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Strandkorb Nr. 121

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 54:

 

Strandkorb Nr. 121

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

1. Kapitel.

Harald Harst und ich gingen im Gemüsegarten des Harstschen Hauses in Berlin-Schmargendorf auf und ab. Frau Auguste Harst, mit einer großen Leinenhaube auf dem weißen Kopf, stach Spargel. – Nach unserem letzten größeren Abenteuer mit unserer Feindin Daisy O’Brien, die uns von Belutschistan aus hartnäckig gefolgt war, hatte Harald nur drei geringere Probleme erledigt, die zu alltäglich sind, um sie hier zu schildern. Wir hatten also sozusagen volle drei Wochen ohne jede ernstere Aufregung zugebracht, und ich merkte Harald bereits an, daß er sich zu langweilen anfing.

Seine Mutter war überglücklich, daß wir nun fast wie harmlose Rentiers lebten. Unser chinesischer Diener Tscho, auf den der Leser sich aus dem vorigen Band „Auf des Messers Schneide“ noch besinnen wird, war inzwischen von dem Dolchstich Mistreß O’Briens völlig wiederhergestellt und hatte sich beinahe ein dem meinen ähnliches Bäuchlein angepflegt.

Es war heute der dritte Mai. Der Vormittag war prächtig, – warm, windstill und erfüllt von Lenzesfrohsinn. Nur Harald hatte seinen schlechten Tag. Ich fragte ihn jetzt schon zum dritten Male, worüber er eigentlich nachgrübelte. – Er blieb stehen und schaute seiner Mutter zu, die den Spargelkorb bereits halb gefüllt hatte.

„Es liegt etwas in der Luft,“ erwiderte er leise. „Wenn ich nur wüßte, was, mein Alter. Die Anzeige fand ich heute morgen abermals in der Zeitung. Sie steht jetzt zum fünften Male darin, immer derselbe Wortlaut, der geradezu sinnlos erscheint.“

Er holte die Berliner Tagespost aus der Tasche seiner Hausjacke hervor und zeigte mir eine Anzeige unter „Vermischtes“.

Sie lautete:

„Suchet, so werdet ihr finden. Geduld führt zum Ziel. Kein Baum fällt auf den ersten Hieb. Treue ist kein leerer Wahn.“

„Ich war gestern in der Annoncenexpedition des Blattes,“ erklärte Harald nun. „Ich erfuhr dort, daß diese Anzeige zum ersten Mal durch einen Brief, dem zwanzig Mark beilagen, aufgegeben wurde. Der Brief war unterzeichnet „Ernst Müller, Berlin, Leonhardstraße 16“. Es gibt aber in der Leonhardstraße 16 keinen Ernst Müller. Dann kamen für die weiteren Anzeigen nur Briefe mit dem Zeitungsausschnitt, der den Wortlaut der Anzeige enthielt, und die zwanzig Mark als Beilage. Die Anzeige ist in genauen Zwischenräumen von je drei Tagen erschienen. – Du wirst zugeben, daß der Text reichlich eigenartig ist. Der angebliche Müller hat darin ein paar Sprichwörter nebeneinander gereiht, nichts weiter. Kein Wunder, daß die Annonce mich immer mehr interessierte. Sie muß doch einen Zweck haben. Ich denke, es steckt eine große Sache dahinter. „Kein Baum fällt auf den ersten Hieb“, – das deutet auf ein fragwürdiges Geschäft mit allerlei Hindernissen hin, vermute ich. Und –“

Tscho war vor uns aufgetaucht.

„Es sein eine Mann gekommt, Herr Harst,“ meldete er. „Eine Mann, wo so heißen –“ – Und er reichte Harald eine Visitenkarte, auf der gedruckt stand:

Klaus Vahlen

Hotelbesitzer

Seebad Swinemünde

Kurparkstraße 99.

„Bitte den Herrn hier in den Garten,“ befahl Harst. – Und Tscho verschwand. –

Wir saßen mit dem dicken Herrn Vahlen auf der Veranda. Er begann dann folgendermaßen:

„Ich hätte nicht gewagt, Sie mit meiner vielleicht recht harmlosen Angelegenheit zu belästigen, Herr Harst, wenn ich nicht in der Zeitung von Ihrem Abenteuer mit Doktor Weng, dem sogenannten Zopfabschneider der Müllerstraße, gelesen und dabei auch den Namen Daisy O’Brien gefunden hätte. Ich kenne diese Daisy nämlich, Herr Harst. Ich war bis vor drei Jahren Oberkellner in einem Hotel in London. Wir hatten dort ein deutsches Stubenmädchen namens Lina Pinzke, die sich aber nur Daisy nennen ließ und ihren deutschen Vatersnamen in Painskay umgeändert hatte. Oh – es war ein tolles Flick, diese hübsche, rotblonde Daisy. Sie konnte alles. Sie beherrschte fünf Sprachen. Sie war verflucht ehrgeizig. Ihr schwebte ein Millionär als Gatte vor. Dann stieg bei uns im Hotel Atlantik ein Mann ab, der aus Gwadar in Belutschistan kam. Er wollte sich mal in der alten Heimat etwas amüsieren, dieser Thomas O’Brien. Und – der war’s, der die Lina Pinzke dann heiratete. Er hatte Geld, kein Zweifel! Und er verstand mit Weibern umzugehen. – Da nun doch „Ihre“ Daisy O’Brien, Herr Harst, das Deutsche tadellos beherrscht und ein so vielseitiges Pflänzchen ist, kam ich gleich auf den Gedanken: Halt, das ist die Lina!“

„Sie werden wohl recht haben, Herr Vahlen,“ nickte Harald. „Ihre Mitteilungen sind mir sehr wertvoll. Ich rechne damit, daß Daisy ihren Rachefeldzug früher oder später wieder beginnt, und dann bin ich gegenüber dieser Feindin besser gewappnet, eben weil ich weiß, woher sie stammt.“

„Ja – und nun meine Sache,“ sagte der dicke Hotelbesitzer etwas zaghaft. „Es ist nichts besonderes dabei, Herr Harst. – Mir gehört das Hotel Meeresstern am Ostende der Kurparkstraße in Swinemünde seit zwei Jahren. Es hat sechzig Fremdenzimmer – alles tipp topp. Für meine Gäste habe ich nun Strandkörbe angeschafft. Diese Strandkörbe stehen den Winter über in einem Schuppen, der auf dem Hofe des Hotels sich befindet. In dem Schuppen liegen außerdem noch zwei Ruderboote. Am fünften März dieses Jahres wurde nun in den Schuppen eingebrochen. Das Vorhängeschloß war am Bügel durchgefeilt. Man hatte aber nur zwei Ruder gestohlen. Ich legte ein anderes Schloß vor und – drei Tage drauf mußte ich abermals ein neues kaufen. Es war wieder eingebrochen worden. Diesmal fehlten von dem anderen Boot die vier Messingdollen. Dann merkte ich nichts mehr von Einbrüchen. Aber vor acht Tagen gewahrte ich zufällig nachts Licht in jenem Schuppen. Ich zog mich an. Es war jedoch niemand da, als ich und mein Hausdiener den Raum durchsuchten. Wir stellten nur fest, daß an der Rückwand ein Brett durchgesägt und so zum Durchschlüpfen eingerichtet war. Außerdem lagen aber eine Anzahl Strandkörbe anders als bisher. Und vorgestern nun wurden in den Dünen im Gebüsch von Kindern die beiden Ruder und die vier Messingdollen gefunden. Da sagte ich mir: Halt – die Geschichte ist nicht sauber! Das müßtest Du mal Herrn Harst vortragen! – Na – und so fuhr ich denn gestern nach Berlin.“

Harald überlegte. „Herr Vahlen, wir werden als Sommergäste zu Ihnen kommen, aber in anderer Aufmachung,“ sagte er dann. „Haben Sie jemandem erzählt, weshalb Sie nach Berlin reisen?“

„Nein. Nur meine Braut weiß Bescheid.“ Der Dicke lächelte glücklich. „Aber meine Grete ist verschwiegen. Wir sind seit Januar verlobt und heiraten bald.“

„Haben Sie bereits Gäste in Ihrem Hotel?“

„Ja, seit einer Woche, Herr Harst.“

Gleich darauf verabschiedete Vahlen sich unter vielen Dankesworten.

Kaum hatte ich ihn bis an die Haustür gebracht, als Tscho auch schon hinter mir auftauchte und flüsterte:

„Herr Schraut, im Herrenzimmer sitzen seit fünf Minuten diese Master. Ich nicht haben stören wollen. Hier sein Karte von die lange Master. Sein wirklich sehr lang, die Herr –“

Ich las:

Alfred Albner

Ingenieur

Potsdam

Krusiusstraße 6.

– So lernten wir den interessanten Herrn Albner kennen. –

Ich war mit seiner Visitenkarte zu Harst auf die Veranda zurückgekehrt.

Diese Karte war nicht gedruckt, sondern mit Tinte ausgeschrieben. Harald prüfte die Schrift eine ganze Weile, steckte die Karte zu sich und meinte:

„Zwei Klienten an einem Vormittag – etwas viel! Sehen wir uns Herrn Albner an.“

Als wir Harsts Herrenzimmer betraten, erhob sich aus dem einen Klubsessel ein sehr langer, dürrer, bartloser Herr mit faltigem, magerem Gesicht, machte eine weltmännische Verbeugung, stellte sich vor und sagte in einer sehr sicheren Art:

„Ich komme mit einem ganz besonderen Anliegen, Herr Harst. Mir ist letztens etwas so Merkwürdiges begegnet, daß ich allein damit nicht fertig zu werden fürchte, obwohl ich durchaus nicht ängstlich bin.“

Wir nahmen Platz und Herr Albner erzählte folgendes.

„Ich bin Junggeselle und hielt mich bis vor einem Jahr in Amerika auf, wo ich in St. Louis in einer Maschinenfabrik eine Anstellung hatte. Da ich mir drüben ein Vermögen erworben habe, wollte ich hier in meiner Heimat mich niederlassen und mich an einem größeren Unternehmen beteiligen. Es fand sich aber nichts Passendes, und so kaufte ich mir denn zunächst in Potsdam eine recht alte Villa, die in einem großen Parke liegt. Ich hause dort mit einer Wirtschafterin, einer älteren Frau, ganz allein. Die Villa ist zweistöckig und gehörte bis dahin der Familie von Greiz – der freiherrlichen Linie von Greiz. – Vor acht Tagen kehrte ich abends gegen 10 Uhr aus Berlin zurück. Die Krusiusstraße, in der meine Villa liegt, ist sehr einsam. Sie befindet sich in der Nähe des Neuen Gartens in Potsdams ältestem Villenviertel. Als ich kaum in die Straße eingebogen war, hörte ich hinter mir das Knattern eines Autos. Ich achtete nicht weiter darauf. Das Auto fuhr langsam. Wie es sich dann in einer Höhe mit mir befand, beugte sich eine verschleierte Dame heraus und rief: „Bitte, eine Frage, mein Herr“. – Ich trat näher, hielt mit dem Auto gleichen Schritt und fragte die Dame, was Sie wünsche. Statt der Antwort flog mir eine Hanfschlinge über den Kopf, und im selben Augenblick raste das Auto davon. Ich wurde umgerissen und mitgeschleift –“

„Ich besinne mich,“ unterbrach Harst ihn da. „Ich las in der Zeitung davon. Sie hatten sich gerade die Spitze einer frischen Zigarre abschneiden wollen und hielten das geöffnete Taschenmesser noch in der Hand. Es gelang Ihnen, den dünnen, aber sehr festen Strick zu durchschneiden, und Sie fielen halb erwürgt auf das Pflaster, wo ein Vorübergehender sich Ihrer annahm.“

„Ja – es war der Regierungsrat Blümer, ein älterer Herr, der mich dann auch nach Hause brachte. Die Polizei hat in dieser Sache bisher nichts ermitteln können. Aber – dieser Mordanschlag hat noch ein Nachspiel, Herr Harst. Und dieses ist noch merkwürdiger. Ich habe es der Polizei noch nicht gemeldet. Ich fürchte, man wird mich dort für nicht ganz zurechnungsfähig halten, wenn ich die Geschichte erzähle.“

Harald war aufgestanden und bot Albner eine Zigarre an, die dankend angenommen wurde.

 

2. Kapitel.

„Dieses Nachspiel,“ fuhr der Ingenieur fort, „ereignete sich gestern abend in meinem Arbeitszimmer im Erdgeschoß meiner Villa. Es ist dies ein recht großes Gemach mit getäfelten Wänden. Ich saß gegen 11 Uhr an meinem Schreibtisch und zeichnete einen neuartigen Elektromotor, den ich mir patentieren lassen will. Ich war aber durch jenes Attentat auf der Straße vorsichtig geworden und hatte neben mir unter einer Zeichnung einen entsicherten Revolver liegen. Mit einem Male hörte ich ein Geräusch hinter mir. Ich drehte mich schnell um und sah ein verschleiertes Weib, gut angezogen, drei Schritt vor mir stehen. Sie hielt eine jener kleinen Messingblumenspritzen in den Händen, die ganz kleine Strahlen geben. Ich bin wie gesagt nicht furchtsam. Aber ich war doch so erschrocken, daß ich für Sekunden wie gelähmt blieb.

„Rühren Sie sich nicht!“ drohte das Weib. „Die Spritze enthält Schwefelsäure.“

Da erst gewahrte ich einen Mann, der hinter dem Weibe stand, Herr Harst. Es war ein kleiner, magerer Mensch, und er trat nun vor, nahm den Revolver vom Schreibtisch und sagte höhnisch: „So, jetzt haben wir Sie!“ – Inzwischen war ich aber wieder Herr meiner Sinne und meines Körpers geworden. Der kleine Kerl, auf einen Angriff nicht vorbereitet, erhielt einen Boxhieb, daß ihm die Waffe aus der Hand flog. Ich packte ihn und warf ihn gegen das Weib. Im selben Moment aber erlosch sowohl meine Schreibtischlampe als auch die elektrische Krone. Ich wollte zuspringen und einen der beiden Angreifer packen. Es war stockdunkel. Ich stolperte über einen Stuhl, den der kleine Kerl im Sturze umgerissen hatte. Als ich mich wieder aufgerappelt und eine Kerze angezündet hatte, war das Zimmer leer. Ich nahm einen anderen Revolver aus meinem Schreibtisch und durchsuchte das Haus. Im Flur fand ich die elektrische Sicherung herausgeschraubt. Deshalb also waren beide Lampen gleichzeitig ausgegangen. Alle Türen und Fenster waren verschlossen. Die Fenster des Erdgeschosses haben Rolljalousien; die Kellerfenster sind vergittert. Kurz: wie die drei Leute, denn es müssen drei gewesen sein, ins Haus und wieder hinaus gelangt sind, bleibt rätselhaft.“

„Sie meinen, die dritte Person drehte die Sicherung heraus?“ fragte Harald da.

„Allerdings. Mein Arbeitszimmer liegt so, daß bei offener Tür jemand, der im Flur am elektrischen Zähler steht, alles im Zimmer beobachten kann. Und die Tür war offen.“

„Ah – die drei waren sehr vorsichtig,“ sagte Harald nachdenklich.

„Den Revolver fand ich nachher unter dem Sofa,“ fügte Albner hinzu. „Auch die Blumenspritze lag auf dem Teppich. Sie war – leer.“ Er lächelte etwas. „So läßt man sich einschüchtern! Na – ein zweites Mal soll die Bande bei mir übel anlaufen!“

„Wie sah der Mensch aus, dem Sie den Boxhieb versetzten?“ fragte Harst.

„Der Kerl trug ohne Zweifel einen falschen Bart.“

„Sie haben keine Ahnung, weshalb man Ihnen nachstellt?“

„Nein. – Ich möchte noch bemerken, daß die Verschleierte dieselbe Person war, die mir aus dem Autofenster die Schlinge über den Kopf warf. Ich erkannte die Stimme deutlich wieder.“

„Sonst haben Sie nichts Auffälliges in Ihrer Nähe wahrgenommen? Ich denke dabei an irgend etwas, das uns Aufschluß über die Absichten dieser Bande geben könnte, Herr Albner.“ – Harst sprach sehr angeregt. Man merkte, daß ihn dieser zweite Fall weit mehr interessierte, als des dicken Hoteliers Bretterschuppen.

„Nichts, Herr Harst, nichts!“ erklärte der Ingenieur sehr bestimmt. „Sie können mir glauben: ich verstehe meine Augen zu gebrauchen! Die ganze Sache ist mir vollkommen rätselhaft. Ach habe keinen Feind. Ich bin ein Mensch, der mit jedem gut auskommt. Und doch – die drei trachten mir nach dem Leben! Davon sind Sie doch wohl ebenfalls überzeugt, Herr Harst?“

„Ich möchte mit meinem Urteil zurückhalten, Herr Albner. Es ist ja auch möglich, daß man Sie zunächst nur einschüchtern will. – Wir werden Sie besuchen, wenn es ihnen recht ist. Ich möchte mir das Haus von drinnen genau ansehen. Sind Sie gegen sechs Uhr nachmittags daheim?“

Der Ingenieur erwiderte in seiner gewinnenden, so überaus höflichen und doch auch stets etwas selbstbewußten Art, daß es ihm sehr leid tue; er habe aber bis gegen acht Uhr abends in Berlin allerlei zu besorgen und sei kaum vor neun Uhr zu Hause.

„Dann also kurz nach neun,“ meinte Harald. „Weiß jemand, daß Sie meine Hilfe in Anspruch nehmen wollten?“

„Nein. Ich habe auch den Überfall in meinem Hause der Polizei nicht gemeldet, wie ich schon erwähnte, Herr Harst. Ich schämte mich, offen gestanden, weil ich mich eben durch eine leere Blumenspritze derart hatte einschüchtern lassen. Nicht einmal meine Wirtin kennt den Vorfall. Ich hatte sofort die Absicht, mich Ihnen anzuvertrauen.“ Er erhob sich. „Ich will dann nicht länger stören, Herr Harst. Auf Wiedersehen.“

Kaum hatte Albner das Haus verlassen, als Harald auch schon Tscho herbeirief.

„Flink, mein Sohn! Du bleibst dem Herrn auf den Fersen!“ befahl er. „Hier hast Du genügend Geld, falls Du fahren mußt. – Schnell Deinen Hut – und dann fort!“

Tscho verstand sich auf die Kunst, eine Person zu beobachten, vortrefflich. Er war ja überhaupt recht gewandt und nicht minder vielseitig.

Mich überraschte dieser Auftrag Haralds derart, daß ich eine Weile stumm blieb. Wir befanden uns auf der Veranda, und Harst ging leise vor sich hin pfeifend auf und ab. Dann machte er vor mir halt.

„Na, wie gefällt Dir Herr Albner?“ meinte er mit besonderer Betonung.

„Du mißtraust ihm? Weshalb?“

Er zog des Ingenieurs geschriebene Visitenkarte aus der Tasche und entnahm seinem Portefeuille einen eng zusammengefalteten Brief, reichte mir beides und sagte:

„Herr Albner hat eins nicht beachtet: daß mir die Annonce auffallen könnte! Vergleiche den ersten Brief an die Berliner Tagespost mit der Karte –“

Ich tat’s. Und rief sofort: „Es ist dieselbe Schrift!“

„Allerdings. Also ist Albner derjenige, der die merkwürdige Anzeige eingerückt hat!“

„Hm! Die Anzeige braucht doch nicht mit den Überfällen zusammenzuhängen.“

„Das stimmt. Wir müssen das erst aufklären. Immerhin mahnt die Anzeige zur Vorsicht. Das wäre Punkt eins. – Punkt zwei sind diese Überfälle selbst. Findest Du nicht, daß es ein sehr seltsamer Zufall ist, daß Albner das Taschenmesser „gerade“ bereit hatte und sich losschneiden konnte?! – Weiter dann: ist es nicht genau so auffallend, daß er die Polizei von dem zweiten Attentat nicht benachrichtigt hat?! – Wer hätte dies wohl versäumt?! Ich glaube, niemand! Seine Ausrede, er schäme sich, ist doch recht fadenscheinig.“

„Du meinst also, diese Überfälle seien erfunden?!“

„Das will ich doch nicht so ohne weiteres behaupten. Für den ersten Überfall ist ein Zeuge da. – Es kann zweierlei vorliegen: entweder ist Überfall Nr. 1 „bestellte Arbeit“ und Nr. 2 glatte Erfindung gewesen, oder – Albner verschweigt uns aus irgend welchen Gründen diejenigen Tatsachen, die auf die Spur seiner Feinde hinweisen. Daß er eine Persönlichkeit ist, die allerlei Geheimnisse hat, geht schon aus den Anzeigen hervor, von denen ich noch jetzt behaupte: es steckt etwas Großes dahinter! – Warten wir zunächst ab, was Tscho für Nachricht bringt.“ –

Tscho kehrte erst um vier Uhr nachmittags zurück. Sein Bericht verwirrte die Angelegenheit noch mehr. – Albner war unter leicht erkennbaren Vorsichtsmaßregeln, die offenbar jeden Verfolger von seiner Spur ablenken sollten, nach der Kantstraße in Charlottenburg gefahren und hier im Hause Nr. 185 verschwunden. Tscho hatte dann sehr geschickt herausbekommen, daß Albner in der zweiten Etage in einem Pensionat unter dem Namen Karl Hesterloh wohnte, und zwar seit Jan. dieses Jahres. Um drei Uhr war Albner darauf vom Bahnhof Savigny-Platz aus nach Potsdam gefahren. –

Harald war mit Tschos „Arbeit“ sehr zufrieden. Als wir allein waren, sagte er nur:

„Wir haben allen Grund, diesem Albner nur gerade so weit zu trauen, wie wir ihn sehen.“

Ich gab ihm recht. Ein Mann, der zwei Namen führt und zwei Wohnungen hat, dazu noch derartige Anzeigen in die Zeitung setzen läßt, ist ein recht fragwürdiges Subjekt. –

Wir begannen dann Toilette zu machen. Haralds Mutter war entsetzt, als zwei ältere Herren, von denen ich noch dazu einen Buckel hatte, sich von ihr verabschiedeten.

„Seid nur vorsichtig,“ meinte sie seufzend. „Nun fängt für mich die Angst wieder an!“ – Harald küßte sie und sagte herzlich: „Keine Sorge! Wir sind ja noch immer mit einem blauen Auge davongekommen.“

 

3. Kapitel.

Gegen halb sieben abends waren wir in der Krusiusstraße. Das Haus Nr. 6 lag so weit zurück, daß man von der Straße aus nichts davon sah. Eine alte, sehr hohe Ziegelmauer mit einer verwitterten Holztür wirkte recht unfreundlich. Neben der Tür befand sich der Porzellangriff eines Klingelzuges, darunter ein Messingschild mit dem Namen Albner. – Wir läuteten. Niemand kam. Harald riß immer stärker an der Glocke. Dann tauchte ein Briefträger auf.

„Reißen Sie man düchtig,“ meinte er. „Die olle Wirtin ist halb taub.“

Mit einem Male öffnete sich die Pforte. Vor uns stand ein grauhaariges Weib mit einer Nickelbrille auf einer Nase, deren Röte recht verdächtig war. – Der Briefträger gab eine Zeitung und einen Brief ab und ging weiter. Die Alte fragte uns brummig, was wir wünschten. Herr Albner sei nicht zu Hause.

Harst erklärte recht laut, daß Albner uns erwarte, worauf das unsaubere Weib plötzlich freundlicher wurde und unsere Namen wissen wollte. Sie nickte dann. „Gut, kommen Sie nur –“ – Also hatte Albner sie auf den Besuch von Harst und Schraut vorbereitet.

Eine Kastanienallee führte auf die Villa zu. Vor dieser standen im Halbkreis Linden und Walnußbäume, dazwischen hochstämmige Rosen und Akazien. Das Haus selbst sah recht schmuck aus. Eine Freitreppe führte zum Eingang empor.

Die Wirtin bat uns, im Herrenzimmer Platz zu nehmen, drehte das Licht an, ließ die Jalousien herab und stellte uns Zigarren auf den Sofatisch. Dann verschwand sie. – Die Einrichtung war sehr bescheiden, fast ärmlich.

Nach einer Weile schicke Harst mich in die Küche. Ich sollte die Alte um ein Glas Wasser bitten. – Dieser Auftrag kam mir verdächtig vor. Ich fand mich auch bis zur Küche hin, weil die Wirtin dort mit Kochtöpfen rumorte. Harald hatte mir von der Zimmertür aus nachgeschaut.

Als ich zurückkehrte, saß er in der Sofaecke.

„Besten Dank,“ sagte er, führte das Glas an die Lippen und flüsterte dann weiter: „Der Brief da auf dem Schreibtisch ist aus Swinemünde. Es ist der, den der Postbote vorhin brachte.“

Nun begriff ich Haralds Durst. Er hatte nur unbeobachtet sich den Brief ansehen wollen. Mithin traute er auch der Alten nicht.

Wir sprachen über gleichgültige Dinge. Ich war recht zerstreut. – Swinemünde?! Sollte etwa der Bretterschuppen des Hotelbesitzers mit in diesen Fall „Albner-Hesterloh“ hineinspielen?!

Dann kam die Alte und erklärte, wir könnten uns ruhig im Hause umsehen. Sie wisse, daß wir die Villa kaufen wollten. Herr Albner hätte ihr gesagt, sie solle uns ganz nach Belieben umhergehen lassen.

So begannen die beiden „Käufer“ denn das Haus zu besichtigen. – Von dem Flur zweigte an der linken Seite ein zweiter ab. Hier befand sich auch die Kellertür. Wir hatten im Erdgeschoß nichts entdeckt, was auf eine verborgene Tür oder dergleichen hindeutete. Die Alte hatte uns eine Petroleumlampe mitgegeben. Wir stiegen nun in die hohen, sauberen Kellergewölbe hinab. Sie waren bis auf einen Raum, in dem Kisten standen, völlig leer. Der Fußboden war mit Ziegeln ausgelegt, die Wände weißgetüncht. Auch hier fanden wir keine Spur irgend eines geheimen Ausgangs. Harald meinte denn auch leise: „Die Geschichte wird Schwindel gewesen sein!“

Trotzdem schaute er dann noch unter die Kellertreppe, wo ein Kasten mit Kartoffeln und ein leeres Faß standen.

Harald reichte mir die Laterne und rückte den Kasten bei Seite. Darunter lagen ein paar alte Säcke. Er schob sie mit dem Fuße weg. Dabei gab es ein ganz anderes Geräusch, als wenn der Stiefel über Ziegelboden hinfährt. – Harst bückte sich schnell, klopfte mit dem Finger auf die rötlichen Ziegel.

„Eine rot angestrichene Eisenplatte!“ flüsterte er. – Gleich darauf hatte er eine quadratische Falltür hochgeklappt. Ich leuchtete in das Loch hinein. Eine Ziegeltreppe führte in die dunkle Tiefe. Bevor wir hinabkletterten, riß Harald von seinem Taschentuch einen Streifen ab und warf ihn in den Kartoffelkasten.

„Wozu das?“ fragte ich.

Er zeigte auf die Ziegeltreppe. „Vorwärts! Wir haben nicht viel Zeit!“

Ich ging voran. Harald ließ die Eisentür wieder ganz sacht zufallen. – Die Treppe endete in einem niederen Gelaß, an dessen Wänden hohe Holzgestelle offenbar sehr ehrwürdigen Alters standen.

„Ein früherer Weinkeller, weiter nichts!“ sagte Harst und schaltete seine Taschenlampe ein. Ich hielt die Petroleumlaterne. Harald untersuchte dann die Holzgestelle. Zwischen zweien befand sich ein freies Stück Mauer von über ein Meter Breite. Es waren hier alte, recht große Ziegelsteine verwendet worden. Nach zehn Minuten erklärte Harst, daß keine weitere Geheimtür vorhanden sei. – „Immerhin können sich, falls Albners Abenteuer mit der Blumenspritze nicht erfunden ist, hier ganz gut ein paar Leute versteckt haben.“ Er deutete auf den Boden. „Du siehst da in dem dicken Staub nicht nur die Abdrücke unserer, sondern auch anderer Schuhsohlen, und diese Spur zum Beispiel rührt fraglos von einem Frauenschuh her. Jedenfalls haben wir genug gesehen und können nun sogleich feststellen, ob meine Haupttheorie über Albners Besuch bei uns richtig ist.“

„Du meinst, er wird jetzt nach Hause gekommen sein?“

„Nein, mein Alter. Ich meine vielmehr, die Eisentür wird sich nicht mehr öffnen lassen.“

„Wie –?!“ Ich starrte ihn ganz sprachlos an.

Er schritt jedoch schon der Treppe zu. Ich folgte ihm mit recht gemischten Gefühlen. Ich sah, wie er seine Taschenlampe wegsteckte und dann mit den flachen Händen gegen die Falltür drückte.

Sie regte sich nicht.

„Also wirklich!“ sagte Harald nur. Dann kam er zu mir herab.

„Meine Haupttheorie stimmt. Wir sind Albner fein ins Garn gegangen. Er hat uns nur hierher locken wollen. Sein erstes Abenteuer mit der Schlinge war bestellte Arbeit, und das zweite war Schwindel. – Ich wußte, daß die Anzeigen in der Tagespost etwas Großzügiges andeuteten. Nun haben wir den Beweis dafür. Albner will uns als ihm hinderlich verwinden lassen. Mithin handelt es sich um etwas, das lohnt. – Das war eben meine Haupttheorie.“

Ich kam jetzt endlich zur Besinnung, rief daher:

„Du ahntest, daß wir hier eingesperrt –“

Er winkte kurz ab. „Rege Dich nicht auf. Du mußt zugeben, daß wir auf diese Weise volle Klarheit über Albner gewonnen haben, und das ist sehr viel wert. Ich kann Dir jetzt ja auch mitteilen, daß ich Tscho genaue Verhaltungsmaßregeln gegeben habe. Er kommt um 9 heute hierher und wird die Villa beobachten. Haben wir sie bis Mitternacht nicht verlassen, dann holt er die Polizei herbei, und das Stück von meinem Taschentuch sagt ihm, wo etwa er uns zu suchen hat.“

Ich atmete auf. „Gut, dann können wir ja alles weitere in Ruhe abwarten,“ meinte ich. – Wir setzten uns dann nebeneinander auf die zweite Stufe der Treppe, löschten auch die Petroleumlaterne aus und besprachen nochmals die bisherigen uns bekannten Tatsachen, insbesondere die Möglichkeit, daß der Brief, den Albner aus Swinemünde erhalten hatte, mit Albners dunklen Plänen irgendwie zusammenhängen und daß der Strandkorb-Schuppen des dicken Herrn Klaus Vahlen bei diesen Plänen eine Rolle spielen könne. – Harst hatte dann gerade erwähnt, daß er die Wirtschafterin, die offenbar nur für alt zurechtgeschminkt sei, für eine Verbündete Albners halte, als aus der pechschwarzen Finsternis vor uns ein blendend weißer Lichtkegel aufsprang, uns einhüllte und zugleich die Stimme Albners erklang, der uns warnte, ja nicht irgend eine verdächtige Bewegung zu machen.

Von ihm selbst war nichts zu sehen.

„Ich habe Ihre Unterhaltung zum Teil belauscht,“ sagte er dann, „habe auch oben durch die Tür zum Nebenzimmer beobachtet, wie Sie, Herr Harst, den Brief in Augenschein nahmen. Es tut mir leid, Ihnen eine längere Kerkerhaft auferlegen zu müssen. Wenn Sie beide verständig sind, werden wir uns in Güte einigen. Sie versprechen mir ehrenwörtlich, diesen Raum erst nach zehn Tagen zu verlassen und keinen Lärm zu schlagen, liefern auch Ihre Schußwaffen ab und werden als Gegenleistung gut verpflegt werden. Weigern Sie sich, so muß ich zu meinem Bedauern anders mit Ihnen verfahren. Ich hoffe aber, Sie werden mir als gebildetem Manne glauben, daß ich höchst ungern Gewalt anwende und daß die versprochene Gegenleistung Ihnen den Aufenthalt hier nach Möglichkeit behaglich machen wird. Auf irgend welche Verhandlungen lasse ich mich nicht ein. Werfen Sie mir also Ihre Pistolen zu.“

Harald faßte in die Tasche, legte seine Clement auf den Boden und gab ihr mit dem Fuß einen Stoß. Ich tat dasselbe.

„Sehr vernünftig!“ lobte Albner und trat dicht vor uns hin. „Nun dürfte ich wohl um das verlangte Versprechen bitten, meine Herren. Ich bin kein Mörder. Ich werde Sie hier nicht verhungern lassen. Ich will eben nur freie Hand haben. Und Sie besonders, Herr Harst, sind Leuten meines Schlages zuweilen recht hinderlich.“

Er stand etwa anderthalb Schritt vor uns. In der Rechten hielt er einen kleinen, schwarzen Revolver halb erhoben, in der Linken aber die Lampe, deren Lichtstrahl so grell und so scharf begrenzt war, daß die Dunkelheit ringsum noch schwärzer erschien.

Harald brauchte nicht zu antworten. Diese Antwort erfolgte in ganz besonderer Weise, kam uns dreien völlig überraschend.

Plötzlich flog Albner der Revolver aus der Hand und schlug nach vorn gegen die Mauer.

Albner fuhr mit einem Schmerzensschrei herum. Da traf auch schon ein zweiter Schlag seine Lampe. Sie flog ihm ebenfalls aus der Hand.

Und anstelle des bisherigen Lichtkegels tauchte ein anderer, schwächerer auf; und anstelle von Albners kräftiger Stimme erklang ein helles, aber nicht minder scharfes, energisches Organ:

„Sie gestatten, daß ich hier ebenfalls so etwas mitspiele, Herr Albner. Meine Anrechte an Harst und Schraut sind älter und stärker –!“

„Daisy O’Brien!“ rief ich halb gegen meinen Willen.

„Ganz recht – Daisy O’Brien! – Albner, – da sind Stricke –“ Sie warf sie ihm zu: „Binden Sie erst Harst die Hände kreuzweis über der Brust und machen Sie den Knoten im Rücken. Harst kennt mich. Er weiß, daß ich sofort abdrücke, wenn er irgend einen Versuch wagt, die Situation zu seinen Gunsten umzugestalten. – Los doch, was zögern Sie, Albner!“

Und Albner gehorchte. Harst wehrte sich nicht. Auch ich ließ mich fesseln. Dann mußte Albner sich eine Schlinge um die Handgelenke legen, sie festziehen und das andere Ende Daisy O’Brien reichen. Sie wand ihm den Strick um den Hals, so daß seine Hände auf der Kehle ruhten.

„Setzen Sie sich nebeneinander,“ befahl sie nun. „Wir haben einiges zu besprechen, meine Herren. Ich möchte zunächst erklären, wie ich hinter die Geheimnisse dieser Villa gekommen bin. Ich habe Ihr Haus stets umlauert, Herr Harst. Sie haben meinen Gatten getötet oder sind doch zum mindesten mit schuld an seinen Tode. Meine Rache schläft nie. Ich war stets um Sie, stets. Und so merkte ich denn vor vier Tagen, daß ein Mann dasselbe tat wie ich, nämlich Ihr Haus ständig beobachtete. Diesem Manne folgte ich hier bis Potsdam und bis in den Park der Villa, kletterte, da es bereits dunkel war, an der Dachrinne empor, gelangte durch ein offenes Oberfenster in den ersten Stock, schlich nach unten und belauschte zwischen Albner und der Frau, die er für seine Wirtschafterin ausgibt und die in Wahrheit seine Schwester ist, ein Gespräch, aus dem ich so viel heraushörte, daß er wahrscheinlich aus Gründen, die ich noch nicht kenne, Harst und Schraut unschädlich machen und in den Verbindungsgang zwischen Haus und dem früheren Eiskeller einsperren müsse. – Ich wußte genug. Ich habe dann weiter genau aufgepaßt, was geschah. Heute fiel die Entscheidung. Inzwischen hatte ich den halb verfallenen Eiskeller hinten im Parke nachts durchsucht und auch die verborgene Tür zu dem Gange gefunden, dessen zweite Tür hinter einem der Regale äußerst geschickt angebracht ist. – So, das als Einleitung. – Nun frage ich Sie, Albner, weshalb Sie Harst und Schraut kaltstellen müssen. Ich vermute, daß Sie einen ganz großen Streich begehen wollen. Lügen Sie nicht! Ich bin nur dem Namen nach noch Weib. Ich habe nur ein Ziel im Auge: Harst, Schraut und den elenden Chinesen für immer verschwinden zu lassen und – reich zu werden!“

Albner stand auf. „Sie sollen alles erfahren, aber nicht hier!“ sagte er schnell.

Daisy O’Brien überlegte. „Gut, wir werden die beiden in den Gang schaffen,“ erklärte sie dann. „Aber, Albner, – kein falsches Spiel!“

Albner lachte kurz auf. „Das Geschäft, das ich vorhabe, wirft auch für vier genug ab. Es handelt sich um Millionen!“

Gleich darauf lagen wir beide auch an den Füßen gefesselt und mit Knebeln im Munde in dem von Moderduft erfüllten Gange, der so niedrig war, daß ein Mann nur ganz gebückt ihn durchschreiten konnte.

Wir lagen im Dunkeln und mindestens zehn Schritt auseinander. Albner und unsere Feindin waren gegangen.

 

4. Kapitel.

Die Zeit verstrich. Ich hoffte auf Tscho. Aber ich sagte mir auch, daß diese Hoffnung recht gering war, denn die Geheimtür hinter dem Wandregal im Weinkeller war kaum zu finden.

Dann hörte ich, daß Harald sich auf mich zuwälzte. Sein Kopf berührte meine Schulter. Ich spürte den Atem, der stoßweise aus der Nase drang, spürte plötzlich seine Finger, die mir den mit einer Schnur im Genick festgebundenen Knebel aus dem Munde rissen. – Dann nahm er eine andere Stellung ein. Ich fühlte sein Gesicht an meinen Händen, erwies ihm nun denselben Liebesdienst.

Wir waren nicht mehr stumm. Wir verständigten uns schnell, legten uns so, daß Harald mir die Fessel der Hände im Rücken aufknoten konnte. –

Was wir weiter taten, ergibt sich aus dem folgenden.

Wir lagen wieder an den alten Plätzen, anscheinend geknebelt und gebunden.

Nach vielleicht einer Stunde näherten sich Schritte. Ein Lichtschein tauchte auf.

Es waren die angebliche Wirtschafterin und Daisy O’Brien.

Daisy hatte ein Fläschchen in der Hand, goß jetzt aus dem Fläschchen etwas auf ein großes Stück Watte, beugte sich über mich und legte mir die Watte auf das Gesicht. –

Chloroform! – Ich wollte schon aufspringen, als etwas geschah, das Daisy O’Brien nicht geahnt hatte.

Hinter ihr war lautlos der lange Albner aufgetaucht, umschlang mit beiden Händen ihren Hals, riß sie zu Boden und ließ die halb Bewußtlose von seiner Schwester binden, die mir sofort die Watte wieder vom Gesicht entfernt hatte.

„So,“ sagte Albner darauf, „nun haben wir auch Sie erledigt, Daisy O’Brien! Wir sind Glücksritter, aber keine Mörder. – Herr Schraut,“ wandte er sich an mich, „wollen Sie jetzt das verlangte Versprechen geben? Sie sehen ja, daß wir Sie beide vor der wahnwitzigen Rachgier dieses Weibes schützen und es also ehrlich meinen.“

Harald hatte diese Worte gehört und rief an meiner Stelle: „Niemals! Wir lehnen jede Verhandlung mit Ihnen ab!“

„Dann muß ich Sie gefesselt lassen,“ sagte Albner schroff. „Meine Schwester ist eine strenge Wächterin. Überlegen Sie sich’s nochmals, Herr Harst.“

Harald blieb stumm. – Die Geschwister Albner flüsterten miteinander und entfernten sich. Ich hatte aber doch gehört, daß Albner etwas von „sofort abreisen“ gesagt hatte.

Kaum waren wir mit der schönen Feindin allein, als Harald auch schon neben mir stand. Ich streifte die nur lose um die Gelenke geschlungenen Fesseln ab und folgte Harst, der mit der eingeschalteten Taschenlampe voranging. Im Weinkeller sagte er dann zu mir: „Albner scheint verreisen zu wollen. Seine Schwester allein soll uns bewachen. Er hat es offenbar sehr eilig, das Geschäft in Swinemünde zu Ende zu bringen. Er merkte nicht mal, daß ich trotz des Knebels antwortete. Seine Gedanken sind anderswo.“

Ich teilte ihm mit, daß Albner tatsächlich von sofort verreisen gesprochen hatte.

„Das paßt ja vorzüglich,“ meinte Harst. „Schleichen wir nach oben.“ Er sah nach der Uhr. „Genau halb zwölf. Albner wird mit dem letzten Zuge nach Berlin und mit dem Morgenzuge nach Swinemünde fahren wollen.“

Als wir im Erdgeschoß waren, schlug gerade die Haustür zu. Es war draußen mondhell. Wir sahen, daß Albner mit einer Reisetasche die Allee entlangschritt. Neben ihm ging seine Schwester. – Mit einem Male löste sich von dem einen Walnußbaum eine flinke Gestalt los. Es war unser Tscho. Harald schickte ihn sofort zur Polizei.

Die angebliche Wirtschafterin kehrte zurück. Sie hatte ihren Bruder nur bis zur Gartenpforte begleitet. – Wir hatten hinter der Tür gestanden, packten das Weib und führten es in Albners Arbeitszimmer. Doch – es war aus ihr nichts herauszubringen. Sie sprach kein Wort, saß nur mit verbissener Wut da und beobachtete Harald, der jetzt Albners Schreibtisch durchsuchte.

Er hatte einen langen Briefumschlag gefunden, blätterte jetzt in Papieren und rief dann: „Sieh an! Albner hat gestern die Villa verkauft. Der neue Besitzer übernimmt sie am ersten Juni. Albner wollte also auch dieses Geld retten.“ Er wandte sich wieder an das Weib, dessen geschminktes Gesicht vor Wut und Enttäuschung förmlich erstarrt war. „Wäre es nicht besser, Sie würden alles gestehen?“ meinte er. „Sie können mir glauben: ich bekomme die Wahrheit doch heraus!“

„Nie!“ rief die Schwester Albners höhnisch. „Niemals werden Sie entdecken, um was es sich hier handelt.“

Dann kamen drei Kriminalbeamte in Tschos Begleitung, denen Harst jedoch nur kurze Andeutungen über die Geschehnisse machte. „Ich werde nach meiner Rückkehr alles klarstellen,“ sagte er zum Schluß. „Geben Sie aber auf die beiden Frauen sorgfältig acht. Besonders Daisy O’Brien, die unten in dem geheimen Gange gefesselt liegt, ist sehr gefährlich.“

Einer der Beamten blieb bei Albners Schwester, die beiden anderen folgten uns in den Weinkeller und den gemauerten Gang.

Doch – da kam auch für uns die Enttäuschung: Daisy O’Brien war entflohen! Albner hatte sie doch wohl zu zart angefaßt und die Schlingen nicht kräftig genug zugezogen. –

Ein Auto brachte uns drei in einer Stunde nach der Blücherstraße 10 in Schmargendorf zurück. In Haralds Schlafzimmer machten wir erneut Toilette. Ich sollte in Swinemünde die Rolle einer älteren würdigen Dame spielen, und Harst verwandelte sich in einen korpulenten, rotbärtigen Rentner. –

Um drei Uhr morgens schlenderten wir beide vor dem Hause Kantstraße 185 auf und ab. Unseren Koffer und die Handtasche hatte Tscho nach dem Stettiner Bahnhof gebracht. Harald rechnete damit, daß Albner seine zweite Wohnung aufgesucht hätte und dort vielleicht gleichfalls sich maskieren würde.

Gegen vier Uhr verließ dann ein alter, weißbärtiger Herr, der recht gebückt ging, mit einem kleinen Koffer das Haus.

Wir blieben hinter ihm, und er fuhr auch wirklich mit einem Taxameter nach dem Stettiner Bahnhof. – Um 5 Uhr bestiegen wir denselben Zug. In Swinemünde beeilten wir uns sehr und langten gegen 10 Uhr im Hotel Meeresstern als Ehepaar Würz aus Berlin an, nahmen zwei Zimmer im Erdgeschoß mit der Aussicht nach dem Hofe zu und sahen auch den tadellos verkleideten Albner, der kurz nach uns eintraf, uns gar nicht beachtete und sich als Doktor Hermann Meinke aus Berlin in das Fremdenbuch einschrieb.

So begann dann der letzte Akt des Dramas im Meeresstern in Swinemünde.

 

5. Kapitel.

Wir hatten uns Frühstück bestellt. Ein hübsches, blondes Mädchen, nicht mehr ganz jung, brachte uns das Teebrett mit allerlei leckeren Sachen in unser Wohnzimmer. Hinterher kam Herr Klaus Vahlen, der noch keine Ahnung hatte, wer wir waren.

„Wünschen die Herrschaften an der gemeinsamen Tafel zu speisen?“ fragte er und half der Blonden den Frühstückstisch decken.

Harald erklärte, wir würden hier auf unserem Zimmer die Mahlzeit einnehmen.

Vahlen stellte uns dann die Blonde als seine Braut, Fräulein Grete Hesterloh, vor.

„Wir heiraten im Juni,“ meinte er glücklich lächelnd. „Grete kam als „warme Mamsell“ zu mir. Wir haben uns schnell gefunden.“

Hesterloh! – Ich konnte meine Überraschung kaum verbergen. „Karl Hesterloh“ hatte sich ja Albner in der Kantstraße genannt!

Die Blonde ging hinaus. Harald hatte Vahlen in ein angeregtes Gespräch über Seebäder verwickelt.

Dann flüsterte er fröhlich: „Herr Vahlen, wir sind Harst und Schraut!“

Der Hotelbesitzer stierte uns ungläubig an.

„Sie müssen mir aber versprechen, dieses Geheimnis ganz für sich zu behalten,“ fügte Harald sehr eindringlich hinzu. „Selbst Ihrer Braut dürfen Sie nichts davon mitteilen, denn es handelt sich hier um einen großen Schurkenstreich, den wir hintertreiben müssen.“

Vahlen nickte, noch ganz verwirrt, und sagte dann: „Nein – wie ist so etwas nur möglich! Nie im Leben hätte ich Sie wiedererkannt, Herr Harst!“

„Leise!“ mahnte Harald. „Ich möchte Sie schnell noch einiges fragen. Sie sagten doch, die Strandkörbe in dem Schuppen hätten anders gelegen, nicht wahr? – Ich nehme an, daß irgend jemand in den Strandkörben etwas heimlich sucht. Daher die Einbrüche in den Schuppen. Der Täter hat die Ruder und Dollen nur zur Verheimlichung seiner wahren Absichten mitgenommen. – Ich frage Sie nun: hat sich vielleicht im vorigen Jahre hier in Ihrem Hotel etwas besonderes zugetragen, das irgendwie mit den Strandkörben zusammenhängt?“

Vahlen überlegte. „Hm – ein alter Herr starb im Herbst, im September, an Herzschlag in einem meiner Strandkörbe. Ja – es war Nummer 121. Ich habe den Korb anderswoher gekauft, und daher die hohe Nummer, die ich beließ und nur das „Hotel Meeresstern“ hinzumalte. Wir hatten im September noch sehr schönes Wetter. Der Herr Kommerzienrat Preibeke war recht krank. Und eines Mittags fand man ihn tot in dem Strandkorb auf. Er saß da, als ob er schliefe.“

„Woher stammte der Herr?“

„Aus Leipzig. Er war Junggeselle, und er muß sehr reich gewesen sein. Er hatte einen bejahrten Diener mit.“

„Danke, das genügt vorläufig, Herr Vahlen. Ich warne Sie nochmals, jemandem mitzuteilen, wer wir sind! Sie würden sich Ungelegenheiten bereiten.“

„Mein Wort – ich schweige!“ versicherte der dicke Hotelier eifrig.

„Welche Zimmernummer hat Herr Doktor Meinke?“ fragte Harald weiter.

„Nr. 12 – drüben auf der anderen Seite.“ Vahlen schaute Harst dabei mißtrauisch an. „Hat es mit dem alten Herrn etwas auf sich?“ meinte er unsicher.

„Vielleicht. – Gehen Sie jetzt aber, bester Vahlen. Sonst fällt es auf, daß Sie so viel bei uns sind.“

Dann schlenderten wir nach dem Postamt, wo Harald eine Depesche an die Leipziger Polizei absandte und um genaue Auskunft über die Verwandten des Kommerzienrats Preibeke bat. – Er wußte, daß sein Name genügte, sofort Antwort zu erhalten. –

Wir wanderten durch den Park dem Strande zu.

„Du denkst an eine Erbschaftssache?“ fragte ich, da Harald hartnäckig schwieg.

„Ich denke nur, daß in dem Strandkorb 121 etwas versteckt sein dürfte, wonach Grete Hesterloh gesucht hat und noch sucht. – Armer Vahlen! Er glaubt an Liebe, und die Blonde ist doch nur auf Albners Befehl bei ihm „warme Mamsell“ geworden! – Es unterliegt wohl keinem Zweifel mehr, daß diese blonde Grete die Absenderin des Briefes ist, den der Postbote gestern für Albner abgab und daß die merkwürdigen Anzeigen in der Tagespost von Albner für diese Grete zur Aufmunterung eingerückt sind. Vielleicht ist sie gar seine Frau. – Sie hat es recht bequem gehabt, die Strandkörbe im Schuppen zu durchstöbern, und sie hat diese Stellung nur angenommen, um dasjenige in aller Ruhe suchen zu können, über dessen wertvolle Eigenart sich allerlei Vermutungen anstellen lassen, die mir jedoch sämtlich nicht genügen. Selbst das am nächsten liegende, ein Testament, will mir nicht recht in den übrigen Tatbestand hineinpassen, und etwa Geld oder Pretiosen erst recht nicht. Denn – man muß sich doch stets fragen: Weshalb soll Preibeke gerade in dem Strandkorb etwas derartiges verborgen haben, wo ihm doch fraglos weit sichere Aufbewahrungsorte zur Verfügung standen! – Nun, vielleicht gibt die Antwortdepesche aus Leipzig uns die nötige Erleuchtung.“ –

Der Tag verging ohne besondere Vorfälle. Gegen Abend begann es zu regnen und zu stürmen. Um zehn Uhr tobte die Brandung derart, daß wir es bis in unser Zimmer hörten.

Uns konnte das Unwetter nur lieb sein. Der Aufruhr in der Natur erleichterte uns das, was wir vorhatten. Kurz nach zehn gingen wir noch, in Gummimäntel gehüllt, aus und sagten zu Vahlen, der im Flur mit seiner blonden Grete stand, recht laut, daß wir uns den Seegang noch anschauen und nachher in der Stadt ein Glas Wein trinken wollten.

Gegen elf Uhr waren wir jedoch bereits über den Zaun geklettert, der den Hof des Hotels von einer unbebauten Parzelle trennte. Wir hatten uns die Örtlichkeit vorher genau angesehen, wußten auch, daß Vahlen keine Hunde hielt.

Es goß jetzt in Strömen. Harald hatte eine Stahlsäge mit. Im Nu war die eine Seite der starken Krampe dicht am Holze der Tür durchgeschnitten. Ein Stück Holz genügte als Hebel. Die jetzt nur an einer Seite in dem Brett steckende Krampe ließ sich etwas drehen. Nun hob Harald das Schloß samt dem beweglichen Eisenbügel heraus. Die Tür war offen. Wir mußten sie aber von innen wieder so schließen, als wäre der Bügel unbeschädigt. Eine dünne Stichsäge und ein Bohrer schufen schnell ein Loch über der Krampe, durch das Harst die Hand stecken konnte. Er brachte Schloß und Bügel wieder in die Krampe zurück, drehte diese zurück, so daß die Schnittflächen des Metalls sich deckten, und – der Einbruch war geglückt, nachdem das herausgeschnittene Stück Brett wieder eingefügt war.

Bei diesem wolkenbruchartigen Regen durften wir es ruhig wagen, eine Taschenlampe einzuschalten. Ein Versteck war bald gefunden. Wir setzten uns in eine Ecke neben der Tür auf eine Kiste, vor der ein paar alte Bettmatratzen standen. – Harald hatte die kleine Lampe ausgeschaltet. Nach einer geraumen Weile ließ der Regen nach. Dann hörten wir links von uns ein Geräusch, das genau so klang, als ob dort ebenfalls jetzt eine Stichsäge arbeitete. Zu sehen war nichts. Die Säge kreischte zuweilen. Es war bestimmt jemand, der in den Schuppen eindringen wollte. Ich fragte Harst flüsternd, ob es vielleicht Albner sein könne. – „Er muß es sein!“ meinte Harst.

Dann schwieg die Säge. Und plötzlich zuckte an der linken Seitenwand ein dünner Lichtstrahl auf. Wir erkannten undeutlich die kleine Gestalt eines bärtigen Mannes mit einer weichen Mütze auf dem Kopf. – Der Lichtstrahl verschwand. Wir hörten und sahen nichts mehr.

Eine Stunde war vergangen. Harald hatte mir soeben das Leuchtzifferblatt seiner Uhr gezeigt. Es war ein halb eins. – Es regnete wieder. Wir vernahmen jetzt das leise Klirren des Türverschlusses. Offenbar hatte jemand das Schloß mit dem Schlüssel geöffnet. Die Türangeln knarrten ein wenig. Und wieder blitzte ein feiner Lichtkegel auf. Dieser Eindringling war Albner, in der Maske als Doktor Meinke.

Er eilte schnell den Mittelgang entlang. Wir verließen unser Versteck. Der Boden war mit Torfmull bestreut, der jeden Schritt dämpfte.

Albner hatte aus der Reihe der Strandkörbe einen herausgezogen und flach hingelegt, die Öffnung nach oben. Er schnitt jetzt die Leinwand des Sitzes auf, warf das Seegras heraus und murmelte dabei allerlei vor sich hin. Die elektrische Taschenlampe ruhte rechts von ihm auf dem Sitz eines anderen Strandkorbes.

Plötzlich erblickten wir dicht vor Albner den kleinen Menschen mit der Schlappmütze. Albner hatte ihn noch nicht bemerkt. Er trennte jetzt die Seitenleinwand des Strandkorbes ab. Wir hörten, wie er ein „Verdammt – wieder nichts!“ vor sich hin brummte. Dann hob er den Strandkorb etwas an und blickte in die untere Öffnung unter dem Sitz hinein.

„Ah – endlich!“ Das klang wie ein Zischen.

Er hielt in der rechten Hand ein Stück Papier, das wie ein Fidibus zusammengefaltet war.

„Schuft!“ sagte da der Kleine mit der Schlappmütze halblaut.

Albner fuhr hoch. – Ein Satz – ein Griff, und der mit der Mütze hatte Albner das Papier entrissen, verschwand blitzschnell. –

All das geschah so überraschend, daß selbst Harst jetzt zu spät dem kleinen Menschen den Weg nach dem Schlupfloch zu versperren suchte. Er hatte mir nur noch zugeraunt: „Bewache Albner!“

Und das tat ich auch. Wir hatten unsere Clementpistolen in der Villa in Potsdam wiedergefunden. Albner war noch so bestürzt, daß ich ihm nur die Waffe entgegen zu halten brauchte. Harald erschien auch sofort wieder.

„Also doch ein Testament!“ rief er dem bleich und wie gebrochen Dastehenden zu. „Wie heißen Sie nun eigentlich? Ich denke, Sie werden einsehen, daß Sie das Spiel verloren haben!“

Albner lächelte plötzlich. Er war wie verwandelt. Irgend eine Hoffnung schien in ihm aufgezuckt zu sein.

„Ja – ich werde Ihnen alles erklären, Herr Harst,“ sagte er fest und zuversichtlich. „Sie sind Harald Harst, nicht wahr? Ich erkenne Ihre Stimme wieder.“

„Gehen wir auf unser Zimmer,“ meinte Harald. „Ich warne Sie aber vor einem Fluchtversuch! Wir wissen, was wir von Ihnen zu halten haben.“ –

Herr Klaus Vahlen öffnete uns die Hintertür. Er war noch völlig angekleidet. Hinter ihm stand die blonde Grete, seine Braut.

„Bitte – kommen auch Sie mit!“ sagte Harald zu der Blonden, die jetzt halb ohnmächtig an der Wand lehnte.

Vahlen schien zu merken, daß sein Liebesglück in Scherben ging. Er saß nun in der Sofaecke und verwandte keinen Blick von der blonden Grete, die neben Albner am Fenster stand.

Und Albner begann: „Ich heiße in Wahrheit Mielke, Karl Mielke, Doktor der Philosophie. Weiter habe ich es leider nicht gebracht. Aber ich bin verheiratet. Grete, geborene Hesterloh, ist meine Frau, und mein Onkel mütterlicherseits war der Kommerzienrat Preibeke. Im vorigen Herbst wollte ich mich hier in Swinemünde mit meinem Onkel aussöhnen, der mich nicht gerade liebte. Ich war nur auf einen Tag herübergekommen, traf ihn am Strande im Strandkorb sitzend und erreichte auch, daß er mir versprach, sofort ein neues Testament aufzusetzen, in dem ich neben meinen anderen beiden Vettern zu gleichen Teilen als Erbe bezeichnet werden sollte. Er hatte Papier und Füllfederhalter bei sich und schrieb sofort seinen letzten Willen nieder. Ich verabschiedete mich und reiste dann nach England, wo ich erst im Dezember von dem Hinscheiden meines Onkels Kenntnis erhielt. Meine Vettern behaupteten vor Gericht, ich hätte ein Testament meines Onkels beiseite geschafft, weil es mich von der Erbschaft ausschloß. Ich ließ mich auf einen Prozeß nicht ein, sondern wollte in aller Stille nach dem anderen eigenhändigen Testament suchen. Um niemand auf diese meine Absicht aufmerksam zu machen –“

Wir alle fuhren entsetzt empor, da plötzlich ein Stein durch das Zimmer geflogen kam und gerade vor Harsts Füße rollte.

Er hob ihn auf. An dem Stein hing an einem Bindfaden ein Zettel. Es war das Testament und ein Blättchen Papier, auf das Daisy O’Brien folgendes gekritzelt hatte:

„Albner, dies ist meine Rache! Sie wollten auch dieses Testament verschwinden lassen. Den Verräter trifft selbst Verrat! – Daisy O’Brien.“

Harst las dann das Testament vor. Zu Anfang enthielt es folgende Sätze: „– Karl Mielke wollte mich durch Drohungen zwingen, ihm etwas zu vermachen. Er ist ein Lump und wird es bleiben. Er soll nicht einen Pfennig erhalten –“ Und als Schluß stand da: „Ich fühle, daß mein Herz streikt. Ich werde diese Urkunde in dem Strandkorb verbergen. Hoffentlich wird sie gefunden. – Heinrich Preibeke.“

„So,“ sagte Harald dann. „Dies also ist die Wahrheit: Sie wollten das zweite Testament tatsächlich vernichten, weil Sie dann mitgeerbt hätten. Sie ahnten, wo es zu suchen war.“

Da erhob sich der arme, betrogene Vahlen und ging stumm hinaus, benachrichtigte telephonisch die Polizei und ließ Doktor Mielke und die blonde Grete nach dem Gefängnis abholen.

Der Strandkorb Nr. 121 hatte seine Schuldigkeit getan. Mielke, seine Frau und seine Schwester wurden zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt.

 

 

Die gestohlene Krone

 

1. Kapitel.

Wir fühlten uns im Hotel Meeresstern so sehr behaglich, das Wetter war auch so prächtig, daß wir noch eine Woche bei „Papa Vahlen“, wie wir ihn jetzt gemütlich nannten, zu bleiben beschlossen.

Dieser Badeaufenthalt hatte für uns nur das eine Unangenehme an sich, daß wir damit rechnen mußten, früher oder später von Daisy O’Brien wieder mit irgend einem kleinen Attentat beglückt zu werden.

„Dieses Bewußtsein,“ sagte Harald am fünften Tage, als wir in der Sonne am Strande uns braun brennen ließen, „ist die Würze dieser Faulenzerei, mein Alter. Wir würden ja ohne diesen prickelnden Reiz beständiger Gefahr bald wie übersättigte Salonmenschen vor Langeweile gähnen.“

Er hatte die Swinemünder Zeitung vor sich ausgebreitet, tippte nun auf einen Artikel und fuhr fort:

„Wie wär’s übrigens, wenn wir die gestohlene Krone dem Diebe oder den Dieben wieder abjagten?“

„Was steht denn da über diesen Diebstahl? Eine Krone ist gestohlen? Jedenfalls kein alltäglicher Gegenstand.“

„Im Gegenteil – ein sehr sehr alter. – Hör’ zu:

Wie wir vor drei Tagen berichteten, wurde bei einem Erweiterungsbau des dem Gutsbesiter Baron von Zalewski gehörigen Schlosses Drakitz neben anderen altertümlichen Waffen und Geräten eine goldene Krone gefunden, die Professor Herwig aus Berlin auf ein Alter von 1200 Jahren schätzt. Der Stirnreif der Krone, reich mit Runenschrift bedeckt, trägt neun Zacken, die sämtlich oben in einen eingelassenen Smaragd auslaufen. Das Eigentumsrecht an dieser aus der Wendenzeit stammenden Krone steht ohne Zweifel Herrn v. Zalewski zu. Dieser hatte das überaus kostbare Stück in seinen Tresor eingeschlossen. Gestern früh nun fand Herr von Zalewski den Tresor, ein etwas veraltetes Stahlspind, völlig ausgeleert vor. Außer der goldenen Krone sind ihm noch 22 000 Mark bares Geld gestohlen. Herr von Zalewski hat sofort aus Berlin einen Kriminalbeamten nach seinem unweit des Seebades Sellin gelegenen Schlosse kommen lassen. Man darf hoffen, daß der Diebstahl bald seine Aufklärung findet.“

„Also auf der Insel Rügen liegt das Schloß,“ meinte ich.

„Allerdings. – Bitte, hier ist auch eine gestrige Berliner Zeitung. Du siehst, daß die goldene Wendenkrone und wir beide dicht untereinander hier genannt sind. Das Berliner Blatt berichtet über den Strandkorb 121 und erwähnt, daß Harst und Schraut sich noch in Swinemünde aufhalten.“

Ich zuckte die Achseln. „Hm – so ein ganz gemeiner Diebstahl?! Das schlägt nicht recht in unser Fach.“ – Ich fand es nämlich bedeutend angenehmer, mich von Papa Vahlen gut pflegen zu lassen, als dieser alten Krone nachzurennen.

„Der Dampfer Freya geht um 9 Uhr morgens ab,“ sagte Harald, ohne auf meine Worte zu achten. „So eine Seefahrt bis Rügen ist sehr schön. Wenn Du daheim bleiben willst – meinetwegen! Ich jedenfalls bin morgen 1 Uhr mittags in Sellin und um 3 Uhr auf Schloß Drakitz.“

Da kam auch schon Papa Vahlen durch den Sand auf uns zu gekeucht, schwenkte eine Depesche in der Hand und rief schon von weitem: „Soeben eingetroffen, meine Herren! Für Harald Harst. Rückantwort bezahlt.“

Harst riß das Telegramm auf. Es lautete:

„Aus Zeitung ersehen, daß in Swinemünde. Untersuche Kronen-Diebstahl. Verschiedene sehr merkwürdige Einzelheiten entdeckt. Bitte um Ihre Unterstützung. Bitte Antwort nach Sellin postlagernd.

Stettenborn.“

Harald hatte mich mitlesen lassen, steckte die Depesche in die Tasche und schrieb das Antwortformular aus:

„Leider nicht abkömmlich. Gruß – Harst.“

„So, Papa Vahlen, lassen Sie die Depesche doch sofort besorgen,“ meinte er. Und Papa Vahlen trottete davon.

„Wir fahren selbstredend,“ lächelte ich.

„Nein – wir nicht, mein Alter. Das heißt: nicht so, sondern anders!“

Ich verstand: im Kostüm! – Und so geschah es auch.

Papa Vahlen war ganz verzweifelt, als Harst ihm mittags erklärte, wir müßten nach Berlin zurück. Wir fuhren mit dem 3-Uhr-Zuge bis Pasewalk, stiegen in den D-Zug nach Saßnitz um, langten um 10 Uhr abends in Sellin auf Rügen an und mieteten uns in einem kleinen Häuschen dicht am Walde bei einem alten Fischerehepaar ein.

„Morgen in aller Frühe,“ hatte Harst mir schon im Zuge gesagt, „werden wir in Sellin noch ein zweites Quartier in einer zweiten Aufmachung beziehen.“

Die Fenster unseres großen Zimmers lagen nach dem Vorgarten hinaus und befanden sich so dicht über der Erde, daß ein Mensch mit langen Beinen bequem einsteigen konnte.

Gegen ½12 gingen wir zu Bett. Die Fenster, die nicht einmal Laden hatten, gefielen mir gar nicht. Wenn Daisy O’Brien uns gefolgt war, konnten wir hier im Schlafe ohne große Schwierigkeiten abgetan werden.

Harald belächelte meine Angst. „Ich habe in Pasewalk genau aufgepaßt, wer ausstieg und wer nachher den D-Zug benutzte. Daisy O’Brien war bestimmt nicht darunter. Du kannst also vorläufig mit größtem Sicherheitsgefühl auf Deinen Lorbeeren ausruhen, lieber Alter.“

Er löschte die altmodische Petroleumlampe aus. Sein Bett knarrte, und bald schlief er ganz fest und pustete so laut, daß es mich zunächst störte, bis auch ich dann in das Land der Träume hinüberglitt.

Das Erwachen war etwas unsanft und lärmend.

Es brüllte jemand laut. Dann knallte ein Schuß – noch einer.

Ich war blitzschnell hochgefahren. Ich sah vom linken Fenster eine blendende Lichtbahn das Zimmer erleuchten, sah Harald, der im Hemd jetzt dorthin lief, eine auf dem Fensterbrett liegende Taschenlampe ergriff und ausschaltete.

Es war wieder dunkel, Harst setzte sich zu mir auf den Bettrand.

„Eine tolle Geschichte,“ meinte er. „Ich schnellte empor wie von der Tarantel gestochen. Auf dem Fensterbrett die eingeschaltete Lampe, und unsere Zimmertür steht offen –“

Da erschien auch schon unser Wirt mit einem brennenden Licht, ebenfalls im Negligee.

„Wat ist los?“ fragte er sehr pomadig. „Die Tür nach dem Hof steht auf, und es wurde geschossen.“

„Was los ist, weiß ich nicht,“ erwiderte Harald. „Löschen Sie aber besser das Licht –“

„Halt!“ rief da jemand hinter dem alten Fischer. Und eine Hand riß ihm das Licht weg. Eine zweite Hand mit einem Revolver streckte sich uns entgegen.

Und dann sagte Harald sehr gemütlich zu dem breitschultrigen Herrn, der uns derart in Schach hielt:

„Aber Stettenborn, erkennen Sie uns denn wirklich nicht?!“

„Harst?!“ Die Hand mit dem Revolver sank. „Donnerwetter, das nenne ich eine Überraschung! Alles andere hätte ich erwartet, nur Sie beide nicht!“ –

Harald schicke den spärlich bekleideten Alten zu Bett. Dann saßen wir drei auf dem riesigen Glanzledersofa im Dunkeln, und Stettenborn erstattete Bericht. Harst, und ich hatten uns nur das Nötigste von Kleidungsstücken angezogen.

„Zunächst mal die Erklärung für mein Eindringen hier,“ begann der Kommissar. „Als ich gestern abend von Drakitz zurückkehrte – man geht von dort nur eine Viertelstunde bis Sellin, – merkte ich, daß mir jemand nachschlich. Ich konnte den Kerl aber nicht fassen. Heute abend paßte ich auf dem Heimwege gegen neun Uhr desto schärfer auf. Man muß größtenteils durch Wald, und da hat es ein mit dem Wege Vertrauter sehr leicht, sich zu verbergen. Immerhin – ich sah den Menschen abermals, kehrte aber den Spieß um und machte mich unsichtbar, blieb hinter der dicken Eiche so lange stehen, bis der Kerl unvorsichtig wurde und nach mir zu suchen begann. Aus meinem Benehmen hatte er unmöglich schließen können, daß ich auf ihn aufmerksam geworden war. Er nahm fraglos an, ich wäre aus irgend einer Laune heraus in den schmalen Waldpfad eingebogen, der kurz vor Sellin nach einem einzelnen Gehöft hinläuft. Ich war ja auch den Pfad entlanggeschritten, hatte mich aber wie gesagt hinter eine Eiche gestellt. Der Mensch kam jetzt dicht an mir vorüber, und ich war es, der ihm nun folgte. – Ich kann mich nach dieser Einleitung wohl kürzer fassen, Herr Harst.“

„Gewiß!“ erklang Haralds leise Stimme links von mir aus der Dunkelheit heraus. „Der Mann war vielleicht klein und schmächtig und hatte einen leichten federnden Gang,“ fügte er fragend hinzu.

Stettenborn antwortete nicht gleich. Er überlegte wohl. Dann erklärte er in einem Ton, der vermuten ließ, daß er dabei lächelte:

„Ah – Sie denken an Mistreß Daisy O’Brien, die in Swinemünde wieder Ihren Weg gekreuzt hat! Nein, Herr Harst, der Mann, mit dem wir es hier zu tun haben, ist groß, mager und trägt einen dunklen Vollbart, der wahrscheinlich falsch ist. Dazu lahmt er auf dem linken Fuß und geht stark vornübergebeugt. So viel ich sehen konnte, war er ärmlich gekleidet. Das Jackett schlotterte ihm um den Körper, und die Hosen waren viel zu kurz. Daisy O’Brien kann das nicht sein.“

„Es war ja auch nur eine Vermutung von mir,“ meinte Harald. „Weiter also, lieber Stettenborn!“

„Der Mensch begab sich auf Umwegen nach dem Bahnhof in Sellin und schlenderte hier, sich stets außerhalb des Laternenlichtes haltend, auf und ab, bis der Abendzug einlief. Ich hielt mich ebenfalls im Schatten.“

„Ja – und mit diesem Zuge kamen wir an,“ warf Harald ein.

„So, so,“ meinte Stettenborn sehr gedehnt, „dann kommt schon etwas Licht in die Sache. – Als der Zug hielt, sprang sofort ein gutgekleideter Herr heraus, der gleichfalls sehr schlank und groß war. Er schaute sich um und ging schnell auf meinen „Freund“ zu, der sich jetzt etwas weiter vorgewagt hatte. Die beiden traten rasch in den Schatten und wechselten nur wenige Worte. Der Gutgekleidete, der eine große Lederhandtasche trug, verließ den Bahnhof. Der andere schlenderte dann hinter den Fahrgästen her, die nach Sellin wanderten. Der Bahnhof liegt ja ziemlich weit außerhalb[1] des Ortes. Ich wieder blieb etwa fünfzig Schritt hinter dem Dunkelbärtigen, Hinkenden, der sich beim Gehen auf einen starken Stock stützte. Zu meinem Pech kam da ein Auto angerast, und die dicke Staubwolke, die es hinter sich herzog, versperrte mir für kurze Zeit die Aussicht. Nachher war der Hinkende verschwunden.“

„Ja, weil wir beide eben den Seitenweg nach diesem abgelegenen Häuschen eingeschlagen hatten,“ sagte Harald da. „Dieser Mensch verfolgte uns. Das steht wohl schon fest.“

„So ist’s. Hören Sie nur das weitere. – Ich gab mir nun die größte Mühe, den Kerl wieder aufzustöbern. Aber erst nach einer Stunde etwa traf ich ihn vor dem Hotel Miramare. Er hatte es sehr eilig, bemerkte mich nicht und hinkte –“

„– hier nach Fischer Schörmags Häuschen,“ ergänzte Harst. „Die Fortsetzung kann ich mir leicht zusammenreimen. Sie beobachteten den Menschen weiter, der dann eine Scheibe hier mit Hilfe eines Lappens, der mit irgend einer Klebemasse beschmiert war –“

„– Es war sein Taschentuch, das er in einen Teereimer des Fischers getaucht hatte –“

„– Er drückte also die Scheibe ein, schob den Vorhang beiseite, hörte unsere Atemzüge –“

„Er leuchtete in die Stube hinein –“

„Nun gut – und dann schoß er auf einen von uns –“

„Ja – und ich schoß auf ihn, das heißt, ich zielte absichtlich auf seine Waden –“

„Worauf der Mensch, der die Fensterriegel vorher zurückgeschoben hatte, mit einem Satz ins Zimmer sprang und durch unsere Stubentür und den Hintereingang des Häuschens entwischte.“

„Stimmt. Um diese Flucht zu verhindern, lief ich um das Haus herum –“

„– und traten dann hier ein, hielten die Situation jedoch noch für recht bedenklich und hatten daher Ihren Revolver schußbereit. – Das ist alles in allem ein ganz hübscher Anfang dieses Abenteuers! – So, und nun möchte ich gern das hören, was Sie in Ihrer Depesche als „verschiedene sehr merkwürdige Einzelheiten“ bezeichneten.“

 

2. Kapitel.

„Bald erledigt!“ meinte Stettenborn. „Drei Punkte sind’s. – Erstens: der Tresor, aus dem die Krone und das Geld gestohlen wurden, ist durch Heraussägen des Schlosses geöffnet worden. Die Diebe haben zuerst Löcher gebohrt und diese dann durch Sägeschnitte verbunden. Dies konnte nur bei einem so alten Ding von Geldschrank gelingen wie dem des Herrn von Zalewski. Merkwürdig hierbei ist nun, daß nach meinen Erfahrungen die Diebe zu dieser Arbeit mindestens acht Stunden nötig gehabt haben, während der Schrank an jenem Abend vor dem Diebstahl um 12 Uhr nachts noch unverletzt war und der Diebstahl selbst bereits um fünf Uhr morgens von dem alten Inspektor Balk entdeckt wurde. Der Geldschrank steht nämlich im sogenannten Gutskontor in einem Erdgeschoßzimmer des Schlosses. Die Diebe haben also allerhöchstens 4½ Stunde Zeit für das „Knacken“ des Tresors gehabt.“

„Allerdings etwas wenig für diese primitive Einbrechermethode mittels Bohrer und Säge,“ sagte Harald. „Und Punkt zwei?“

„Es ist seit jener Nacht aus dem nahen Dorfe Drakitz ein junger Tagelöhner verschwunden. Ich habe bereits einen Steckbrief hinter ihm ergehen lassen, obwohl alle Drakitzer dem Burschen ein vorzügliches Zeugnis ausstellen und besonders Herr von Zalewski sehr ironisch meinte, wo dieser Karl Hänfling – so heißt der Tagelöhner – wohl die nötigen Einbrecherwerkzeuge hergehabt haben sollte. – Punkt drei hängt nur ganz lose, vielleicht auch gar nicht mit dem Einbruch zusammen. Vielleicht! In dem kleinen Schloßteich sind am Tage nach dem Einbruch, besser am Vormittag nach jener Nacht, sämtliche Goldfische krepiert aufgefunden worden.“

„Das ist allerdings seltsam!“ erklärte Harald in zerstreutem Tone. Dann rieb er sein Feuerzeug an, und wir rochen den Duft seiner Mirakulum.

„Ohne Zigarette geht es nicht,“ meinte er wie entschuldigend. Und fügte nach drei neuen Zügen hinzu: „Es hat nun keinen Zweck mehr, hier Versteck zu spielen und in einer Maske in Drakitz aufzutreten. Wir wissen ja, daß der „Feind“, also die Einbrecher und Diebe der alten Wendenkrone, Schraut und mich nicht nur erwartet, sondern uns sogar den „Gutgekleideten“ entgegengeschickt haben. Sie waren sogar so sehr gegen uns beide eingenommen, daß sie schleunigst uns eins auswischen, uns also kampfunfähig und damit für sie ungefährlich machen wollten. Ich schlage vor, wir bleiben bis zum Morgen hier, da es ja leicht möglich sein kann, daß einer der Mordbuben draußen lauert. Legen Sie sich hier auf das Sofa, Stettenborn, und wir suchen unsere Betten wieder auf. Die Kerle werden in dieser Nacht nichts mehr wagen, und wir drei können dann bei Tageslicht morgen nach Drakitz fahren, nachdem wir vorher noch die Kugel gesucht haben, die der Hinkende uns zugedacht hatte.“ –

Als es um fünf Uhr völlig hell geworden war, schnitt Harst aus der Rückwand der Schublade einer Kommode, die zwischen unseren Betten stand, eine Revolverkugel heraus, die die Vorderwand glatt durchschlagen hatte. Auch die Taschenlampe, die der Hinkende auf dem Fensterbrett liegen gelassen hatte, besah er sich sehr genau. Die Taschenlampe war ganz neu, wie jeder erkennen mußte, und die Batterie darin noch sehr kräftig.

Nachdem Fischer Schörmag uns ein solides Frühstück vorgesetzt und Stettenborn, der hier in Sellin im Hotel zum Adler abgestiegen war, sich seinen Koffer geholt hatte, fuhren wir gegen sieben Uhr in einem Einspänner nach Schloß Drakitz.

Schade, daß wir diese herrliche Fahrt bei klarem Wetter durch die Buchenwälder Rügens nicht besser genießen konnten! Aber – wir benahmen uns wie die Rothäute auf dem Kriegspfade. Harald hatte beim Einsteigen gesagt: „Es dürfte sich empfehlen, die Augen überall zu haben. Denn diese Leute, der Hinkende und der Gutangezogene, dürften nichts unversucht lassen, uns von Drakitz fernzuhalten. Daher – Vorsicht!“

Wir sprachen nur wenig miteinander. Der Kutscher auf dem Bock hätte manches aufschnappen können. –

Dann hörte der Wald auf, und unser Wagen rumpelte einen Feldweg entlang in ein Tal hinab. Rechts und links Roggenfelder; bald Kartoffeläcker; und nun ein mit Gestrüpp bestandener Torfbruch. Hier waren stellenweise Bohlen gelegt, weil der Weg sumpfig war.

Ein alter Bauer kam uns zu Fuß mit einem Einspänner, einem Leiterwagen voll Stroh, entgegen. Er bog zur Seite aus und hielt an, um uns vorüber zu lassen.

Harald stand plötzlich auf und zeigte großes Interesse für die Fuhre Stroh. Als wir vorbeikamen, rief er dem Bauer zu:

„Wie wird’s mit der Ernte werden – he?!“

„Schlecht, Herr, schlecht!“ sagte der Bauer maulfaul.

Harst drehte sich um und ließ den Leiterwagen nicht aus den Augen. Erst als wir bereits gut hundert Meter entfernt waren, setzte er sich wieder, beugte sich vor und flüsterte:

„Der kam aus Drakitz. An dem Wagen hing eine Holztafel mit der Aufschrift: „Mörke, Drakitz.“ Und – in dem Stroh steckte was!“

Die Art, wie er das „steckte was“ betonte, zwang Stettenborn und mich geradezu zu der Frage:

„Etwa ein Mensch?!“ – Wir riefen’s halblaut in einem Atem.

„Ja – ein Mensch!“ nickte Harald. „Und einer mit unlauteren Absichten, mild gesagt. Ich wette, der Kerl hätte geschossen, wenn ich die Strohladung nicht so scharf fixiert hätte.“

Stettenborn schüttelte den Kopf. „Wenn Sie sich nur nicht irren, Herr Harst. Ich bitte Sie, es war doch kein Mensch oben auf dem Wagen!“

„Doch – es lag jemand unter den obersten Bunden Stroh. Jemand, der zweimal das eine Bund etwas anhob.“

„Aber – dann doch kehrt und den Wagen revidiert!“ rief Stettenborn und wollte dem Kutscher auf die Schulter tippen.

Harald drückte ihn auf den Sitz zurück.

„Was sollte das wohl für einen Zweck haben, Stettenborn?!“ flüsterte er ungehalten. „Der Kerl im Stroh hat natürlich hier auf dem Wege Posten gestanden, hat uns kommen sehen, ist heimlich auf den Strohwagen geklettert, neben dem der alte Bauer faul und stumpf dahinschritt, kann jetzt längst seine Waffe in irgend ein Sumpfloch geworfen haben und würde natürlich den Harmlosen spielen, wenn wir ihn aus dem Stroh heraus holten. Nein – ich wollte diesen Menschen jetzt nicht festnehmen! Mag er denken, wir ahnten nichts von diesem Streich! Was hätte es uns geholfen, den einen zu greifen! Er hätte seine Komplizen sicherlich nicht verraten! Nein – wir müssen sie alle gleichzeitig fangen. Nur dann haben wir Aussicht, auch die Wendenkrone wiederzuerlangen, nur dann!“

Stettenborn nickte. „Sie haben recht. Eine zu frühe Verhaftung hat schon oft viel verdorben.“ –

Gleich darauf ging es wieder einen Berg hinan. Dann sahen wir vor uns über die Wipfel frischgrüner Buchen und Linden einen plumpen, runden Turm ein kleines Stück herausragen.

„Drakitz!“ sagte Stettenborn und deutete mit der Hand auf den Turm. –

Unser Wagen hielt vor einer Freitreppe, die zu einer Terrasse emporführte. Ein älterer Diener in Livree eilte durch das Portal des düsteren Ziegelbaus herbei und führte uns in die Vorhalle, deren reicher Waffenschmuck, Marmorfußboden und Kamin in unschönem Gegensatz zu den ärmlichen Plüschsesseln und den sonstigen Möbelstücken stand.

„Wollen die Herren Platz nehmen,“ sagte der tadellos geschulte Diener. „Wen darf ich außer dem Herrn Kriminalkommissar dem Herrn Baron melden?“

Harald hatte bereits auf eine seiner Visitenkarten auch meinen Namen geschrieben. Der Diener verschwand mit der Karte.

Rechts und links von der schweren, eichenen Eingangstür, deren Flügel reich geschnitzt waren, lag je ein sehr breites Fenster mit zum Teil bunten, bleigefaßten Scheiben. In der Halle war es daher sehr hell. In der Mitte der Rückwand führte eine Treppe nach oben, deren Plüschläufer sehr schäbig und zerrissen waren. – Wir hatten[2] uns in die um den Kamin gruppierten alten Plüschsessel gesetzt.

Dann erschien auch schon oben auf der Treppe eine schlanke, schwarzhaarige Frau in einem hellen Spitzenmorgenrock. Das Gesicht der Frau war schmal, hatte feine Züge und auch nicht die Spur von Farbe. Diese krankhafte Blässe wirkte noch eindringlicher durch die matten, unsicheren Bewegungen, mit denen die Frau nun, sich auf das Geländer stützend, langsam Stufe für Stufe hinabschritt.

Wir hatten uns erhoben. Stettenborn trat vor, verbeugte sich und sagte:

„Gnädige Baronin gestatten, daß ich Ihnen Herrn Harst und Herrn Schraut vorstelle, zwei Kollegen von mir, die freilich nur aus Liebhaberei –“

Er mußte zuspringen und die Baronin auffangen, denn sie war urplötzlich taumelnd von der untersten Stufe nach vorn umgesunken.

Nur einen Moment dauerte dieser Schwächeanfall. Dann richtete sie sich auf, dankte Stettenborn und wandte sich an uns:

„Ich bin erst vor einer Woche von langem Krankenlager aufgestanden, meine Herren. Ich bedauere, daß ich Sie in einer Weise gleich beim Eintritt in unser Haus –“

Rechter Hand hatte sich eine Tür geöffnet und ein stattlicher Herr mit kurzem, blondem Schnurrbart und Monokel eilte rasch auf die Baronin zu.

„Irene – welcher Leichtsinn!“ rief er besorgt. „Du sollst doch keine Treppen steigen!“ – Er führte sie zu einem Sessel und reichte dann uns dreien die Hand.

„Herr Harst,“ sagte er mit der gemessenen Liebenswürdigkeit des Weltmannes, „ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen für Ihr Erscheinen hier danken soll –“ –

Wir nahmen wieder Platz. Die Unterhaltung drehte sich um den Diebstahl. Neues erfuhren wir nicht.

Der Baron hatte an jenem Abend, wie er sehr eingehend erzählte, einige Gutsnachbarn zu Gast gehabt. Gegen zwölf Uhr nachts war er noch in das Gutskontor gegangen und hatte sich aus dem Geldschrank einen Tausendmarkschein geholt. – „Wir jeuten etwas, Herr Harst,“ meinte er lächelnd. „Und – ich hatte wieder Pech. So mußte ich denn meine Börse aus dem Panzerspind auffrischen. Und – da war der Tresor noch unverletzt. Um ¼1 Uhr verließen die Gäste das Schloß. Die Herren hatten den Geschmack an den Karten verloren. Morgens um –“

„Danke, Herr Baron,“ unterbrach Harst ihn da. „Wir kennen das weitere bereits durch Stettenborn. – Darf ich mir den Geldschrank einmal ansehen?“

Der Baron hob abwehrend die Hände. „Nach dem Frühstück, meine Herren, nach dem Frühstück! Nicht früher! – Herr Harst, wenn Sie meiner Frau den Arm reichen wollten –“

So gingen wir denn durch drei ebenfalls ärmlich möblierte Zimmer in den Speisesaal.

An der langen Tafel, deren oberes Ende nur gedeckt war, ging es bald recht zwanglos her. Der Baron ließ einen alten Burgunder bringen, dessen Feuer uns schnell in die angenehmste Stimmung versetzte.

So wurde es elf Uhr. Stettenborn hatte einen hochroten Kopf. Ich nicht minder. Die blasse Baronin war schon vor einer halben Stunde hinausgegangen. Zalewski erzählte von seinen Reisen im Orient. Ich schätzte ihn auf etwa vierzig Jahre. – Der Diener brachte die sechste Flasche Burgunder. Da erklärte Harald lachend und ebenfalls schon mit schwimmenden Augen, daß er jetzt endgültig streike. „Ihr Wein ist zu schwer, Baron. Sonst stehe ich wohl meinen Mann! Aber vor diesem Burgunder strecke ich die Waffen! – Erholen wir uns durch den Anblick des Panzerschranks!“

 

3. Kapitel.

In dem großen Gutskontor saß ein junges Mädchen und tippte Briefe. Der Baron schickte sie hinaus. Sie war klein und etwas verwachsen, hatte eine dicke Nase und trug einen soliden Nickelkneifer. Das war alles, was ich an ihr durch einen flüchtigen Blick feststellte.

Harst stand vor dem Tresor und besichtigte die Spuren des Stahlbohrers und der Säge. Das dauerte kaum eine Minute.

„Haben Sie Fingerabdrücke gefunden?“ fragte er Stettenborn dann.

„Ja – von Handschuhen! Die Kerle haben mit Handschuhen gearbeitet.“

„Schlau!“ lachte Harald. Er schien wirklich einen Schwips zu haben.

Dann ging er an das Fenster, durch das die Diebe eingestiegen waren.

„Auch nichts zu sehen,“ meinte er. „Ziemlich aussichtslos, das Ganze! Das sind Leute gewesen, die in der Geldschrankknacker-Zunft mindestens Obermeister sein dürften, eben ganz gewiegte „schwere Jungen“. – Stettenborn, ich denke, wir suchen lieber in Berlin nach der Wendenkrone.“

Stettenborn zuckte die Achseln. „Meinetwegen! Aber der Erfolg ist fraglich!“ –

Wir gingen dann durch den Park, weil Harst frische Luft schnappen wollte. So kamen wir auch an den kleinen, künstlichen Teich, dessen Bewohner so plötzlich krepiert waren.

Der Teich war länglich rund und von einer Mauer eingefaßt, hatte in Mitte eine Insel aus Feldsteinen, auf der eine verstümmelte Marmornixe stand, und zwei Treppen, die zum Wasser hinabführten. Er war sehr flach. Man sah deutlich den weißen Sandboden, der nur stellenweise von Wasserpflanzen verdeckt wurde.

„Stettenborn,“ meinte Harald und klopfte ihm auf die Schulter. „Die toten Goldfische haben mit dem Diebstahl genau so viel zu tun, wie der verschwundene Sperling!“

„Hänfling!“ verbesserte Stettenborn ärgerlich. „Sie haben heute Ihren ironischen Tag, Harst! Ich wäre daher dankbar,“ wandte er sich an den Baron, „wenn Sie mir jetzt mein Fremdenzimmer zeigen würden. Nach dieser Burgunderprobe muß man ein paar Stunden schlafen. Dann – ist man nicht mehr ironisch, lieber Harst!“

Der Baron hakte Stettenborn unter und rief: „Also auf Ihr Zimmer, meine Herren!“ Und er ging mit dem Kommissar voran.

Auch Harst hatte mich untergefaßt und sagte sehr laut:

„Tote Goldfische und ein Hänfling. – Du, das wäre ein feiner Titel für einen Deiner schriftstellerischen Versuche!“

Stettenborn hatte das gehört, drehte den Kopf und meinte: „Sie sind unausstehlich, Harst!“

Und Harald lachte abermals sehr weinselig und –

Ja – und dann kam’s; dann flüsterte er nämlich:

„Unausstehlich für die Diebe und die Mörder des armen Hänfling – das ist richtig!“

Ich war mit einem Male ganz nüchtern. Aber Harst fügte auch schon hinzu: „Bitte – wir sind angeheitert! Vergiß das nicht!“

Und ich spielte die Rolle des vom Burgunder in den siebenten Himmel der Alkoholiker Versetzten weiter, bis wir auf unseren Zimmern im ersten Stock allein waren.

Zimmern! Denn wir hatten zwei. Eins lag im Mittelbau des Schlosses, das zweite in dem an diesen angeklebten dicken Turm.

Das runde Turmgemach mit den kleinen vergitterten Fenstern war unser Schlafzimmer. Es hatte eine verwitterte Balkendecke. Die Einrichtung war ziemlich primitiv.

Harald merkte, daß ich ihn etwas fragen wollte.

„Vorsicht!“ hauchte er. Und sagte dann gähnend:

„Ich – ich bin wahrhaftig bezecht, mein Alter! – Pfui Deubel – ich schäme mich! Das ist mir noch nie passiert.“

Er zog sich halb aus und warf sich auf sein Bett. Ich tat dasselbe. Die Betten standen in das runde Gemach hinein, jedes an einer Seite. Zwischen den Fußenden war noch etwa ein Meter Zwischenraum.

Sehr bald schnarchte und pustete Harst so echt, daß ich mich beinahe hätte täuschen lassen.

Beinahe –! Aber – ich sah, wie an seiner rechten Hand, die aus dem Bett schlaff heraushing, die Finger sich auf besondere Art bewegten. Ich kannte das. Es war unsere Fingertelegraphie, die uns schon oft gute Dienste geleistet hatte.

Ich blinzelte zwischen den Lidern hindurch.

Dann hüstelte ich.

Das hieß: Achtung – ich passe auf!

Und das Fingerspiel ging weiter. Ich stellte allmählich folgende Sätze zusammen:

„Der Hinkende ist im Park. Habe ihn gesehen. Größte Vorsicht nötig!“ –

Na – die Mitteilung genügte! Dann waren wir hier keine Minute unseres Lebens sicher –

Und doch: – der Wein wirkte! Ich schlief ein. –

Harst weckte mich um drei Uhr. Die Sonne schien durch die Turmfenster herein und gerade auf mein Bett.

„Um halb vier wird diniert, mein Alter!“ rief Harald vergnügt. „Also rappele Dich auf!“ –

Als wir den Salon betraten, sahen wir neben der Baronin einen fremden Herrn sitzen, dessen bartloses Gesicht auf den ersten Blick den Amerikaner verriet.

Die Baronin stellte ihn uns als Master Hopkinson vor.

Hopkinson sprach leidlich deutsch.

„So, Sie sind also Harst,“ sagte er zu Harald in einer Art, als staunte er im Panoptikum eine Sehenswürdigkeit an. „Sie müssen die Krone wieder herbeischaffen. Zahle Ihnen fünftausend Dollar extra. Kommt mir nicht darauf an. Bin wütender Sammler kostbarer Antiquitäten. Muß die Krone haben – muß!“

„Na – dann suchen Sie sie nur!“ lächelte Harald ein ganz wenig spöttisch. „Denn ob ich sie finden werde, bezweifle ich stark.“

Der Diener erschien und meldete, das angerichtet sei.

Hopkinson war bei Tisch ein recht ulkiger Gast. Aber – ich mißtraute ihm! – Er war mittags angelangt, hatte sich dem Baron als „Bewerber“ um die Krone vorgestellt und war eingeladen worden, ein paar Tage hier Gastfreundschaft zu genießen.

Hopkinson konnte nun recht gut mit zu den Leuten gehören, die wir zu fürchten hatten, eben mit zu dem Hinkenden und dem Gutangezogenen. Sein Auftauchen hier blieb jedenfalls stark verdächtig.

Um sechs Uhr erhoben wir uns von Tisch.

Harald bat den Amerikaner, uns sein Auto zur Verfügung zu stellen. Er wolle in der nächsten Stadt, Putbus, einige Einkäufe machen.

Um ¼7 fuhren wir beide ohne Chauffeur ab. Ich hatte mich vorn neben Harald gesetzt. Als wir die Chaussee erreicht hatten, sagte Harst:

„Endlich allein! Oh – diese Bande! Na, – nun können wir ja tun und lassen, was wir wollen!“

„Ja – uns unterhalten! – Wo sahst Du den Hinkenden?“

„Im Schloß und im Park,“ antwortete Harald.

„Wie – auch im Schloß? Ich glaubte, nur im Park.“

„Ja – Du glaubst manches, mein Alter. Auch an Frau von Zalewskis harmlose Augen! Man kann hier überhaupt sehr vieles glauben, weil die ganze Geschichte sehr fein eingefädelt ist.“

„Frau von Zalewski?! Der Schwächeanfall auf der Treppe?! Etwa aus Schreck vor unserem Erscheinen auf Schloß Drakitz?“

„Um Mitleid zu erregen und um ihrem Gatten Gelegenheit zu geben, sich als zärtlicher, besorgter Ehemann zu zeigen. Stettenborn sollte auch durch diese Komödie von jedem Gedanken an eine Beteiligung des Barons an diesem Diebstahl abgehalten werden. Zalewski war ein so liebenswürdiger, dabei genußfroher Mensch und ein so tadelloser Ehemann, daß Stettenborn für ihn schwärmt und bisher nie im entferntesten daran gedacht hat, jede, aber auch jede Möglichkeit ins Auge zu fassen, also auch die, daß der Baron vielleicht selbst das Geld und die Krone beiseite geschafft hat. Denn, beachte das, nur Zalewski sah in jener Nacht den Geldschrank noch gegen 12 Uhr angeblich unbeschädigt dastehen. Ich behaupte, der Schrank war damals schon angebohrt worden. Denn in etwa fünf Stunden konnten Einbrecher ihn auf die Art, wie sie es taten, nicht öffnen. Darin hat Stettenborn völlig recht. – Das Kontor hat Rolljalousien. Der Genosse oder die Genossen des Barons konnten also, durch die Jalousien geschützt, ruhig in dem Kontor arbeiten. Das Loch in die eine Jalousie schnitten sie erst nachher ein. Jedenfalls tauchte der erste Verdacht gegen diese Herrschaften in mir schon in der verflossenen Nacht auf, als Stettenborn erwähnte, der Tresor wäre noch um 12 Uhr nachts unverletzt gewesen. Ich sagte mir sofort, daß doch sehr wahrscheinlich nur der Baron zu dieser Stunde im Kontor gewesen war. – Und das zweite Verdachtsmoment war der Schwächeanfall der Baronin, ihr Äußeres und ihr ganzes Benehmen. Das dritte der alte Bürorock, der im Kontor hing und vielleicht dem Inspektor gehört. Dieses weite, schäbige Jackett hatte ein paar Teerflecke auf dem einen Aufschlag und am rechten Ärmel. Es hing neben dem Fenster, und meine Augen haben nun mal die Eigentümlichkeit, alles zu sehen, auch das, was ich scheinbar nicht beachte.“

„Ich verstehe,“ meinte ich eifrig. „Das in Teer getauchte Taschentuch!“

„Ja, – und der rechte Zeigefingernagel des Barons hatte einen schwärzlichen Rand! Wohl ebenfalls durch den Teer, den Zalewski nur schwer hat entfernen können.“

„Du sprachst im Parke von Mördern,“ sagte ich nun in steigender Erregung. „Glaubst Du, daß der Arbeiter Hänfling –“

„Hätte ich sonst über die toten Goldfische und den „Sperling“ derart geulkt?!“ unterbrach er mich schon. „Man kann eine Leiche auf besondere Art spurlos verschwinden lassen. Doch – davon später.“ – Er lehnte jetzt jede Fortsetzung des Gesprächs ab.

 

4. Kapitel.

Die Stadt Putbus auf Rügen lohnt einen Besuch. Sie liegt wie im Dornröschenschlafe da. Alles atmet Ruhe, Frieden und Behaglichkeit. – Wir stellten das Auto in einer Hotelgarage unter. Harald sagte dann:

„So, hier sind wir vor Spionen sicher. Niemand kann uns so schnell gefolgt sein. Suchen wir den Landrat auf. Er muß über die Zalewskis Bescheid wissen.“ –

Wir saßen einem sehr liebenswürdigen Herrn gegenüber, der nun lächelnd erklärte:

„Auch Herr Stettenborn war bereits bei mir. Ich kann Ihnen nur genau dieselbe Auskunft geben, Herr Harst. Zalewskis haben zwar mit Sorgen zu kämpfen, sind aber im übrigen untadelig. Höchstens wäre das eine an ihnen zu rügen, daß sie über ihre Verhältnisse leben und recht oft Gäste bei sich sehen.“

„Und dann wird gespielt,“ warf Harald hin.

„Ja – leider! Doch das ist nun mal nicht anders auf dem Lande, Herr Harst.“

„Hat der Baron Verwandte?“

„Ich weiß nur von einem Bruder, der Chemiker in Berlin ist.“

„Kennen Sie ihn persönlich, Herr Landrat?“

„Ja. Ein sehr netter Mensch, der stets sehr modern gekleidet geht und anscheinend in guten Verhältnissen lebt.“

Harald beschrieb jetzt den „Gutgekleideten“ genau so, wie Stettenborn ihn uns geschildert hatte.

„Nein,“ meinte der Landrat, „schlank und groß ist Doktor von Zalewski wohl. Aber er ist bartlos. Er war vor drei Wochen zum Besuch in Schloß Drakitz. Er trägt auch keine Brille. In drei Wochen wächst niemandem ein Spitzbart.“

„Ganz recht. Aber ein solcher Bart läßt sich ankleben,“ sagte Harald ernst.

„Wie – sollten Sie wirklich Verdacht gegen die Zalewskis geschöpft haben, Herr Harst?! Das ist ja undenkbar!“ rief der Landrat ganz entsetzt.

„Auf Ihre Verschwiegenheit kann ich mich verlassen. – Ja, ich weiß bereits so viel, daß mein Verdacht durchaus begründet ist.“ Er erzählte die Vorfälle in Sellin und unsere Beobachtungen in Drakitz. „Ich möchte nun noch über folgendes Aufschluß haben,“ fügte er hinzu. „Ist Ihnen vielleicht bekannt, ob der Baron eine größere Zahlung demnächst zu leisten hatte?“

„Hm – wenn Sie es nicht wären, Herr Harst, würde ich schweigen, da Gutsbesitzer Röbner von mir Diskretion verlangt hat. Der Baron hat sich von Röbner am 1. Januar 35 000 Mark geliehen, die er am 1. Juli zurückgeben sollte. Röbner hat ihm nun, da doch 22 000 Mark mit gestohlen wurden, schon erklärt, er würde ihm den Betrag bis auf weiteres stunden.“

„So so, – dann sind wir wieder einen Schritt weiter gekommen. – Ich danke Ihnen, Herr Landrat.“

Wir verabschiedeten uns und kauften kann zum Schein in der Stadt noch Mundwasser, Seife und Zigarren ein und fuhren nach Drakitz zurück, wo wir gegen acht Uhr anlangten.

Zalewski und Stettenborn standen auf dem Schloßhof und besichtigten einen Habicht, den der Kommissar soeben geschossen hatte. Dann kam auch Hopkinson herbei. – Wir schwärmten von dem altertümlichen Putbus und gingen auf unsere Zimmer, um uns für das Abendessen etwas in Wichs zu werfen.

Harald kramte in unserem Koffer. „Wo sind denn meine Krawatten!“ schimpfte er. – Ich half suchen, beugte mich nun auch über den Koffer.

Da – Harst hatte mir einen Zettel in die Hand gesteckt, flüsterte: „Stettenborn gab ihn mir! Lies ihn hier im Schutz des Kofferdeckels. Wir werden beobachtet.“

Und ich fand auf dem Zettel folgendes:

„Hänfling war mit Stubenmädchen Anna heimlich verlobt und hat sich mit ihr häufig im Schloßpark getroffen. Das Mädchen vertraute sich mir heute an und bat, ich solle doch ihren Karl suchen. Er ist bestimmt nicht der Dieb.“ –

Nachher machte ich aus dem Zettel einen Fidibus und zündete damit eine Zigarette an.

Harst unterhielt sich mit mir über die Autofahrt, während wir uns umzogen. Das Bewußtsein, daß irgendwo ein Lauscher verborgen war, machte mich doch etwas nervös. Dann waren wir fertig und gingen in unser Wohnzimmer.

Es klopfte, und der Amerikaner trat ein. Er wohnte neben uns. – Als er Platz genommen hatte, sagte er sehr leise:

„Mir ist heute etwas aufgefallen, Herr Harst. Als ich im Parke gegen Abend umherschlenderte, bemerkte ich an der westlichen Parkmauer, wo der Park mehr einer Wildnis gleicht, in ein paar frischen Maulwurfshügeln die Spur eines Zweirades mit so dicken Reifen, daß es sich nur um ein Motorrad handeln kann. Und als Sie beide kaum mit dem Auto davongefahren waren, sah ich auf einem Feldwege dort drüben einen Motorradler.“

„Sie meinen, er verfolgte uns?“ fragte Harald flüsternd.

„Ja. Und vor zehn Minuten hörte ich abermals das Geräusch eines Motorrades. – Übrigens habe ich auch entdeckt, wo man dieses Rad verbirgt. Dort im Dickicht des Parkes gibt es einen eingestürzten Pavillon. Und die Radspuren liefen zu dem Pavillon[3] hin, anderseits auch zu einer kleinen, eisernen verschlossenen Mauerpforte. Hm – und der Baron sagte doch heute, er besäße weder Auto noch Motorrad. Sollte er wirklich nicht wissen, daß jemand dort in der kleinen Ruine ein Motorrad verbirgt?!“

Harald zuckte nur die Achseln und flüsterte wieder: „Wie wurden Sie eigentlich auf die Wendenkrone aufmerksam, Herr Hopkinson?“

„Durch die Artikel über den Einbruch hier. Alle Zeitungen berichteten darüber. Die Wendenkrone ist durch den Diebstahl erst so recht berühmt geworden und leider auch – sehr teuer! Zalewski meinte vorhin, die Krone habe durch den Diebstahl doppelten Wert erhalten, da jetzt doch außer dem antiken noch der Raritäten-Wert hinzukäme.“

Wir beide hatten uns dicht neben den Amerikaner gesetzt. – Harald schaute Hopkinson nun fest an. „Seien Sie mal ganz ehrlich,“ sagte er, „Sie trauen dem Baron nicht?“

Hopkinson lächelte etwas. „Als Geschäftsmann ist man Menschenkenner. Dieser Baron ist mir zu liebenswürdig. Und dann das Motorrad und schließlich – seine Frau! Die tut ja nur so, als wäre sie so schwach und hinfällig. Vor einer Stunde im Park, als sie sich unbeobachtet glaubte, handhabte sie einen Spaten mit solcher Kraft, daß ich erstaunt war.“

„Einen Spaten? Was tat sie denn?“

Hopkinson lächelte wieder. „Sie hat – Taschentücher vergraben. Ich machte mir den Spaß und grub nachher an derselben Stelle nach. – Komisch, nicht wahr? Es waren zwei neue rotbunte Taschentücher, wie sie hier die Landbevölkerung trägt. Ich scharrte das Loch wieder zu. Nur die Taschentücher steckte ich ein. Hier sind sie –“

„Halt!“ sagte Harst schnell. „Stopfen Sie sie mir in die Tasche. Wir werden uns ans Fenster stellen, und Schraut tritt dicht hinter uns.“

Gleich darauf bat der Diener uns zu Tisch.

 

5. Kapitel.

Der Speisesaal nahm sich bei elektrischem Licht bedeutend vornehmer aus. Frau Irene hatte ein entzückendes schwarzes Spitzenkleid an und auch etwas Rot aufgelegt.

Die Speisen und Weine waren vorzüglich. Ich hätte mich unter diesen liebenswürdigen Menschen – es waren noch zwei Gutsnachbarn mit ihren Frauen erschienen – sehr wohl gefühlt, wenn nicht der düstere Gedanke, mit Mördern bei Tische zu sitzen, mich dauernd gequält hätte. – Harald war blendender Laune. Er fühlte sich eben als Sieger. Hopkinson ahnte nicht, daß die beiden rotgeblümten Taschentücher ein weiterer Beweis gegen den Baron waren, da das Tuch, das in Sellin bei Fischer Schörmag in Teer getaucht worden war, in Größe, Farbe und Muster genau den vergrabenen entsprach, welche Frau Irene natürlich nur aus übertriebener Angst vor Harst hatte aus dem Hause schaffen wollen.

Das Verhängnis schwebte bereits als drohende Gewitterwolke über Schloß Drakitz. Und das glitzernde Monokel des Barons und die halb verschleierten Augen seiner schönen Gattin wirkten daher auf mich wie etwas, das in einer traurigen Komödie eine noch traurigere Rolle spielt. – Es wurde scharf getrunken. Ich hielt mich zurück. Harst hatte mir einen warnenden Blick zugeworfen und an sein Glas getippt. Ich verstand. –

Nach dem Braten gab es einen Flammeri-Pudding. Der Diener hatte mir gerade die Schüssel gereicht, als die eine Tür aufgerissen wurde und eine Frauenstimme wie in Angst und Schreck des Barons Namen rief. Wir fuhren alle etwas hoch und starrten nach der Tür. Dort stand Stubenmädchen Anna mit einem Pappkarton in der Hand.

Zalewski eilte zu ihr. Totenstill war’s.

„Herr Baron,“ stammelte das Mädchen, „ein Strolch war in der Vorhalle. Ach – ich habe mich so furchtbar erschreckt! Er stellte diesen Karton hin und rannte dann wieder hinaus. Ich wollte in der Vorhalle –“

„Schon gut,“ unterbrach der Baron sie und wandte sich an Stettenborn. „Womöglich gar eine Höllenmaschine,“ meinte er. „Das Ding ist schwer –“ Er schüttelte den Karton ein wenig. „Nein – es liegt ein loser Gegenstand darin,“ sagte er. „Es muß doch –“

Stettenborn hatte ihm den Karton schon abgenommen, ging an ein Nebentischchen und öffnete ihn, holte einen in Papier gehüllten Gegenstand heraus, riß das Papier herunter und rief:

„Die Wendenkrone!“

Und wie ein Echo klang Hopkinsons jubelnder Schrei: „Die Krone –!“

Alles erhob sich. Man umdrängte Stettenborn. Die Krone mit den neun Zacken aus Smaragden strahlte grünliche und mattgelbe Lichtbüschel aus.

Hopkinson wußte sich vor Freude kaum zu lassen. „Baron!“ rief er, „ich biete 350 000 Mark! So wundervoll habe ich mir das Stück nicht vorgestellt. Soll ich Ihnen sofort einen Scheck ausschreiben? Dann gehört die Krone mir!“

Zalewski seufzte. „Ich trenne mich doch nicht so leicht davon,“ meinte er. „Aber – ich bin nicht reich. Gut denn – her mit dem Scheck!“

So wurde der Kauf perfekt. Die Wendenkrone stand nun vor Hopkinsons Platz auf der Tafel.

Zalewski ließ Sekt bringen. Der Kauf wurde gründlich begossen. Hopkinson blieb jedoch genau so nüchtern wie wir beide und Stettenborn; wenn wir auch alle vier so taten, als ob wir genau so angeheitert wären wie die übrigen.

Gegen Mitternacht trennten wir uns. Ich sah, daß Harald Stettenborn und dem Amerikaner etwas heimlich zusteckte. Es waren die Zettel, die er vorhin schnell geschrieben hatte, als wir mal in unsere Zimmer hinaufgegangen waren. Und bei dieser Gelegenheit hatte er gesagt: „In dieser Nacht fällt die Entscheidung!“

Hopkinson nahm seine Krone mit in sein Zimmer. Lachend hatte er erklärt: „Ich lege sie unter mein Kopfkissen, und auf dem Nachttisch meinen Revolver. Da soll nur ein Dieb kommen!“ –

Wir entkleideten uns langsam und sprachen über den Dieb, der nun die Krone aus irgend welchen Gründen zurückgebracht hatte. Wir wurden ja fraglos wieder belauscht.

Dann drehte Harald das Licht aus, und fünf Minuten drauf schnarchten wir derart, daß jeder annehmen mußte, der Wein hätte seine Schuldigkeit getan.

Noch etwa zehn Minuten trieben wir dieses Spiel. Draußen rauschten die Bäume des Parkes. Ein starker Regen klatschte gegen die Fenster.

Harald war jetzt bis an das Kopfende meines Bettes geschlichen, flüsterte mir ins Ohr:

„Weiterschnarchen und dabei in die Kleider schlüpfen!“

Es war stockdunkel in dem Turmgemach. Niemand konnte ahnen, daß wir uns anzogen.

Harald stand neben mir und flüsterte: „Ich habe Stettenborn in den Park geschickt – dicht an den Turm! Und Hopkinson tut kein Auge zu. Die Bande hat jetzt vor uns Angst bekommen, weil des Barons Bruder auf dem Motorrad in Putbus feststellte, daß wir beim Landrat waren. Sie haben eben ihren Plan etwas geändert, und der Doktor Zalewski mußte die Krone in die Vorhalle bringen. Wir sind jetzt sicher, glaube ich. Wir können beginnen. Laß also die Schnarchtöne getrost verstummen.“

„Was hast Du vor?“

„Wir werden in Hopkinsons Zimmer schleichen. Er hat die Tür nicht verschlossen, weil ich dies ebenfalls auf meinem Zettel verlangte.“

Wir steckten unsere Pistolen und unsere Taschenlampen zu uns. Harst fühlte, ob die Patronenrahmen noch gefüllt waren.

Dann öffnete er – alles im Dunkeln – die Tür nach dem Wohnzimmer hin. Wir traten ein, wollten auf die andere Tür zu.

Da – von rechts her aus einem Sessel ein feiner Lichtstrahl. Dort saß – das Tippfräulein aus dem Gutskontor, winkte uns, flüsterte: „Fürchten Sie nichts! Diesmal bin ich Ihre Verbündete, Herr Harst!“

„Mistreß Daisy O’Brien! Sie hier?!“

„Ja – seit drei Tagen! – Weil ich ahnte, daß die Wendenkrone Sie anlocken würde, bemühte ich mich hier um diese Stelle, forderte sehr wenig Gehalt. Heute sitze ich hier, um Sie zu schützen. Sie sollen nicht anderen zum Opfer fallen. Ich will meine Rache haben und diese nicht anderen überlassen. Über Ihrem Schlafzimmer befindet sich in der Decke eine Klappe. Der Raum darüber ist Rumpelkammer, jetzt aber bewohnt.“

„Das weiß ich alles,“ sagte Harst leise. „Doktor Zalewski haust dort. Es gibt vom Parke aus in der Turmmauer wahrscheinlich einen geheimen Aufgang nach dort. – Ich danke Ihnen, Mistreß O’Brien. In jedem Falle wollten Sie uns warnen. Wäre es nicht besser, wir begrüben diesen Haß? Wollen Sie nicht den Kampf gegen uns aufgeben? Sie sind doch besser, als ich dachte.“

Daisy O’Brien erwiderte nichts, huschte zur Tür und verschwand wortlos.

„Schloß und Riegel müssen sich von außen öffnen lassen,“ meinte Harald. „Eine ganz verwünschte Bude, dieses alte Schloß! – Gehen wir!“

Lautlos gingen wir zur nächsten Tür, riegelten sie hinter uns ab. Wir waren in Hopkinsons Zimmer. Wir hörten ihn pusten und tief atmen. Die Fensterportieren verbargen uns dann. Wir hatten uns im Dunkeln ganz gut zurechtgefunden.

Der Amerikaner spielte weiter den fest Schlafenden. Die Zeit schlich. Die Turmuhr des Schlosses schlug zwei.

Da ein ganz verschwommenes Geräusch, etwa wie das Rauschen von Kleidern, die an einem Gegenstand entlangstreifen. – Ich hielt den Atem an.

Hopkinson warf sich auf die andere Seite. Bald schnarchte er abermals.

Dann wieder ein Geräusch – das Knarren einer Diele. –

Ich hatte die Portiere zur Seite geschoben. Finsternis vor mir: nichts war zu erkennen.

Jetzt ein ganz schwacher rötlicher Lichtschein. Er traf das Nachttischchen. Undeutlich nur sah ich eine dunkle Gestalt, die die kleine Öllaterne an der Brust befestigt hatte. – Eine Hand streckte sich aus, schüttete ein Pulver in das halb volle Wasserglas.

Der Lichtschein erlosch. Der Eindringling hatte die Jacke zugeknöpft, zog sich zurück.

Ich glaubte, daß Harald noch immer hinter der anderen Portiere stand. Ich hatte mich getäuscht.

Ein leiser Schrei von der Tür her, ein dumpfer Fall.

Hopkinson sprang aus dem Bett. Er hatte eine Taschenlampe bereit gehalten. Auch die meine blitzte auf.

Harald lag auf einem ärmliche gekleideten Menschen, hielt seinen Hals umspannt.

Wir fesselten den Mann. Harst riß ihm den falschen Bart und eine fuchsige Perücke ab, sagte zu dem uns wild Anstarrenden:

„Doktor von Zalewski, das Spiel ist aus! Sie haben ein Betäubungsmittel in das Glas geschüttet, rechneten damit, daß Hopkinson es nach dem Zechgelage austrinken würde. Dann konnten Sie die Krone stehlen, die Sie im Verein mit Ihrem Bruder und dessen Frau schon einmal beiseite geschafft hatten. Geben Sie zu, daß Sie mit Hilfe Ihres Bruders den Arbeiter Hänfling ermordet haben, weil er Sie in jener Nacht, als Sie den Geldschrank so mühsam öffneten, überrascht hat? Er wird gerade hinzugekommen sein, als Sie das Loch in die Jalousie sägten. Die Anna ist seine Braut, und er mag auf dem Heimweg von einem Stelldichein mit ihr das Geräusch der Säge gehört haben. Die Leiche haben Sie durch Säuren zerstört, und den Bottich dann in den kleinen Teich entleert, wobei Sie übersahen, daß die Goldfische krepieren mußten. Wir werden den Bottich finden, Doktor Zalewski. Sie täten gut, ein Geständnis abzulegen.“

Der Chemiker lachte frech. „Sie phantasieren, Herr! Was ich Hopkinson in das Glas schüttete, ist ein unschädliches –“

„Wie Sie wollen!“ unterbrach Harald ihn. „Wir werden jetzt dem Baron ein Geständnis entlocken. Hopkinson, Sie bewachen den Menschen hier. – Schraut, nimm die Krone mit –“ –

Zehn Minuten drauf trug Harst des Doktors falschen Bart und die Perücke, auch dessen zerrissene Strolchjacke. – Das Ehepaar schlief im linken Seitenflügel. Wir hatten auch Stettenborn leise nach oben gerufen, und der Kommissar und ich hielten uns jetzt im Hintergrunde, als Harald leise an die Schlafstubentür pochte.

Sie ging sofort auf. Ein Lichtschein fiel durch die Spalte. In der Tür standen der Baron und Frau Irene, noch völlig angekleidet.

Harst hielt ihnen die Krone hin, flüsterte scheinbar sehr erregt:

„Da –! Ich mußte ihn stumm machen! Er erwachte zu früh –“

„Mein Gott!“ rief die Baronin leise. „Noch ein Mord! Dieser Harst wird uns alle ins Zuchthaus bringen! Er ermittelt die Wahrheit schließlich doch!“

Stettenborn genügte das. Er sprang vor.

„Im Namen des Gesetzes – ich verhafte Sie beide wegen –“

Die Baronin war mit einem gellenden Schrei umgesunken. Zalewski kümmerte sich nicht um uns, kniete neben ihr, fühlte ihr den Puls, stöhnte dann auf: „Tot – tot!“ Und sank über die Leiche hin, küßte die noch warmen Lippen. –

Das Drama war zu Ende. Der Baron gestand alles. – Er befand sich in den Händen von Wucherern, hatte überall Schulden. Sein Bruder hatte ihm geraten, den Betrug mit der anscheinend gestohlenen Krone zu begehen, einen Käufer nach Drakitz zu locken, die Krone wieder auftauchen zu lassen und sie dann zu stehlen. Sie hatten gehofft, alles ohne Zwischenfälle bewerkstelligen zu können. Aber mit dem Erscheinen des jungen Arbeiters begann das Unheil. Doktor Zalewski stach ihn nieder. Und dann begann die Angst vor Harst, den der Baron in Sellin zum mindesten für einige Zeit durch Revolverschüsse unschädlich machen wollte. –

Doktor Zalewski wurde zum Tode verurteilt, sein Bruder zu acht Jahren Zuchthaus. Die Wendenkrone befindet sich in Neuyork im Hause Thomas Hopkinsons. – Und Daisy O’Brien? – Sie war noch in derselben Nacht aus Drakitz entflohen. Wir sollten sie wiedersehen. Diese merkwürdige Frau hatte sich jetzt eine andere Art von Rache ausgedacht. Wir merkten dies bei unserem nächsten Abenteuer, dem ich den Titel „Das Lichtbild ohne Kopf“ gegeben habe.

 

 

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Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































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75:
76:
77:
78:
79:
80:
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95:
96:
97:
98:
99:
100:
101:
102:
103:
104:
105:
106:
107:

Das Geheimnis der Kabine 24.
Das Rätsel der Trollhätta-Insel.
Lord Plemborns Verbrechen.
Die Leiche im Gletschertunnel.
Sechs leere Briefbogen.
Das Geheimnis des Elefantenjägers.
Lady Myntors letzter Wunsch.
Der Giftpfeil des Wedda.
Der Schlangenbeschwörer von Agra.
Das Patent des Doktor Murphison.
Die Buschklepper der Thar-Wüste.
Das blinde Hindumädchen.
Die Wundergeige des Virtuosen.
Der Geisterspiegel.
Das Geheimnis des Wannsees.
Giftkonfekt.
Schatten an der Wand.
Der tote Zigeuner.
Das Rätsel der Schonerjacht.
Die tote Karawane.
Das Wunder von Patna.
Frau Inges Tränen.
Der tote Kanarienvogel.
Der Obstkahn am Elisabethufer.
Das geheimnisvolle Fenster.
Anita Armands Verhängnis.
Unser 100. Abenteuer.
Die Piraten der Havelseen.
Der Napoleon aus Wachs.
Der dritte Schuß.
Das Zimmer ohne Fenster.
Das Paket im Urbanhafen.
Der unheimliche Mieter.
Das Känguruh der Miß Dolling.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „außerhab“.
  2. In der Vorlage steht: „hatte“.
  3. In der Vorlage steht: „Pavillo“.