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Das Rätsel der Heufuderbaude

 

 

Walther Kabel

 

Das Rätsel der Heufuderbaude[1].

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26, – 1923.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die Dame aus der blauen Bauernstube.

Der Iserkamm[2] war in dichte Wolken gehüllt. Der Wind kam von Schwarzbach, dem kleinen Nachbarbadeort von Flinsberg, her und trieb dunkles Gewölk in unerschöpflicher Fülle an den bewaldeten Höhen entlang. Dieser Schwarzbach-Wind erfreut sich keiner Beliebtheit. Er bringt stets Regen und Sturm.

Zwei Touristen, die mit dem Nachmittagszuge eingetroffen waren, wanderten den Fahrweg zum Heufuder-Berge[3] empor. Kurz vor der Brücke, kurz vor dem bequemen Sophienweg, der zum Gipfel führt, gelangten sie in den dicken Nebel der jagenden Wolken.

Es regnete nicht. Aber die Luft war an diesem Junitage schwer und drückend, und die Nebelgebilde des dunklen Gewölks gaben dem hochstämmigen Kiefernwalde zu beiden Seiten der Straße etwas Düster-Melancholisches. Der Wind brauste über die hohen Wipfel hinweg. Einzelne Stämme ächzten und knarrten … Der verlorene ferne Schrei eines Eichelhähers war der einzige anders geartete Laut in dieser feierlichen Musik des Hochwaldes.

Die beiden bärtigen kräftigen Gestalten schritten mit ihren dick gepackten Rucksäcken und handfesten Spazierstöcken langsam und gleichmäßig bergan …

Sie begegneten niemandem, waren allein auf der breiten Straße, allein mit sich und ihren vorauseilenden Gedanken …

„Diese trostlose Nebelstimmung paßt zu unserem Geschäft,“ sagte der kleinere jetzt, da sein Gefährte hartnäckig schwieg …

Der erwiderte kühl:

„Das kann man nicht wissen … Unser Geschäft ist noch allzu unklar … Die Sache kann sich ganz harmlos aufklären …“

Der Kleine, Korpulente, war froh, daß dieses ihm unliebsame Schweigen nun beendet. Er war ein kleiner Schwätzer, dieser Herr mit der gelehrten Hornbrille. Er redete gern und viel. Seine lebhafte Phantasie umspielte andauernd das Geheimnis der blauen Bauernstube. Da war es halt schwer, all die Gedanken zurückzudämmen. Man näherte sich eben dem Ziele, und schon in den nächsten Stunden konnte allerlei Entscheidendes sich ereignen.

„Ich möchte gern von Dir erfahren, wie Du die Angelegenheit auf einen harmlosen Dreh bringen willst,“ meinte er voller Eifer. „Eine junge reiche Dame, verlobt mit einem frischen, prächtigen Menschen, reist plötzlich überstürzt hier nach Flinsberg, läßt sich auf den Heufuder-Berg fahren, belegt auf der Baude ein bescheidenes Stübchen und verschwindet noch am selben Tage spurlos … läßt ihren Koffer zurück, wird drei Tage lang gesucht … Ihr Verlobter eilt nach Flinsberg, bringt alle Förster und Landjäger auf die Beine … Wieder vergehen drei Tage … Da telegraphiert er an uns … Wir lehnen ab – natürlich … zum Schein … Und nun sind wir sofort an Ort und[4] Stelle … – Ich finde bei alledem durchaus keine Möglichkeit, die Geschichte harmlos zu erklären …“

Und als der Kleine dies geradezu erregt hervorstößt, haben die beiden den Schutz des Hochwaldes verlassen … Der Wind packt sie … Der Wind ist eisig … Hier oben merkt man bereits, daß man sich etwa neunhundert Meter über dem Meere befindet …

Windstöße reißen für Minuten die Wolken auseinander …

Die gelbliche Straße, an deren Rand überall Steinblöcke, Felsen und Geröll, zumeist von grünem Moos überzogen, als Wahrzeichen des Isergebirges lagern, – diese sanft in langen Windungen ansteigende Straße liegt plötzlich auf hundert Meter nebelfrei …

Und da sehen die beiden vor sich einen anderen Herrn, der mit gesenktem Kopf, und mit schleifenden Schritten, in derselben Richtung wandert …

Eine schlanke hohe Gestalt ist’s … Der Lodenanzug ist von tadellosem Schnitt … Die braunen Bergstiefel fast neu …

Der Herr da vorne schleicht förmlich. Es ist, als ob er eine Bürde trüge, die viel zu schwer für seine Schultern …

Der größere der beiden Touristen sagt leise:

„Herr von Setten, glaube ich …“

Da kommt ein neuer Windstoß … Eine neue Wolke segelt heran, taucht alles in düsteres Grau …

Die beiden schreiten rascher dahin …

„Wenn es Setten wäre, könnte man hier sofort seine Bekanntschaft machen …,“ flüstert der Korpulente.

„Das werden wir auch,“ nickt der andere.

Nach ein paar Minuten schält sich vor ihnen der müde Wanderer aus den grauen Schleiern …

Hört das Geräusch der Nahenden, wendet sich um.

Die beiden grüßen …

„Verzeihung – ist es noch weit bis zur Baude?“ fragt der Größere und atmet keuchend …

Soeben atmete er noch ganz regelmäßig …

Fügt hinzu: „Man ist das Steigen und die Anstrengung nicht gewöhnt …“

Und er trocknet mit dem Taschentuche die Stirn, auf der – – auch nicht ein Schweißperlchen steht …

„Eine Viertelstunde,“ erwidert der Schlanke höflich und zieht gleichfalls den Lodenhut …

„Hoffentlich sind noch Zimmer auf der Baude frei?“ fährt der Sprecher fort …

„Übergenug … Es sind nur vier zurzeit bewohnt.“

„Ah – sehr gut …“

Und so kommt denn wirklich eine Unterhaltung in Fluß … Bis die Herren sich vorstellen …

Die beiden nennen sich Schmidt und Hermich, Studienräte aus Stettin … Der andere ist Gisbert von Setten, Gutsbesitzer, Settenhof bei Buckow, Mark …

Hermich, der größere der beiden Freunde, markiert ein Stutzen, als er den Namen Setten hört …

„Entschuldigen Sie, Herr von Setten, ich las da vorhin im D-Zug in einer Berliner Zeitung von dem Verschwinden einer jungen Dame … Und da war auch ein Herr von Setten wiederholt genannt – als Verlobter Fräulein Elsie Brandens …“

„Ja – leider haben die Zeitungen in üblicher Weise auch mein … Leid breitgetreten, Herr Studienrat … Ich bin Elsie Brandens Bräutigam[5] … Seit sieben Tagen suchen wir sie …“

„Ich weiß … Der Artikel war sehr ausführlich … Gestatten Sie, daß wir Ihnen unser aufrichtiges Beileid aussprechen, zugleich aber auch der Hoffnung Ausdruck geben, daß Ihr Fräulein Braut doch noch gefunden wird …“

Setten seufzt … „Ich wage nicht mehr zu hoffen, Herr Studienrat …“

„Oh – das soll man nicht, Herr von Setten … Hoffnung verloren, alles verloren …! Das Isergebirge besitzt keine so schroffen Stellen, daß jemand abstürzten könnte …“

„Allerdings nicht, Herr Studienrat … Aber Elsie war in letzter Zeit kränklich und nervös, litt an nervösen Angstzuständen …“ Er seufzt wieder … „Es ist nicht ausgeschlossen, daß Elsie vielleicht irgendwo hier in den endlosen Wäldern von einem Herzschlag betroffen wurde …“

„Hm – verzeihen Sie, Herr von Setten … Ich habe auch Medizin studiert – ein paar Semester … Wodurch stellte sich denn dieses nervöse Leiden bei Ihrem Fräulein Braut ein? Alles muß doch eine Ursache haben, zumal bei einer jungen Dame, die, obwohl Waise, doch in glänzenden Verhältnissen lebte und in der Villa ihrer Tante mütterlicherseits ein zweites Elternhaus gefunden hatte. So las ich’s in der Zeitung …“

„Und so war es auch, Herr Studienrat … Die Veränderung in Elsies ganzem Wesen merkte ich urplötzlich. Sie war geradezu mit einem Schlage vollständig verwandelt – scheu und zurückhaltend, überaus reizbar und dann wieder zärtlich wie ein … Wir sollten …“ – er preßte die Worte mühsam hervor … – „sollten … heute, gerade heute Hochzeit feiern, heute am 26. Juni …“

Der Studienrat Hermich reichte Setten warm die Hand …

„Sie Ärmster …!“ – – Und nach kurzer Pause: „Herr von Setten, jeder Mensch reitet so ein kleines Steckenpferd … Jeder hat seine außerberufliche Neigung … Die meine ist seit Jahren die rein theoretische Beschäftigung mit Kriminalfällen. Mein Freund Schmidt lacht mich dieser harmlosen Marotte wegen stets aus … Ich habe noch nie Gelegenheit gehabt, diese theoretischen Kenntnisse irgendwie praktisch zu verwerten. Sie werden es also nicht als Neugier auffassen, wenn ich mir erlaube, Ihnen sozusagen meine Hilfe anzubieten … Natürlich dürfen Sie dann auf der Baude niemanden wissen lassen, daß ich mich mit diesem Fall beschäftigen will …“

Gisbert von Setten schaut den Studienrat dankbar an …

„Sehr liebenswürdig … Nur – um ehrlich zu sein – ich hatte bereits einen Breslauer Privatdetektiv vier Tage hier, und seit gestern ist ein Berliner Privatdetektiv oben auf der Baude, der zur Kur in Flinsberg weilte … Ein Herr Mühlenstätt. Weder der Breslauer noch der Berliner Detektiv haben irgend etwas ausgerichtet, obwohl gerade Mühlenstätt sehr eifrig ist und ja auch einen gewissen Ruf genießt …“

„Ja – – dann allerdings …,“ nickt der Studienrat Hermich …

Und sein Freund und Kollege Schmidt meint halb ironisch:

„Ja – dann bitte nur Herrn von Setten, daß er dem Berliner Detektiv nichts von Deiner … Neigung verrät … Mühlenstätt würde Dich auslachen, lieber Hermich … Theorie und Praxis sind durch Abgründe getrennt …“

Setten erklärt schon: „Selbstverständlich werde ich schweigen …“

Hermich aber sagte schüchtern:

„Ihr Fräulein Braut hatte doch auf der Baude die sogenannte blaue Bauernstube belegt … Und ohne ihren Koffer auszupacken, war sie dann sofort angeblich zum Nachbarberge, zur Tafelfichte gegangen, gegen halb sieben Uhr abends …“

„Leider …,“ seufzt Setten … „Und diesen Spaziergang unternahm sie bei strömendem Regen … Von diesem Spaziergang kehrte sie nicht zurück … Ich bewohne jetzt jenes Zimmer, das seiner Bauernmöbel wegen diese Bezeichnung führt … Es ist Nr. 8 …“

Hermich bleibt stehen … Man hat gerade wieder ein Waldstück verlassen, und der rasch zum Sturm angewachsene Wind scheint dem Studienrat den Atem zu benehmen …

„Herr von Setten, gehen Sie nur voraus … Ich muß mich erst ausruhen … Und dann … ist es auch besser, daß wir nicht gemeinsam die Baude betreten … Wir dürfen uns nicht kennen … Ich bin Harald Harst, Herr von Setten … Harst, der Ihnen abtelegraphierte, der angeblich mit Schraut nach Stockholm reisen mußte – beruflich …“

Setten starrt Hermich an … Schaut[6] in das blondbärtige, freundliche, harmlose Gesicht mit der goldenen Brille …

Gleich darauf geht er allein weiter …

Frischer als vorhin …

Harst ist da … Ihm ist leichter zu Mute …

 

2. Kapitel.

Die knarrende Diele.

Die Freunde lassen dem bedauernswerten Bräutigam eine Viertelstunde Vorsprung. Sie stehen noch immer mitten auf dem Wege, umgeben von Nebelschleiern, deren feine Tröpfchen jetzt ihre Brillengläser immer dichter bedecken …

Stehen da in ihre Lodenumhänge gehüllt und sprechen über Gisbert von Setten …

„Er scheidet aus,“ sagt Harald Harst. „Er hat keinen Teil an diesem dunklen Geschehnis … Es ist gut, daß wir ihn trafen. Er hat uns die Arbeit erleichtert …“

Ein fauchender Sturmstoß treibt wieder einmal das Gewölk auseinander … Für einen Augenblick ist der Ausblick bis in die Täler und die ferne[7] Ebene frei … Grüne Saaten leuchten dort …

Dann schließen die ziehenden Vorhänge der Wolken sich von neuem …

„Elsie Branden hat eine Vergangenheit …,“ sagt Harst. „Diese Vergangenheit ist vier Wochen vor ihrer Hochzeit wieder aufgelebt … Ich behaupte, ein Mann spielt bei alledem mit: Liebe, Eifersucht …!“

Er sagt es träumerisch, als ob er halb im Schlaf spräche …

„Die Ärmste ist vielleicht tot – ermordet,“ meint Schraut zaghaft …

„Nicht ausgeschlossen, mein Alter … Der Mann, der sie hierher nach der Baude bestellte, hat Macht über sie … Sie mußte gehorchen … Kaum angelangt, verläßt sie die Baude wieder, eilt zum Stelldichein … irgendwo hier in der Nähe …“

„So muß es sein …,“ erklärt der korpulente Schraut.

Harst lacht eigentümlich …

„Alterchen, Du läßt Dich doch zu leicht aufs Glatteis führen …! Du begehst den alten Fehler, bildest Dir eine Ansicht, ohne Grundlagen dafür zu haben … Was ich da soeben redete, war … Bluff …! Ich werde mich hüten, schon jetzt eine sogenannte Theorie aufzustellen … – Gehen wir …“

Schraut war ärgerlich …

„Und doch werde ich an dieser Theorie festhalten,“ sagt er gereizt. „Sie hat ein Fundament!“

„Ein sehr schlechtes – vorläufig …! – Wir werden oben auf der Baude das Zimmer neben dem Settens nehmen … Der Berliner Kollege Mühlenstätt wird uns nicht weiter belästigen. Setten hat ihn erst aus Flinsberg heraufgeholt, nachdem wir abtelegraphiert hatten …“

Sie schritten schneller dahin …

Nach zehn Minuten kam die Baude in Sicht …. Sie war erst im Herbst des Vorjahres eingeweiht worden, und die Terrasse und der Zugang machten noch einen etwas sehr unfertigen Eindruck, während das Haus selbst mit dem steinernen Unterbau und dem blockhausartigen Oberbau ebenso geschmackvoll wie derb und wuchtig wirkte.

Eine kurze Treppe empor – dann ein Flur … Links der Eingang zum großen Gastzimmer, rechts die Treppe in die oberen Räume.

Das Gastzimmer war beleuchtet. Acetylengas brannte unter Milchglasglocken. Ein mächtiger grüner Kachelofen spendete behaglich Wärme.

Nur vier Tische waren besetzt. In einer Ecke saß „die Hauskapelle“ – ein Geiger und ein Zitherspieler … Sie machten ebenso mißmutige Gesichter wie die beiden Kellner … Das Geschäft ging schlecht … Der Juni war gänzlich verregnet.

Die Freunde ließen sich unweit des Ofens nieder.

Der eine Kellner nahm die Bestellung entgegen: Zimmer mit zwei Betten, Abendessen, von morgen ab volle Pension, vorläufig für drei Tage …

Die Herren Studienräte putzten ihre Brillengläser und dehnten sich behaglich auf der Holzbank …

Dann begann die Hauskapelle zu Ehren der neuen Gäste den längst zum Gassenhauer degradierten Tanz „Mein Liebling heißt Mädi[8] …“

„Entsetzlich!“ seufzte Studienrat Hermich … „Ausgerechnet … Mädi …!!“

Der jugendliche Baudenwirt kam mit dem Fremdenbuch herbei …

Begrüßte die Herren, versprach für morgen Sonnenschein … Das war Wirtespflicht …

An einem der langen Tische auf der Südwand hatten sich zwei Förster, ein Landjäger und ein bartloser Herr im Touristenanzug niedergelassen …

„Das kann Mühlenstätt sein, der Kollege,“ meinte Harst leise und studierte das Fremdenbuch …

Studierte die Namen der Gäste, die sich vor dem 19. Juni eingetragen hatten … Am neunzehnten war nur Elsie Branden eingetroffen …

Harst merkte sich:

Am 18ten: Doktor Welter, Heinrich, Berlin-Lichterfelde (am 21ten wieder abgereist).

Am 17ten: Frau Klara Wilding, Breslau, Lange Straße 7 (offenbar noch anwesend).

Am 14ten: Heinz Gundlach, Student, Breslau (am 15ten wieder abgereist).

Am 12ten: Max Meyerfeld, Kaufmann, Berlin (am 14ten wieder abgereist).

Am 10ten: Flora Wenden, Landschaftsmalerin, Berlin-Dahlem (anscheinend noch anwesend).

Nach dem Fremdenbuch waren also (einschließlich Gisberts von Settens und des Detektivs Mühlenstätt, der sich als Rentner Mühlen eingeschrieben hatte) vier Personen als Logiergäste in der Baude anwesend, und auch Setten hatte ja von vier bewohnten Zimmern gesprochen.

Eine an den Kellner während der Mahlzeit gerichtete Frage bestätigte dies: die beiden Gäste außer Setten und Mühlen waren die Damen Wilding und Wenden, erstere schwer nervenleidend und nur ihrer Gesundheit lebend, die Malerin aber äußerst fleißig und bei gutem Wetter mit Malkasten und Staffelei ständig im Freien.

Mit dieser bescheidenen Wissenschaft zogen sich die Freunde gegen halb zehn abends auf ihr Zimmer Nummer neun zurück …

Es lag rechts neben der blauen Bauernstube, war inzwischen geheizt worden, hatte ein einzelnes Fenster, das auf die kleine Bretterbude der Notbaude hinausging, und enthielt nur gerade die notwendigsten Einrichtungsstücke. Verbindungstüren nach den Nebenräumen gab es nicht. Die Flurtür war einfach, also keine Doppeltür, wie sonst in Gasthäusern üblich.

Harst und Schraut hatten sich auf das kleine Sofa gesetzt, rauchten und flüsterten miteinander …

Der „große“ Harst spielte Moltke – schwieg. Der korpulente Schraut gähnte und schielte nach dem Bett, hatte schon die fünfte seiner Mirakulum-Zigaretten zwischen den Lippen … In der Aschenschale sammelte sich immer mehr hellgraue Asche an … Auch Harst dampft wie ein Schlot …

Dann zerrieb er die Asche zu staubfeinem Pulver, ging zur Tür, öffnete sie vorsichtig und streute den Aschenstaub in dünner Schicht zwischen Türschwelle und Flurläufer, stellte die beiden Stiefelpaare vor die Tür und schloß diese wieder ab …

„Wir werden ja sehen …,“ meinte er achselzuckend zu seinem Freunde, der inzwischen beide Fensterflügel aufgerissen hatte, um dem Zigarettenrauch Abzug zu verschaffen … „Wenn jemand hier in der Baude mit der Sache etwas zu tun hat, dann ist er auch von Mißtrauen gegen jeden Neuankömmling erfüllt und wird vielleicht an unserer Tür lauschen wollen … Und wenn sich in der Aschenstaubschicht Spuren von Damenstiefeln morgen früh abzeichnen, so wäre das ein zweiter Beweis gegen die kranke Frau Klara Wilding.“

Schraut blickte den Freund fragend an …

„Ein zweiter?!“

„Ja … Du hörtest ja, daß der Kellner Frau Wildings gutes Herz über den grünen Klee lobte, und daß er betonte, wie sehr sie sich mit dem vierbeinigen Wächter der Baude, der sonst sehr unzugänglichen Schäferhündin Senta angefreundet habe – mit unendlicher Geduld, betonte der Kellner …! Wie stimmt das zu einer nervenkranken Dame, die sich im übrigen angeblich nur um ihre Gesundheit kümmert?! Eine Nervenkranke, die sich mit einer bissigen Hündin abgibt, ist ein Unding, mein lieber Herr Studienrat Schmidt …! – Und jetzt wollen wir zu Bett gehen …“

Sie taten es … Harst löschte die Nachttischkerze aus …

Nach einer Weile sammelte der Hausdiener die zu säubernden Stiefelpaare ein … Er bemühte sich offenbar recht leise zu sein, aber gerade vor der Tür von Nr. 9 gab es eine knarrende Diele … Die hatte schon vor fünf Minuten geknarrt, als Gisbert von Setten die blaue Bauernstube aufgesucht hatte. Sie hatte aber nicht geknarrt, als die Freunde auf ihr Zimmer gingen. Mithin lag diese knarrende Diele rechts von der Tür von Nr. 9 nach dem Ende des Flurganges hin.

Die beiden Betten standen dicht nebeneinander. Harst flüsterte: „Hast Du achtgegeben?“

„Ja – die Diele!“

„Für uns angenehm … Frau Klara Wilding wohnt auf Nr. 7, letztes Zimmer hier im Seitenflur, das ruhigste … Wenn sie kommen sollte, wird die …“

Und schwieg …

Die Diele knarrte …

Der Hausdiener konnte es nicht sein …

Die Freunde hatten sich im Bett aufgerichtet …

Lauschten angestrengt …

Da – der von innen steckende Türschlüssel klapperte ganz leise …

Dann Stille …

Wieder knarrte die Diele …

Wieder Stille …

Die Freunde ahnten, daß etwas geschehen, daß der Fall Elsie Branden sich gleichsam gemeldet hatte …

Noch fünf Minuten …

Und der „große“ Harst erhob sich aus dem warmen Bett, tastete nach der Taschenlampe und schlich zur Tür.

Schraut gewahrte einen ganz dünnen Lichtstrahl … sah den Freund, wie der aus dem Schlüsselloch ein Papierröllchen herauszog …

Dann lag Harald Harst wieder im Bett …

Sagte leise: „Also Frau Wilding schickt uns eine Botschaft …!“

Seine Taschenlampe leuchtete wieder auf … Er legte sie auf die hochgezogenen Knie und rollte das Papier auseinander …

Da stand mit verstellter steiler Kinderschrift:

„Seien Sie vorsichtig! Sonst kostet es drei Menschenleben!“

Die Lampe erlosch …

Harsts raunende Stimme:

„Du – wir sind erkannt – durchschaut …! – Es ist unter diesen Umständen doch besser, daß wir abwechselnd wachen … Ich werde mich leise wieder anziehen und auf das Sofa setzen. Um zwei Uhr morgens wecke ich Dich … Wenn Du dann bis Tagesanbruch munter bleibst, genügt das. Nachher kannst Du Dich wieder niederlegen … Schlafe jetzt nur ein …“

Schraut versuchte es …

Er sah das glimmende Pünktchen der brennenden Zigarette des Freundes drüben am Sofa …

Und – schlief ein …

Fuhr hoch …

Eine Hand legte sich sanft auf seinen Mund …

Harst flüsterte ihm ins Ohr:

„Still – es ist jemand vor der Tür …“

 

3. Kapitel.

Das grüne Licht und Senta.

Schraut lag regungslos in den Kissen … Im Zimmer war es finster, nicht die Hand vor Augen zu sehen … Und in der Baude totenstille … Nur draußen rieselte der Regen … Und die Krüppelkiefern rund um das Haus rauschten leise im Regenwind …

Harst war auf Strümpfen zur Tür geglitten. Die Morgenschuhe hatte er abgestreift. Das, was ihn soeben wieder aufmerksam gemacht hatte, war ein ganz leises Klirren des Schlüssels im Türschloß gewesen.

Aber – bevor dieses feine Klirren ertönte, hatte er kein anderes Geräusch wahrgenommen … Die Diele hatte nicht geknarrt … Der, der hier am Türschloß von außen herumhantierte – denn das Klirren hatte sich noch zweimal wiederholt, – war also von der anderen Seite gekommen, von dort, wo der Seitengang in den Hauptflur mündete …

Der Detektiv Harst stand jetzt dicht neben der Tür.

Seine rechte Hand glitt unendlich vorsichtig und langsam über den Drücker der Tür hin – dann abwärts.

Da war der Schlüssel … Der Griff stand so, daß der Schlüsselbart den unteren Teil des Schlüsselloches freigab …

Dann spürten Harsts vorsichtige Finger aus dieser kleinen Öffnung einen dünnen Stab herausragen …

Nein – keinen Stab …

Es war ein … Gummischlauch …

Und da … roch der Detektiv etwas: einen kaum merklichen scharfen Duft – so, wie es in Apotheken riecht …

Im gleichen Moment spürte er auch, daß seine Augen zu tränen begannen …

Er trat schnell zurück …

Überlegte …

Und wollte dann zu Schraut zurück, ihm etwas zuflüstern …

Wollte …

Draußen im Flur … knarrte die Diele …

Ein ganz kurzer Aufschrei – halb erstickt …

Jetzt draußen das Raunen von Stimmen …

Wieder das Knarren der Diele …

Stille …

Als Harst sich jetzt abermals der Tür näherte und die Hand ausstreckte, war der Schlauch nicht mehr da. –

Harst setzte sich auf des Freundes Bettrand … erzählte …

„… Man hat uns vergiften wollen … Frau Wilding verhinderte es … Sie hatte einen kurzen Wortwechsel mit dem Attentäter, sie stieß den leisen Schrei aus … Der Attentäter muß eine Stahlflasche mit Thalon-Gas mit sich führen … Thalon-Gas, das Kampfgas der Amerikaner aus dem letzten Jahre des großen Mordens[9] … Wenn wir geschlafen hätten, wären wir sanft in ein besseres Jenseits hinübergeschlummert … – Mein Alter, jetzt macht mir der Fall Branden erst Spaß … Unser Gegner ist nicht zu verachten …!“

Schraut erwiderte – und seine flüsternde Stimme verriet eine Erregung, die unter diesen Umständen zu verstehen war:

„Dann können wir jede Nacht hier wachen …! Dann können wir auch …“

Harst unterbrach ihn:

„Das würden wir nicht lange aushalten, zumal wir wohl am Tage mancherlei Anstrengendes werden erledigen müssen, mein Alter … Nein, wir machen’s einfacher … Wir nächtigen drüben bei Setten … Warte einmal, ich werde versuchen, ob man nicht zu seinem Fenster hinüberturnen kann …“

Der Detektiv Harst öffnete also das Fenster von Nr. 9, schwang sich hinaus … Die Bauart des Hauses erleichterte sein Vorhaben. Die nur gefirnisten Rundbalken der Außenwand boten den nur mit Strümpfen bekleideten Füßen einigen Halt …

Als er so das Fenster der blauen Bauernstube erreicht hatte, sah er, daß die Vorhänge matt erleuchtet waren. In der Stube brannte Licht, und an der Seite war eine kaum handbreite[10] Spalte zwischen dem linken Seitenteil des Fensters und dem Vorhang …

Harst spähte hinein …

Was er da sah, war so verblüffend, daß selbst ein Mann wie er unwillkürlich zunächst an eine Sinnestäuschung glaubte …

Auf dem Nachttischchen neben dem Bett brannte eine Kerze … Auf dem Bettrand saß Gisbert von Setten, und vor ihm stand an der Wand mit hochgereckten Armen eine blasse Frau in einem dunkelrote Morgenrock …

Diese Frau bewegte die Lippen – flüsterte …

Setten aber – jetzt erst bemerkte es der Detektiv – hatte in der Rechten halb erhoben eine moderne Repetierpistole …

Jetzt senkte die Frau langsam die Arme …

Ein Lächeln verzerrte ihr bleiches Gesicht …

Ein höllisches Lächeln …

Setten saß zusammengesunken da … Hob die Linke … Müde – mit trostloser Schlaffheit …

Gab der Frau einen großen gelben Briefumschlag …

Dann blies er das Licht aus …

Der Detektiv Harst aber machte kehrt und kletterte wieder in das Zimmer Nr. 9 hinein, wo Schraut ungeduldig und ängstlich am Fenster gewartet hatte …

„Nun?“ fragte Schraut gespannt …

„Setten hatte Besuch: Frau Klara Wilding! Es war die reinste Wildwest-Szene …“

Er berichtete weiter. Schraut war wieder ins Bett geschlüpft … fragte dann:

„Und die Deutung?“

„Sehr schwer zu sagen … sehr schwer … Ich möchte mich auf keine bestimmte Ansicht festlegen … Morgen früh werden wir ja sehen, ob meine Vermutung zutrifft …“

„Welche?“

„Daß … der Fall Branden erledigt ist …“

„Erledigt?! Wie wäre das möglich?!“ Schrauts Stimme verriet ein maßloses Staunen …

Die beiden Freunde standen im Dunkeln noch dicht an ihrem Fenster. Harst hatte die Vorhänge noch nicht wieder zugezogen …

Als Antwort auf seine Frage spürte Schraut da die Hand seines treuen Gefährten und Lehrers wie eine Eisenklammer auf dem linken Arm …

„Draußen!!“ flüsterte Harst … „Dort – das fahle Licht … an derselben Stelle … Jetzt …, ein rotes … – wieder grün … – Mein Alter – der Fall Branden …“

Er verstummte …

Trotz der Doppelfenster hörten die Freunde in der Ferne das Aufheulen eines Hundes … Dann einen Schuß … wieder ein Heulen – langgezogen – voller Schmerz … langsam ersterbend …

Das zuletzt erschienene Licht aber blieb …

Glühte durch das Dunkel der Regennacht … Blieb am selben Platze – unverändert …

Harst kniete schon neben dem Rucksack … Harst hatte im Nu eine Leine hervorgesucht …

Schraut hielt das eine Ende … Sein Freund kletterte zum Fenster hinaus – an der Leine abwärts.

Verschwand …

Vorüber an dem Bretterhäuschen eilte er … Stolperte … Eilte weiter … Kletterte auf allen Vieren einen kleinen Abhang empor … Sah das grüne Licht näher … deutlicher …

Ward vorsichtiger …

Noch wenige Schritte … Nun hatte er den Felsblock erreicht … Trat auf etwas Weiches …: die Hündin Senta, die vor Schmerz leise aufjaulte …

Da – eine Stimme neben dem Detektiv:

„Guten Abend, Herr Studienrat … Erschrecken Sie nicht … Mein Name ist Mühlen … ebenfalls Logiergast hier auf der Heufuder-Baude … Auch mich hat der Schuß hinausgelockt …“

Harst wandte den Kopf …

Vor ihm die hagere Gestalt des Berliner Kollegen, der abends im Gastzimmer mit den Förstern und dem Landjäger zusammengesessen hatte …

„Hermich,“ stellte Harst sich vor … „Was ist hier eigentlich geschehen, Herr Mühter …“

„Mühlen …,“ verbesserte der Detektiv. „Was hier vorgefallen, Herr Studienrat …?! Ja – wenn man das wüßte …! Jedenfalls hat jemand den armen Hund niedergeschossen … Da wird Frau Wilding sehr unglücklich sein … Sie liebt das Tier …“

„Und die grüne Laterne – gehört sie Ihnen, Herr Mühlen?“

„Nein … Die muß der Revolverschütze hier zurückgelassen haben, der fraglos ein Einbrecher war und es auf die Baude abgesehen hatte …“

„Wahrscheinlich …“ – Und der Herr Studienrat Hermich schaltete jetzt seine Taschenlampe ein und beleuchtete die kräftige Schäferhündin, kniete neben dem Tiere nieder, streichelte es und suchte nach der Einschußwunde …

Dann sagte er zu Mühlen-Mühlenstätt:

„Ich werde den Hund zur Baude tragen … Es scheint ein glatter Lungenschuß zu sein … Der verheilt ganz von selbst … Nur Ruhe und ein trockenes Lager braucht das Tier. Sie könnten mir leuchten, Herr Mühlen … Die grüne Laterne nehmen Sie wohl mit.“

So setzten die beiden Herren sich denn in Marsch. Mühlen-Mühlenstätt ging voran …

Inzwischen waren auch der Baudenwirt und der Hausdiener mit Laternen hinter der Baude erschienen.

Die Hündin wurde im Stall sorgsam gebettet … Dann sagte Studienrat Hermich den anderen gute Nacht und kehrte durch den Haupteingang und über den Flur in sein Zimmer zurück …

Schraut lag im Bett … Er hatte vom Fenster mancherlei beobachtet und war sehr bald völlig im Bilde …

Gegen ein Uhr morgens herrschte wieder Ruhe in dem einsamen Hause auf dem Gipfel des Heufuder …

Es war eine unnatürliche Ruhe … Wohl keiner der Bewohner schlief wirklich … Jeder nahm lediglich Rücksicht auf die anderen … Jeder hätte am liebsten unten in der Gaststube beim hellen Karbidlicht gesessen und über die letzten Ereignisse gesprochen …

Nur zwei schliefen fest und ruhig – zwei in Zimmer Nr. 9.

Harst und Schraut wußten, daß in dieser Nacht nichts mehr geschehen würde … Sie schliefen Vorrat … Man konnte nicht wissen, was die nächste Nacht brachte.

 

4. Kapitel.

Etwas über Fußmaße …

Morgens gegen sechs Uhr ging der Wind nach Westen herum …

Das Gewölk räumte der Sonne das Feld … Auf dem Gipfel des Heufuder schien die Hand eines Billionärs Diamanten verstreut zu haben …

Überall blitzten und funkelten, sprühten und gleißten die Regentropfen im Grase, im Moose, an den Tannennadeln …

Mit einem Schlage lag dann auch die Aussicht nach dem Riesengebirge frei … Deutlich hoben sich die fernen Bergmassen gegen das graufahle davonziehende Gewölk ab …

Der Hausdiener der Baude stand fröstelnd auf der Terrasse vor dem Hause und sah nichts – nichts von den Schönheiten ringsum … Ihm war das etwas Gewohntes … Ihn interessierte lediglich Flinsberg … Jede Villa, jedes Häusel war dort unten im Tale zu erkennen … Und dort in der Villa Glückauf diente sein Lieserl …

Er seufzte … Und ging wieder ins Haus, um auch die lehmigen Stiefel der beiden Herren Studienräte zu säubern … Mit dem anderen Schuhzeug war er bereits fertig …

Und während er jetzt den Lehm von den Absätzen kratzte und über die Geschehnisse der Nacht nachgrübelte, tat sich plötzlich die Tür seiner Kammer auf und vor ihm stand Herr Studienrat Hermich …

„Morgen, Friedrich …“

„Ah – guten Morgen, Herr Studienrat …“

Hermich-Harst schaute den intelligent dreinblickenden jungen Menschen freundlich an …

„Viel Arbeit, Friedrich …“

„Ach nein, Herr Studienrat … zu wenig! Das ist doch kein Besuch für den Juni … Sechs Gäste nur …“

„Na – das Wetter ändert viel … Nur Geduld …! – Die Stiefel des Herrn Mühlen waren wohl auch noch recht naß – nach dem nächtlichen Abenteuer …!“

„Herr Mühlen stellt seine Stiefel nie heraus, Herr Studienrat …“

„So … so … – Wie geht es der Hündin …“

„Na – sie wedelt schwach, wenn man zu ihr spricht.“

„Sie wird den Schuß überstehen … Ein glatter Lungenschuß ist nicht gefährlich … gar nicht gefährlich … Ich verstehe etwas von Hunden und … hm, ja – auch von Wunden …“

Herr Studienrat Hermich, der nur Morgenschuhe anhatte, wartete, bis Friedrich die beiden Paar Bergstiefel geputzt hatte und unterhielt sich derweil ganz zwanglos mit dem jungen Menschen, erfuhr mancherlei … und Friedrich merkte nicht im geringsten, daß er regelrecht ausgehorcht wurde …

Nachher spendete der Herr Studienrat noch zwei Zigarren mit Leibbinden, nahm die Stiefel und wanderte die Treppe empor – bis Zimmer neun – und ein paar Schritt weiter …

Aha – hier knarrte die Diele – gerade vor Herrn von Settens Tür …

Dann machte Hermich-Harst kehrt und kniete vor Nummer neun auf dem Flurläufer nieder …

Seine Taschenlampe bestrahlte die feine Schicht Tabakasche …

Er nahm ein Blatt Papier, und in kurzem hatte er von den hier sichtbaren Spuren genaue Maße genommen …

Da war zum Beispiel auch ein Männerstiefel von ungewöhnlicher Länge …

Und da war eine winzige Spur – einer Frau …

Oh – Hermich-Harst war zufrieden …

Bald würde ja auch Herr von Setten die Maske etwas lüften … –

Um halb acht gingen die beiden Studienräte in das große Gastzimmer hinab … zum Frühstück …

Jetzt sollten sie auch, zunächst nur von fern, die Bekanntschaft Frau Klara Wildings und der Malerin Flora Wenden machen …

Harst-Hermich erkannte in Frau Wilding jene Frau im dunkelroten Morgenrock wieder, die er bei Setten im Zimmer beobachtet hatte …

Die Malerin war bedeutend jünger – frisch und lebhaft … Aber auch sie saß allein an einem Tisch, genau wie die Wilding und Herr Mühlen …

Dieser kam später als Hermich und Schmidt, grüßte nur und setzte sich in die Nähe des warmen Ofens. Plötzlich erschien dann der Wirt und brachte Harst-Hermich einen Brief …

„Von Herrn von Setten, Herr Studienrat … Herr von Setten ist soeben zu Fuß nach Flinsberg hinab … Er reist ab …“

Hermich nickte nur …

Und als der Wirt verschwunden, sagte er zu Schraut:

„Ich wußte es ja, mein Alter … Der Fall Elsie Branden ist erledigt …“

Er schnitt den Briefumschlag auf …

Das Schreiben lautete:

Sehr verehrter Herr Harst,

bestimmte Umstände lassen mich davon Abstand nehmen, noch weiter nach Fräulein Branden zu forschen. Die Pflicht ruft mich auf mein Gut zurück. – Ich werde Ihnen von Settenhof aus einen Scheck als Honorar überweisen und bitte Sie, meinen Auftrag als erledigt ansehen zu wollen. Über die Gründe dieser meiner Entschließungen werde ich mich in keiner Weise äußern.

Hochachtend

Gisbert v. Setten.

Als Schraut diesen Brief nun gleichfalls gelesen hatte, schüttelte er völlig verblüfft den Kopf und meinte:

„Daraus mag der Teufel klug werden! Der Brief ist ja geradezu unhöflich und hochmütig …! Was ist denn in diesen Setten gefahren?!“

„Das frage Frau Wilding, mein Alter … Sie weiß es bestimmt … Sie weiß noch weit mehr … Sie weiß eben alles – alles …“

Schraut trank schnell zur Stärkung eine halbe Tasse Kaffee …

Dann schaute er zu der bleichen Frau hinüber …

Die las einen Roman, blickte niemals auf …

Die hatte ein Gesicht wie eine Totkranke … Matte Augen, blaue Ringe um die Augen … Die war krank – das sah jeder auf den ersten Blick …

„Armes Weib,“ flüsterte Harst …

„So?!“ – Und Schraut biß ärgerlich in das dicke Stück Napfkuchen …

„Ich kann unter dem Tische ihre Schuhe sehen … – Welch zierliche Füße … welche dünne Fesseln … Das ist Rasse, diese Wilding … Und alt kann sie auch kaum sein … Höchstens dreißig – falls sie überhaupt so alt ist … vielleicht viel jünger … vielleicht …“

„Und – sie soll etwa …“

Harst fiel ihm ins Wort …

„Keine vorschnellen Schlüsse … Wie gesagt: für Gisbert von Setten ist der Fall Branden abgetan – scheinbar! Nicht für uns. Setten hat den Brief an mich aus seiner verzweifelten, trostlosen Stimmung heraus geschrieben. Wie die meisten Menschen handelt er leider nach Augenblickseingebungen. Hätte er die Sache vierundzwanzig Stunden „beschlafen“, wie man sich im Volksmunde ausdrückt, dann würde er hiergeblieben sein …“

„Mithin hat er von der Wilding in der verflossenen Nacht irgend etwas über Elsie Branden erfahren …“

„Natürlich – nichts Gutes, eben etwas, das seine Liebe zu Elsie momentan ausschaltete … – Vorsicht … Mühlenstätt …!!“

Der lange Detektiv kam auf den Tisch der beiden Freunde zu …

Verbeugte sich, stellte sich Schraut vor …

„Gestatten – Mühlenstätt … – Die Herren erlauben, daß ich Platz nehme …“ Er sprach sehr leise … setzte sich zwischen die Herren Studienräte und lächelte schwach …

Sein hageres Gesicht wies recht sympathische Züge auf. Nur die Augen waren unruhig und scheu, und ein beständiges nervöses Flattern des linken Lides beeinträchtigte den Gesamteindruck gleichfalls in starkem Maße …

„Wir wollen die Masken fallen fassen, meine Herren,“ begann er nach kurzer Pause mit demselben Lächeln … „Ich habe Ihnen soeben meinen richtigen Namen genannt: Mühlenstätt … – Wer Sie beide sind, wußte ich schon gestern abend, obwohl mein Auftraggeber, Herr von Setten, nichts verraten hat …“

Er wandte sich an Harst …

„Auch ich, Herr Harst, habe von Gisbert von Setten vorhin einen Brief erhalten … Auch mir hat er mitgeteilt, daß er die Nachforschungen nach dem Verbleib Fräulein Brandens einstellen wolle …“

„Genau dasselbe schrieb er mir,“ nickte der große Harst … „Und genau wie wir haben Sie nicht die Absicht, den Fall unerledigt zu lassen, nicht wahr?“

„Ich denke nicht daran, Herr Harst. Bei mir sprechen noch insofern rein persönliche Interessen mit, als ich erst ein Jahr Privatdetektiv bin. Ich war vordem wie Sie Jurist, Herr Harst, – Assessor … Die Anstellungsaussichten waren für mich eben derart miserabel, daß ich mich nach einem Erwerb umsehen mußte. So wurde ich halb aus Not, halb aus Neigung Detektiv. Wenn mir jetzt die restlose Aufklärung dieser dunklen Angelegenheit glückt, ist das die beste Reklame für mich. Und die brauche ich, – ganz im Gegensatz zu Ihnen, Herr Harst … Ihnen fliegen die Aufträge zu … Ich muß mich darum bemühen …“

Er schwieg und nahm eine Zigarette aus des berühmten Kollegen goldenem Etui, das dieser ihm mit einem „Bitte!“ hinhielt …

„Verbindlichsten Dank … So darf ich denn auch einmal eine Ihrer Mirakulum genießen …“ – Und er rauchte mit Andacht, fügte zögernd hinzu:

„Ich bin Ihnen gegenüber nun ganz offen gewesen, Herr Harst …“

„Verstehe, – Sie wünschen, daß wir Ihnen den Fall allein überlassen … Was begreiflich ist … aus Geschäftsinteresse … – Werden Sie damit aber auch fertig werden, Herr Mühlen …? – Ich sage Mühlen, genau wie ich Sie bitte, uns fernerhin nur als Studienräte zu behandeln … Ihr Wunsch sei erfüllt, wenn Sie darauf bestehen … Schraut und ich werden uns hier ein paar Tage erholen und dann wieder abreisen.“

Mühlenstätt drückte des berühmten Kollegen Hand.

„Ich danke Ihnen …“ Er war gerührt … „Sie dürfen mir’s nicht verargen, daß ich so … so selbstsüchtig bin … Aber als Anfänger muß ich …“

„Kein Wort mehr …“ winkte Harst liebenswürdig ab … „Es bleibt dabei: Kollege Schmidt und ich werden Ihnen in keiner Weise mehr in den Kram pfuschen …“

Mühlenstätt blickte nach Frau Wildings Tisch hinüber …

„Ist Ihnen an der Dame nicht etwas aufgefallen, Herr Harst?“ fragte er wieder recht zaghaft …

„Allerdings[11], Herr Mühlen … Im übrigen heiße ich Hermich und bin Studienrat … Mir ist an der Dame zweierlei aufgefallen, wenn Sie es durchaus wissen wollen: die krankhafte Blässe und die winzigen Füße …“ Er lächelte fein … „Was Mutter Natur der Frau Wilding am geringen Fußmaß mitgegeben, hat dieselbe Mutter Natur bei Ihnen gründlich nachgeholt …“

Mühlenstätt lachte …

„Allerdings, Herr Studienrat, allerdings … Meine geehrten Pedalen sind reichlich groß geraten – selbst für meine Körperlänge …“

Schraut, der bisher nur den stillen Zuhörer gespielt hatte, wurde aufmerksam …

Er wußte ja: in der feinen grauen Staubschicht von Zigarettenasche vor der Tür von Nummer neun hatte sein Freund außer den winzigen Spuren von Damenstiefeln noch andere Abdrücke gefunden: die des Hausdieners und einer dritten Person …

Er lehnte sich nun auf seinem derben Baudenstuhl mehr zurück und musterte Herrn Mühlen mit kritischen Blicken …

Hm – eigentlich war Mühlenstätt ein hübscher Kerl … Konnte so gegen dreißig sein … Hatte gewinnende Umgangsformen …

Dann senkte er den Blick …

Und sah nun Mühlenstätts Stiefel …

Sah auch, daß Harst die Asche seiner Zigarette stets unter den Tisch abklopfte …

Tat fortan dasselbe … ganz unauffällig …

Harst hatte ja jene Spuren gemessen und abgezeichnet … Wenn Herr Mühlenstätt jetzt auf den Dielen unter dem Tisch eines seiner Riesenpedalen auf die verstreute Zigarettenasche stellte, konnte man nachher einmal … vergleichen …

Und Herr Max Schraut rief dem Kellner zu: „Bringen Sie mir noch eine Zigarre – schleunigst …!“

 

5. Kapitel.

Die dunklen Flecke auf dem Bilde …

Mühlenstätt hatte noch mehr auf dem Herzen … Er war schlau und behutsam … Nur nichts übereilen … Er wollte sicher gehen …

Nachdem das Thema Wilding durch Harsts scherzhafte Bemerkung abgetan war, fragte Mühlenstätt, während Schraut die neue Zigarre anbrannte:

„Glauben Sie wirklich, Herr Hermich daß es sich in der verflossenen Nacht um einen Dieb gehandelt hat, der hier in die Baude eindringen wollte?“

„Was sonst Herr Mühlen?!“

„Hm – war diese Antwort aus dem Hirn eines Studienrates heraus gegeben?“

„Was sonst, Herr Mühlen …?! Ich bin Studienrat …“

„Na ja – gewiß … Wenn ich Sie nun aber bäte, mir … als Harst zu antworten?!“

„Dann würde ich Sie daran erinnern, daß Sie uns beide baten, Ihnen nicht den Ruhm und die Reklame zu beeinträchtigen … – Sie sehen, ich bin genau so ehrlich wie Sie, Herr Mühlen …“

Und wieder streute er die Zigarettenasche unter den Tisch …

Mühlenstätt hatte die Stirn gerunzelt …

„Sie sind hartherzig …,“ meinte er … Es klang gereizt …

„Durchaus nicht – nur konsequent … Entweder so oder … Sie wünschen doch nicht, daß es den Eindruck macht, als wollten Sie sich mit fremden Federn schmücken, Herr Mühlen … Trotzdem: von einem Einbrecher kann natürlich keine Rede sein … Ein Einbrecher benutzt keine Laterne mit grünem Glase, keine so große Karbidlaterne … Ich behaupte, der Mann, der die Laterne auf dem Felsblock zurückließ, als er in wilder Flucht nach[12] dem Schuß auf die Hündin davonstürmte, gab Signale hier nach der Baude hin …“

„Wem?!“

„Ja – wem?! Wenn ich nicht Studienrat Hermich wäre, würde ich das festzustellen suchen, Herr Mühlen … Es muß Ihnen unschwer gelingen. Es wohnten in der vergangenen Nacht nur sechs Gäste hier. In Betracht kommen nur Gäste, deren Zimmer nach hinten heraus liegen … – Aber entschuldigen Sie … Schmidt und ich wollen jetzt zum Nachbarberge, zur Tafelfichte hinüber … Auf Wiedersehen, Herr Mühlen …“

Da – entglitt seiner Hand das Zigarettenetui, rutschte über Mühlens Knie auf die Dielen …

Der große Harst kniete schon, sammelte die Zigaretten auf und meinte:

„Entschuldigen Sie … Ich habe Sie durch mein Ungeschick erschreckt … Nun, es ist schon wieder alles in Ordnung …“

Lärmend und ausgelassen stürmte jetzt eine Schar Knaben in das Gastzimmer: Schulausflug – eine Klasse des Gymnasiums aus Görlitz …

Helle Stimmen brachten Leben in die bisherige Stille.

Die beiden Musiker fanden sich gleichfalls ein …

Mit einem Schlage war das Bild vollkommen verändert: die frohe Jugend hatte gleichsam den draußen strahlenden Sonnenschein in den weiten Raum mit hineingetragen …

Die Hauskapelle begann einen Marsch zu spielen. Derweil verließen die beiden Herrn Studienräte das Gastzimmer, holten ihre Lodenumhänge, Hüte und Stöcke und standen dann längere Zeit am Rande der Terrasse, genossen den Zauber der Berglandschaft und – – sahen Fräulein Flora Wenden mit Malkasten und Klappstaffelei auf steinigem schmalen Pfade in Richtung der Tafelfichte zwischen den geköpften Krüppelkiefern verschwinden …

Zwei Wagen mit Badegästen aus Flinsberg kamen den Sophienweg empor. Die Rosselenker gingen nebenher, denn das letzte Stück der Straße war steil und selbst für einen Zweispänner beschwerlich …

Weiter zurück wurden Fußgänger sichtbar. Der Sonnenschein lockte jetzt nach den Regentagen die Fremden in Menge auf den Berg mit dem so wenig poetischen Namen Heufuder …

„Gehen wir …“ meinte der Detektiv Harst … „Dort drüben wandert auch Frau Wilding in die Einsamkeit … Es wird ihr hier jetzt zu lebhaft … Es sollte mich wundern, wenn der Kollege Mühlenstätt nicht auch sehr bald erschiene … Vielleicht hat er Sorgen.“

Schraut, noch größerer Naturschwärmer als Harst, sagte etwas mißmutig:

„Nun sind wir mit einem Sprung wieder mitten in den beruflichen Dingen … Schade …!“

Und Harst darauf: „Tröste Dich, mein Alter … Der Fall Branden wird Dir noch genug Gelegenheit geben, den Heufuder-Berg zu allen Tageszeiten zu durchstreifen … Du wirst mehr frische Luft kneipen, als Dir lieb ist …“

Sie verfolgten nun zunächst den Fahrweg ein Stück über die Baude hinaus und kraxelten dann den steilen Pfad abwärts, der in gerader Linie die vielfachen Windungen des Sophienweges für trainierte Fußgänger abkürzt.

Hier zweigten bald nach rechts, bald nach links kaum sichtbare Steige, die sich durch Felsgeröll und Tannendickichte hindurchwanden, in stiller Verborgenheit ab, und hier schlug Harst dieselbe Richtung ein, die weiter oben die Malerin und Frau Wilding gewählt hatten. Er legte jetzt auch ein derartiges Tempo vor, daß der korpulente Schraut einige Mühe hatte, gleichen Schritt zu halten.

Nach einer Weile fragte Schraut, bereits ein wenig außer Atem:

„Ich denke, wir wollten zur Tafelfichte hinüber … Wenn Kollege Mühlenstätt uns beobachtet hat, wird er stutzig werden …“

„Kollege Mühlenstätt hat Sorgen, wie ich schon betonte …,“ erwiderte Harst ironisch. „Diese Sorgen trieben ihn zunächst zu dem Felsblock nach oben, wo ich nachts seine Bekanntschaft machte … Damit Du es weißt, mein Alter: der Hausdiener Friedrich ist unser Verbündeter geworden … Ein intelligenter Mensch, dem ich volles Vertrauen schenke … Er hat mir vorhin ein Zeichen gegeben … Mühlenstätt wird sich wundern!“

Und dieser letzte Satz war eine offenbare Drohung.

Schraut horchte auf …

„Hast Du nun das Maß seiner Stiefel?“ fragte er gespannt …

„Gewiß … Und schon ohne beide Maße, das vor unserer Tür und das unter dem Tische, genau zu vergleichen, behaupte ich: Mühlenstätt war der Attentäter von der verflossenen Nacht … Mühlenstätt hatte den Wortwechsel mit der Wilding vor unserer Tür … Mühlenstätt galten die farbigen Lichtsignale … Er eilte lediglich deshalb nach dem Felsblock, um den Menschen, der die Laterne handhabte, und dann die Hündin Senta niederschoß, vor uns zu warnen …“

„Also genau das, was ich mir zurechtgelegt hatte,“ erklärte Schraut hastig. „Genau dasselbe …! Mühlenstätt arbeitet hier nicht als Detektiv, sondern als Mitschuldiger an einem Verbrechen … Uns hat er vorhin zum Nichtstun verpflichtet, damit wir ihm nicht etwa hinter seine Schliche kämen …“

Harst lachte lautlos in sich hinein …

„Deine Phantasie geht mit dem kühlen Verstande durch …! Alles kann auch anders sein …“

„Wie – Mühlenstätt etwa harmlos?! Und der Gummischlauch, das Gas?! Und Frau Wildings Zettel – die Warnung?!“

„Oh – ich könnte aus alledem eine durchaus harmlose Deutung geben … Tatsache …!“

Sie hatten jetzt wieder, dem Pfade folgend, den Anstieg begonnen.

Harst schwieg mehrere Minuten, bis sie sich wieder in Höhe der Baude befanden, von der jedoch nur ein Teil des Daches sichtbar war …

Nun bogen sie in die von Stürmen zerzauste Region der Krüppelkiefern ein, waren bald auf dem eigentlichen Gipfel angelangt …

Und hier machten sie eine Weile Rast, gerade am Fuße einer Kiefer, die als einzige infolge besserer Daseinsbedingungen etwa Mannesdicke erreicht hatte und deren Stamm erst acht Meter über dem Boden fast wagerecht gekrümmt war.

Die beiden Freunde hatten sich auf bemooste Steine gesetzt, hatten ihre Lodenumhänge über die Steine gebreitet und saßen hier inmitten einer grünen, harzduftenden Wildnis, sicher vor jedem Lauscher, beschienen von der Sonne, die schräg über ihnen durch eine breite Öffnung der Äste hindurchlugte …

Schraut trocknete den Schweiß von der Stirn … sagte: „Ich wäre Dir dankbar, wenn Du nur Deine harmlose Deutung des Gasattentats verabfolgen wolltest … sehr dankbar …!“

„Dein Spott ist billig, lieber Alter … Nimm an, daß Mühlenstätt lediglich aus – na – aus Ruhmbegier uns abschrecken wollte, daß nicht unser Tod, sondern nur eine Betäubung und längere Schädigung der Gesundheit, die uns kampfunfähig machte, beabsichtigt war … Nimm weiter an, daß Frau Wilding eine Angestellte Mühlenstätts sei und daß der Mann mit der bunten Laterne gleichfalls ein Geheimagent sein könnte, dann – hast Du eine Erklärung, die fast genau so viel für sich hat, wie die andere, weniger harmlose.“

Schraut verzog das runde Gesicht …

„Lieber Harald, wenn Frau Wilding etwa am dreiundzwanzigsten ihr Zimmer Nr. 7 auf der Baude bezogen hätte, also vier Tage nach Elsie Branden, dann könnte diese Erklärung vielleicht stimmen … Da sie aber bereits am 17ten, also zwei Tage vor Elsie Branden, hier oben eintraf, ist diese Erklärung … Blech! Denn am 17ten war Elsie Branden noch in Berlin. Da ahnte noch niemand, daß sich hier auf dem Heufuder etwas so Rätselhaftes ereignen würde …“

„Bravo, Alterchen, bravo …!“ Und Harst nickte dem treuen Gefährten zu … „Siehst Du, nun habe ich Dich dort, wohin ich Dich auf Umwegen bringen wollte: zu der Überzeugung, daß Mühlenstätt die Branden in Flinsberg unten und daß die Wilding die Branden hier oben erwartet hat … – Friedrich sagte mir, Herr Mühlen habe seit dem siebzehnten in Flinsberg im Pensionat Glückauf gewohnt. Er langte also in Flinsberg an demselben Tage an, an dem Frau Klara Wilding hier auf der Baude als … Nervenkranke erschien. Und von Herrn von Setten wieder wissen wir, daß Mühlenstätt sich ihm dann persönlich als Detektiv angeboten hat … – Mithin sind wir jetzt so weit, daß wir zweifelsfrei wissen: Mühlenstätt, die Wilding und ein dritter, eben der Mann mit der bunten Laterne, arbeiten Hand in Hand, haben diese unsauberen Hände hier mit im Spiel … Einer der drei muß Elsie Branden irgendwie zu dieser schnellen und heimlichen Reise hier nach Flinsberg gezwungen haben … Und diese drei sind’s, die dann Fräulein Branden noch am Tage ihrer Ankunft verschwinden ließen. Diese drei haben alle Spuren eines Verbrechens, dessen Motive noch in Dunkel gehüllt sind, mittlerweile sorgfältig verwischt, haben gegen Herrn von Setten gearbeitet, während sie für ihn zu arbeiten schienen – wenigstens Mühlenstätt, den ich für den Hauptmacher des Ganzen halte. – Alles ging für die Verbündeten gut … Sie konnten die Förster und Landjäger ständig beobachten … Sie waren von allem unterrichtet, was Setten unternahm. Dann aber – – erschienen wir gestern abend … Da packte Mühlenstätt die blasse Angst … Da wollte er uns gründlich ausschalten … Es kam ihm dabei auf zwei Tote nicht an … Er wollte uns vergiften – fraglos … Aber die Wilding machte nicht mit … Warnte uns, verhinderte das Attentat … Auf andere Art wollte sie uns beide außer Gefecht setzen … Sie ging zu Setten ins blaue Bauernstübchen … Sie bewies ihm durch irgendwelche Papiere, daß Elsie Branden all die Aufregungen kaum wert sei … Und da schrieb Setten mir den kurzen Brief, drückte sich heimlich … Den Beschluß der Intrige machte Mühlenstätt mit seiner Bitte, ihm nicht in den … Kram zu pfuschen – aus „Geschäftsrücksichten“ … Ich denke, mein Alter, das alles gibt ein klares Bild … Es hat leider aber ein paar unklare Stellen, dieses Bild: Erstens – was hatte Elsie Branden einst begangen, daß andere über sie Macht besaßen …?! – Zweitens – was ist aus Elsie Branden geworden?! Ist sie tot, ermordet?! Wird sie irgendwo gefangengehalten?! Verbirgt sie sich freiwillig, ist sie etwa ins Ausland geflüchtet?! – Auch mit letzterem müssen wir rechnen, da Setten uns mitgeteilt hat, daß das Vermögen seiner Braut zum größten Teil in Zürich fest angelegt ist, und da Elsie Branden volljährig und dieses Vermögen selbst verwaltet hat … Sie kann also vielleicht längst in der Schweiz sein …“

„Das glaube ich nicht!“ rief Schraut leise … „Wenn Elsie Branden bereits im Auslande sein sollte, würde der Mann mit der bunten Laterne dem Herrn Kollegen Mühlenstätt keine Signale geben! Ich behaupte, Elsie Branden wird hier in der Nähe gefangengehalten … Das ganze ist eine Erpressergeschichte …“

Und Schraut blickte den Freund fragend an …

Der nickte versonnen …

„Ja – gefangengehalten …! Das will auch mir nicht aus dem Sinn … Und doch – ich habe so das Gefühl, mein Alter, als ob wir hier noch böse Überraschungen erleben werden, die all unsere schönen Theorien über den Haufen werfen könnten …“

„Was sollte das sein?!“

„Wenn ich’s wüßte! Meine Ahnungen trügen jedoch selten … – So – und nun will ich einmal hier diese Kiefer erklettern … Man muß von oben mit dem Glase einen weiten Rundblick haben … Vielleicht erspähe ich wenigstens die Malerin …“

„Wie – Fräulein Flora Wenden?! Die ist doch bereits seit dem zehnten hier in der Baude … Die kann doch kaum …“

„Nein, die kann mit der Sache selbst kaum etwas zu tun haben … Aber gerade sie, die so viel mit ihrem Malgerät unterwegs war, mag mancherlei beobachtet haben, was ihr selbst unwichtig erscheint, für uns jedoch von Wert sein könnte …“

Und der Detektiv Harst zog eine dünne Seidenschnur aus der Tasche, band an das eine Ende einen faustgroßen Stein und warf Schnur und Stein dann um den untersten Ast des Baumes. Der Stein wirbelte mit dem Schnurende einige Male um den Ast, so daß die dünne, aber feste Leine oben unverrückbar den armdicken Ast umspannte. Mit Hilfe der Schnur konnte Harst nun den glatten Stamm erklimmen. – Schraut wartete unten und beobachtete den Freund …

 

6. Kapitel.

Das weiße Häusel.

Flora Wenden hatte ihre Staffelei auf dem Ostabhang des Heufuder inmitten der weiten abgeholzten Fläche aufgebaut, arbeitete fleißig an dem bereits halb fertigen Bilde, das sowohl in Anlage als Ausführung die Hand einer Künstlerin verriet …

Die Malerin vertiefte gerade das Grün der bewaldeten Ostseite des Schwarzbachtales, als sie hinter sich Schritte vernahm.

Langsam wandte sie den Kopf …

Es waren die beiden neuen Gäste, die Studienräte … Der Baudenwirt hatte ihr bereits Namen und Beruf der Herren mitgeteilt.

Da diese auf sie zukamen, drehte sie sich vollends um und erwiderte die höflichen Grüße mit einem frischen zwanglosen „Guten Morgen, meine Herren … Sie haben Sonnenschein mitgebracht … Dafür bin ich Ihnen dankbar …“

Studienrat Hermich verbeugte sich nochmals … Dabei prüfte er jede Linie des Gesichts der jungen Malerin und meinte dann:

„Sie werden unser Inkognito wahren, gnädiges Fräulein … Mein Name ist Harst, Detektiv Harald Harst … Und hier mein Intimus Max Schraut …“

Fräulein Wenden machte ein unglaublich verblüfftes Gesicht …

Harst lächelte … „Ich sehe, diese Namen sind für Sie eine Überraschung, gnädiges Fräulein …“

„Allerdings … – Ich will Ihnen nicht schmeicheln, Herr Harst …Aber ich kenne Sie besser als Sie glauben … Man liest so viel über Sie und Herrn Schraut …“

„Ja – leider … Es hat auch seine Nachteile, so bekannt zu sein …“

„So?! Ich wünschte, ich wäre als Malerin so berühmt wie Sie als … ja – als Gentleman-Detektiv.“

„Und wenn Sie nun diesem Harst ein wenig helfen könnten, gnädiges Fräulein …? Würden Sie es tun? Würden Sie es tun?“

„Ich – – Ihnen helfen …?! Aber Herr Harst, wie sollte …“

„Bitte – sehr leicht könnten Sie das … Sie haben ja hier das Drama auf der Heufuder-Baude miterlebt … Sie waren viel im Freien … Sie haben fraglos manches gesehen …“

„Gewiß – sogar suchen helfen, Herr Harst … Ich bin gut zu Fuß … Zwei Tage bin ich mit den Förstern bis nach Böhmen hinein durch die Wälder gestreift … Die Tafelfichte liegt ja schon drüben jenseits der Grenze, und …“

„Verzeihen Sie … Mir ist wichtiger, was Sie so beim Malen hier draußen beobachtet haben … Zum Beispiel über heimliche Zusammenkünfte Herrn Mühlens und Frau Wildings …“

Flora Wenden schüttelte energisch den Kopf …

„Herr Harst, Frau Wilding lebt hier ganz für sich … Ich habe nie bemerkt, daß sie sich mit irgend jemand auch nur längere Zeit unterhalten hätte. Sie weicht allen Menschen aus – selbst mir … Und Zusammenkünfte mit Herrn Mühlen?! Nein – davon kann keine Rede sein … bestimmt nicht. Die beiden grüßen sich kaum …“

Der Detektiv Harst sagte da mit starker Betonung:

„Die beiden kennen sich sehr genau … Herr Mühlen ist auch nicht Rentner, gnädiges Fräulein, sondern …“

„… Arzt – ich weiß …!“ nickte die junge Malerin und ahnte nicht, was diese Äußerung bei den beiden Herren, die ihre Gesichter freilich tadellos in der Gewalt hatten, an ungläubigem Staunen auslöste …

„Ja – ich weiß es längst,“ fügte sie in leichtem Plauderton hinzu … „Ich bin Berlinerin, und der bekannte Kinderarzt Doktor Mühling wurde mir einmal von einer Freundin bei einem Wohltätigkeitsfest gezeigt. Als Malerin habe ich ein sehr gutes Personengedächtnis … Es ist Doktor Mühling, Herr Harst … Man … man munkelt hier auf der Baude, der angebliche Mühlen sei Detektiv und heiße Mühlenstätt … Das ist ebenso unrichtig[13], wie das andere, wie Rentner Mühlen …“

Harald Harst blieb eine geraume Weile stumm … Seine Blicke glitten über das ferne, tiefe Landschaftsbild hin …

Flora Wenden fragte kleinlaut:

„Glauben Sie mir nicht, Herr Harst?!“

Er nickte zerstreut …

„Weshalb nicht, gnädiges Fräulein …?! Also … ein Arzt …! Sehr – sehr merkwürdig …! Uns hat er sich als Detektiv Mühlenstätt zu erkennen gegeben … Also – – Arzt …!“

Er sprach immer leiser …

„Arzt …! Und – dann dieses Attentat …?! Wo ist da Anfang und Ende?! Wo ist da das … Richtige?!“

Und er schaute seinen Freund an …

„Ich rechnete ja mit Überraschungen, mein Alter … Sie sind schon da … Ein Arzt, der hier Herrn von Setten sich als Detektiv anbietet, der im Pensionat Glückauf als Rentner Mühlen abstieg und dann hier nach der Baude kam, der Frau Wilding so gut kennt …“

Er schüttelte leicht den Kopf …

„Ja – das kompliziert den Fall … Das eröffnet neue Gedankenwege …“

Und schwieg und sann vor sich hin …

Flora Wenden meinte zögernd:

„Da Sie sich also auch für Frau Wilding zu interessieren scheinen, Herr Harst …: die kranke Dame geht häufig dort hinab nach Schwarzbach … immer auf Umwegen …“

Harald Harst hörte kaum hin …

Murmelte wieder …:

„Arzt – – Arzt …!! Es muß eine Lösung geben … Alles Bisherige ist falsch … Ich tappe noch im Dunkeln …“

Und ebenso zerstreut verabschiedete er sich dann von der Malerin …

Schraut blieb zurück, flüsterte Fräulein Wenden zu:

„Verargen Sie ihm diese fast unliebenswürdige Art bitte nicht, gnädiges Fräulein … Wir glaubten der Aufklärung des Falles Branden ziemlich nahegekommen zu sein … Nun sind wir weiter denn je von dem Kern des Rätsels der Heufuder-Baude entfernt … Auf Wiedersehen …“

Flora Wenden reichte ihm die Hand …

„Von Übelnehmen kann hier keine Rede sein, Herr Schraut … Auf Wiedersehen …“

„Bitte …: Studienrat Schmidt …!“

Er lächelte und folgte dem Freunde, der bereits in einen schmalen Pfad eingebogen war, der in den Hochwald der Berglehne hineinführte …

Unter den ersten schlanken Kiefern blieb Harald Harst stehen …

Meinte achselzuckend: „Jetzt sind wir also glücklich wieder im Kreise herumgetappt und befinden uns dort, wo wir niemals wieder hätten hinkommen dürfen: am Anfang! – Ich zweifle nicht, daß die Malerin recht hat: Mühlen-Mühlenstätt ist Arzt!“

„Gewiß … Man … roch es, als er heute zwischen uns saß …“

„Man roch es sehr stark, und das hätte mir zu denken geben sollen … unbedingt! Aber – wer wäre wohl ausgerechnet auf …“

Dieser Satz blieb unvollendet …

Harst packte den Freund …

Da – waren linker Hand ein paar Steinblöcke, um die mächtige Kiefern ihre dicken Hauptwurzeln gekrallt hatten.

Hinter diese Steine zog er den überraschten Schraut.

„Ducken!“ flüsterte er … „Ducken …! Die Wilding naht – mit einem Bauernburschen …“

Jetzt hörten die beiden auch bereits Stimmen …

Aber diese Stimmen blieben fern … verschwommen.

Dann schritt die blasse Frau Wilding allein an dem Versteck vorüber und betrat die abgeholzte Strecke der Bergwand …

Harst richtete sich auf …

„Dem Bauernburschen nach …! Vorsicht …!“

Er eilte voran …

Neben dem Pfade her, wo das Polster der Kiefernadeln jeden Schritt dämpfte …

Weit unter ihnen zwischen den Stämmen war zuweilen eine gemächlich dahingleitende Gestalt sichtbar.

Dann kam ein Fahrweg …

Der Mann da vorn hatte es durchaus nicht eilig …

Eine halbe Stunde verging …

Dann öffnete der Forst sich … Das enge, etwas düstere Schwarzbachtal lag zu Füßen der beiden Freunde.

Abermals eine Viertelstunde drauf hatten sie festgestellt, daß der junge Bauernbursche in einem Häuschen an der östlichen Talwand verschwunden war …

Ein weiß gestrichenes, blitzsauberes Häusel … Ringsum Obstbäume … Ganz einsam gelegen – weit weg von dem kleinen Kurhaus des idyllischen Trinkbades.

Und wieder fünf Minuten drauf standen die beiden Herren Studienräte vor der Tür eines anderen Häusels und tranken jeder ein Glas Milch, unterhielten sich mit der alten Frau, die nur mühsam ein paar Worte Hochdeutsch zusammensuchte …

Harst meinte gemütlich:

„Reden Sie nur getrost Ihren Dialekt, Mutter … – Wem gehört wohl das weiße Häuschen dort drüben?“

„Nu – dem Schieberle Gustav …“

„Und er hat einen Sohn – noch jung …“

„Freili – den Schieberle Fritz …“

„Haben die Schieberles Badegäste bei sich wohnen?“

„Nä, Herr … Da hat’s kein Badegäst’ … Das Häusel ist zu klaan …“

Dann zahlte der Detektiv zwei Mark …

Die Alte war gerührt …

„Gott wird’s dena Herren lohnen,“ rief sie immer wieder …

„Also Gustav Schieberle …!“ meinte Harald Harst zu Max Schraut … „Jetzt gehen wir hier zu dem Landjäger … Der muß schweigen und Auskunft geben.“

Der Landjäger war nicht daheim. Aber seine junge Frau machte einen so netten, forschen Eindruck auf die Freunde, daß Harst sie ins Vertrauen zog …

Doch – wieder eine Enttäuschung …

Die Schieberles seien die bravsten anständigsten Leute in Schwarzbach … Es ginge ihren sehr gut … Die würden sich nie auf faule Dinge einlassen … Vier Personen – nein fünf, wohnten dort im weißen Häusel: die alten Schieberles, die verwitwete Tochter Lenchen mit ihrem dreijährigen Kinde und der Fritz Schieberle. –

Und nun wanderten Harst und Schraut wirklich zur Tafelfichte empor … Beide still … Nur selten eine Bemerkung austauschend … Was sollten sie auch sprechen …?! Über den Fall Branden?! Da gab’s vorläufig nichts zu sagen – gar nichts …

Vorläufig …!

Nur der Detektiv Harst hatte sehr bestimmt erklärt:

„Wir werden nachts wiederkommen!“ – Und das hatte dem Schieberle-Häusel gegolten …

 

7. Kapitel.

Die Krähe.

Als die Freunde nach etwa anderthalb Stunden oben auf dem Aussichtsturm der Tafelfichte standen und ins Böhmerland hinüberschauten, hatten dichte Wolkenschleier das Riesengebirge verhüllt. Nur die Aussicht nach der deutschen Seite hin war frei.

Überall aus den bewaldeten Tälern stiegen Rauchsäulen auf und zerflatterten langsam im Winde – Rauchsäulen von den Feuern der Holzfäller, die das Geäst der geschlagenen Stämme verbrannten …

Hin und wieder rollten[14] dröhnende Echos von Sprengschüssen durch die Berge: Felsblöcke wurden mit Dynamit für industrielle Zwecke hergerichtet!

Touristen kamen und gingen … Das schöne Wetter hatte die Badegäste von Flinsberg und Schwarzbach herbeigelockt … –

Die beiden Freunde betraten nun die primitive Bretterhütte, die hier auf der Tafelfichte die Baude ersetzte, und nahmen einen Imbiß ein …

Wandervögel aus einem nahen Städtchen hatten vor der Hütte sich niedergelassen … Frohe Lieder, flotte Zupfgeigenmärsche brachten Stimmung … Man hörte fast ausschließlich deutsch sprechen. Die wenigen tschechischen Gäste traten dennoch recht herausfordernd auf. Da waren ein paar Studenten aus Prag, die unter sich höhnische Bemerkungen über die „Boches“[15] austauschten … beeinflußt durch französischen Chauvinismus …

Bis von einem Tische ein deutscher blondbärtiger Riese sich erhob und zu den Radaubrüdern herantrat …

„Lumpenpack – französische Schmarotzer …!“

Seine Stimme drohte …

Und als einer der schwarzhaarigen Bürschchen ein Schimpfwort zu murmeln wagte, regnete es Ohrfeigen.

„Bravo … bravo …!!“

Ein ungeheurer Lärm …

Die Tschechen drückten sich …

Der Wirt grinste … Ihm lag an den Landsleuten nichts …

Batterien von Schnäpsen wurden aufgefahren …

Allgemeine Verbrüderung … Die Wandervögel spielten das Deutschlandlied … Alles sang mit …

„Lumpenpack!“ sagte Harst zu seinem Freunde. „Das stimmt: Lumpenpack …! Schlotternde Angst hat all dies Gesindel vor uns …! Und – all ihre Knebelungskünste werden ihnen doch nichts helfen …“ –

Gegen halb zwölf brachen sie auf … Zurück zum Heufuder ging’s – ein bequemer Weg – Sonne – frischer Luftzug …

Max Schraut schwärmte … Jede schlanke Tanne erfreute ihn.

Und als sie in den Sophienweg einbogen, als der abgeholzte Westabhang des Heufuder zu ihren Füßen lag, kraxelte gerade Flora Wenden langsam zur Fahrstraße empor …

„Hallo!“ rief Harst …

Und die Malerin winkte …

Die Freunde warteten.

„Ich habe wacker geschafft,“ meinte Fräulein Wenden heiter … „Da – schaun Sie – das Bild ist fertig … Aber bitte nicht kritisieren, Herr Studienrat Hermich … Ich weiß, daß ich nur gerade Durchschnittskunst liefere – wenn das überhaupt Kunst ist … Man muß halt leben … Ich male auf Bestellung …“

Ihre forsche Art paßte so gut in diese kernige, urwüchsige Umgebung hinein …

„Sie müßten eine tadellose Lebensgefährtin abgeben, Fräulein Wenden,“ meinte der Detektiv Harst ganz ernst …

Ihr liebes Gesichtel wurde da ebenso ernst … Und doch glomm in ihren Augen ein heimliches Leuchten auf …

„Das hoffe ich, Herr Studienrat,“ erwiderte sie ohne jede Prüderie. „Dort in Berlin wohnt jemand, der ebenso spart wie ich … Wenn’s dann zu einer bescheidenen Einrichtung langt, heiraten wir …“

„Oh – gratuliere Ihnen und noch mehr dem Glücklichen, der eine so gute Wahl getroffen, Fräulein Wenden … – Auch ein Künstler?“

„Nein – nein …! Ein sehr praktisch denkender Bankbeamter, Herr Studienrat … Als wir uns verlobten, reichte es nicht einmal zu ein Paar Ringen … Wenn ich nun nach einer Woche heimkehre, finde ich die Verlobungsringe jedoch vor …“

Zu dreien näherten sie sich der Baude …

Oben am Rande der Terrasse stand Herr Mühlen …

Grüßte – kam ihnen entgegen …

Schraut erzählte Fräulein Wenden gerade den Vorfall in der Schankhütte der Tafelfichte. Die Malerin lachte …

„Da hätte ich wohl dabei sein mögen …!“

Und gegenüber diesem harmlosen Lachen verlor sich der mißtrauische Ausdruck in Herrn Mühlens scharfen Augen …

„Wie war’s auf der Tafelfichte?“ fragte er Harst.

Nun erfuhr auch er von dem deutschen Siege über Tschechen-Frechheit …

„Bravo!“ rief auch er da … „Bravo …! Ich habe diese Böhmaken ja kennengelernt, als wir nach Fräulein Branden suchten … Die Bande versteht nur dann deutsch, wenn man ihnen deutsches Geld zeigt.“

Sein Argwohn, Harst und Schraut könnten die Malerin irgendwie ausgehorcht haben, schien vollkommen zerstreut. Er war munter und redselig …

Zu vieren saß man dann in dem großen Gastzimmer an einem Tisch und studierte die Speisekarte, aß gemeinsam …

Das Thema Elsie Branden wurde nur gelegentlich gestreift.

Drüben aber in der sogenannten Wolfecke des Gastzimmers, wo am braunen Holzpaneel das große Wappenschild angebracht war, hatte die blasse Frau Wilding Platz genommen – wie immer ganz allein …

Sie aß hastig … Ihre nervösen Bewegungen, das Zittern ihrer Hände, wenn sie Messer und Gabel bediente, die scheuen flüchtigen Blicke, die wie in steter Angst über die Nachbartische hinglitten, – alles das das zeigte, wie schwer leidend diese bleiche Frau war.

Und am Tische der vier anderen Baudengäste ging es desto lebhafter zu …

Max Schraut erzählte als Studienrat Schmidt scherzhafte Schulgeschichten … Man lachte viel. Elsie Branden schien vergessen zu sein …

Schien …

Der Detektiv Harst, der große Harst, war dauernd in seiner Art auf dem Posten … Nichts entging diesen grauen gleichgültigen Augen … Sein scharfer Verstand verarbeitete sofort das, was er beobachtete …

Zunächst: Herr Mühlen tauschte einmal einen raschen Blick mit Frau Klara Wilding, machte dazu eine unauffällige Handbewegung, die nach Harsts Ansicht nur bedeuten konnte: „Kein Anlaß zur Besorgnis …!“

Schließlich noch etwas: Herr Mühlen wurde zum Schluß der gemeinsamen Mahlzeit von Flinsberg aus telephonisch angerufen. Der Kellner bat ihn an den Apparat. Sehr hastig ging er da hinaus. Und als er zurückkehrte, schaute er wieder nach der sogenannten Wolfecke hin … machte wieder dieselbe Handbewegung.

Nach Tisch holte er seinen Liegestuhl und zog sich in die nahe Schonung zurück. Frau Wilding war auf ihr Zimmer gegangen … ebenso Flora Wenden.

Harst hatte den Hausdiener Friedrich im Stall gefunden – bei der verwundeten Senta … Die schleckte gerade eine Schale Milch aus.

„Stellen Sie fest, wer Herrn Mühlen angerufen hat,“ sagte Harst leise zu dem Hausdiener …

„Ich will’s versuchen, Herr Studienrat …“

Und in Friedrichs Westentasche verschwand ein Zehnmarkschein …

Dann legten sich Harst und Schraut oberhalb der Baude zwischen den Krüppelkiefern auf ihre Lodenumhänge … Moospolster als Kopfkissen …

Die Kiefern säuselten im Winde. Harzluft – Sonnenglanz …

Schraut gähnte … Harst lag, auf den linken Arm gestützt, und rauchte. Auf seiner Stirn waren drei scharfe Falten …

Dann sagte er unvermittelt:

„Er roch jetzt mittags stärker …“

„Stimmt …!“ Schraut schloß die Augen …

„Du solltest demgegenüber nicht so gleichgültig sein,“ meinte der Detektiv Harst mit ebenso gedämpfter Stimme … „Vielleicht hat Doktor Mühling hier eine Patientin in Behandlung … Vielleicht war er vormittags bei ihr und hat sich die Hände desinfiziert … Woher sonst der stärkere Arztgeruch?!“

Max Schraut wurde jäh munter …

„Du nimmst an, daß Elsie Branden vielleicht … verunglückt ist – sich verletzt hat …?!“

„Nein …!“

Harst sprach wie ein Träumender … „Nein, mein Alter … Das wäre möglich, wenn Doktor Mühling nach Elsie Branden hier in Flinsberg eingetroffen wäre … als Arzt, der insgeheim helfen sollte … Aber er war ja vor Elsie hier …“

Eine Krähe strich krächzend vorüber …

Es klang fast wie das laute Plärren eines Säuglings.

Und da war’s, daß der Detektiv Harst sich mit einem Ruck aufrechtsetzte …

Schraut blickte in des Freundes ebenso jäh verändertes Gesicht …

„Was … gibt’s …?!“ meinte er leise …

„Die … Lösung!“ erwiderte Harald Harst und holte tief Atem … „Die endgültige Lösung …! Jetzt kenne ich den Kern des Rätsels der Heufuder-Baude … Das Beiwerk ist gleichgültig … vorläufig für uns gleichgültig … Die Hauptsache: ich weiß!! Und – es stimmt! Es paßt jetzt alles ineinander …“

Die Falten von seiner Stirn waren verschwunden … In den grauen Augen leuchtete die Freude über die prompte Arbeit seiner nie rastenden Gedanken …

Schraut richtete sich ebenfalls auf …

„Und – dieser Kern des Rätsels sieht wie aus …?“ fragte er zaudernd, und war fest überzeugt, daß sein Freund wie stets … schweigen würde oder ausweichen …

„Man muß auf die Stimmen der Natur achten, mein Alter …,“ erwiderte Harald Harst und nahm eine neue Mirakulum aus dem goldenen Etui: „Die Stimmen der Natur sind oft vielsagender als die Stimme unseres Inneren … Man grübelt und grübelt … Und plötzlich … – aber Du hast es ja selbst gehört …“

„Was denn?!“

Harst lächelte …

„Am Feldrain saßen drei Krähen,
Krächzten und schielten nach Schlehen.“
„Kra – Kra,“ sprach die eine … „Mager die Kost!“
„Kra – Kra …,“ macht die andre, gleichfalls erbost …
„Die Menschen fressen und saufen … Wir Krähen
Hungrig und durstig nur abseits stehen …!“
„Kra – Kra …,“ macht die dritte, „Wir faulenzen auch,
Füllen durch Diebstahl den faulen Bauch …!“
„Da hackten die beiden die dritte zu Tode …
Die Wahrheit hören – wo wäre das Mode?!“

„Von dem Wiener Dichter Oskar Reiner, mein Alter …,“ fügte Harst hinzu …

„Na – – und?!“

„Noch nicht kapiert?! – Dann ist Dir nicht zu helfen …! – Gute Nacht …!“

Und er legte sich lang und drückte die glimmende Zigarette aus und … schlief ein …

Max Schraut dachte nach, gähnte, zuckte ärgerlich die Achseln und schlief gleichfalls ein … –

Unter den tiefhängenden Kiefernästen erschien nach einer Weile ein gebräuntes junges Gesicht …

Ein langer dünner Stock, an dessen Spitze etwas Weißes befestigt war, senkte sich langsam herab – schwebte dicht über Harald Harsts Nase …

Der Stock wurde zurückgezogen …

Der Kopf verschwand …

Aus einem Fläschchen floß klares Naß auf den Wattebausch des Stockes …

Der Stock senkte sich von neuem zu den Schläfern hin … –

 

8. Kapitel.

Die weiße Watte.

Vier Uhr nachmittags … Flora Wenden saß draußen auf dem loggiaähnlichen Einbau am letzten Tische dicht am Seitenfenster.

Um vier Uhr hatte man sich hier zum Nachmittagskaffee treffen wollen – man: die Herren Studienräte, die Malerin und Herr Mühlen.

Flora Wenden mußte jetzt den Tisch gegen Besucher aus Flinsberg zum zweiten Male verteidigen. Das war ihr unangenehm. Die Herren hätten getrost pünktlich sein können. Es war nun bereits zehn Minuten nach vier …

Da sah sie Herrn Mühlen den steilen Pfad emporkommen, der die Windungen des Fahrweges abkürzte.

Mühlen schleppte seinen Liegestuhl, eine Decke und ein aufblasbares Gummikissen …

Drei Minuten später begrüßte er die Malerin, setzte sich …

„Wo sind denn die beiden Jugendbildner?!“ meinte er und trocknete den Schweiß von der Stirn …

Er war auffallend erhitzt …

Flora Wenden erwiderte:

„Die Herren wollten doch in der Schonung drüben Mittagsruhe halten …!“

„Dann haben sie eben die Zeit verschlafen …“

Und Mühlen tupfte abermals den Schweiß von der Stirn …

Die junge Malerin beobachtete ihn seit diesem Vormittag mit gesteigertem[16] Mißtrauen … Alles beobachtete sie … Für einen Menschen, der angeblich stundenlang im Liegestuhl zugebracht hatte, machte Herr Rentner Mühlen denn doch einen zu erhitzten Eindruck. Es schien fast, als hätte er nicht geruht, sondern eine anstrengende Wanderung hinter sich …

Flora Wenden dachte: „Herr Doktor Mühling, hier stimmt etwas nicht …! Das, was nicht stimmt, werde ich schon herausbringen …“

Mühlen begann mit verdächtiger Ausführlichkeit von seinem erquickenden Mittagsschläfchen im Liegestuhl zu erzählen …

Er beging den Fehler aller Leute, die etwas zu verheimlichen wünschen und dabei nicht gewohnt sind, derartige Dinge geschickt zu bemänteln …

Flora Wenden lächelte ein wenig ironisch …

„Sie haben wohl in der prallen Sonne gelegen, Herr Mühlen …“

„Leider – leider … Ich habe nicht beachtet, daß die Sonne wandert … Als ich erwachte, war ich halb gebraten …“

Auch er lächelte, aber recht gezwungen …

Die Malerin ließ sein rotes Gesicht nicht aus den Augen …

„Es ist bereits zwanzig Minuten nach vier …,“ meinte sie … „Man müßte eigentlich den Hausdiener einmal in die Schonung schicken …“ Und sie stand auf … „Die beiden Herren wollten sich ja von mir die Iserkammhäuser zeigen lassen … Sonst wird es zu spät für die Fußpartie …“

Sie ging davon …

Friedrich war im Stall bei der kranken Hündin …

Die Malerin wußte, daß der Detektiv Harst den Hausdiener eingeweiht hatte …

„Friedrich,“ sagte sie leise, „Herr Harst hat auch mich ins Vertrauen gezogen … Ich bin ein wenig besorgt, weil die beiden Herren sich nicht zum Kaffee eingefunden haben … Sie könnten einmal nach oben in die Schonung gehen … Allzu weit von der Baude werden die Herren sich kaum entfernt haben …“

Der Hausdiener nickte …

„Ich würde gern gehen, Fräulein Wenden … Aber – ich war schon dort … Ich fand auch die Lodenumhänge … Die Herren selbst waren nirgends zu sehen … Und dabei habe ich doch Herrn Harst etwas Wichtiges mitzuteilen … Nun – vielleicht treffen Sie Herrn Harst eher als ich, Fräulein Wenden … Dann könnten Sie ihm bestellen, daß derjenige, der Herrn Mühlen mittags von Flinsberg aus telephonisch anrief, der Autoverleiher Kandel gewesen ist … Ich hab’s glücklich rausgebracht …“

„Soll geschehen, Friedrich … – Also die Umhänge liegen dort in der Schonung … Wo ungefähr?“

„Rechts von der einzelnen krummen hohen Kiefer, Fräulein Wenden …“

„Danke …“

Sie ging … Sie hatte es sehr eilig … Aber dem Tisch, an dem nun Herr Mühlen nicht mehr allein saß, sondern einer Familie aus Flinsberg wohl oder übel das Platznehmen hatte gestatten müssen, näherte sie sich wieder ganz gemächlich …

„Friedrich ist beschäftigt,“ sagte sie … „Ich werde die Langschläfer dann also selbst wecken gehen … Vielleicht begleiten Sie mich, Herr Mühlen … Mit dem Kaffee sind wir ja fertig …“

„Sehr gern …“ Er erhob sich sofort … Aber in den unruhigen Augen war ein Flimmern wie von heimlicher Sorge …

Aus dem großen Gastzimmer erklang Musik – Stampfen – Jodler …

Ein paar Tiroler, Mitglieder des in Flinsberg gastierenden Bauerntheaters, zeigten den Schuhplattler …

Die Malerin bog hinter der Baude absichtlich nach links ab, während sie doch genau wußte, daß sie rechts suchen müßte …

Mühlen benahm sich in den nächsten zehn Minuten wieder recht seltsam … Flora Wenden merkte deutlich, daß er sie von der krummen Kiefer weglocken wollte.

Aber sie verstand es doch, ganz unauffällig die Richtung nach jenem hohen Baume hin auf Umwegen stets von neuem einzuschlagen. Und mit einem Male erblickten sie beide gleichzeitig die am Boden liegenden Umhänge …

Mühlen spielte den Erstaunten …

Sein Spiel war übertrieben, genau wie vorhin …

Flora Wenden wußte nun: hier war irgend etwas geschehen – etwas, wovon Doktor Mühling Kenntnis hatte …

Vielleicht – – vielleicht waren Harst und Schraut genau so beseitigt worden wie Elsie Branden …! Denn für die junge Malerin stand es fest, daß Fräulein Branden ermordet war …

Es kostete sie jetzt nicht geringe Geistesgegenwart und Verstellungskunst, ihre wahren Gedanken besser als Mühling hinter einer sorglosen Miene und einem harmlosen Lachen zu verbergen …

„Oh die zerstreuten Herren …!“ meinte sie … „Da haben die beiden wahrhaftig ihre Pelerinen vergessen! – Ob wir sie mitnehmen, Herr Mühlen?“

„Es wird das beste sein …“

Er bückte sich schon …

Und da kam unter dem einen Umhang ein flaches Stück weiße Watte zum Vorschein, als er den einen Umhang aufhob …

Er … erbleichte …

Flora Wenden sah es …

Sah, wie er allzu rasch den einen Fuß auf die Watte stellte, um ihr den Anblick zu entziehen …

Abermals handelte sie klug … Schien nichts bemerkt zu haben …

Langsam schritten sie der Baude wieder zu …

Flora sagte: „Nun – dann werde ich diesen Nachmittag eben zur Arbeit benutzen … Mit den Herren Studienräten verabrede ich mich nicht nochmals … Etwas rücksichtslos!!“

„Allerdings …!“

Und fünf Minuten drauf wanderte die Malerin mit Staffelei, Malkasten und Klappstuhl zum Westabhang des Heufuder …

Kaum außer Sicht der Baude bog sie links ab, kletterte den Abhang empor, verbarg ihr Malgerät zwischen Steinblöcken und war sehr bald in der Nähe der Stelle, wo Harst und Schraut gelagert hatten …

Vorsichtig und leise schlich sie heran. Sie vermutete mit Recht, daß Mühlen schleunigst das Stück Watte holen würde, denn mit dieser Watte mußte es fraglos eine ganz besondere Bewandtnis haben.

Die letzte Strecke legte sie Schritt für Schritt zurück, horchte beständig, vermied das geringste Geräusch und spähte nun hinter einem Windbruch hervor – hinter einem jener Verhaue entwurzelter Bäume, wie sie hier oben auf dem Heufudergipfel nicht selten sind …

Das Stück Watte lag noch dort …

Wieder lauschte die Malerin …

Dann drei rasche Schritte …

Sie hatte das weiße dichte Gewebe in der Hand …

Nichts Besonderes war daran …

Etwas angeschmutzt …

Aber – da stutzte sie jäh …

Der Geruch …

Oh – sie kannte diesen Geruch … Das war Chloroform …!!

Und – – ließ ebenso jäh die Watte zu Boden fallen …

Keine Sekunde zu früh …

Mühlen tauchte auf …

Mühling, der bekannte Arzt, benahm sich hier wie ein Verbrecher …

Scheu seine Augen … Den Oberkörper vorgeneigt … Blaß, erregt …

Dann griff er nach der Watte, stopfte sie schnell in die Tasche, verschwand wieder …

Flora Wenden jagte das Herz …

Noch nie hatte sie Derartiges erlebt …

Noch nie …

Ihr Atem flog …

Chloroform …!! Harst und Schraut waren also wirklich beseitigt worden …! – Was tun?! Etwa einen der Landjäger in Flinsberg anrufen …?! Oder – – einen der Förster …?!

Ja – den Förster Siegert aus Flinsberg … Den kannte sie am besten … Der hatte mit ihr zusammen nach Elsie Branden gesucht … Und Siegert besaß einen Hund mit vorzüglicher Nase, einen Vorstehhund, tadellos dressiert …

Sie eilte davon …

Mit ihrem Malgerät betrat sie wieder die Baude, ging auf ihr Zimmer … Mühling war nirgends zu sehen – zum Glück …

Dann telephonierte sie …

Ein Stein fiel ihr vom Herzen … Der Förster war daheim …

„Herr Siegert, Sie müssen kommen – ganz heimlich … Wir treffen uns an dem Windbruch unweit der hohen krummen Kiefer oberhalb der Baude …“

Der Förster war soeben erst aus dem Walde heimgekehrt, hatte gefälltes Holz vermessen …

Aber Fräulein Wendens Alarmruf ließ ihn sogar auf das verspätete Mittagessen verzichten …

 

9. Kapitel.

Der Patient.

Dort, wo die Bobbahn von Flinsberg ihren Anfang hat, steht an der Berglehne auf breitem Wege eine Bretterhütte …

Sie ist ganz neu, erst im verflossenen Herbst erbaut.

Eine geräumige Hütte, aus deren Stein- und Erdumwallung ein Schornstein herausragt.

Jetzt im Sommer ist die Hütte fest verschlossen. Vor den Fenstern sind starke Läden angebracht. Es ist die Erfrischungs- und Wärmehalle für die Bobfahrer.

Gegen sieben Uhr abends, als es im hohen Forst bereits zu dämmern beginnt, steigen die Berglehne ein Hund, ein Förster und Flora Wenden eilends hinab …

Der Hund zerrt an der Leine, keucht vor Eifer …

Und – vor der Tür der Bobhütte macht er halt …

Kratzt an dem hellen, ungestrichenen Holz …

Winselt …

„Hier hat man sie eingesperrt,“ flüstert die Malerin.

Der schlanke Forstmann nimmt den Hund zurück und untersucht die Tür …

Dann schlägt er mit der Faust dagegen – lauscht.

Nichts regt sich drinnen …

Nochmals versucht er’s …

Rüttelt an der Tür …

Flora Wenden sagt dringend:

„Wir stoßen die Tür ein …!“

Der Förster gibt ihr den Hund zu halten, holt einen Stein … Anderthalb Zentner mag der wiegen …

Der Stein donnert gegen das Schloß …

Die Bretter splittern …

Der Hund heult …

Die Tür ist offen …

Flora hält ihre Taschenlampe bereit …

Und drinnen liegen, jeder auf eine Holzbank gebunden und einen Knebel im Munde, die beiden Freunde.

Sind bei Bewußtsein …

Harst taumelt ins Freie … Das Chloroform hat noch Macht über ihn … Der Förster stützt den korpulenten Schraut …

Nun stehen die vier und der Hund vor der Hütte.

Der Detektiv Harst atmet tief die feuchtwarme würzige Waldluft ein … Flora erzählt … Auch von Friedrich, dem Hausdiener … Daß der Autoverleiher Kandel den Herrn Rentner Mühlen angerufen hat …

Harst bedankt sich bei der Malerin, drückt ihr und dem Förster warm die Hand, streichelt den Hund …

Sagt zu Siegert: „Sie müssen unbedingt über diese Dinge vorläufig schweigen – unbedingt … – Und Sie ebenfalls, Fräulein Wenden … Morgen früh vielleicht schon ist das Rätsel der Heufuder-Baude kein Rätsel mehr … Schraut und ich haben in dieser Nacht in Schwarzbach drüben zu tun … Vielleicht kommen wir zu spät … – Entschuldigen Sie uns … Wir müssen sofort aufbrechen …“

Nochmals herzliche Dankesworte … Dann schreiten Harst und Schraut von dannen …

Und vor der Hütte stehen die Malerin und der Förster … Beide arg enttäuscht … Schauen den beiden nach, die dort nebeneinander hergehen und das große Geheimnis mit sich tragen …

Förster Siegert meint: „Ja, gnädiges Fräulein, – das war nun also Harald Harst … Man macht sich doch immer ganz andere Vorstellungen von solch einem Herrn … Der war schließlich nicht anders als es sonst jeder liebenswürdige Herr ist … Nur … Nur …“

Und er suchte nach einem passenden Ausdruck …

„… nur – man merkt doch gleich, daß mehr dahinter steckt …“

„Ja – eine Persönlichkeit!“ nickte Flora Wenden gedankenvoll …

Der Förster brachte die Tür wieder in Ordnung, stemmte ein paar Äste dagegen und verabschiedete sich von der Malerin …

Flora Wenden langte erst gegen halb neun auf der Baude an … In der großen Gaststube befanden sich nur Fremde. Weder Mühlen noch Frau Wilding waren anwesend. Als die Malerin den einen Kellner fragte, ob die beiden bereits auf ihren Zimmern seien, erwiderte der achselzuckend:

„Kann es nicht sagen … Sie aßen schon um sieben … Frau Wilding wieder in ihrer Ecke … – Die Herren Studienräte sind auch nicht da …“

„Ich traf die Herren,“ meinte Flora gleichmütig und schaute in die Speisekarte … „Sie wollten nach Schwarzbach … Wahrscheinlich kehren sie erst spät abends heim …“ –

Indessen hatten Harst und Schraut ihren Weg in demselben flotten Tempo fortgesetzt …

Schraut konnte kaum mithalten. Aber Harst erklärte, man habe noch einen sehr weiten Weg vor sich …

„Reiße Dich zusammen, mein Alter … Morgen kannst Du dafür auch ausschlafen …“

Der dicke Schraut kämpfte mit aller Macht gegen die unangenehmen Nachwehen des Chloroformrausches an … Übelkeit würgte ihm in der Kehle … Die Beine zitterten, versagten zuweilen …

Zum Glück gab es keine größeren Steigungen. Der Waldweg nach Schwarzbach, in den sie sehr bald einbogen, führt oberhalb des Berghotels Waldessaum vorüber und bietet später ein paar prächtige Ausblicke in die ferne grüne Ebene mit den dunklen Tupfen der Waldinseln …

Schraut quälte ein furchtbarer Durst … Er wußte jedoch: nur ein Schluck Wasser, und der Magen würde sich umkrempeln …

Er stöhnte zuweilen … Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn … Er hatte für nichts Interesse … Wie ein halb Trunkener schritt er hinter Harst drein, stolperte oft … –

Als die beiden Freunde dann den Südwinkel des Tales erreicht und hier die Brücke über den Schwarzbach passiert hatten, bog Harst in einen engen Pfad ein, der durch den Hochwald zur Ostwand des Tales führte. Er hatte eine Wegekarte in der Hand, und seine Absicht war, oberhalb des weißen Häusels der Schieberles in den Wald zu gelangen.

Das Abendrot lag mit mildem Glanz auf den Westabhängen … Im Hochwalde feierliche Stille …

Schraut stöhnte wieder …

Harst blieb stehen …

„Armer Kerl …! Auch mir ist wahrhaftig nicht wohl zu Mute … Aber ich habe weniger Fett auf dem Leibe als Du … – Ruhen wir ein wenig aus … Und – herunter mit den falschen Bärten und den Perücken … Unsere wahren Gesichter sind uns jetzt weniger gefährlich als die Studienrat-Masken … Da – setz Dich, Alterchen … Hier habe ich noch in paar Pfefferminztabletten in der Tasche gefunden … Bitte …“

Max Schraut kaute – schluckte … Er sah zum Erbarmen aus …

Harst stand vor ihm … „Man hat uns die Taschen nicht ausgeleert … Da ist meine Clement, meine Taschenlampe …“

Er ließ den Patronenrahmen herausschnellen … Prüfte auch jede einzelne Patrone … War alles in Ordnung …

Ein Schwarm Krähen strich durch die Baumwipfel zu Horste …

Das Krächzen der Vögel verhallte schnell …

Aber er hatte doch in Schrauts müdem Hirn eine Erinnerung geweckt …

Vielleicht hatten ihn auch die Pfefferminztabletten ein wenig erfrischt …

Er hob den Kopf …

„Was – was war’s doch mit den Krähen, Harald?“ fragte er mit merklicher Spannung …

„Gott sei Dank … Der Geist ruckt den schlaffen Körper zurecht … – Was es mit den Krähen war, mein Alter?! Besinne Dich nur … Ich deklamierte Dir ein kleines Gedichtchen vor … Dann schliefen wir ein … Dann hat Herr Doktor Mühling uns betäubt und in die Bobhütte schaffen lassen … Wahrscheinlich durch den jungen Schieberle auf einem Handwagen unter Reisig verborgen …“

Schrauts Augen bekamen Leben …

„Du – Du hast doch erklärt, daß Du jetzt wüßtest, was mit Elsie Branden geschehen ist …,“ meinte er grübelnd. „Ja – Du erklärtest es bestimmt … Also wie verhält sich das alles?“

„Mit Elsie Branden ist eigentlich gar nichts geschehen …,“ sagte der Detektiv Harst … „Wenigstens jetzt nicht … Sie ist wohlauf und frei … Das heißt: so weit ein junges Weib wohlauf sein kann, das qualvolle Tage und Nächte heißer Angst hinter sich hat … Und frei ist sie auch nur insofern, als sie sich freiwillig verborgen hält …“

Schrauts Hirn funktioniert wieder …

„Also im Schieberle-Häusel ist sie …“

„Ja, mein Alter …“

„Und weshalb hält sie sich verborgen?“

„Weil sie dort einen Kranken pflegt, den sie offenbar über alles liebt …“

„Ah – und Doktor Mühling …“

„… behandelt diesen Kranken … wurde als Arzt von Elsie Branden hierhergerufen …“

Schraut schüttelte den Kopf … „Das wäre allerdings eine Erklärung, die vieles verständlich macht … Nur – wer ist der Kranke?! Etwa ein … ein Liebhaber Elsie Brandens?!“

„Nein … Du wirst den Patienten sehen … Man will ihn und Elsie in dieser Nacht wegschaffen … Aus Angst vor uns … Damit wir nicht dazwischentreten können, hat man zu dem Gewaltmittel gegriffen … Im Auto wollen sie nun davon … Der Patient ist also schon transportfähig …“

Schraut murmelte: „Da ist noch immer vieles sehr dunkel …“

„Oh nein … Es ist jetzt alles klar … Trotzdem wird die Öffentlichkeit nie die Wahrheit erfahren … Und damit Elsie Branden geschont wird, damit der Kern des Rätsels der Heufuder-Baude den Klatschmäulern keinerlei Stoff zu schändlichen Reden liefert, – deshalb müssen wir nun wieder weiter, mein Alter … – Stopfe Perücke und Bart nur in die Tasche … Kaue noch eine Tablette … Wir haben noch eine halbe Stunde zu wandern …“

Max Schraut erhob sich …

„Gehen wir … Mir ist jetzt besser … Nur eins beantworte mir noch: wie brachte Dich gerade eine Krähe auf die Lösung des Ganzen?“

„Wenn ich Dir das erklären würde, hätte das Schieberle-Häusel weit weniger Interesse für Dich als jetzt … Im geeigneten Moment wirst Du alles von selbst begreifen …“

Sie gingen …

Dämmerung ruhte bereits zwischen den schlanken Stämmen …

Sie umrundeten das Tal … Bis vierzig Meter unter ihnen das Schieberle-Häusel leuchtete …

Am Waldessaum standen sie … hinter dicken Stämmen …

Bald mußte das Schwarzbachtal in Dunkelheit gehüllt sein …

Von fernher trug der Wind ihnen da das Geräusch eines fahrenden Autos zu …

Dieses Auto raste drüben von Flinsberg her auf dem breiten Wege, der einen großen Bogen nach Norden macht …

Das Rattern schwoll an – wurde schwächer – schwoll an, je nachdem der Schall in den Tälern weitergeleitet wurde …

„Das bestellte Auto …,“ sagte der Detektiv Harst.

 

10. Kapitel.

Elsie Brandens heimliches Glück.

Vom Schieberle-Häusel zog sich durch den Streifen Wiesenland und durch den Kartoffelacker ein Weg bis zum Walde hin und setzte sich hier als eine jener steinigen Rinnen fort, die nur nach starken Regengüssen zu rauschenden Bächlein werden …

Die Schatten der Nacht lagerten immer dichter über dem Schwarzbachtale … Im Schieberle-Häusel wurden Fenster hell … Aber weiße Gardinen waren vorgezogen, und ein Schatten hinter den Vorhängen schien diese recht sorgfältig zu schließen …

Dann wurde offenbar die Haustür geöffnet … eine breite Lichtbahn fiel in die Dämmerung hinaus … In diesem Lichtschein zeichnete sich scharf eine schlanke Frauengestalt ab … Ein Mann trat zu ihr …

Harst und Schraut erkannten Doktor Mühling …

Dann wurde die Tür geschlossen …

Wie zwei Schatten kamen nun der Doktor und seine Begleiterin langsam den Pfad aufwärts …

Am Waldessaum machten sie halt … Keine fünf Schritt von den Lauschern entfernt …

Schauten eine Weile schweigend in das Tal hinab, wo die erleuchteten Fenster wie Glühwürmchen schillerten …

Das Rattern des Motors war längst verstummt. Es wartete unten auf dem Hauptwege des Tales unter uralten Linden …

Andere Geräusche waren aufgelebt … Heitere Musik … Vor dem kleinen Kurhaus konzertierte eine herumziehende Kapelle … halb Jazzband, halb Zigeunermusik … Helle Geigentöne zitterten durch die Stille der nahenden Nacht … Ein einschmeichelnder Walzer.

Der Detektiv Harst war zwei Bäume weiter gehuscht.

Wollte sich melden …

Da begann die schlanke aschblonde Elsie Branden zu sprechen …

„Was Sie für mich und mein Kind getan haben, Herr Doktor, werde ich Ihnen nie danken können …“

Auch Schraut verstand jedes Wort …

Jedes …

Mein Kind! hatte die Blonde gesagt … – Und da begriff auch Max Schraut das letzte, was ihm noch unklar gewesen …

Elsie Branden sprach weiter …

„Sie haben in diesen endlosen Tagen nervenzerreibender Angst mir so getreulich …“

Mühling unterbrach sie …

„Sie vergessen, Fräulein Elsie, daß Ernst Wilding mein bester Freund war … Ein Freund, der diesen Ehrentitel in Wahrheit verdiente … Sollte ich da etwa die Mutter seines Kindes im Stiche lassen …?! – Ich habe gern für Sie gekämpft, für Ihr Geheimnis, für Ihr heimliches Glück, denn das ist Ihnen doch der Junge – mehr als das … – der Inhalt Ihres Lebens …“

„Ja …!“ sagte Elsie Branden schlicht. „Und deshalb habe ich die Stunde nie bereut, in der mich mein heißes Blut in Wildings Arme trieb … Alles habe ich des Kindes wegen auf mich genommen, habe selbst den Schmerz über Wildings jähen Tod überwunden, der es verhinderte, daß wir durch rasche Heirat meinen sogenannten Fehltritt vor der Welt verbargen …“

„Und diese elende Welt mit ihrer pharisäerischen Moral wird nun auch weiter nichts von alledem ahnen,“ meinte Doktor Mühling herzlich. „Der eine, der außer uns Eingeweihten die Wahrheit kennt, ist ein Ehrenmann, wenn er auch jetzt bewiesen hat, daß er genau so engherzig denkt wie die meisten Menschen …“

Elsie Branden machte eine abwehrende Handbewegung … „Kein Wort mehr von Gisbert von Setten, Herr Doktor … Ich habe mich in ihm geirrt, er hat mich bitter enttäuscht … Wer ein Mädchen in dieser Weise aufgibt, wie er es mit mir getan, hat doch nur … dem goldnen Vöglein nachgejagt … Setten wird schweigen … Aber – eine andere Angst werde ich nicht los, Herr Doktor … Wenn Harald Harst unseren Geheimnissen weiter hartnäckig nachspürt, wird er vielleicht doch schließlich auf … Doktor Mühling stoßen … Und dann – – ob er dann verzeihen wird, daß man ihm und seinem Freunde so übel mitgespielt hat?!“

„Er würde verzeihen … würde, Fräulein Elsie … Aber – wie sollte er mir auf die Spur kommen? Wir verschwinden heute … Wir werden jede Fährte hinter uns verwischen. Dafür lassen Sie nur mich sorgen …“

„Wie Sie schon für alles gesorgt haben …!“ Und Elsie Branden streckte ihm beide Hände hin … „Herr Doktor, in meiner grenzenlosen Angst um meines Jungen Leben waren Sie mein einziger Trost … Sie haben diesen furchtbaren Würgeengel, diese heimtückische Diphtherie, die von Klara glücklicherweise noch rechtzeitig erkannt wurde, nun endgültig verscheucht … Ich werde ewig in Ihrer Schuld bleiben …!“

Doktor Mühling gab ihre Hände nicht frei …

Seine Stimme vibrierte leicht, als er erwiderte:

„Ewig in meiner Schuld …! – Und wenn ich Sie nun bäte, Elsie, die meine zu werden …? Wenn ich Ihnen nun zu sagen wage, daß ich sie in diesen bösen Tagen innig lieben lernte …?“

Sie schwieg …

Dann – ganz leise:

„Und – – mein Kind?!“

„Wird unser Junge sein, Elsie … Wir nehmen ihn zu uns … für immer … Als mein Kind mag er gelten … Die Welt wird sich damit abfinden, und kein Schatten fällt auf Sie, keinerlei Argwohn wird mit tückischen Reden Ihre Reinheit antasten … Für mich sind Sie rein, Elsie … Ich stehe weit über dem papiernen Ehrenkodex der Moral …“

Elsie Branden hob den Kopf …

Tapfer wie stets sagte sie leise:

„Ich habe Dich lieb … Nicht aus Dankbarkeit …“

Sie schmiegte sich an ihn …

Walzerklänge wehten herüber …

Eine Stimme nun – eine Gestalt, hinter der nächsten Kiefer hervortretend:

„Bitte – erschrecken Sie nicht … Harald Harst pflegt Bedrängte zu schützen … Hätten Sie sich mir sofort anvertraut, Herr Doktor, dann würden wir uns gegenseitig manches erspart haben …. – Meines Schweigens sind Sie sicher … Im übrigen: meinen herzlichen Glückwunsch – auch Ihnen, gnädiges Fräulein … – Und hier mein alter Freund Schraut möchte Ihnen gleichfalls gratulieren … – Das Auto schicken Sie nur fort … Erholen Sie sich hier in dieser idyllischen Bergwelt, gnädiges Fräulein … Und wenn es Ihnen recht ist, werden wir der Öffentlichkeit mitteilen, daß Sie hier bei den Schieberles mit einer bösen Fußverletzung daniederlagen und daß die Schieberles auf Ihren ausdrücklichen Wunsch Ihre Anwesenheit verheimlichen mußten … Ich werde das alles schon einrenken, und Sie, Herr Doktor, brauchen kein so arg bekniffenes Gesicht zu machen, weil Sie Schraut und mich etwas hart angepackt haben … Wer wie Sie um Elsie Brandens heimliches Glück gekämpft hat, findet bei mir volles Verständnis …“ –

Und zehn Minuten später waren Frau Klara Wilding, Doktor Mühling und die beiden Herrn Studienräte gemeinsam auf dem Rückmarsch zur Heufuder-Baude, bewaffnet mit zwei Laternen … in bester Stimmung.

Frau Wilding, die verwitwete Schwägerin Ernst Wildings, ging mit Schraut hinter Harst und Mühling drein … Schraut schwärmte von dem blonden Jungen, den er in seinem Bettchen hatte begrüßen dürfen und der hier in Schwarzbach allgemein für das Kind der Schieberle-Tochter galt …

Als man nach mühsamem Anstieg den Sophienweg erreicht hatte und nun nebeneinander weiterschritt, fragte Schraut plötzlich:

„Harald, – und wie war nun eigentlich die Geschichte[17] mit der Krähe?“

Der Detektiv Harst erwiderte lächelnd:

„Die Krähe strich über uns hinweg … Ihr Krächzen klang wie das Plärren eines Säuglings … Da kam mir die Erleuchtung: der Kinderarzt Doktor Mühling behandelt hier insgeheim ein Kind …! – So wurde das Rätsel der Heufuder-Baude gelöst … Man muß eben auch auf die Stimmen der Natur achten, mein Alter …!“

Die Baude wurde sichtbar …

Die erleuchteten Fenster blitzten freundlich durch die Juninacht …

Schraut sagte: „Hoffentlich bekommen wir noch etwas Eßbares … Ich habe einen Mordshunger …!“

„Wie immer, mein Alter …!“ lachte Harst …

Und selbst Frau Wilding lachte mit …

 

Nächster Band:

Das Haus auf Abbruch.

 

 

Anmerkungen:

  1. Auf der Titelseite und in der Hauptüberschrift heißt es „Heufuderbaude“. Dagegen wird in der Geschichte durchgängig „Heufuder-Baude“ verwendet. Schreibweise jeweils so belassen.
  2. Erwähnt sei hier, daß Kabel denselben Spielort bereits in Heft 24: Der Zauberblick verwendete. Örtlichkeiten wie Flinsberg oder Schwarzbach, zwei damals gut besuchte Badeorte, sind ebenso real wie die (heute noch existierende) Heufuder-Baude selbst. Sie liegen in der Region des Isergebirges, einer Berglandschaft zwischen der Lausitzer Neiße im Westen und dem Riesengebirge im Osten, also in Niederschlesien und waren damit bis 1945 Teil des deutschen Reiches. Heute gehört das Gebiet zu Polen.
  3. „Heufuder-Berg(e)“ / „Heufuderberg“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Heufuder-Berg(e)“ geändert.
  4. Doppeltes Wort „und“ entfernt.
  5. In der Vorlage steht: „Bräutigams“.
  6. In der Vorlage steht: „Schraut“.
  7. In der Vorlage steht: „fernen“.
  8. Deutsche Version des amerikanischen Schlagers „Linger Awhile“ (1923, von Vincent Rose und Harry Owens), mit dem deutschen Text von Fritz Löhner-Beda (1924).
  9. Amerika setzte ab dieser Zeit (im Gegensatz zu Deutschland) auch Cyanwasserstoff (Blausäure) seinen chemischen Waffen zu.
  10. In der Vorlage steht: „handbreiter“.
  11. In der Vorlage steht: „Alllerdings“.
  12. In der Vorlage steht: „dach“.
  13. In der Vorlage steht: „unwichtig“.
  14. In der Vorlage steht: „rotten“.
  15. „Boches“ war (und ist bis heute) seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine diffamierende Bezeichnung für Deutsche. Ihre Bedeutung ist wegen ungeklärter Etymologie umstritten; die wahrscheinlichste Erklärung lautet: „deutsche Dickschädel“. – Interessant ist an dieser Stelle auch, daß Kabel diesen Begriff später auch als Namen für einen seiner Protagonisten in Abenteuer abseits vom Alltagswege – „Das tote Hirn“ verwendet: „… da meine Entlassungspapiere aus der Gefangenschaft genau so lauteten: Boche Boche …“.
  16. In der Vorlage steht: „gesteigertenm“.
  17. In der Vorlage steht: „GeGeschichte“.