dunklen Radmantel trug.

Der Mann hatte uns nicht, bemerkt. Es wehte ein kräftiger Wind, und das Rauschen und Knistern der Dornenhecke übertönte jedes Geräusch. Der Mann verschwand in der Dunkelheit. Er hatte es nicht eilig. Aber seine Bewegungen waren mir doch schleichend und vorsichtig erschienen.

„Ein Wächter ist das nicht gewesen,“ flüsterte ich.

„Nein, vielleicht einer von Stettenborns Beamten,“ erwiderte Harst.

„Du meinst, er läßt das Haus überwachen?“

„Wenn nicht er, dann Wachtmeister Röbel, mein Alter, was auf dasselbe hinausläuft. Folgen wir dem Menschen.“

Wir hatten ihn bald eingeholt, blieben nun zehn Schritt hinter ihm. Am Ende der Dornenhecke begann ein kleines Laubengebiet. Hier kletterte der Mann durch den Drahtzaun und ging einen Weg zwischen den Lauben entlang.

„Doch kein Beamter!“ flüsterte ich.

„Nein. – Suchen wir ein Loch in der Hecke.“

Wir fanden keins. Harald schnitt dann so viel Zweige weg, daß wir unten am Boden hindurchkriechen konnten.

 

4. Kapitel.

In Wengs Studierzimmer.

Hier in Wengs Garten war es unter den Bäumen noch dunkler. Wir stießen auf eine Art Fliederlaube, in der ein wackliger Tisch und eine einfache Holzbank standen. Der Eingang der Laube zeigte gerade auf die Hintertür des Häuschens, das mit seinem gelbbraunen Anstrich genau zu erkennen war. Die Entfernung bis dahin betrug etwa fünfzehn Schritt.

Wir setzten uns. – Die Fenster des Häuschens hatten Holzläden, die außen angebracht waren.

Ich hatte jetzt Zeit, über das bisher Erlebte genau nachzudenken. – Eins stand für mich fest: Doktor Weng war nicht der, durch dessen Hand Tscho verwundet worden war. Aber: war er der Dieb der kostbaren antiken Gefäße?! – Ich konnte es nicht recht glauben. Es war ja zu unwahrscheinlich, daß er Frau Gutschmidt erst bis an die Haltestelle der Straßenbahn begleitet und dann mit einer Bahnsteigkarte den Perron wieder betreten hatte. Harald hatte es freilich glatt erfunden, daß der Schaffner an der Sperre nach einem Herrn mit einer Bahnsteigkarte befragt worden war. Aber ich kannte ja die Aussagen des anderen Schaffners, der den Mann mit den Pappkarton als einen der letzten Fahrgäste den Bahnsteig hatte verlassen sehen. Niemals konnte Weng in so kurzer Zeit von der Straßenbahn wieder auf den[6] Bahnsteig geeilt sein. Nein – er war der Dieb niemals!

Ich vermochte meine Gedanken nicht länger für mich zu behalten und teilte nun Harst meine letzten Schlüsse leise mit.

„Du bist der Wahrheit einmal ziemlich nahe gewesen,“ erwiderte er. „Du übersiehst ganz die Auktion in Hamburg, auf der ich die Sachen kaufte.“

Nun war ich genau so schlau wie bisher. Ich zog es vor zu schweigen. Wenn Harald nicht sprechen wollte, war aus ihm auf keine Weise etwas herauszuholen.

Dann wurde ich auch durch Doktor Weng abgelenkt, der plötzlich aus der Hintertür heraustrat und die Läden schloß. Er trug jetzt einen langen Schlafrock und ein Käppchen auf dem grauen Kopf.

Die Hinterfront hatte ebenso wie die Vorderseite vier Fenster. – Weng schaute sich argwöhnisch um, bevor er wieder ins Haus ging. Wir hörten, wie er laut aufseufzte und irgend etwas vor sich hinmurmelte.

Eine Turmuhr schlug neun.

„Um zehn werden wir einsteigen,“ meinte Harald. „Siehst Du dort oben das Dachfenster? Und links die große Linde? Der eine Ast berührt fast den Schornstein.“

Er holte sein Zigarettenetui hervor und hielt es mir hin. „Wir können uns den Genuß gönnen. Weng wird seinen Bau nicht mehr verlassen.“

Gerade als er mir in seinem Hut das Feuerzeug hinhielt, hörten wir aus dem Hause etwas wie einen Schrei.

„Was war das?!“ flüsterte ich und blies das Flämmchen aus.

Harst war aufgestanden und hatte den Oberkörper lauschend vorgestreckt. Er antwortete nicht.

Als nichts weiter sich ereignete, wandte er den Kopf und sagte leise: „Es war ein Schrei. Und er kam aus dem Hause. Ob es aber ein Hilferuf war, möchte ich bezweifeln. Jedenfalls muß Weng ihn ausgestoßen haben und zwar in höchster Erregung. Ob diese Erregung Wut, Schreck oder Angst gewesen, werden wir sofort feststellen.“

Wir verließen die Laube und schlichen an der Hauswand entlang nach vorn. Durch eine Ritze des dritten Fensterladens schimmerte Licht. Kaum waren wir dort stehen geblieben, als wir auch schon eine Stimme hörten – die Doktor Wengs. Er rief kreischend und scheinbar in höchster Wut:

„Den Rest meines Lebens im Gefängnis oder im Zuchthaus vertrauern! Niemals! Ich habe ein Mittel, dem zu entgehen! Ich bin ein Unglücklicher, und die Welt wird nach meinem Tode die Wahrheit erfahren!“

Dann nichts mehr. Kein Laut, nicht das geringste Geräusch. –

Wir standen und lauschten.

„Ob Weng Besuch hat?“ flüsterte ich. „Vielleicht ist jemand bei ihm, dem er sein Herz ausschüttet –“

„Das glaube ich nicht,“ meinte Harald. „Röbel betonte, daß Weng geradezu menschenscheu ist. – Hinauf auf die Linde! Wir müssen die Einbrecher spielen. Vielleicht ist er schon bei der Arbeit –“

Er huschte mir voran um die Hausecke.

Bei der Arbeit?! – Schon einmal hatte Harald eine ähnliche Bemerkung gemacht. – Was hieß das? Was nur?! –

„Vorwärts – ich helfe Dir,“ sagte Harst, und er hob mich an dem Stamm in die Höhe.

Es war eine gefährliche Kletterei auf dem wagerechten Ast entlang. Das Dachfenster, neueren Datums, hatte einen Eisenrahmen und eine jener Stützen, die innen in einen Zapfen mit ihren Löchern gesteckt werden können und so auch als Verschluß dienen.

Harald hatte das Klappfenster sehr bald geöffnet. Wir kletterten hinein und befanden uns nun auf einem mit Gerümpel angefüllten Bodenraum. Unsere Taschenlampen zeigten uns den Weg. Die beiderseits mit Blech benagelte Bodentür konnte einen Harst nicht lange aufhalten. Das Schloß war gut, aber der zum Dietrich gebogene Eisendraht öffnete es schnell und geräuschlos.

Jetzt zogen wir die Schnürstiefel aus. Die Treppe hatte ein festes Geländer. Wir vermieden die Stufen, die vielleicht knarren konnten, und balancierten nur am Geländer und auf der Treppenwange abwärts.

Unten im Hause wußten wir Bescheid. Es hatte einen durchgehenden Flur. Rechter Hand lag Wengs Studierzimmer und die Bibliothek. – Harst kniete vor der Tür des Studierzimmers nieder und schaute durch das Schlüsselloch. Die Tür war klein und hatte ein ganz altmodisches, mächtiges Schloß.

Dann winkte er mir und erhob sich. Ich brachte das rechte Auge an das Schlüsselloch. Der Schlüssel steckte, aber der Bart war zur Seite gedreht.

Links stand schräg vor dem Fenster der große Schreibtisch mit altmodischem Aufsatz. Eine elektrische Stehlampe mit grünem Schirm beleuchtete matt den Oberkörper des Doktors, der vor sich auf dem Schreibtisch zahlreiche kleine Pakete von länglicher Form zu liegen hatte.

Harald zog mich jetzt zur Seite und legte die Hand auf den Drücker.

Die Tür trat unverschlossen, ging auf.

Doktor Weng hatte sich nach uns umgedreht und sich in den Schreibsessel zurückgelehnt.

Wir traten ein. Harald zog die Tür zu und sagte dann:

„Entschuldigen Sie, Herr Doktor. Wir sind auf einem etwas ungewöhnlichen Wege bei Ihnen eingedrungen: Aber – wir sind daher auch gerade zur rechten Zeit gekommen.“

Ich sah jetzt, daß in dem Kachelofen ein kräftiges Feuer brannte, sah auch, daß die dünnen, länglichen Päckchen sauber auf der Schreibtischplatte aufgereiht waren.

Doktor Weng wies mit einer müden Handbewegung auf zwei Plüschsessel, die neben dem Sofatisch standen, rückte seinen Schreibtischstuhl noch mehr herum und wartete, bis wir Platz genommen hatten.

Dann fragte er leise und offenbar ängstlich:

„Sie wünschen?“

 

5. Kapitel.

Eine alte Bekannte.

Harald setzte sich bequemer, schlug ein Bein über das andere und erwiderte:

„Die Wahrheit wünschen wir, Herr Doktor. Ich selbst kenne sie. Aber ich möchte die Zusammenhänge aus Ihrem Munde bestätigt haben.“

Weng seufzte leise und zuckte die Achseln.

„Ich will Ihnen das Geständnis erleichtern,“ meinte Harst. „Zunächst also Hamburg. – Sie sind Antiquitätensammler. Sie hörten von der großen Auktion in Hamburg und fuhren hin, um vielleicht etwas zu erwerben, wenn es billig war. Denn Sie sind nicht reich. Sie müssen mit dem Pfennig rechnen, zumal Sie gern Notleidende unterstützen. Auf der Auktion geschah dann ein Diebstahl. Ich kaufte mir heute früh in Hamburg eine Morgenzeitung. Und darin stand ein kurzer Artikel über diesen Diebstahl. Schraut und ich waren ja ebenfalls auf der Auktion gewesen. Daher interessierte mich dieses glänzende Gaunerstückchen. Es war ein kleiner, mit Rubinen und Diamanten geschmückter Kelch aus dem 16. Jahrhundert gestohlen worden. Wie – das wußte niemand. Bei der Auktion waren auch zwei Privatdetektive anwesend, die das Publikum überwachen sollten. Trotzdem war der Kelch verschwunden. Er hatte in einem Kästchen mit Sammetfutter gelegen. Auch ich hatte ihn mir angesehen. Er war mir zu teuer. Als der Auktionator ihn zur Versteigerung bringen wollte, waren Schraut und ich schon gegangen. Ich hatte[7] genügend gekauft. – Der Zeitungsartikel erinnerte mich nun an eine ältere Dame mit Nickelkneifer und altmodischer Mantille, die den Kelch sich sehr eingehend beschaut hatte. Ich habe für das Benehmen der Menschen, die sich aus irgend einem Grunde in einer schlecht verhehlten Aufregung befinden, einen sehr guten Blick. Die alte Dame war erregt, wenn sie sich auch gut in der Gewalt hatte. Während der Auktion dachte ich nichts Arges. Erst als Sie, Herr Doktor, angaben, Ihnen seien Ihre Papiere geraubt und zwar in Ihrem Hotel von einer plötzlich abgereisten alten Dame, erinnerte ich mich an die Zeitungsnotiz und an jene grauhaarige Frau, deren Mantille mir recht geeignet schien, einen kostbaren Kelch darunter verwinden zu lassen.“

Über Doktor Wengs frisches Gesicht lief ein Lächeln hin. – „Weiter bitte,“ sagte er mit einem Kopfnicken, das mir recht ironisch vorkam.

„Ich will mich kurz fassen,“ fuhr Harald nach einer längeren Pause fort. „Sie gestatten doch, daß ich rauche, Herr Doktor?“

„Nein!“ erklang es da aus dem Schreibsessel in sehr schroffem Ton. Und in demselben Augenblick erschien Wengs rechte Hand aus den Schlafrockfalten mit einem kleinen, schwärzlichen Ding, dessen Mündung sich auf Harst richtete. „Legen Sie gefälligst beide die Arme auf die Sessellehnen,“ befahl er in noch häßlicherem Kreischton. „Ich bin ein sehr guter Schütze, meine Herren. Und Sie können überzeugt sein: ich drücke ab, wenn Sie nur die Arme bewegen! – Bitte – gehorchen Sie!“

Der kleine, schmächtige Doktor war plötzlich ein ganz anderer geworden.

Harald sagte denn auch, indem er Wengs Befehl ausführte: „Sie imponieren mir! Tatsächlich!“

Ich gehorchte ebenfalls.

„Dann darf ich wohl fortfahren,“ meinte Harst. „Die Einzelheiten des Mordversuchs und des Diebstahls des Kartons kennen Sie. Daß Doktor Weng nicht der Täter war, ging ja schon daraus hervor, daß er sich dem Juwelier gegenüber durch Papiere auf den Namen Weng auswies. Hätte Weng den Karton gestohlen gehabt, dann wäre er ja geradezu ein Narr gewesen, seine eigenen Papiere dem Juwelier vorzuzeigen.“

„Hm,“ krächzte der Doktor jetzt dazwischen, „weshalb sprechen Sie von mir plötzlich in der dritten Person, Herr Harst? Weshalb sagen Sie „er“ und nicht „Sie“?“

Weng hatte sich vorgebeugt und starrte Harald gespannt an. In demselben Moment fiel mir etwas anderes auf. Ich sah, daß Harald mit der rechten Fußspitze nach der besponnenen Schnur angelte, die von dem Steckkontakt an der Wand hinter ihm auf dem Teppich entlang nach der Stehlampe auf dem Schreibtisch hinlief.

„Oh – es ist das eine Eigenart von mir,“ erwiderte Harald ganz harmlos. „Ich werde also auch in derselben Art fortfahren. – Weng war beim Erscheinen der Polizei hier in seinem Hause sehr verlegen, wie der Wachtmeister Röbel betonte. Ich fragte mich nun, weshalb bezichtigt Weng sich selbst, obwohl er doch an diesen beiden Straftaten unbeteiligt ist? – Und da beobachtete ich in Stettenborns Zimmer die kleine Szene, als Weng eintrat und des kleinen Mädelchens ansichtig wurde. Weng wechselte die Farbe. Man sah ihm an, daß er sich alle Mühe geben mußte, ruhig zu erscheinen. – Weshalb dieser Schreck? fragte ich mich wieder. – Nun, Weng wohnt ja hier in der Müllerstraße, und der Zopfabschneider treibt hier sein Unwesen. Vielleicht, dachte ich, ist Weng gar der Zopfabschneider.“

Der seltsame Doktor machte eine kurze Handbewegung. „Das interessiert mich nicht. Ich will wissen, was aus dem Kelch wurde, den die alte Dame stahl?“

„Oh – ich vermute, Weng hat gewußt, daß die Frau den Kelch stahl. Und da er sie wohl von Ansehen als seine Zimmernachbarin kannte, wird er in der vergangenen Nacht den Kelch aus ihrem Zimmer geholt haben. Die Frau konnte ja deshalb nicht Lärm schlagen. Aber sie wollte den Kelch zurückhaben, schlich in Wengs Zimmer, fand den Kelch jedoch nicht, nahm dafür aber die Brieftasche mit den Papieren mit und verließ das Hotel!“

„Glänzend!“ rief der Doktor wieder halb ironisch. „Was Sie nicht alles heraustüfteln, Herr Harst, – einfach staunenswert.“

„Mir genügen häufig ganz geringe Anhaltspunkte,“ meinte Harald gleichmütig. Aber ich sah, daß er jetzt die grüne elektrische Schnur über dem Fuße liegen und den anderen Fuß darüber gedeckt hatte. „Das Fehlende ergänze ich mir schon. – Die Frau hat sich dann in aller Frühe Männerkleider besorgt und sich sehr geschickt solche ausgewählt, die denen Doktor Wengs glichen. Durch künstlichen Bart, Perücke, Schminke und Brille verwandelte sie sich vollends in Wengs getreues Ebenbild. Die Frau versteht sich offenbar sehr gut auf derartige Künste. Sie wußte, daß ich kostbare Antiken gekauft hatte. Sie reiste im selben Zuge hier nach Berlin. Außerdem hatte sie auch mit uns, Schraut, Tscho und mir, eine kleine Rechnung wettzumachen. Sie hoffte, daß durch Tschos Ermordung sich ihr in Berlin Gelegenheit zu dem Diebstahl bieten würde. Der Diebstahl gelang. Nur – Tscho lebt noch. Und so konnte er den Mordgesellen sehr genau beschreiben. – Die Frau wollte sich aber auch an Weng rächen. Deshalb zeigte sie dessen Papiere vor und dachte, die Polizei würde bei Weng, dem leidenschaftlichen Antiquitätensammler, dann auch den Kelch finden. Dieses Weib ist also ungeheuer raffiniert und gewissenlos. Sie hat dann fraglos beobachtet, wie Weng verhaftet wurde. Und sie besaß die Frechheit, nachher hier einzudringen und nach dem Kelch zu suchen, fand ihn zwar nicht, leerte dafür aber das Geheimfach aus und verschwand. Denn – und damit komme ich wieder zu der Hauptfrage – Weng hat die beiden Verbrechen nur deshalb eingestanden, um zu verhüten, daß die Polizei nochmals bei ihm Haussuchung hielt. Ohne Zweifel haben in dem Geheimfach mindestens 30 000 Mark gelegen. Wengs Entsetzen, als er das Geheimfach leer sah, war völlig echt. Er hatte gehofft, daß, wenn die Polizei das Geld beschlagnahmte, nicht weiter bei ihm genauer alles durchsucht würde. Und diese Hoffnung war nun vernichtet. Da kam ich ihm zu Hilfe und erreichte seine Freilassung. Er blieb hier. Aber – er blieb nicht lange allein. Ein Mann im Radmantel erschien. Weng war gerade dabei, das zu verbrennen, was ihn schwer bloßstellen konnte, nämlich jene Päckchen dort, in denen die Zöpfe sich befinden, die er in seiner krankhaften Sucht nach derartigem Haarschmuck verkleidet seinen Opfern abgeschnitten hatte. Es waren also einmal die Zöpfe, die ihn eine nochmalige Haussuchung fürchten ließen, dann aber auch der antike Kelch. – Der Mann im Radmantel war kein anderer als Wengs Doppelgänger, also – jene Frau, die alle Anlagen zu einer großzügigen Verbrecherin hat. Diese Frau sitzt jetzt dort vor mir im Schreibsessel! Sie hat Weng zu verraten gedroht, falls er ihr nicht den Kelch aushändigt. In seiner Erregung rief er etwas, daß wir draußen hörten. Dann hat das Weib ihn stumm gemacht, wahrscheinlich, weil er den Kelch nicht herausgeben, sondern ihn, von Reue gequält, nach Hamburg zurücksenden wollte.“ –

Ich war jetzt förmlich zur Salzsäule erstarrt. Ich begriff alles: dieses Weib war Daisy O’Brien! Allerdings, dann war ich der Wahrheit wirklich sehr nahe gewesen!

Der falsche Doktor Weng lachte jetzt laut auf. „Sie irren, Herr Harst. – Sie irren in zwei Punkten. Erstens habe ich Doktor Weng nur geknebelt und gefesselt. Er liegt dort in der Bibliothek. Und zweitens rechnete ich auf Ihr Erscheinen hier. Weng habe ich geschont. Er will den Kelch tatsächlich zurückschicken und war gerade beim Verbrennen seiner Zöpfe, als –“

Da geschah das, was ich erwartet hatte: Harst hatte mit einem Ruck seiner Füße die Lampe vom Tisch gerissen und warf sich gleichzeitig nach vorn zu Boden.

Als die Lampenglocke auf den Dielen zersplitterte blitzte auch ein Schuß auf.

Es war dunkel um mich her. Ich vernahm ein Poltern. Dann schlug eine Tür knallend zu; dann leuchtete Haralds Taschenlampe auf. Er rüttelte an der Tür zum Bibliothekzimmer. – Wir rannten in den Flur, in den Garten. Wir kamen zu spät. Daisy O’Brien war durch das eine Fenster entwischt. –

Als wir Doktor Weng die Fesseln abnahmen, als wir ihn aufrichteten und in einen Sessel setzten, stierte er uns mit leeren Augen an. Er antwortete auf nichts. Die Aufregungen dieses Tages hatten seinen ohnedies schon kranken Geist völlig zerrüttet. –

Weng ist ein halbes Jahr später in einer Irrenanstalt gestorben. Den Kelch fand Harald in einer Truhe mit doppeltem Boden. Aber – Daisy O’Brien fanden wir nicht. Sie blieb unsichtbar, und erst der Strandkorb Nr. 121 führte sie uns wieder in den Weg.

 

Nächster Band:

Strandkorb Nr. 121.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































40:
41:
42:
43:
44:
45:
46:
47:
48:
49:
50:
51:
52:
53:
54:
55:
56:
57:
58:
59:
60:
61:
62:
63:
64:
65:
66:
67:
68:
69:
70:
71:
72:
73:

Die Gespenster-Rikscha.
Eine Löwenjagd im Sinai.
Der Afghan-Teppich.
Der Acht-Grad-Kanal.
Der leere Koffer.
Acht Stunden Frist.
Der Klub der Zwölf.
Die Bajadere Mola Pur.
Der goldene Gonggong.
Die Kugel aus dem Nichts.
Der Piratenschoner.
Die Büchse der Pandora.
Der Tintenlöscher des Sahdi Ahmed.
Auf des Messers Schneide.
Strandkorb Nr. 121.
Das Lichtbild ohne Kopf.
Das Haus in der Wildnis.
Das Geheimnis des Brasilianers.
Die Spielhölle in Hongkong.
Das Rätsel von Paragwana.
Ein amerikanisches Duell.
Die Ganges-Piraten.
Eine Wettfahrt ums Leben.
Die Bärenjagd in Kaschmir.
Das Licht in der Lehmhütte.
Der chinesische Messerwerfer.
Die leere Tonne.
Die Gauklergesellschaft Shingra Mao.
Der Klub der Zuchthäusler.
Lord Ralleys Schreckensnächte.
Das Geheimnis der Insel Morton.
Die Katzen der Gräfin Baltholm.
Der Tote im Fahrstuhl.
Die Höllenmaschine Doktor Blucks.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Kingelzeichen“.
  2. „Blanley“ / „Blanlay“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Blanley“ geändert.
  3. In der Vorlage steht: „Fallrepp“.
  4. In der Vorlage steht: „den“.
  5. In der Vorlage steht: „den“.
  6. In der Vorlage steht: „dem“.
  7. In der Vorlage steht: „hate“.