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Der tote Kanarienvogel

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 96:

 

Der tote Kanarienvogel

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

„Dort hängt schon einer der Steckbriefe,“ sagte Harald Harst am Morgen des 11. Mai früh sieben Uhr zu mir, als wir uns auf dem Wege zur Alfströmschen Villa befanden, wo uns in der vergangenen Nacht Doktor Berthold Finster entwischt war. „Die Polizei arbeitet fabelhaft schnell. Sehen wir uns den Steckbrief mal an.“

Das rotumrandete Plakat war an der Litfaßsäule von sehr harmlosen Reklamezetteln eingerahmt, hing zwischen Anpreisungen von Gardinen, Eßbestecken, Hosenträgern und „staunend billigen Anzügen“.

In den beiden Ecken befanden sich Bilder Berthold Finsters, eins mit, eins ohne Bart. Das intelligente Gesicht des Verbrechers mit dem höhnisch-überlegenen Ausdruck um den Mund war uns beiden nur zu gut bekannt.

Dann der gedruckte Teil:

Gegen den unten beschriebenen früheren Rechtsanwalt und Notar, Doktor der Rechte, Justizrat Berthold August Oskar Finster, geb. zu Naugard am 2. Juni 1870, der flüchtig ist und sich verborgen hält, wird wegen Mordversuchs, Kindesentführung, Freiheitsberaubung – und so weiter.

Alter: 52 Jahre. Statur: mittelgroß, etwas gebückte Haltung, hager. Gesicht: länglich, bartlos. Augen: dunkel, etwas zugekniffen. Nase: schmal, gut geformt. Haar: grau meliert, dünner Scheitel. Besondere Kennzeichen: unangenehme heisere Stimme, höhnischer Zug im Gesicht.

Finster dürfte eine Verkleidung angelegt haben und weit jünger aussehen.

Auf seine Ergreifung wird eine Belohnung von 50 000 Mark ausgesetzt, – und so weiter.

Besonders zu beachten: Finster hat eine noch frische Schußwunde an der rechten Hand, wird also die Hand verbunden tragen.

„Eigentlich müßte man ihn hiernach doch finden,“ meinte Harald sinnend. „Dieses Gesicht prägt sich doch sofort ein. Man hätte außer der Schußwunde noch auf Finsters etwas große längliche Ohren hinweisen sollen.“

Wir gingen weiter. „Die erste meiner Kugeln gestern abend traf nicht. Die zweite durchschlug den Handrücken und muß auch einen Finger gestreift haben,“ sagte Harald, indem er sein Zigarettenetui hervorholte. „Auf diesen zweiten Schuß flog auch Finster das Taschenmesser aus der Hand, und Frau Inge Alfström war gerettet.“ (Vergl. Band 95 „Frau Inges Tränen“.) –

Dieser wirklich köstliche Maimorgen war so recht für einen längeren Spaziergang geschaffen. Um acht Uhr hatten wir uns mit Kommissar Bechert vor der Alfströmschen Villa in Südende-Berlin verabredet. Wir drei wollten in aller Ruhe jetzt am hellen Tage feststellen, wie Berthold Finster es möglich gemacht hatte, Becherts Beamten zu entschlüpfen, die doch die Villa eng umstellt gehabt hatten und denen von Finsters Bande auch fünf als Sicherheitsposten aufgestellte Leute in die Hände gefallen waren.

Wir kamen jetzt über ein Stück unbebautes Gelände in der Nähe des Bahnhofs Steglitz hinweg. Harald hielt die Zigarette noch unangezündet zwischen den Fingern.

Und meinte plötzlich: „Nun wird sich ja zeigen, ob der Mann hinter uns wirklich Berthold Finster ist.“

Das traf mich wie eine eisige Dusche. Die Maimorgenstimmung war wie weggewischt.

„Finster?“ entfuhr es mir.

„Vielleicht, mein Alter. Es ist da jemand von der Blücherstraße, von unserem Hause an hinter uns. Dort vor uns mündet dieser Weg in einen Häuserblock. Dort hinter der Biegung werden wir in eine Haustür schlüpfen.“

„Hat der Mann denn eine verbundene rechte Hand.“

„Er hat gar keine. Der rechte Arm scheint ihm zu fehlen. In der rechten Tasche der graugrünen Jägerjoppe steckt das Ende des leeren Ärmels. Aber Du weißt: ein vorhandener Arm läßt sich verbergen, und ein fehlender Arm läßt sich vortäuschen.“

Jetzt setzte er die Zigarette in Brand.

Aus einem Felde links von uns stieg eine Lerche jubilierend hoch. In einem Laubengarten auf der anderen Seite nagelte ein Mann neue Dachpappe auf sein Häuschen und pfiff[1] dazu schmetternd einen Marsch. Ringsum duftete es nach Frühling. Es war schade, daß die ganze Morgenstimmung nun verdorben war, ausgerechnet Berthold Finsters wegen, eines Menschen, der in jeder Beziehung meine Sympathien verscherzt hatte, nachdem er gestern nacht Frau Inge auf den Eisenspitzen einer Gittertür hatte aufspießen wollen.

Dann Harald: „Vorwärts – hier hinein!“

Und wir schlüpften in die offene Haustür.

„Du vertrittst ihm den Weg,“ fügte Harst hinzu. „Ich will ihm in den Rücken. Der Hof dieses Hauses öffnet sich nach Norden in das Laubengelände, wie ich soeben gesehen habe.“

Er eilte weiter durch den Flur. Ich blieb dicht an der Tür stehen.

Hörte dann wuchtige Schritte.

Sah den Mann in der Joppe von rechts nahen, war mit zwei Schritten vor ihm, hatte ihn nun mir dicht gegenüber.

Die Größe, die Hagerkeit stimmten. Der schwarze langgezogene Schnurrbart und die dicken schwarzen Augenbrauen besagten gar nichts, ebensowenig die zigeunerhaft schmutzig-braune Gesichtsfarbe. Nur die Nase – die bayrische Wildererhakennase – die stimmte nicht! Nein, Doktor Finsters etwas negermäßiges Riechorgan ließ sich unmöglich derart umgestalten.

„Guten Morgen,“ sagte ich kurz, die rechte Hand in der Jackentasche um die Clement gelegt. Man konnte ja nicht wissen! Es konnte einer von Finsters Bande sein. „Guten Morgen. Sie wünschen von uns?“

Der Mann schrak zurück, war verlegen, riß das grüne Tirolerhütchen vom Kopf und stammelte:

„Verzeihn’s, Herr. I hob nit gewoagt, Sie anzusprechn. I hätt’ a Anliegen an den Herrn Harst, an den berihmt’n Detektiven. Jakob Pfitzhuber is moan Nam’, Herr, – Schaubudenbesitzer Jakob Pfitzhuber –“

Harald näherte sich.

„Setzen Sie Ihren Hut nur wieder auf, Herr Pfitzhuber,“ meinte ich. „Falls Sie echt sind, wird mein Freund Sie gern anhören.“

Harst schlug ihm jetzt von hinten leicht auf die rechte Schulter.

„Der Arm fehlt wirklich,“ nickte er mir zu.

Jakob Pfitzhuber lüftete abermals den Filz. „Ah – der Herr Harst. I hätt’ a Anliegen, Herr, von wegen moan gelben Kinstler, Herr –“

„Bedecken Sie sich,“ sagte Harst freundlich.

„Pfitzhuber heißt er – Jakob Pfitzhuber,“ erklärte ich. „Schaubudenbesitzer. Er hat sich nicht recht getraut, zu uns zu kommen.“

„Freili – nit getraut hob’ i mi, Herr Harst,“ rief Pfitzhuber offen. „’s woar doch nur von wegen moan Kanariensänger, Herr Harst, und a Vogel is für an’ Mann wie Sie doch koan Gegenstand –“

„Hm – das kommt darauf an, Herr Pfitzhuber. Gehen wir weiter. Erleichtern Sie Ihr Herz. Der Kanarienvogel war wohl dressiert und ist Ihnen gestohlen worden?“

Pfitzhuber berichtete folgendes:

Seine Schaubude und sein Wohnwagen standen seit vier Wochen auf dem Rummelplatz an der Ecke der Potsdamerstraße und Grunewaldstraße. Er war, nachdem er im Kriege den rechten Arm verloren hatte, Tierdresseur geworden. Seine vier- und zweibeinigen Künstler waren Zwerghunde, Katzen, Kaninchen, Tauben, zwei Raben, vier Papageien und der Kanarienvogel Mutz. Mit unendlicher Geduld hatte er gerade Mutz eine Reihe von verblüffenden Kunststücken beigebracht. – Sein Geschäft ging gut, zumal er nebenbei noch Zwerghunde, Angorakatzen und Kaninchen züchtete. In der verflossenen Nacht war ihm nun Mutz samt dem Vogelbauer, das in dem Wohnraum des fahrenden Heims an der Wand gehangen hatte, gestohlen worden. Er betonte, daß dies nur durch das offen gelassene Fenster geschehen sein könnte. Der Dieb wäre draußen auf eine Kiste gestiegen und hätte durch das Fenster bequem hineingelangen können.

Der brave Jakob Pfitzhuber war ganz untröstlich über diesen Verlust.

„Bedenken’s, Herr Harst, der Diebstahl ischt für moan Geschäft mit an’ Ausfall von sehr viel Göld vaknipft. Der Mutz hoat jeden Abend aus an Kästchen Brieferl mit Zukunftsvoraussagen aussi gezogen, und die Brieferl wurd’n fein bezahlt. Ich geb’ Ihnen gern a paar Tausender, wann’s Sie mir den Mutz herbeischaffen. I hoab die Spuren von den Kerl, wo den Mutz g’stohlen hoat, mit Bretter zugedeckt, damit Sie sich die Spuren anschaun könn’n.“

„Sehr gut, Herr Pfitzhuber. – Haben Sie gegen jemand Verdacht?“

„Nein, Herr Harst, koan Verdacht hoab’ i net. Woher auch? Wir Schausteller san allens anständge Leit’. Wir hoab’n so a Korpsgeist. Do stiehlt koaner.“

„Schön. Ich werde mit meinem Freunde Schraut noch heute vormittag zu Ihnen kommen. Sie müssen aber niemandem sagen, daß Sie sich an mich gewandt haben. Hoffentlich hat Ihre Frau nicht geplaudert.“

„Die Zenzi redt nix, Herr Harst, und das Vronerl, mein Tochter, erst recht nix.“

„Dann also auf Wiedersehen. Vielleicht haben wir Glück.“

Harald war stehen geblieben und reichte Pfitzhuber die Hand. „Hm – haben Sie noch etwas auf dem Herzen?“ fragte er dann.

„Die Polizei, Herr Harst, – net woahr, die Polizei lass’n wir doch aus dem Spiel,“ meinte er sichtlich verlegen und schaute zu Boden. „I mag mit dera Polizeileiten nix zu tun hab’n –“

„Keine Sorge. Die Sache bleibt ganz unter uns. Weshalb können Sie denn die Polizei nicht leiden, Herr Pfitzhuber?“

„Oh – i hoab amal bei oane Schlägerei a bissel zu derb dreing’droschen, Herr Harst. Do hoat man mi für zwoa Wochen eingespirrt. Seitdem will i von dera Polizei- und Gerichtsleiten nix mehr wissen.“

Harald lachte. „Was begreiflich ist!“

Dann bog Jakob Pfitzhuber nach links ab, während wir unseren Weg nach Südende fortsetzten. –

So überaus harmlos und gemütlich begann das Problem des toten Kanarienvogels, denn – es wurde ein Problem, wurde eine bunte, hastende Reihe seltsamer Ereignisse, die durchaus nichts miteinander zu tun zu haben schienen und zwischen denen doch ein geheimes Band bestand, ein unsichtbares Band: die verbrecherische Intelligenz eines Einzelnen, dessen Spuren wir auch jetzt weiter nachgehen wollten, jetzt, als wir die Alfströmsche Villa vor uns sahen und dazu Freund Bechert, der vor der Gittertür auf und ab schlenderte.

 

2. Kapitel.

„Morgen, Bechert. – Was Neues?“ begrüßte Harald den alten Bekannten.

„Allerdings. Etwas sehr Wichtiges. Meine Beamten haben den letzten Schlupfwinkel von Finsters weiblichem Generalstabschef, der Hochstaplerin Anna Holm, ermittelt. Sie wohnte zu derselben Zeit, als sie Zofe bei der Baronin Inge Alfström war, unter dem Namen Sennora Carla Matiosta im Hause Elßholzstraße Nr. 2 möbliert bei einer ehrbaren alten Dame, also in demselben Hause, in dem Finster zuletzt seine Büroräume im Hochparterre hatte, bis die Anwaltskammer ihn kaltstellte und er nicht mehr seine Praxis ausüben durfte.“

„Ah – Elßholzstraße Nr. 2! Sieh an! Da waren die beiden sich stets nahe.“

„Ja – und die Sennora Matiosta ist jetzt seit fünf Tagen, wie sie ihrer Wirtin weisgemacht hat, verreist. Ich hoffe, sie wird in ihr dortiges Heim zurückkehren, da sie jetzt doch ebenfalls scharf gesucht wird. Tut sie es, dann haben wir sie.“

„Nein, lieber Bechert: nicht verhaften lassen in diesem Falle – nur nicht! Die Holm ist uns in Freiheit wertvoller, Finsters wegen.“

„Hm – Sie mögen recht haben, Harst. Also nicht verhaften. Soll geschehen. – So, nun wollen wir hier unsere Arbeit beginnen. Ich bin gespannt, wie Berthold Finster es angestellt haben mag, uns gestern nacht zu entschlüpfen.“

Die Villa war bis auf drei Räume im Oberstock an einen Geheimrat Hoßberg vermietet.

Wir begaben uns sofort in die Mansardenstube hinauf, aus der Berthold Finster geflüchtet war, nachdem Harald ihm von der Linde vor dem Hause die Hand zerschossen und so den Tod der Baronin Alfström verhindert hatte.

Von dieser Stube führte eine Spur von Blutflecken auf den Boden und bis an die Treppe. Hier jedoch hörten die Blutstropfen auf. Hier hatte auch der Polizeihund versagt, den wir in der Nacht noch auf Finsters Fährte gelegt hatten.

Harald betrachtete sinnend die letzten der braunroten kleinen Flecken, die sich von den hellen Dielen scharf abhoben. Dann blickte er nach oben. Doch die Luke, die vom Vorboden unter das Dach führte, lag drei Meter weiter links und war außerdem verschlossen gewesen.

Plötzlich sagte Harst dann, und seine Augen ruhten nun auf dem hellgelben, polierten breiten Treppengeländer:

„Ich muß gestern nacht doch recht abgespannt gewesen sein. Finster ist natürlich auf dem Geländer abwärts gerutscht.“

Und er bückte sich und deutete auf einen feinen bräunlichen Strich an der Außenseite des Geländers. „Da ist die verwundete Hand als Stütze benutzt worden. – Weiter also!“

Wir gingen die Treppen hinab. An manchen Stellen des Geländers fehlte die Blutspur. Aber unten im Erdgeschoß fanden wir dafür auf der Matte vor dem Badezimmer einige deutliche Tropfen.

Harst öffnete die Tür. Wir traten ein. Gleich links stand ein runder Deckelkorb für schmutzige Wäsche. Auch der Deckel zeigte geringe Blutspuren, und in dem Korbe lagen ganz tief unter Wäschestücken ein Beinkleid, eine Weste, eine Jacke, eine Krawatte: alles dies hatte Berthold Finster gestern angehabt! Wir erkannten die Sachen sofort wieder.

„Er hat einen zweiten Anzug getragen,“ meinte Harald. „Einen zweiten unter diesem, hat dann hier auch eine andere Krawatte umgelegt –“

„Und soll so die Kette meiner Leute passiert haben?!“ sagte Bechert kopfschüttelnd. „Das ist wohl ausgeschlossen. Es hat kein verdächtiger Mensch die Villa verlassen, lieber Harst.“

„In der Nacht nicht. Aber morgens vielleicht, als Sie die Suche aufgegeben hatten, Bechert.“

„Und wo soll Finster so lange gesteckt haben?“

„Auch das werden wir jetzt ermitteln. Kommen Sie, fragen wir mal den Geheimrat einiges.“

Der alte vornehme Herr war nach den Aufregungen der Nacht noch recht angegriffen. Harald richtete an ihn allerlei Fragen.

„Ja,“ erklärte Herr Hoßberg da, „als Sie oben die Räume durchsuchten und als ich mit meiner Frau hier im Salon saß, während wir die Baronin in meinem Zimmer auf den Diwan gebettet hatten, klopfte es und ein Zeitungsreporter trat ein –“

„Aha!“ machte Harst.

„Es war ein mittelgroßer Herr in einem hellen zerknitterten Anzug –“

„Und mit Berthold Finster hatte der Herr natürlich nicht die geringste Ähnlichkeit?“

„Nein. – Er bat um einige Angaben über das, was hier geschehen. Ich weigerte mich, ihm irgendwelche Mitteilungen zu machen. Da bat er mich, ihm wenigstens von draußen das Mansardenfenster zu zeigen, durch das die Baronin geflüchtet war. Ich ging mit ihm hinaus.“

„Und an den beiden Beamten vorbei, die an der Vordertür standen?“

„Ja. Der eine fragte noch, wer der Herr sei. Der Reporter erwiderte statt meiner, was ich ziemlich anmaßend fand, er wäre ein guter Bekannter von mir.“

„Und so passierte der Mann die Sperre –“

„Allerdings. Ich zeigte ihm vom Vorgarten das Mansardenfenster –“

„– und er verabschiedete sich und verduftete. – Herr Geheimrat, der Mann war Berthold Finster!“

„Unmöglich!“

„Leider ist es so,“ sagte nun auch Bechert. „Dieser Justizrat hat uns gründlich geleimt. Während wir hier noch jeden Winkel durchstöberten, war er längst über alle Berge. Der Kerl versteht seinen Kram.“

Harald hatte den Anzug über dem Arm, den er in dem Wäschekorb gefunden, und begann nun die Taschen sorgsam zu durchsuchen. Sie waren leer – leer bis auf einen winzigen Gegenstand, der kaum der Beachtung wert erschien, die Harst ihm schenkte.

Es war eine kleine, aus dünnem verzinkten Draht gebogene Rosette, nichts weiter. Sie hatte in der rechten oberen Westentasche gesteckt.

Harald trat damit ans Fenster. Dann reichte er sie Bechert. „Bitte – falls Sie Interesse dafür haben.“

„Kaum. Immerhin werde ich das Ding wieder in die Westentasche zurückstecken,“ meinte der Kommissar achselzuckend.

Dann verabschiedeten wir uns von dem Geheimrat und wanderten dem Bahnhof Südende zu. Der elektrische Vorortzug brachte uns drei nach dem Potsdamer Bahnhof. Hier trennte sich Bechert von uns. Er wollte heim und die versäumte Nachtruhe nachholen.

Wir fuhren mit der Straßenbahn nach Hause. Es war jetzt halb zehn Uhr vormittags. Harald beabsichtigte, in der Blücherstraße erst ein wenig zu frühstücken und dann den Rummelplatz zu besuchen, natürlich in Maske.

„Am besten wählen wir wohl die Verkleidung von Postbeamten, mein Alter,“ sagte er leise in der leeren Straßenbahn zu mir. Nur uns gegenüber saß ein altes Frauchen mit einer Markttasche auf dem Schoße. „Briefträger fallen nirgends auf. Jakob Pfitzhubers Kanarienvogel ist es wert, einige Umstände zu machen.“

Dieser Nachsatz klang so ganz anders als das übrige. Da war etwas im Ton von Haralds gedämpfter Stimme, das mich aufmerksam machte. Bevor ich noch fragen konnte, was diese besondere Betonung bedeutete, setzte er schon hinzu:

„Die Zinkdrahtrosette war eine von einem Vogelbauer losgerissene Verzierung. Es saß noch etwas Vogelschmutz daran, der jedoch losbröckelte, als ich am Fenster des Hoßbergschen Salons mir das Ding besah.“

Vogelbauer – Verzierung! – Jedem wäre da Pfitzhubers gelehriger Mutz eingefallen, – jeder hätte da unwillkürlich gedacht: vielleicht hat Berthold Finster den Wundervogel gestohlen!

„Es kann ja keine Rede davon sein, daß Finster der Dieb ist,“ sprach Harald schon weiter. „Denn Finster ist seit gestern nachmittag bis heute nacht gegen ein Viertel eins in der Villa Alfström gewesen, wie wir bestimmt wissen. Den Anzug hat er im Badezimmer etwa um Mitternacht abgelegt. Und da steckte die Rosette schon in der Westentasche, während Mutz doch in der vergangenen Nacht erst samt dem Bauer verschwunden ist.“

„Allerdings,“ nickte ich. „Und doch bleibt es auffällig, daß wir in der Weste ausgerechnet die Verzierung eines Vogelbauers gefunden haben.“

„Ohne Zweifel – auffällig ist das. Ich möchte –“

Im selben Moment geschah etwas sehr Unerwartetes.

Harald hatte sich erhoben, der Wagen schleuderte etwas in einer Kurve, und Harst fiel halb zur Seite auf die alte Frau, streifte ihren Kopf mit der Hand und – riß ihr eine graue Scheitelperücke samt dem armseligen Strohhut tief ins Genick.

Unter der Perücke kam so blondes, straff zurückgekämmtes Haar zum Vorschein.

Die Frau schob rasch Perücke und Hut wieder nach vorn, sah Harst, der sich wortreich entschuldigte, giftig an und verließ rasch den Wagen, der gerade am Wilmersdorfer Rathaus hielt.

„Ihr nach!“ meinte Harst hastig. „Das Weib hat uns zu belauschen versucht.“

Leider stiegen ein paar Damen mit Kindern ein. Wir verloren zwei kostbare Minuten. Als wir endlich auf der Straße standen, war die Blonde, Verkleidete spurlos verschwunden.

Harald war wütend. „So ein Pech! Das kann Anna Holm gewesen sein, mein Alter!“

Er fragte einen vor der Ladentür stehenden Zigarrenhändler, ob der nicht die Alte mit der Markttasche bemerkt habe.

Der Mann erwiderte, die Frau sei dort in jenes Haus hineingegangen.

Wir sofort hinterdrein. Ich blieb unten im Flur. Harst eilte die Treppen empor.

Und – kehrte mit einer Markttasche zurück, die oben im zweiten Stock auf dem Fensterkopf gestanden hatte. In der Tasche lagen der Hut und das zerlöcherte Umschlagetuch des armseligen Weibleins.

„Entwischt! Sie hat das Haus sofort wieder in anderer Aufmachung verlassen,“ meinte Harald achselzuckend. „Nehmen wir den Fund mit. Immerhin etwas!“

Gleich darauf waren wir daheim im Harstschen Familienhause in der Blücherstraße – in Haralds Arbeitszimmer.

Und packten die Markttasche aus: Strohhut mit fahlen Blumen, Umschlagetuch und – noch ein Zigarettenkarton für hundert Zigaretten – ohne Zigaretten jetzt, als Inhalt – einen toten Kanarienvogel!

 

3. Kapitel.

Haralds verdutztes Gesicht beim Anblick des toten gelben Tierchens war mir ein Trost: ich selbst hatte ja vor Überraschung ebenfalls kaum sehr geistreich ausgesehen!

„Donnerwetter – wieder der Vogel!“ meinte ich dann.

Das Tierchen lag auf dem Rücken. Harst hob es an einem Bein heraus, legte es wieder in die Schachtel zurück und sagte:

„Merkwürdig!“

„Was denn?“

„Bitte – überzeuge Dich selbst!“

Ich griff zu, nahm den Vogel an dem einen Bein hoch und besichtigte ihn.

„Bedauere – ich finde nichts Merkwürdiges. Ein toter Kanarienvogel sieht wie der andere aus, höchstens die Farbe mag etwas verschieden sein.“

„Dann tue ihn nur zurück in seinen Pappsarg, mein Alter, und komm’ mit in den Garten.“

Er trat an den einen Schrank heran und suchte aus den dort untergebrachten Waffen eine Luftbüchse hervor.

„Was willst Du denn damit?“ meinte ich erstaunt.

„Einen Sperling schießen. Komm’.“

Ein frecher Spatz mußte wirklich sein Leben lassen.

Und wieder standen wir nun in Harsts Arbeitszimmer, und neben dem Pappsarg des gelben Kanarienhahns lag auf einer Zeitung der tote Sperling.

„Vielleicht nimmst Du mal die Briefwage und wiegst die beiden Vogelleichen, die doch so ziemlich dieselbe Größe haben,“ sagte er, den Rauch von sich stoßend.

Ich tat es – tat es mit einer gewissen Spannung.

Seltsam: obwohl der Kanarienvogel fraglos etwas kleiner und magerer als der Sperling war, wog er doch 32 Gramm mehr!

„Ja – das wollte ich Dir vor Augen führen, mein Alter,“ nickte Harald ernst. „32 Gramm sind eine Gewichtsdifferenz, die nicht unbedeutend ist. Der Kanarienvogel kam mir sofort zu schwer vor. Er muß eine Füllung haben.“

Und er nahm ihn und blies das Gefieder am Unterleib auseinander. So zeigte es sich, daß der Leib aufgeschnitten war. So stellten wir fest, daß die Eingeweide und die anderen inneren Organe entfernt worden waren und in dem hohlen Leibe ein kleines Päckchen steckte: eine in Fettpapier eingewickelte goldene dünne Damenuhrkette!

„Interessant!“ meinte Harst nachdenklich. „Gefüllte Tauben und Krammetsvögel[2] kenne ich. Goldgefüllte Kanarienhähne reizen meinen Appetit noch mehr – meinen Appetit als Rätsellöser. Und dies ist ein Rätsel. Gegen halb acht morgens erzählt man uns etwas von einem gestohlenen Kanarientier, gegen drei Viertel neun finden wir die Verzierung eines Vogelbauers, und um halb zehn läßt eine verkleidete weibliche Person auf der Flucht vor uns diesen Kanarienhahn nebst Füllung im Treppenhause von Berlinerstraße Nr. 208 zurück. Interessant!“

„Falls da nicht Zufälle mitspielen,“ warf ich ein.

„Zufälle?! Gleich drei?! Und so hintereinander?!“

„Dann stelle bitte die Verbindung zwischen den drei Geschehnissen her –“

Harald hatte sich in den Klubsessel gesetzt und die Augen geschlossen.

„Gedulde Dich,“ meinte er grübelnd.

Die Zigarette in seinem Mundwinkel wippte auf und ab.

Ich wartete. Und ich legte die Uhrkette auf die Wage. Sie wog 36 Gramm.

Dann nahm ich das Stückchen Fettpapier, strich es glatt.

„Recht so, mein Alter!“ murmelte Harst. „Etwas Besonderes zu sehen?“

„Nur – nur ein paar blutige Fingerabdrücke.“

Da sprang er auf. „Zeig’ einmal her!“

Und sehr langsam: „Das sind Abdrücke einer Männerhand. Wir haben ja Berthold Finsters Fingerstempel zur Verfügung. Vergleichen wir.“

Es zeigte sich, daß die blutigen Abdrücke von Berthold Finsters rechter Hand herrührten. Als wir das festgestellt hatten, schauten wir uns eine Weile starr an. Wir hatten diesen Erfolg beide nicht vorausgesehen.

„Unglaublich!“ meinte Harald. „Wirklich unglaublich! Also Finster hat hierbei wirklich –“

Er schwieg.

Das Telephon schrillte – schrillte ununterbrochen.

Harst eilte zum Schreibtisch, nahm den Hörer von den Stützen und meldete sich.

„Tag, Bechert. – Wie?! Das ist ja unmöglich. – Tatsache? Erzählen Sie nochmals. Das muß man erst verdauen –“

Nach einer Weile:

„Gut – soll geschehen, lieber Bechert. Wiedersehen!“

Er legte den Hörer weg, wandte sich um, lehnte sich an den Schreibtisch.

„Denke Dir, die Ermittlungen nach dem Vorleben Berthold Finsters haben ergeben, daß seine Personalpapiere zumeist gefälscht sind. Er ist 1912 angeblich aus Stettin nach Berlin gekommen. In Stettin hat es tatsächlich einen Rechtsanwalt Doktor Finster gegeben. Der ist jedoch 1912 verstorben. Unser Finster hat dann hier den Toten wieder aufleben lassen, ist als Anwalt eingetragen worden und hat zehn Jahre lang als solcher eine recht fragwürdige Klientel gehabt. Er ist also ein Schwindler von Hause aus. Wer er ist, weiß niemand. Jedenfalls nicht Doktor Berthold Finster. Bechert bat mich nun, doch nach Stettin zu reisen und dort Nachforschungen anzustellen. Das werden wir tun. Dieser angebliche Finster wird mir immer interessanter. Zunächst wollen wir aber Jakob Pfitzhuber einen Besuch abstatten. Ich glaube, das dürfte lohnend sein. Also vorwärts – Briefträgerkostüme, und dann durch den Gemüsegarten einzeln ins Freie, da die Vorderseite unseres Hauses vielleicht beobachtet werden dürfte.“ –

Der Rummelplatz an der Ecke Potsdamerstraße und Grunewaldstraße war jetzt am Tage geschlossen. Nur eine Seitenpforte gestattete uns den Eintritt.

Wir schlenderten an dem Karussell, an der Luftschaukel und ein paar Buden vorüber, sahen dann in der hintersten Ecke nach dem Kleistpark zu Pfitzhubers Zelt mit dem Riesenschild über dem Eingang:

Menagerie dressierter Haustiere!
Staunenerregend! Noch nie dagewesen!

Der rechnende Kanarienvogel, die klavierspielende Katze, zwei sprechende Raben, Wunderpapageien, boxende Zwergpinscher[3]! Ab sechs Uhr nachmittags ununterbrochen Vorstellung. Besitzer: Jakob Pfitzhuber aus Bayern.

„Allerhand!“ meinte ich mit einem Blick auf das Schild.

Dann kam ein stiernackiger Kerl auf uns zu.

„Sie wünschen?“ fragte er patzig.

„Wir möchten von Herrn Pfitzhuber Kaninchen kaufen,“ erklärte Harald.

„So?! Na, Pfitzhuber wird kaum Lust zu ’nem Geschäft haben. Sein Mutz ist weg.“

„Ach nee?! Der rechnende Kanarienvogel?“

„Derselbe.“ Der Kerl spuckte ins Weite. „Gehn Sie man hinter das Zelt. Da steht Pfitzhubers Wagen – da am Zaun. Er schält gerade Kartoffeln.“

„Danke.“ – Und wir schritten weiter, bogen um das Zelt. Da saß Pfitzhuber in Hemdärmeln auf der Treppe seines Wohnwagens, hatte eine Kartoffel zwischen die Knie geklemmt und schälte sie auf diese Weise mit seiner einen Hand verblüffend schnell und geschickt.

Er schaute auf, erkannte uns nicht. Wie sollte er auch?!

„Morjen!“ grüßte Harald. „Könnten wir mal Ihre Karnickel uns ansehen, Herr Pfitzhuber?“

„Aber görn. Oan Moment bitt’ scheen. I bin gleich ferti hier.“ Er warf die geputzte Kartoffel in eine Schüssel.

Wir sahen, daß halb hinter dem Wohnwagen der kleinere Gerätewagen stand. Dort waren Leinen bis zum Zaun gespannt. Ein nicht mehr ganz junges Mädchen von zierlicher, üppiger Gestalt hängte dort Wäsche auf.

„Moan’ Tochter Vroni,“ erklärte Pfitzhuber.

Dann eine tiefe Baßstimme aus dem Wagen:

„Voater, eil’ Di! Die Toffeln missen auf’s Feuer!“

In der Tür erschien eine sauber gekleidete, robuste Frau, musterte uns und fragte:

„Woas ist’s mit die Herren, Voater?“

„Kaninchen wollen’s kaufen, Zenzi.“

Frau Pfitzhuber nickte uns zu. „Oh, – echte Weaner san da, die Herren, ganz echte! Dann werd’ i weiter schäl’n, Voater.“

Pfitzhuber stand auf. „Bitt’ scheen – kommen’s nur mit,“ meinte er zu uns.

Die helle freundliche Maisonne lag über dem Rummelplatz. Auf dem Geländer des Vorbaues des Wohnwagens duftete Goldlack in vielen Töpfen.

Wir betraten das Zelt durch den Hintereingang. Rechter Hand war ein Raum abgeteilt. Da standen die Käfige mit den Tieren. Vier Hündchen sprangen uns kläffend entgegen.

„Herr Pfitzhuber, wir sind Harst und Schraut,“ sagte Harald gedämpft.

„Nit meeglich! Der Herr Harst!“

„Leise – leise! – Sie müssen nachher so tun, als ob Sie uns von dem Diebstahl erzählt hätten, uns, den Kaninchenkäufern, und als ob wir aus Neugier die Spuren uns ansehen wollten. Sie verstehen! Ihrer Frauen wegen!“

„Ob i versteh’! Wird gemacht, Herr Harst!“

Harald hielt ihm plötzlich, auch ganz überraschend[4] für mich, die goldene Kette hin.

„Da – kennen Sie die vielleicht, Herr Pfitzhuber?“

„Hm. – Teufi, dös ist ja meiner Frau Uhrkette, Herr Harst! Hier – diese Stell’ hoab i selbst mit Blumendraht angeflickt, die boaden Glieder. Wie sein’s denn zu Zenzis Kette gekommen, Herr Harst?“

„Es ist bestimmt die Kette Ihrer Frau?“

„Ganz sicher, Herr Harst.“

„Hatte Ihr Mutz ein besonderes Kennzeichen?“ änderte Harald das Thema.

Jakob Pfitzhuber starrte noch immer die Kette an.

„Hm – a Kennzeichen? Ja – die Farb’ vom Mutz war so mehr a Gelbgrün, wie bei die echten Kanarienhähne.“

Wieder faßte Harald in die Tasche und brachte die Zigarettenschachtel zum Vorschein, öffnete sie.

„Das ist nicht Ihr Mutz?“

Pfitzhuber schrak zusammen, war aber schnell wieder beruhigt.

„Nö – dös is a fremder Vogel, Herr Harst.“

„Rauchen Sie Senta-Zigaretten? Diese Schachtel enthielt mal hundert Stück Senta.“

„I mag koane Zigaretten, nur moan kurze Pfeif’. – Woher haben’s den toten Vogel, Herr Harst, und die Kette?“

„Das möchte ich Ihnen später sagen. Jedenfalls überlassen Sie mir die Kette noch ein paar Tage, Herr Pfitzhuber, und schweigen Sie Ihrer Frau und Tochter gegenüber.“

Pfitzhubers Gesicht ward ängstlich.

„Um woas handelt sich’s?“ meinte er zögernd.

„Um den Mutz – mit um den Mutz. Nun zeigen Sie uns die Spuren. Zum Schein werde ich zwei junge Wiener kaufen und mitnehmen.“ Und er steckte Kette, Schachtel und Vogel wieder ein.

Jakob Pfitzhuber schüttelte den Kopf. „Herr Harst, Sie verschweigen mir was, glaub’ i. Die Kett’ von moan Zenzi kann doch –“

„Darüber reden wir ein andermal.“

Wir gingen wieder ins Freie. Pfitzhubers Tochter saß jetzt auf der Wagentreppe und spielte mit einem Papagei.

An der Seite des Wohnwagens nach dem Zaune zu standen ein paar Kisten. Daneben lagen drei Bretter auf der Erde. Pfitzhuber hob sie auf.

In dem vom Nachtregen feuchten schwarzen Erdreich sah man die unklaren Eindrücke von zierlichen Schuhen. Für einen Fachmann war es leicht, sofort zu erkennen, daß dies die Fährte einer weiblichen Person war.

Frau Pfitzhuber erschien am Wagenfenster. Der Schausteller rief ihr zu, daß er uns von dem Diebstahl erzählt hätte.

„Die Herren hoab’n zwoa von unsere Weaner gekauft, Zenzi,“ fügte er hinzu.

Und zu uns: „Dös san die Spuren von dem Dieb, die Herren. Wann’s i den Kierl derwischen tät, dem sollt’s guat genga!“

Harst zuckte die Achseln. „Melden Sie’s der Polizei, Herr Pfitzhuber.“ Das war für die Frau und Tochter bestimmt. Und ganz leise: „Es ist gut, Herr Pfitzhuber. Ich weiß genug. Sie brauchen die Bretter nicht mehr überdecken.“ Und abermals ganz laut: „Vielleicht leihen Sie uns ein Kistchen zum Transport der Kaninchen –“

Dann betraten wir zum zweiten Male das Zelt.

„Woas wissen’s denn, Herr Harst?“ flüsterte Pfitzhuber ganz aufgeregt.

„Ich werde Ihnen morgen alles sagen. – Eine Frage: kennen Sie Stettin?“

„Stettin? – Und ob i ’s kenn’! I war dort fünf Jahr Oberschweizer auf a Rittergut, Herr Harst.“

„Wann?“

„Hm – so von 1907 bis 1912.“

„Haben Sie schon mal den Namen Finster gehört – Doktor Berthold Finster?“

„Koan schöner Nam’, Herr Harst. Finster! Nö – so an’ Namen kenn’ i net.“

„Bitte behalten Sie also für sich, was wir hier verhandelt haben, Herr Pfitzhuber. Nun die Kaninchen bitte. Was kosten sie?“

Jakob kratzte sich den Kopf.

„Ich zahle wie jeder andere,“ meinte Harald.

Dann zogen wir mit einem Kistchen und zwei blaugrauen Wienern ab, nachdem Harald von Pfitzhuber sich noch hatte erzählen lassen, wie der Wohnwagen eingerichtet war und wo die Familie ihre Lagerstätten stehen hatte.

 

4. Kapitel.

Wir gingen die Grunewaldstraße entlang. Ich fieberte förmlich vor Neugier. Jeder wird das begreiflich finden. Dies Kanarienvogel-Problem schwoll ja lawinenartig an: Harst hatte da eine neue Brücke von Berthold Finster zu dem Künstler Mutz, dem Entwendeten, durch die Frage nach Stettin geschlagen, und die Eindrücke der zierlichen Schuhe der Diebin im feuchten Erdreich konnten von Anna Holm herrühren. –

Ich wollte die Sache durch eine einzige Frage klären, der ich nun die Fassung gab:

„Weshalb hat Finster durch Anna Holm den Kanarienvogel Mutz stehlen lassen?“

Ich glaubte damit einen Schuß ins Schwarze getan zu haben. Aber – ein Blick von der Seite traf mich aus Haralds Augen – ein Blick, der allerlei verriet: Erstaunen, Bedauern, gutmütigen Spott.

„Da bist Du auf dem Holzwege, lieber Alter,“ meinte er. „Total auf dem Holzwege. Bei alledem fehlt noch ein Glied in der Kette – das Verschlußstück sozusagen. Das müssen wir erst noch suchen. Anna Holm ist nicht die Diebin.“

„Aber sie war doch die Frau mit der Markttasche,“ sagte ich sehr kleinlaut. „Sie hat doch offenbar auch die Uhrkette Frau Zenzi Pfitzhubers mitgehen heißen.“

„So?! – Ah, da ist eine Plakatsäule. Wir könnten mal den Steckbrief aufs neue studieren.“ Und er überquerte die Straße, machte vor der Säule halt und las halblaut:

Besonders zu beachten: Finster hat eine noch frische Schußwunde an der rechten Hand, wird also die Hand verbunden tragen. Er versucht sich auch als Heiratsschwindler.“

Ich starrte auf den Steckbrief. „Wo steht denn dieser Nachsatz?“ meinte ich rasch. „Ich sehe nichts davon.“

„In meinem Kopfe steht er. Leider siehst Du nichts davon.“

Ich merkte, daß er dabei den Weg hinabblickte, den wir soeben gekommen waren. Er tat es ganz unauffällig. Dann ging er weiter. „Es ist niemand hinter uns. Wir können die Straßenbahn benutzen,“ erklärte er.

Stumm saßen wir in der Bahn nebeneinander. Ich dachte nur an den „Heiratsschwindler“. Was sollte das?! Harald hatte den Satz aus eigenem den Steckbriefangaben hinzugefügt. Das mußte einen Grund haben. Welchen?!

Und als ich so vor mich hin grübelte, fiel mir der tote Kanarienvogel wieder ein – dieser gefüllte Vogel! Es war doch seltsam, daß die blonde Verkleidete (und sie war tadellos als altes Weiblein zurechtgeschminkt gewesen!) die Markttasche mit der Zigarettenschachtel hatte im Treppenflur stehen lassen. Die Uhrkette hatte doch einen Wert heutzutage, war sogar 900 gestempelt, also Dukatengold.

Unwillkürlich hatte ich bei diesen Gedanken zwei Knöpfe meines Postuniformrockes geöffnet und nach meiner eigenen Uhrkette gefühlt. Es war das so eine Art Reflexhandlung gewesen.

Und da sagte Harald leise neben mir: „Trick!“

Nichts weiter sagte er – nur „Trick!“

„Von wem?“ fragte ich gespannt. „Von Berthold Finster?“

„Ja. Es gibt ja eigentlich keinen Berthold Finster mehr. Aber wir müssen unseren Mann vorläufig schon so nennen. – Ich weiß nun auch, wie wir das fehlende Glied finden werden. Das wird heute abend geschehen, wenn Jakob Pfitzhuber und die Seinen in der Menagerie tätig sind. Bis dahin gibt es nur ein paar Telephongespräche zu erledigen und einen Stall für die beiden Wiener zu bauen. Sie sollen es gut haben bei uns – als Erinnerungsstücke an das Abenteuer mit dem toten Kanarienvogel.“ –

Frau Auguste Harst, Haralds Mutter, fand die Kaninchen sehr hübsch. Die alte Köchin Mathilde dagegen murmelte etwas von „Stalluft[5] verpesten“. Harst beruhigte sie. „Ich werde einen geruchfreien Stall bauen, gleich nach Tisch.“

Vor dem Essen (es war jetzt halb eins geworden) ließ er sich noch mit unserem Bekannten, dem Stettiner Privatdetektiv Doktor Gröker verbinden und bat ihn, folgendes schleunigst zu ermitteln:

1. Namen und Alter des Büropersonals des in Stettin 1912 verstorbenen Anwalts Doktor Berthold Finster zur Zeit dessen Todes.

2. Namen des Gutes in der Nähe von Stettin, auf dem ein gewisser Jakob Pfitzhuber von 1907 bis 1912 Oberschweizer gewesen.

3. Ob der damalige Besitzer dieses Gutes Klient Doktor Finsters gewesen, ob und wo er lebe.

Gröker versprach, uns schon abends telephonisch Bescheid zu geben.

Nach dem Mittagessen zimmerte Harald den Stall für die Wiener. Ich half dabei. Etwas Bewegung konnte mir nie schaden.

Und genau um halb vier nachmittags kam dann Mathilde in den Hof und meldete uns Herrn Jakob Pfitzhuber.

Unser Jakob, das sahen wir schon von weitem, befand sich in einer bedauernswerten Verfassung. Sein schwarzgefärbter Wachtmeisterschnurrbart entbehrte jeden inneren Haltes und hing traurig herab. Seine Gesichtsfarbe war ein gefährliches Blaurot, und auch die schweißglänzende Stirn und die funkelnden Äuglein ließen ein ungewöhnliches Geschehnis vermuten, das Herrn Pfitzhuber völlig aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte.

Zunächst war er jetzt starr vor Staunen, den berühmten Harst bei einer Beschäftigung anzutreffen, die den geistigen Akrobatenkunststücken eines Detektivs genau so fern zu liegen schien wie einem Staatsanwalt ein Taschendiebstahl.

„Nit meglich!“ rief er. „Der Herr Harst versteht, mit a Säg’n zu hantieren?!“

Harald streckte ihm die Hand hin. „Ich verstehe auch einen Geldschrank zu knacken, wenn es sein muß, lieber Pfitzhuber. – Nicht wahr, Ihnen ist noch mehr gestohlen worden als nur der Mutz und die Uhrkette?“

„Ah – Sie wissen’s?!“ Etwas wie Mißtrauen blitzte in Jakobs Augen auf.

„Ich vermute es. Und es stimmt also. – Was denn?“

„Eine schwere Meng’, Herr Harst.“ Pfitzhuber sagte es in einer Art, als traute er uns nicht mehr recht.

Harald lachte herzlich. „Lieber Herr Pfitzhuber, wenn es Sie beruhigen sollte: wir sind nicht die Diebe! Mein Wort darauf.“

Jetzt sah man, was so ein befreiendes Lachen wert ist. Auch Jakob lachte.

„I bin ja närr’sch!“ meinte er. „Wie konnte ich nur! – Also es san g’stohlen: meine goldene Uhr nebst dicker Panzerketten, zwoa Ringe, einer mit ’n Brillant, Zenzis goldene Brosche, aus drei Zwanzigfrankstückl b’stehend, Zenzis Panzerarmband, 585ziger Gold, und a Beutel mit dreißig Silbertaler.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es Harald. „Das ist ja wirklich eine schwere Menge. Wo hatten Sie die Sachen denn verwahrt?“

„Alles in so a Wandversteck in der Küchen, Herr Harst, hinter a Emaillepfannen, – in a Versteck, das des Teufis sei’ Großmutter nit g’funden hätt’. Aber der Malefizgauner, wo den Mutz stahl, hoat’s doch aussigespäht, der elendigliche Lump. Die Sachen san weg – weg, – futsch!“

„Trösten Sie sich, Herr Pfitzhuber. Ich glaube Ihnen bestimmt versprechen zu können, daß die Diebe die Beute wieder herausgeben werden.“ Diese ruhigen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.

Jakob wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Gott sei g’dankt, Herr Harst! ’s war ja halt unser Erspartes. Wir hatten ’s in Gold angelegt.“

„Noch etwas, Herr Pfitzhuber: wie sind Sie eigentlich heute morgen darauf gekommen, sich an mich zu wenden?“

„Oh – dös war so a Zufall, Herr Harst. Die Vroni hatte in der Zeitung schon viel von Ihnen g’lesen. Und heut’ morgen fand i so a Blatt, wo sie sich an’ Artikel ang’strichen hatt’, auch über Sie. Ja – und so ist’s g’kommen, Herr Harst –“

Gleich darauf verabschiedete Jakob Pfitzhuber sich, ausgerüstet mit einer von Haralds besten und größten Zigarren.

Wir beide gingen wieder an die Arbeit. Harst erwähnte des Schaustellers Besuch mit keiner Silbe mehr. Meine Fragen überhörte er. Ich war an diese Art Behandlung schon gewöhnt. Ich nahm sie nicht weiter übel. Schon aus dem einfachen Grunde nicht, weil ich jetzt den Dieb des wertvollen Kanarienhahns und der Schmucksachen so wie der Silbertaler zu kennen glaubte. Ich wartete nur auf eine gute Gelegenheit, meine Weisheit an den Mann zu bringen. Und diese Gelegenheit bot sich nachmittags um sechs Uhr, als Mathilde in den Hof gestürmt kam: „Das Telefong – das Telefong!“

Wir eilten in Haralds Arbeitszimmer. Stettin meldete sich. – Kollege Doktor Gröker. Harald diktierte mir kurz, was Gröker zu melden hatte.

1. Von dem Büropersonal interessierte uns nur ein Mann: der ehemalige Bürovorsteher Doktor Finsters namens Gisbert Parnack. Dieser Parnack war seit dem Tode Finsters verschwunden. Er war 1876 geboren, mußte also jetzt 46 Jahre alt sein.

2. Das Gut hieß Langemühlen. Es befand sich jetzt im Besitz eines Herrn Otto Meier, Kriegsgewinnler.

3. Der damalige Eigentümer Herr v. Unstät war Klient Doktor Finsters gewesen und wohnte jetzt bei seiner verheirateten Tochter, einer Frau Röbing, in Berlin-Westend. –

Harald dankte dem Kollegen für die prompte Erledigung und rief dann Bechert an.

„Tag, Bechert. Ich glaube, wir wissen bereits, wer unser Finster in Wirklichkeit ist: ein gewisser Gisbert Parnack. Ich würde Ihnen raten, mit den Steckbriefbildern nach Westend, Eichenstraße 15, zu Herrn von Unstät zu fahren. Unstät dürfte diesen Parnack von Ansehen gut kennen –“

Dann legte er den Hörer weg.

Nun kam meine Stunde.

„Lieber Harald, ich bin ganz Deiner Ansicht,“ meinte ich. „Unser Finster ist Parnack. Und der Dieb der Pfitzhuberschen Werte ist Fräulein Vroni Pfitzhuber, die den Parnack von Stettin her noch in ihr Herz geschlossen hat und jetzt aus Liebe zu ihm die eigenen Eltern bestahl. Daher – Heiratsschwindler! Nur sie konnte wissen, wo die Wertsachen lagen, nur sie hat mit ihren Damenschuhen die Spuren neben dem Wohnwagen hervorgerufen. Sie war auch die alte Frau mit der Markttasche. Pfitzhuber erwähnte ja vormittags so nebenbei, daß seine Vroni eine Zeitlang „bei die Komedie“ gewesen, also beim Theater. Dort wird sie das Schminken wohl gelernt haben.“

„Ohne Zweifel, mein Alter. Dort hat sie’s gelernt. Und ohne Zweifel hat sie die Sachen gestohlen, auch den Kanarienvogel. Diesen, damit der Verdacht nicht auf sie fiele. Der geistige Urheber ist Parnack. Auch das stimmt. Ich bin von diesen Zusammenhängen ganz fest überzeugt. Nur – eins möchte ich Dich fragen: weshalb hat die Vroni den toten gefüllten Kanarienvogel samt der Markttasche in dem Treppenflur zurückgelassen? Weshalb wurde die Kette in dem Vogelkadaver versteckt? Weshalb hatte Vroni den Zigarettenkarton und den toten Vogel samt Kette bei sich? – Bitte, erkläre mir das. Ich sage Dir gleich: es ist zu erklären! Sogar sehr einfach.“

Nun – ich hatte mir dieselben Fragen ebenfalls schon vorgelegt. Und daher erwiderte ich:

„Trotz der Einfachheit versage ich hier!“

„Dann gedulde Dich noch bis zehn Uhr abends. Um zehn hoffe ich Dir die Antworten zeigen zu können.“

„Wo?“

„Auf dem Schaubudenplatz.“ –

Um halb neun läutete dann Bechert an. Herr von Unstät hatte den früheren Bürovorsteher sofort wiedererkannt.

Nun wußten wir es mit aller Bestimmtheit: der Verbrecher war jener Gisbert Parnack, war also weit jünger, als er sich hier als Justizrat Finster stets gezeigt hatte.

„Der Mann muß in seiner Art ein Genie sein,“ meinte Harald ernst. „Er hat das ja bereits bei dem Fall Alfström bewiesen. Jetzt unterschätze ich ihn nicht mehr. Es ist ein Gegner, dem man alles zutrauen kann. Ich werde mich danach zu richten wissen.“ –

Um ein Viertel zehn brachen wir auf. Wir hatten die Masken älterer Leute aus dem Arbeiterstande gewählt. Was Harald vorhatte, ahnte ich nicht. Er war sehr schweigsam und in sich gekehrt – ganz so, als hätten wir einen schweren Gang vor uns.

Außer unseren Clementpistolen nahmen wir noch für die Taschenlampen zwei Ersatzbatterien mit. Mir schien es so, als ob Harst noch andere Vorbereitungen träfe. Ich kam jedoch nicht dahinter, welcher Art diese Vorbereitungen waren.

 

5. Kapitel.

Wir verließen das Haus durch den Gemüsegarten, gingen den Feldweg am Laubengelände entlang und bestiegen an der Ecke der Blücherstraße die Straßenbahn. Kurz nach halb zehn waren wir in der Potsdamer, betraten den in vollstem Betrieb befindlichen Rummelplatz und drängten uns durch die in echter Maistimmung hin und her flutende Menge bis zu Pfitzhubers Zelt hindurch.

An der Kasse saß Frau Zenzi in einer Art Tirolertracht. Vroni, ebenfalls im Tirolerkostüm, auf der Linken einen zahmen Papagei, lud das geehrte Publikum mit beträchtlichen Stimmaufwand zum Besuch der phänomenalen Vorführungen ein.

Wir beobachteten sie eine Weile. Die Lichtgarben des nahen Karussells, das bei stark gedämpften Leierkastentönen sich fleißig drehte, glitten unaufhörlich über ihr zart rosa geschminktes Gesicht hin. Sie sah nicht übel aus, diese Vroni, – bei dieser Beleuchtung. Und schlagfertig war sie auch. Auf jeden Zuruf aus der Menge antwortete sie sofort nicht ohne Witz.

„Gehen wir,“ meinte Harald leise.

Wir schlenderten dem einen Ausgang wieder zu. Ich war enttäuscht. Ich konnte mir nicht recht denken, daß unsere Aufgabe hier schon erledigt sein sollte.

Wir schritten die Potsdamer entlang bis zu den Säulenreihen am Eingang des Kleistparkes.

Bogen links ab, stiegen über die Balkenbarriere des versperrten Parkzugangs. Der Park war bereits geschlossen.

Drückten uns links an den Büschen des Zaunes weiter, tief geduckt, blieben stehen, ließen eine Polizeipatrouille vorüber, die soeben ein Pärchen hinauswies. Es war ja Mai, und die Liebe suchte verschwiegene Plätzchen.

Schlichen abermals nach links die zementierte schmale Umgehungsstraße des Parkes dahin, die nach Dunkelwerden genau wie der Park gesperrt ist.

Hatten bald den Bretterzaun linker Hand, der den Nordteil des Schaubudenplatzes hier begrenzt. Sahen über den Zaun den oberen Teil der beiden Wagen Jakob Pfitzhubers hinwegragen, sahen das Karussell mit wehenden Glasperlenbehängen sich drehen, hörten das sanfte Gedudel des Leierkastens, Hundegebell aus Pfitzhubers erleuchteter Bude und in den Büschen des Parkes hinter uns das Zwitschern irgend eines Nachtvogels. Brummende Maikäfer umschwärmten das frische Grün, und lautlos strich eine Katze vorüber, gewann mit elegantem Satz die Höhe des Zaunes und verschwand.

Der Himmel war leicht bewölkt. Die Konturen der Giebel der Potsdamerstraße hoben sich scharf ab.

Wir befanden uns hier wie in einer anderen Welt.

„Der Katze nach!“ meinte Harald leise. „Ich klettere voran. Nimm die Clement gespannt und entsichert in die rechte Jackentasche, die Lampe in die linke.“

Ich fand, daß wir uns das Erklettern des Zaunes hätten sparen können. Vom Budenplatz her wären wir bequemer an Pfitzhubers Wagen herangekommen.

Harst reckte sich hoch, packte die Zaunkante, zog sich empor, glitt drüben herab.

Ich folgte ihm. Mir fiel’s schwerer, rasch über den Zaun hinwegzukommen.

Nun standen wir hinter dem Gerätewagen. Es roch hier scharf nach Teer. Pfitzhuber hatte das Dach frisch geteert.

Harald nahm ein paar Dietriche aus der Tasche. Sie klirrten ganz leise.

„Es gilt dem Gerätewagen,“ flüsterte er. „Du weißt, daß Vroni ihn als Schlafgemach benutzt. Ich denke, er wird auch jetzt nicht leer sein. Und – wir werden erwartet, nehme ich an.“

Es war hier sehr dunkel zwischen Zaun und Wagenwand. Ich konnte Harsts Gesichtszüge nicht unterscheiden. Und fragte etwas beklommen:

„Gisbert Parnack etwa?“

„Wer sonst?! Er mit seiner zerschossenen Hand ist nirgends sicher. Vielleicht nur hier.“

„Und – er vermutet unser Erscheinen?“ – Ich begriff noch immer nicht.

„Ja. Wahrscheinlich. Die Gefahr für uns liegt darin, daß er vielleicht nicht allein ist, daß er mehrere seiner Garde bei sich haben mag.“

Ohne eine Antwort oder Gegenäußerung meinerseits abzuwarten, tat Harst die wenigen Schritte nach rechts und erstieg die wenigen Stufen der Wagentreppe.

Der Wohnwagen verdeckte mit seiner ganzen Breite die Aussicht nach dem Rummelplatz, sperrte jeden Lichtstrahl der Buden und des Karussells ab.

Während Harald den Dietrich im Schloß der Wagentür probierte, schaute ich mich argwöhnisch um.

Keine fünfzehn Schritt weiter eine lebenslustige Menschenmenge – nur auf Zerstreuung bedacht.

Und hier wir beide auf dunklem Pfade – wie zwei Einbrecher.

War das wirklich nötig?! Hätte Harald nicht Bechert benachrichtigen können?! Mußten wir uns hier Gefahren aussetzen, die Harst selbst durchaus nicht gering anschlug?!

Ich stand am Fuße der Treppe.

Da bückte er sich schon zu mir herab.

„Offen!“

Und da fand ich Zeit, etwas unwillig zu flüstern:

„Weshalb nicht mit Bechert? Weshalb wir beide allein?!“

„Weil ich mich nicht gern blamiere, mein Alter,“ hauchte er über mir. „Ich kann mich ja irren. Es kann kein Trick Parnacks gewesen sein, dieser gefüllte Kanarienvogel. Nur deshalb!“

Dann richtete er sich wieder empor.

Und zog die Tür langsam auf, reckte den linken Arm in das Dunkel des Wagens hinein, ließ die Taschenlampe aufblitzen.

Ich schob mich dicht hinter ihn, hielt die Clement umklammert, den Finger am Abzug, dachte an die Nacht von vorgestern, als Finster-Parnack uns wie armselige Mäuse draußen auf dem Havelsee hatte ersäufen wollen.

Und sah, daß der Wagen scheinbar leer war – leer bis auf das eiserne Klappbett, den Klapptisch, ein Kleidergestell mit Gardine und zwei Schemel und einige Kisten in der rechten Ecke.

Harst trat ein, glitt auf das Kleidergestell zu, schob die Gardine beiseite.

Da hingen Röcke, Blusen auf Bügeln.

Harald faßte hinein, fühlte, ob dahinter jemand verborgen war.

Leuchtete unter das Bett, hinter die Kisten.

Nichts!

Und winkte mir.

„Tür zu!“

Schaltete die Lampe aus, schloß die Tür wieder ab.

„Er wird kommen!“ flüsterte er. „Riechst Du es? Er war hier!“

Ja – es roch hier nach Jodoform, nicht allzu aufdringlich, da der Teerduft überwog. Parnack mußte einen Verband tragen. Da war Jodoformgaze so naheliegend.

„Hinter dem Kleidergestell ist Platz für uns beide, mein Alter,“ fügte Harald hinzu.

„Und dann sitzen wir in der Falle!“ meinte ich ärgerlich. „Wir täten besser –“

Was wir tun sollten, blieb unausgesprochen.

Wie ein aufzuckender Blitz kam eine grelle Lichtgarbe plötzlich von oben herab.

Von oben, wo sich unter dem gewölbten Wagendach noch ein enger Raum befand – ein Raum, aus dem eine Falltür durch die Zwischendecke führte.

Und gleichzeitig fast mit dem aufflammenden Lichtschein an meinem Halse ein scharfer Ruck – eine Schlinge, die mich hochriß, die jeden Schrei erstickte.

Nicht anders ging es Harst. Auch er baumelte wehrlos in der Luft, wollte mit den Händen nach oben greifen, den Strick packen.

Auch er bekam ein paar Hiebe über die Handgelenke – auch ihm schwanden die Sinne.

Für Minuten nur. Dann waren wir schon gefesselt, geknebelt, saßen auf dem Bett, mit dem Rücken an der Wagenwand, sahen vor uns bei rasch wiederkehrendem Bewußtsein drei Männer, hörten Parnack-Finsters meckerndes Hohnlachen, seine krähende Stimme:

„Also doch geglückt! Nun haben wir Euch! Nun sollt Ihr uns nicht mehr entwischen!“

Harst richtete sich etwas auf. Uns waren die Arme kreuzweis über der Brust festgeschnürt.

„Nehmt ihm den Knebel ab,“ befahl Parnack seinen beiden Helfershelfern, die sich dichte schwarze Bärte vorgeklebt und die Mützen tief in die Stirn gezogen hatten. Er selbst trug einen blonden Schnurrbart, war fast stutzerhaft gekleidet. Die rechte Hand hielt er in der Jackentasche verborgen.

„Sollten Sie auch nur einen einzigen Laut von sich geben, Herr Harst, sind Sie erledigt!“ warnte er mit ironischer Gelassenheit.

Der eine der Kerle setzte sich neben Harst, ein offenes langes Klappmesser in der Hand.

Harald, von der Lichtfülle einer Karbidlaterne hell bestrahlt, erklärte nicht minder gleichgültig:

„Ich gebe zu, daß ich an den Dachraum des Wagens nicht gedacht habe, Gisbert Parnack. Im übrigen habe ich an alles gedacht.“

Der Verbrecher duckte sich bei diesem Namen wie unter einem plötzlichen Schlage zusammen.

„Sie sehen, ich weiß, wer Sie sind,“ setzte Harst hinzu. „Ich weiß auch, daß Sie Vroni Pfitzhuber veranlaßt haben, ihrem Vater die Zeitungen mit den Artikeln über mich in die Hände zu spielen, daß Sie das Mädchen den Kanarienvogel und die Wertsachen stehlen ließen, daß der Plan Ihrem Hirn entsprang, mich durch Vroni und den toten Vogel mit der Uhrkette und Ihren Fingerabdrücken auf dem Papier hierher zu locken. Ich wußte dies schon am Vormittag.“

„Und haben doch die Polizei nicht hergeschickt?!“ höhnte Parnack. „Denn – auch jetzt ist nichts Verdächtiges in der Nähe. Unser Wachtdienst versagt heute nicht. Sie beide sind allein gekommen. Und – wäre die Polizei erschienen, Herr Harst, dann hätte sie das Nest leer gefunden. Wir sind ebenfalls auf alles eingerichtet – verstehen Sie mich: auf alles!“

„Möglich!“ meinte Harald kühl. „Ich vermag das noch nicht zu übersehen.“

Parnack beugte sich vor. „Mensch, ich werde Ihnen beweisen, daß Ihre Nerven doch einmal streiken müssen!“ In seiner Stimme zitterten ein Haß und eine Wut, die nicht ihresgleichen hatten. „Sie haben uns um die Beute monatelanger Arbeit betrogen. Sie haben uns um die beiden Diamanten des Barons Alfström gebracht, die sich nun im Gewahrsam der Polizei befinden. Und – Sie werden uns die Edelsteine zurückverschaffen! Sie werden es tun.“

„Glauben Sie?!“

„Nur Sie können es! Und – weil nur Sie es können, habe ich dieses verliebte Frauenzimmer, die Vroni, mir wieder geködert. Nun haben wir Sie in unserer Gewalt. Und was Ihnen beiden bevorsteht, wenn Sie nicht gehorchen, werde ich Ihnen sofort vor Augen führen.“

Er griff mit der Linken in die Tasche, holte ein Fläschchen hervor mit eingeschliffenem Glasstöpsel.

„Salzsäure, Herr Harst, reine Salzsäure! Drei Tropfen davon in jedes Auge, Herr Harst, und Sie sind blind für alle Zeit!“

Er lachte in seiner scheußlichen Art.

„Ich gebe Ihnen mein Wort: Sie beide werden sich blind irgendwo außerhalb Berlins morgen früh wiederfinden, wenn Sie nicht aufs genaueste befolgen, was wir verlangen.“

„Sie sind ein Schurke,“ sagte Harald kalt. „Ich traue Ihnen alles zu. Unser Augenlicht ist mehr wert als zwei Edelsteine. – Was verlangen Sie?“

Ich horchte auf. Haralds Nachgiebigkeit kam mir denn doch etwas zu rasch. Ich hatte das bestimmte Gefühl, daß er noch nicht alles verloren gab, daß dieser Parnack letzten Endes doch unterliegen würde.

„Ich verlange,“ erklärte der Verbrecher bedächtig, „daß Sie uns die beiden Diamanten noch in dieser Nacht wieder verschaffen. Wie Sie dies ermöglichen, ist Ihre Sache. Jedenfalls muß es so geschehen, daß für uns keinerlei Gefahr damit verknüpft ist und daß Sie in unserer Gewalt bleiben. Haben wir die Steine, so wird Ihnen beiden nichts geschehen. Anderseits werde ich bei dem geringsten Anzeichen von Verrat Sie beide blenden. Darauf können Sie Gift nehmen!“

Harst schien zu überlegen. Minutenlang war es still in dem Wagen – so still, daß ich undeutlich den Walzer des Karusselleierkastens vernahm.

Dann zuckte Harald die Achseln, meinte: „Es läßt sich nur so machen, daß ich an Kommissar Bechert schreibe. Nur er kann an die Steine heran.“

„Was wollen Sie schreiben?“ fragte Parnack hastig.

„Daß er dem Überbringer des Briefes die Steine aushändigen soll, die ich bis morgen brauche, um Sie, Gisbert Parnack, in eine Falle zu locken. Bechert wird dies ohne weiteres[6] glauben. So sehr es mir auch widerstrebt, ihn zu täuschen: in diesem Falle bin ich entschuldigt. Sie müßten jedoch als Boten einen Mann wählen, der bei Bechert keinerlei Verdacht erregt. Oder noch besser: ich schreibe zwei Briefe. Einen an meine Mutter, daß sie sich sofort mit dem anderen Schreiben zu Bechert begeben soll. – Sie können überzeugt sein, Parnack, daß ich mit den Briefen keinerlei Hinterlist plane. Sie werden sie ja lesen.“

Ich hörte mit atemloser Spannung zu.

Und hörte Parnack erwidern:

„Geben Sie Ihr Ehrenwort, daß die Briefe unverfänglich sein werden –“

„Wenn ich sie schreibe, sind sie unverfänglich. Mein Wort darauf.“ –

Niemals hätte ich erwartet, daß Harald in so bestimmter Form sich zu redlicher Befolgung seiner Zusicherungen verpflichten würde. – Was aber plante er sonst?! Wollte er tatsächlich hier die Waffen strecken?!

„Ich habe in meiner Brieftasche kleine Umschläge, Papier und Füllfederhalter stets bei mir,“ fuhr er schon fort. „Machen Sie mir den rechten Arm frei, damit ich schreiben kann.“

„Ich warne Sie!“ sagte Parnack nochmals.

Dann befahl er dem anderen Manne, Harsts rechten Arm loszuschnüren.

Ich ahnte: jetzt kam die Entscheidung! Wie sie herbeigeführt werden sollte, ahnte ich freilich nicht im entferntesten.

Der Mann mit dem Messer neben Harst hob es stoßbereit. Der andere zog Harald die Brieftasche aus der Jacke und gab sie ihm in die Hand.

Harst bat um einen Kistendeckel als Schreibunterlage. Man gab ihm einen länglichen Deckel, den er sich auf die hochgezogenen Knie legte.

„Ziehe gleichfalls die Knie an,“ sagte er zu mir. „Der Deckel hat zu wenig Halt.“

Parnack, die Karbidlaterne in der Linken, trat näher. Der zweite Mann hielt einen großen eisernen Schraubenschlüssel zum Zuschlagen über Harsts Kopf.

Harald rückte das Brett zurecht. Wir saßen nun eng nebeneinander. Dicht vor uns hatten wir die Köpfe der drei Gegner, die jede Bewegung Harsts mißtrauisch belauerten. Sie waren überaus vorsichtig, die drei. Und – gerade das sollte ihr Verderben werden.

Harald klappte die Brieftasche auf, legte einen Bogen Papier glatt, hakte den Füllfederhalter los.

Und – da wurde ich stutzig!

Das war nicht der Halter, den Harst gewöhnlich bei sich trug. Das war ein dickes, plumpes Ding, das er längst ausrangiert hatte.

Plötzlich kippte der Kistendeckel hoch, legte sich wie ein Schild vor unsere Gesichter.

„So sitz’ doch still!“ fauchte Harald mich an.

Und – da wußte ich Bescheid! Da ahnte ich, was kommen würde.

Harst drückte den Deckel wieder herab. Den Füllfederhalter hatte er noch in der Hand. Diese Hand lag an der rechten Kante des Holzdeckels.

Und – abermals kippte der Deckel, schlug hoch.

Im selben Moment ein Knall – ein überlauter Knall.

Der Deckel flog mir gegen die Stirn.

Und Harsts geballte Faust fuhr dem Manne mit dem Messer unter das Kinn, warf ihn in die andere Ecke.

Parnack und der zweite waren infolge der Explosion des Füllfederhalters zurückgetaumelt. Die Karbidlaterne lag am Boden.

Bevor einer der drei noch etwas gegen uns unternehmen konnte, hatte Harst schon die Clement herausgerissen.

Aber – er brauchte sie nicht mehr.

Von draußen wurde die Tür eingeschlagen.

Da erlosch die Karbidlaterne.

Da war auch Bechert schon im Wagen, ließ seine Taschenlampe aufflammen, – Bechert und drei Beamte, sämtlich in Weibertracht.

„Hände hoch! Kriminalpolizei!“ brüllte er.

Und oben in der Öffnung der Falltür verschwanden zwei Beine.

Parnack hatte den Moment, wo es im Wagen dunkel war, gut benutzt, – Parnack hatte einen Durchschlupf im Wagendach bereit, sprang vom Dache über den Zaun auf den asphaltierten Weg, flüchtete in den Park.

Schüsse knallten hinter ihm drein. –

Er entkam. Nur die beiden anderen wurden verhaftet.

Und in einer Kiste des Wagens fanden wir den Käfig, fanden wir Mutz, den rechnenden Kanarienvogel, dazu die gestohlenen Wertsachen.

Vroni Pfitzhuber aber und der tote Kanarienvogel –

Doch davon im zweiten Teil.

 

 

Der Mord im Kleistpark

 

1. Kapitel.

Elf Uhr abends war’s und wir saßen nach der ergebnislosen[7] Verfolgung Gisbert Parnacks in Jakob Pfitzhubers Wohnwagen: Bechert, der Schausteller, Vroni und wir beide. – Frau Zenzi wollte uns in der Küche eine gute Tasse Kaffee zubereiten.

Bechert hatte sein Weiberkostüm abgelegt. Darunter trug er einen dunklen Sportanzug.

Das Vronerl hatte sich in die dunkelste Ecke zurückgezogen. Sie war nicht in der äußeren Verfassung, sich Männerblicken allzu nahe zeigen zu können, da Vater Jakob die moralische Entgleisung seines Kindes sofort durch einige überaus kräftige Ohrtachteln geahndet hatte, die der regelmäßigen Rundung des Gesichtes Vronis nicht vorteilhaft gewesen waren.

Sie hatte keine Ahnung davon gehabt, daß Gisbert Parnack hier viele Jahre als Justizrat Finster gelebt hatte. Er war tatsächlich eine alte Liebe von ihr aus Stettin, und so war es ihm leicht geworden, Vroni vollständig für sich zu gewinnen, hatte sich als die von Harald Harst verfolgte Unschuld aufgespielt, Vronerl die Ehe versprochen und sie für seine Pläne schamlos ausgenutzt.

Als auch Bechert nun die Geschichte des gefüllten toten Kanarienvogels mit allen Einzelheiten hörte, meinte er kopfschüttelnd:

„Es ist wirklich ein Wunder, daß diesem raffinierten Kerl und seiner Garde unsere Anwesenheit auf dem Rummelplatz entgangen ist. Als Sie mich nachmittags anriefen, lieber Harst, und mich mit drei Beamten hierher bestellten, hatten Sie mich allerdings dringend gewarnt, ja keine Vorsichtsmaßregeln außer acht zu lassen. Deshalb kamen wir auch in Weiberkleidern.“

Von diesem Telephongespräch mit Bechert hatte ich nichts gewußt. Harald hatte mich ja noch kurz vor dem Eindringen in den Gerätewagen bei dem Glauben belassen, Bechert sei von unserem Vorhaben nicht unterrichtet. –

Nun meldete sich Jakob Pfitzhuber. Er wollte durchaus wissen, wie der Füllfederhalter hatte explodieren können, ohne Harald die rechte Hand zu verletzen.

„Sehr einfach, Herr Pfitzhuber,“ erklärte Harst bereitwilligst. „Ich hatte den Halter so eingerichtet, daß die Pikrinsäure sich entzünden mußte, sobald ich die Schutzhülle über der Feder entfernte. Technische Einzelheiten ersparen Sie mir wohl. Ich hatte aber auch dafür gesorgt, daß die Explosion nicht augenblicklich, sondern erst nach drei Sekunden erfolgte. Ich ließ den Halter also fallen, nachdem ich die Schutzhülle abgestreift hatte, zog die Hand hinter den Kistendeckel und kippte diesen hoch, damit unsere Gesichter geschützt seien. Der Halter explodierte, wie ich vorausgesehen, beim Herabfallen dicht über dem Boden. Pikrinsäure ist als Sprengstoff weit kräftiger als Dynamit. Ich rechnete bestimmt damit, daß unsere Gegner zurücktaumeln würden. Auf den Knall hin aber sollte Bechert eindringen. So war es verabredet.“

Er rauchte ein paar Züge und wandte sich dann an mich.

„Lieber Alter, um die Erklärungen völlig zu beenden: ich sprach zu Dir von den fehlenden Gliedern der Kette, von dem fehlenden Verschlußstück. Dieses Fehlende war eben Parnacks Absicht, durch uns wieder in Besitz der beiden Edelsteine zu gelangen. Ich sah voraus, daß er nur deshalb uns in seine Gewalt bekommen wollte, um uns zu zwingen, ihm die Diamanten zu verschaffen.“

Frau Zenzi erschien mit einem Tablett, stellte Tassen auf den Tisch und eine große Porzellankanne, der ein köstlicher Duft entströmte.

Sie füllte die Tassen und meinte:

„Dös ischt kan Abwaschwasser, die Herren. Den Kaffee können die Herr’n schon trinken –“

Es war recht gemütlich hier in Pfitzhubers kleinem blitzsauberen Wohngemach. Die meisten Schausteller sind ja äußerst ordnungsliebende und peinlich saubere Leute. An der Wand an einem Nagel hing jetzt Mutz’ Vogelbauer, und der kleine gelbgrüne Künstler hüpfte vergnügt von einer Stange auf die andere, fuhr zuweilen mit dem Schnabel über die Gitterstäbe hin wie über die Saiten einer Harfe und schien froh, daß seine Gefangenschaft im Gerätewagen beendet war.

Harald erhob sich plötzlich, nachdem sein Blick eine Weile sinnend auf dem Käfig geruht hatte.

Trat an das Bauer heran, besichtigte es genau und fragte dann in die dunkle Ecke hinein:

„Fräulein Vroni, hat Parnack diesen Käfig in der Hand gehabt, bevor Sie ihn in der vergangenen Nacht verschwinden ließen? – Wir haben da nämlich in Parnacks Westentasche eine Zinkdrahtrosette gefunden, die nur von einem Vogelbauer stammen kann. Ob sie an diesem Käfig hier fehlt, vermag ich so schnell nicht festzustellen.“

Jakob Pfitzhuber rief sofort:

„Nehmen’s den Käfig doch herab, Herr Harst.“

Harald tat es und brachte ihn an den Tisch. Vroni erklärte jetzt:

„Parnack hat Mutz nie beachtet. Die Rosette muß von einem anderen Vogelbauer herrühren.“

„Allerdings, das sehe ich jetzt ebenfalls,“ nickte Harald. „Hier an Mutz’ Bauer fehlt kein Stückchen.“

Dann trug er den Käfig wieder zurück und meinte:

„Die Drahtrosette kann uns ja auch gleichgültig sein.“

Das Gespräch nahm eine andere Wendung. Frau Zenzis Kaffee war wirklich vorzüglich. Um halb zwölf verabschiedeten wir uns. Auch Bechert sagte uns auf der Potsdamer gute Nacht, sprang auf einen Autobus und fuhr davon.

Harald hatte vorhin, als wir Pfitzhubers Wohnwagen verließen, Vroni noch besonders die Hand gedrückt und mit ihr geflüstert.

Als wir nun an der Ecke der nahen Goltzstraße auf unsere Elektrische warteten, sagte er unvermittelt:

„Ich habe Vroni gefragt, wem der tote Kanarienvogel gehört hat. Sie versicherte mir, sie wüßte es nicht. Mag sein. – Glaubst Du, daß die Käfigrosette aus Parnacks Westentasche ganz bedeutungslos ist?“

„Nein. Daß sie es nicht ist, merkte ich schon daran, daß Du sie als bedeutungslos hinzustellen suchtest.“

„Ich werde sie Bechert abverlangen,“ murmelte Harst, und es klang, als seien seine Gedanken seinen Worten weit voraus. „Wer steckt wohl eine Drahtrosette von einem Käfig zu sich?! Weshalb?! Um sie aufzubewahren?! Weshalb aufbewahren?! Und – woher stammte der tote Kanarienvogel – woher? – Parnack muß doch einen Schlupfwinkel hier in Berlin haben, einen ganz sicheren Schlupfwinkel –“

Dann schwieg er.

Unsere Straßenbahn kam. Wir stiegen ein. Um Mitternacht waren wir in der Blücherstraße, in Haralds Arbeitszimmer.

Und fanden auf dem Mitteltisch einen Zettel von Frau Auguste Harsts Hand:

Lieber Harald, abends um zehn war ein altes Frauchen hier, die mich unter Tränen um den toten Kanarienvogel bat, ihren Liebling, den ihr ein Mann gestohlen und getötet hätte, der bei ihr möbliert wohnte. Sie nannte sich Frau Sturz, Berlin W, Passauerstr. 299, Gartenhaus. Die Ärmste war so unglücklich, daß ich ihr den toten Vogel schließlich aushändigte. Sie wollte ihn in einem großen Blumentopf liebevoll bestatten. – Deine Mutter.

Harst hatte halblaut vorgelesen, nahm nun das Berliner Adreßbuch, blätterte darin, sagte:

„Die Passauerstraße hat keine Nummer 299. Auch in Nr. 99 wohnt keine Frau Sturz. Meine Mutter dürfte von Anna Holm, Parnacks Vertrauter, getäuscht worden sein. Es fragt sich nun: weshalb holte die Holm den toten Vogel? Sicher nicht aus dem Grunde, um ihn „liebevoll bestatten“ zu können. Weshalb also?“

Er blickte sinnend vor sich hin. „Ich will doch mal meine Mutter wecken,“ meinte er dann. „Es erscheint mir wichtig, festzustellen, wo sie mit dieser angeblichen Frau Sturz gesprochen hat. Entschuldige mich ein paar Minuten. Du könntest inzwischen für alle Fälle mal das Zimmer hier durchsuchen, denn wahrscheinlich hat meine Mutter die „Sturz“ hier empfangen.“

Er ging hinaus. Ich hörte ihn die Treppe emporsteigen.

Zimmer durchsuchen?! Hm – ob Harald fürchtete, die „Sturz“ könnte für uns irgend eine Überraschung zurückgelassen haben?!

Wenn ja, dann mußte ich wohl zunächst mal unter die Klubsessel und unter das Ledersofa schaun.

Ich tat es mit Hilfe der eingeschalteten Taschenlampe.

Nein – der Fußboden war leer. Da stand keine Höllenmaschine – nichts dergleichen.

Ich suchte weiter.

Nirgends etwas Verdächtiges! – Setzte mich in den einen Sessel, zündete mir eine Zigarre an und dachte an die Käfigrosette, den Vogel und den entflohenen Verbrecher, dessen Spur im Kleistpark der Polizeihund bis zur Pallasstraße über den Hof eines Baugeschäftes verfolgt und dann verloren hatte.

Harst kehrte zurück – lebhafter in Gang und Haltung als vorhin.

„Die Sturz ist hier einige Zeit allein im Zimmer gewesen,“ erklärte er. „Das legt uns die Pflicht auf, das Zimmer aufs genaueste zu durchstöbern. Ich bin jetzt überzeugt: das Weib war Anna Holm, niemand anders! Und sie hat uns fraglos hier irgend eine Teufelei zurückgelassen.“

„Ich habe bereits gesucht,“ meinte ich.

Harald blickte mich an.

„Auch genau?“

„Hm – ich denke.“

„Die Sturz hat dort gesessen, wo Du jetzt sitzt.“

„Auf dem Fußboden liegt nichts.“ – Mir kam Haralds Vorsicht etwas übertrieben vor.

„Steh’ doch einmal auf, bitte.“

Ich tat es, und – er kippte den schweren Klubsessel um, bückte sich und beschaute die Unterseite, wo die straffen Gurte die Sprungfedern hielten.

Dann pfiff er leise durch die Zähne, kniete nieder und – holte zwischen den Gurten und Sprungfedern eine längliche Blechbüchse hervor, etwa von der Größe einer Zweipfund-Spargelbüchse.

„Donnerwetter – also doch!“ entfuhr es mir.

„Ja – also doch, mein Alter! Wie fein Du gesucht hast!“

Er betrachtete die Büchse. Es war eine Konservenbüchse. Der eine Deckel war rund herausgeschnitten und durch ein aufgelötetes Stück Blech ersetzt worden. Die Lötstellen bildeten keine fortlaufende Linie, sondern nur hier und dort hatte man etwas Lötzinn mit dem Kolben aufgetupft, so daß es nicht schwer fallen konnte, das Blechstück abzureißen.

Plötzlich klopfte es kurz an die Tür nach dem Flur, und Frau Harst trat ein.

„Entschuldigt,“ meinte die alte Dame ein wenig aufgeregt. „Ich habe mir den Besuch der Frau nochmals durch den Kopf gehen lassen, Harald. Ich glaube, ich habe Dir da auf dem Zettel eine unrichtige Nummer angegeben. Die Frau nannte mir die Hausnummer Nr. 119. Nun weiß ich’s ganz bestimmt – 119, nicht 299.“

Dann nickte sie uns zu und kehrte wieder nach oben in ihr Schlafzimmer zurück.

Harst blätterte schon im Adreßbuch.

„Ah – wirklich: Frau Anna Sturz, verwitwete Rechnungsrat.“

Und Harald schaute mich verblüfft an, fügte hinzu:

„Nun kommt es auf zweierlei an: erstens, ob diese Rechnungsrätin wirklich die Besucherin war, und zweitens, was diese Büchse enthält!“

 

2. Kapitel.

Harald setzte sich.

„Hole mir bitte den Handwerkskasten, mein Alter. – So, danke. Nun rücke mir die Stehlampe näher und nimm die Glocke ab.“

Dann untersuchte er die Spargelbüchse auf seine Art.

„Gewicht etwa zwei und ein halb Pfund,“ erklärte er. „Außen bis auf den aufgelöteten Ersatzdeckel nichts Verdächtiges.“

Er hielt sie an das Ohr. „Kein tickendes Uhrwerk zu hören. – Schütteln möchte ich sie doch lieber nicht. Man kann nicht wissen!“

Er nahm einen Blechschneider und schnitt mit größter Behutsamkeit aus der Seitenwand ein Stück heraus, vergrößerte die Öffnung, bis er den Blechzylinder zertrennt hatte.

Nun zog er die Teile, nachdem er den in Papier gewickelten Inhalt befühlt hatte, auseinander und legte das längliche Päckchen auf den Tisch.

Ich hatte mit einer gewissen nervösen Spannung zugeschaut. Der Gedanke an eine Höllenmaschine hatte mich nicht verlassen.

Ich atmete auf, als Harald mit einem merkwürdigen Lächeln sagte:

„Das Päckchen enthält Eßlöffel.“

Und er entfernte die vielfachen Lagen Seidenpapier, enthüllte – fünf offenbar sehr alte, goldene Eßlöffel mit Wappen und dem Monogramm:

H. v. B.

„Gold – wahrhaftig Gold, nicht vergoldet,“ sagte er langsam. „Mein Alter – begreifst Du das?! Eine Frau Sturz holt einen toten Vogel ab und läßt dafür fünf Eßlöffel hier, die in eine Spargelbüchse eingelötet sind!“

Ich hatte mir einen Stuhl herangerückt und prüfte die Löffel.

„Ich schätze ihr Alter auf zweihundert Jahre,“ meinte Harald versonnen. „Sie sind heute viele, viele Millionen wert.“

Dann strich er das Seidenpapier glatt.

Stutzte, deutete mit dem Finger auf einen lila Fleck des Papiers.

Ich beugte mich vor. Der Fleck war ein Stempel:

Heinrich Sturz,
Rechnungsrat,
Berlin, Passauerstraße 119.

Harst schüttelte den Kopf.

„Unbegreiflich! Also wirklich Sturz – Rechnungsrätin Sturz!“

Wieder nahm er den einen Teil der zerschnittenen Büchse in die Hand, besichtigte den aufgelöteten Deckel.

„Diese Lötarbeit rührt von einem Laien her, ist sehr alt, liegt Jahre zurück. Das sieht man. Die Löffel ruhen also schon lange Zeit in der Büchse.“

Er griff nach dem silbernen Zigarettenkasten, strich ein Zündholz an, lehnte sich zurück, rauchte mit geschlossenen Augen.

Die Wangenmuskeln seines hageren geistvollen Gesichts spielten. Auf der Stirn erschienen Falten.

„Es gäbe eine Theorie – eine Erklärung,“ murmelte er. „Sie könnte stimmen, wenn –“

Das weitere verstand ich nicht.

Dann öffnete er die Augen.

„Ich wünschte, es wäre erst wieder Tag, lieber Alter, und wir könnten Frau Sturz besuchen und ausfragen. Ich werde ja doch nicht schlafen können. Wie sollte ich’s bei dieser Fülle von Fragen, die mich beschäftigen!“

„Und Du hast eine Erklärung für dies alles bereit – für den toten Kanarienvogel bis hin zu den goldenen Löffeln?“

„Ja. Eigentlich gibt es ja nur eine einzige Erklärung, denke ich, wenn man die Geschehnisse logisch prüft und aneinanderreiht. Aber diese meine Theorie steht und fällt mit Anna Holm, mit unseres Gegners Gisbert Parnack Helfershelferin, mit dieser gerissenen, gebildeten, sprachkundigen Hochstaplerin –“

„Inwiefern?“

„Ob die Rechnungsrätin oder Anna Holm hier war – darauf kommt es an! Ich möchte mich für die Rätin entscheiden. Dann stimmt meine Theorie.“

„Und die wäre?“

„Ein neues Rätsel!“

Dann gähnte er. „Wollen schlafen gehen! Gute Nacht, Max Schraut! Mach’ kein so enttäuschtes Gesicht. Die Geschichte mit den Löffeln ist vielleicht so verblüffend einfach, daß Du um jede Begeisterung für den neuen Fall kämest, wollte ich Dir meine Theorie entwickeln. Freue Dich auf morgen. Da wird es Arbeit geben, wie wir sie schätzen. Gute Nacht.“

Er nahm die Teile der Spargelbüchse, das Seidenpapier und die fünf Löffel mit in sein Schlafzimmer. –

Ich war kaum erst eingeschlafen, da ich noch im Bett die Abendzeitungen durchgesehen hatte, als (es war morgens drei Uhr fünfundzwanzig Minuten) ich im Flur die Glocke schrillen hörte – so andauernd, daß ich sehr bald wach wurde.

Ich zog den Schlafrock über, eilte in den Flur, und im selben Moment trat auch Harald aus seinem Arbeitszimmer.

Der frühe Besucher, den wir jetzt beim Morgengrauen einließen, war – Jakob Pfitzhuber.

Armer Jakob! Ganz verstört war er, stellte sein Fahrrad in den Flur und stammelte etwas von einem Toten, der auf einer Bank im Kleistpark säße und auf dessen Schenkel ein toter Kanarienvogel mit ausgebreiteten Flügeln läge.

Ein Kognak in Harsts Arbeitszimmer im Sessel genossen brachte Freund Pfitzhuber wieder etwas zu sich.

Wir erfuhren dann folgendes:

Er hatte bei Hellwerden seinen Wohnwagen verlassen, um in einem Komposthaufen an der Nordwestecke des Kleistparks nach Regenwürmern zu suchen, die er als leidenschaftlicher Angler brauchte. Am Tage durfte er an den Komposthaufen nicht heran. Es war verboten und kostete Strafe.

Als er sich dem Komposthaufen auf Seitenwegen genähert hatte, war ihm ein auf einer Bank sitzender Mann aufgefallen, dessen zusammengesunkene Haltung seinen Argwohn erregte. Er trat an den Menschen heran, schob ihm den Hut aus dem Gesicht und sah sofort, daß der Mann tot war. Außerdem bemerkte er aber auch an der linken Halsseite unter dem blutdurchweichten Kragen eine Stichwunde. Da hatte er dem Toten den Hut wieder ins Gesicht gedrückt, war zu seinem Wagen zurückgeeilt und hier zu uns geradelt. –

Er bekam einen zweiten Kognak und eine Zigarre, holte ein Auto herbei, so daß wir beide kaum mit Anziehen fertig sofort davonfahren konnten.

Als wir in der Potsdamerstraße ausstiegen, war die Sonne gerade aufgegangen.

Wir trafen einen Polizeibeamten, den wir mit der Meldung von dem voraussichtlichen Verbrechen zur nächsten Wache schickten.

Dann betraten wir den Park, fanden auch die in der Nähe des Spielplatzes stehende Bank, machten in einiger Entfernung halt.

„Wir wollen warten, bis die Polizei eintrifft,“ meinte Harald. „Wir dürfen die Fußspuren nicht durch unsere Spuren verwischen.“

Er hatte ein Fernglas mitgenommen, stellte es ein.

Und – da sah auch ich, daß auf dem rechten Schenkel des Toten ein Kanarienvogel lag und daß aus dem Gebüsch links der Bank eine größere grünbraune Schlange langsam hervorkroch.

Harst setzte das Glas ab.

„Das ist kein inländisches Reptil,“ meinte er. „Es ist eine –“

Neben uns war Jakob Pfitzhuber erschienen, rief leise:

„Ah – die Bestie – die Bestie!“,

wollte vorwärtsstürmen, wurde von Harald am Arm gepackt, zurückgehalten.

„Pfitzhuber, es ist eine Giftschlange, eine ägyptische Viper.“

Der Schausteller drehte uns sein bleiches Gesicht zu, keuchte wütend:

„Lassen’s mi los, Herr Harst!“

Harald fixierte ihn scharf. „Gehört die Viper etwa Ihnen, Mann?“

Pfitzhuber lächelte plötzlich blöde.

„Ob das Mistvieh –? Nix davon – nix davon! Herr Harst, i bin so a wengerl besuff’n. Die beiden Kognäker dort bei Eahna – so auf nüchtern Moagen!“

Er log, er log ohne Zweifel. Er zitterte ja, und das Lächeln war versteckte Angst.

„Keine Ausreden, bester Pfitzhuber,“ sagte Harald ernst, „mich täuschen Sie nicht! Die Viper ist Ihnen entflohen! Sie ist Ihr Eigentum.“

„Sie san verrückt, Herr!“ brauste der bisher so bescheidene Jakob auf. „Lassen’s mi los! Teufi noch mal!“

Die Schlange kroch jetzt dicht an dem Toten vorüber wieder ins Gebüsch zurück.

„Herr Pfitzhuber,“ meinte Harald noch eindringlicher. „Sie sollten mir lieber die Wahrheit sagen –“

Da hatte der stämmige Mann einen Satz nach vorwärts getan, hatte sich frei gemacht, stürmte um die Bank herum und hob ein mächtiges Stück Schlacke von einer Beeteinfassung empor. Dann verschwand er hinter den Sträuchern nach dem Komposthaufen zu.

Harald zuckte die Achseln.

„Wir werden uns Freund Jakob nachher vornehmen. Kein Wunder, daß er die Viper als sein Eigentum verleugnet. Diese Sandvipern sind außerordentlich giftig. Ich verstehe nur nicht, wie er in seiner harmlosen Menagerie sich eine Giftschlange halten konnte.“

Pfitzhuber erschien nicht mehr.

Zehn Minuten später war die Mordkommission zur Stelle. Die beiden Kriminalkommissare kannten wir nur oberflächlich. Man merkte, daß sie keinen Wert auf unsere Anwesenheit legten. Immerhin gestatteten sie, daß wir uns den Toten ansahen, der tatsächlich durch einen Stich in die linke Halsschlagader verblutet war. Es lag ohne Zweifel Mord vor. Der Polizeiarzt erklärte, der Tod sei zwischen zwei und vier Uhr morgens eingetreten. – Den Kanarienvogel hatte einer der Beamten bereits in Papier gewickelt und in die Tasche gesteckt.

Der Ermordete hatte ein hageres, faltiges Gesicht, war bartlos, hatte sehr dünnes graues Haar und trug einen schlecht sitzenden Anzug, dessen Taschen auch nicht die geringste Kleinigkeit enthielten.

Wir beide kamen uns hier am Tatort bald sehr überflüssig vor. Wir hatten ausgesagt, was wir wußten, hatten jedoch in Rücksicht auf Pfitzhuber die Sandviper verschwiegen. Gerade als wir davongingen, kam Freund Jakob in Begleitung eines Kriminalbeamten herbei, der ihn geholt hatte. Er trat rasch an uns heran.

„Hab’n ’s Mistvieh erwähnt?“ fragte er stockend.

„Nein,“ erklärte Harst ebenso leise.

Jakob nickte zufrieden und schritt weiter.

Wir begaben uns auf den Schaubudenplatz, fanden Frau Zenzi bereits in der Wagenküche vor und wurden in den Wohnraum gebeten.

Frau Pfitzhuber suchte ihre Verlegenheit unter einem Schwall von Worten zu verbergen.

Bis Harald meinte:

„Sie sollten mir besser keine Komödie vorspielen. Ihr Mann hat Ihnen erzählt, daß er die Viper gefunden hat, nicht wahr? Ich habe der Polizei gegenüber von der Giftschlange geschwiegen, die ja schließlich mit dem Morde im Kleistpark nichts zu tun hat.“

Da rannen der robusten Frau Zenzi zwei dicke Dankestränen über die Wangen.

„Vergelt’s Gott, Herr Harst, vergelt’s Gott!“ schluchzte sie. Und sie berichtete dann von all der furchtbaren Angst, die sie und ihr Mann der Schlange wegen ausgestanden hatten.

Jakob Pfitzhuber hatte das Reptil vor drei Wochen von einem Bekannten, ebenfalls einem Schausteller, in Zahlung genommen für ein Darlehn, das dieser ihm nicht zurückerstatten konnte. Er hatte gehofft, die Sandviper später mit Vorteil weiterveräußern zu können. Vor fünf Tagen hatte die Schlange sich jedoch aus ihrer Kiste nachts befreit und war seitdem verschwunden gewesen. Pfitzhuber hatte mit seiner Frau den ganzen Park und auch die nahen Laubengärten abgesucht – angeblich nach einem entlaufenen jungen Kaninchen. Heute nun hatte Jakob endlich das „Mistvieh“ erwischt und hatte sie getötet. –

Frau Zenzi war gerade mit der lebhaften Schilderung zu Ende gekommen, als Jakob Pfitzhuber erschien.

Was sich nun ereignete, war eine etwas veränderte Wiederholung jener Szene von vorhin im Kleistpark, als Pfitzhuber sich aus Harsts Umklammerung loszureißen suchte.

Kaum hatte er uns begrüßt, kaum hatte Harald durch ein paar Worte angedeutet, daß uns die Geschichte der Sandviper nun bekannt sei, als Jakob wie ein Irrsinniger auf seine Frau losschoß, sie bei den Schultern packte und hin und her schüttelte.

Sein Gesicht war blaurot vor Wut – seine Stimme versagte vor ungeheurer Aufregung.

Harald sprang zu, schob ihn kraftvoll zurück.

„Mann – sind Sie denn wirklich übergeschnappt!“ fuhr er ihn an. „Was schadet es, daß Ihre Frau uns alles eingestanden hat?! Die Viper hat doch zum Glück keinerlei Unheil angerichtet!“

Pfitzhuber lachte schrill. „Eing’standen – eing’standen? Koan Wort ist wahr davon. Ni net hoab’n wir so an Vieh b’sessen – ni net! Und Sie beid’, scheren sich zum Teifi! Raus mit so zwoa Schnüffler – raus!“

Harald nahm gelassen seinen Hut, winkte mir, und wir verließen den Wagen und den Rummelplatz.

 

3. Kapitel.

„Undankbar und unverschämt!“ sagte ich draußen leise zu Harald in Bezug auf unseren Jakob, der plötzlich so wenig angenehme Charakterseiten enthüllt hatte.

„Hm –!“ machte Harst nur.

Und mich – machte das stutzig. „Du meinst, seine Wut gegen die arme Zenzi und sein Verhalten uns gegenüber hat Gründe besonderer Art?“ fragte ich, nachdenklich geworden.

„Ich fand, Pfitzhuber war schon morgens, als er uns aus dem Bett läutete, in merkwürdiger Verfassung. Ein Mann wie er läßt sich doch durch den Anblick eines Toten nicht so stark aus dem seelischen Gleichgewicht bringen. Bedenke, er hatte doch schon die Radfahrt nach Schmargendorf hinter sich, also viel gesunde Bewegung, die seinen Schreck über das Leichengesicht hätte dämpfen müssen. Und doch taten ihm die zwei Kognaks wirklich not.“

„Allerdings –“

„Vielleicht hatte er morgens im Park ganz etwas anderes erlebt, als er uns dann mitteilte –“

Ich schaute Harst nach diesen Sätzen gespannt an. „Du ahnst, was er gesehen hat?“

„Das ist, denke ich, leicht zu erraten, lieber Alter.“

Harald war wieder in den Kleistpark eingebogen. Wir gingen unter den mächtigen Säulenreihen entlang.

Ich blieb stehen.

„Die Sandviper?“ meinte ich unsicher, obwohl der Gedanke an das Reptil den Umständen nach ja am nächsten lag.

„Was sonst?!“

„Und was erlebte er mit der Viper?“

„Sie entkam ihm.“

„Er sah sie also auf dem Wege zum Komposthaufen?“

„Ohne Zweifel.“

Da wurde ich ungeduldig. „So erkläre mir doch alles! Laß Dir nicht jedes Wort einzeln –“

Harst hatte die Hand erhoben. „Da – die Polizei schafft die Leiche weg,“ sagte er weit lebendiger.

Drüben auf dem anderen Zugangswege des Parkes trugen zwei Männer eine Bahre. Auf der Straße stand ein Transportauto.

„Wir finden den Platz also leer,“ fügte Harst hinzu. „Das ist mir lieb. Ich möchte Dir etwas zeigen.“ Und in raschem Tempo setzten wir nun unseren Weg fort.

Standen bald vor der weißen Bank, die jetzt so nichtssagend war wie all die übrigen des Parkes.

Nur meine Phantasie zauberte mir das Bild des zusammengesunken dasitzenden Toten wieder vor Augen, dazu den Kanarienvogel auf dem Schenkel und die langsam dahinkriechende Viper.

Der Kanarienvogel! – Seltsam, nicht ein einziges Wort hatte Harald bisher über dieses Tierchen geäußert! Und – ehrlich gesagt – ich hatte auch kaum mehr daran gedacht, weil Pfitzhubers Schlange mich allzu sehr beschäftigt hatte.

Harst deutete jetzt auf die Erde – auf den einen Fuß der Bank.

„Das wollte ich Dir zeigen, mein Alter. Da ist, wie Du siehst, um den Fuß ganz unten ein dünner Draht gebunden – ein ganz dünner Draht, Blumendraht, und da liegt noch ein freies Ende dieses Drahtes, etwa dreißig Zentimeter lang.“

Er bückte sich, machte den Draht vorsichtig los, hielt mir das freie Ende unter die Augen.

„Es klebt etwas wie Schleim daran, nicht wahr?“

„Ja. Ein blasiger Schleim –“

„Vergiß das nicht: blasiger Schleim! – So, nun wollen wir versuchen, Pfitzhubers Spuren zu folgen, die er hervorrief, als er vorhin die Viper suchte und das Stück Schlacke aufhob. Vielleicht hat er die Schlange gleich irgendwo verscharrt. Ich möchte sie mir gern ansehen.“

Es war nicht ganz leicht, die Stelle in dem Komposthaufen zu finden, wo Freund Jakob das Reptil oberflächlich eingebuddelt hatte. Man sah, daß er der Viper, mit dem Schlackenstück offenbar, den Schädel förmlich zu Brei zermalmt hatte.

Harald hob die Viper am Schwanze etwas hoch, ließ sie aber gleich wieder fallen und warf Erde darüber. „Ich habe genug gesehen,“ meinte er. „Wir können jetzt daheim frühstücken. Wir haben uns ein paar weiche Eier nebst Zutaten ehrlich verdient.“

Ein Auto war bald gefunden. So fuhren wir denn an diesem frischen, schönen Maimorgen durch die eben erst erwachenden Straßen nach Schmargendorf hinaus.

Ich glaubte nun endlich eine Einzelheit zur Erörterung stellen zu können, über die Harald bisher völlig achtlos hinweggegangen war, wie ich schon erwähnt habe: den toten Kanarienvogel auf dem rechten Schenkel des Ermordeten!

„Wie denkst Du über den Vogel,“ begann ich. „Es war doch ein Kanarienvogel, und gerade diese Vogelart hat uns in letzter Zeit –“

„Es war der richtige,“ fiel mir Harald ins Wort. „Es war der Liebling der Rätin Anna Sturz. Ich habe ihn wiedererkannt. Er hatte ein so ausdrucksvolles Gesicht.“

Das war Ironie! Weshalb zog Harst mich dergestalt auf?! Hatte ich eine Dummheit gemacht?!

Mein empörter Blick entlockte ihm ein Lächeln. „Lieber Alter, die beiden letzten Sätze bezogen sich nicht auf den Vogel, sondern auf den Toten, den Ermordeten.“

Das verblüffte mich noch mehr.

„Wie – Du hast den alten Mann wiedererkannt – an dem ausdrucksvollen Gesicht?!“ rief ich ungläubig. „Du kennst ihn also? – Woher denn?“

„Durch den Vogel. – Im übrigen wirst Du mir den Frühstücksappetit durch Deine Fragen verderben. Sei doch nicht so neugierig. Nachher wird Bechert entweder des Vogels wegen zu uns kommen oder anrufen, und dann muß ich die ganze Geschichte nochmals vortragen. Das ist langweilig. Bechert gehört zwar nicht zum Morddezernat, wird aber fraglos sehr bald von dem Morde erfahren, auch von dem Vogel auf dem Schenkel der Leiche, wird das Tierchen sich ansehen, wird den leeren Leib bemerken, den Vogel als den „gefüllt gewesenen“ wiedererkennen, seinen Kollegen von der Mordkommission mitteilen, was es mit dem toten Tierchen auf sich hatte, und dann schleunigst mit mir sich in Verbindung setzen. – So, nun rede ich kein Wort mehr!“

Und das tat er wirklich.

Wir saßen mit Frau Harst in der Veranda bei hochgezogenen Fenstern und freuten uns über die vielen Schwalben, die im Sonnenschein dahinschossen und die erst vor wenigen Tagen aus dem Süden wieder bei uns erschienen waren.

Wir, Frau Auguste und ich, sprachen über die Rechnungsrätin, die ihren toten Liebling abgeholt hatte, und über das Verbrechen im Kleistpark.

Harald blieb stumm, rauchte, trank Tee, sah hin und wieder nach der Uhr.

Frau Auguste betonte, die Rätin hätte so ein freundliches, liebes altes Gesicht gehabt, nur so sehr traurig.

Es war genau halb acht morgens, als Mathilde erschien und meldete: „Herr Bechert ist da. Ich habe ihn ins Arbeitszimmer geführt.“

Harst erhob sich elastisch. „Auf Wiedersehen, Mama –“

Ich folgte ihm, begrüßte Bechert, setzte mich zu den beiden an den Sofatisch.

„Unger erzählte mir, daß Sie und Schraut von Pfitzhuber an den Tatort geholt worden waren,“ fuhr Bechert fort. „Denken Sie, lieber Harst, der Kanarienvogel, der auf dem Schenkel –“

„Weiß schon: ist derselbe, in dem die Uhrkette Frau Zenzis verpackt war – ist der „gefüllte“ Kanarienvogel. Weiß auch, daß er einer verwitweten Frau Rechnungsrat Anna Sturz aus der Passauerstraße 119 gehört hat. Ich weiß alles.“

„So?!“ meinte Bechert mit feinem Lächeln. „Alles doch wohl kaum. Zum Beispiel der Ermordete –“

„– ist kein Mann, sondern eine Frau, eine Greisin mit sehr wenig Haar, die sonst eine Perücke getragen hat.“

Bechert war starr. Ich jedoch rief:

„Dann ist die Ermordete die Rätin Sturz!“

„Ja, sie ist’s,“ sagte Harald sehr ernst. „Sie ist das Opfer eines gemeinen Verbrechens geworden, eines Verbrechens, wie es in den Annalen der Kriminalpolizei Berlins in dieser Art kaum schon verzeichnet sein dürfte.“

Bechert beugte sich weit über den Tisch. „Harst, sind Sie denn imstande, das Rätsel zu lösen, wie es möglich ist, daß eine durch einen Stich in die Halsschlagader verletzte verkleidete Frau dort auf der Bank verblutet ist, ohne durch Hilferufe sich bemerkbar gemacht zu haben?! – Die Kommission steht hier tatsächlich vor einem Rätsel. Der taufeuchte Parkweg hat ja durch die klaren Fährten meinen Kollegen ein restlos klares Bild der Vorgänge gegeben.“

„Das ist ausgeschlossen,“ warf Harald ein. „Von klarem Bild kann hier keine Rede sein.“

„Gestatten Sie: die Spuren sind sämtlich photographiert worden, bester Harst. Ich habe die Abzüge mitgebracht. Alles ist klar, nur das eine nicht: weshalb blieb die Frau auf der Bank sitzen und verblutete langsam, weshalb –“

Harst machte eine ungeduldige Handbewegung. „Zeigen Sie die Photos, Bechert. Ich sage nochmals: die Sache ist ganz anders, als Ihre Kollegen sich’s denken.“

„Bitte – hier sehen Sie die ersten Fährten der Ermordeten, der als Mann Verkleideten. Sie hat von der Potsdamerstraße her den Park in Begleitung einer zweiten Person, offenbar eines Weibes den Spuren nach, betreten, ist mit dieser Person zusammen bis zum Spielplatz gegangen. An dieser Stelle hat die Begleiterin kehrtgemacht. Meine Kollegen nehmen nun an, daß dieses Weib hier auch ihrem Opfer den Stich in den Hals beigebracht hat.“

„Falsch!“ meinte Harald. „Aber nur weiter!“

Bechert war etwas aus dem Zusammenhang gekommen.

„Sie verwirren mich, Harst. Sie sind heute so kurz angebunden. – Wie gesagt: die Frau ging allein auf die Bank zu, setzte sich. Bitte, hier zwei Aufnahmen. – Und sie hat sich dann nicht mehr erhoben, ist verblutet, was mindestens zehn Minuten gedauert haben muß. Niemand hat sich der Bank mehr genähert, nachdem sie sich dort niedergelassen hatte, niemand außer Pfitzhuber, und daß der die Frau nicht erstochen hat, ist wohl sicher. Außerdem sind seine Spuren auch weit deutlicher, weil er sich eben erst über eine Stunde später der Bank genähert hat. Es bleibt also nur die bereits erwähnte Erklärung übrig: die Begleiterin der Greisin stach zu, bevor sie sich von ihr trennte!“

„Falsch!“

Bechert wurde nervös. „Bitte, dann rücken Sie mit Ihrer Weisheit heraus!“ meinte er gereizt zu Harald, der weit zurückgelehnt dasaß.

„Sie müssen nicht empfindlich sein, lieber Bechert,“ sagte Harst begütigend. „Es ist wirklich falsch, was die Photos da verraten. – Erst noch einige Fragen. Hat man an der Leiche sonst noch Wunden oder sonstige auffällige Erscheinungen bemerkt?“

„Nur die Halswunde. Außerdem eine Quetschung an der linken Wade. Ich habe mir die Tote selbst angesehen.“

„Die Quetschung – hm, also eine Schwellung, die stark verfärbt war.“

„Ja, – grünlich-blau.“

„So – so!“

„Halten Sie’s für keine Quetschung, Harst?“

Harald überhörte die Frage, stand auf, holte die fünf goldenen Löffel herbei, ebenso die zerschnittene Spargelbüchse und erklärte Bechert, was es mit den Gegenständen auf sich hätte.

„Die Rätin hat sich also ihren toten Kanarienvogel abgeholt, hat dabei die Blechbüchse hier im Sessel versteckt,“ wiederholte Harst. „Weshalb tat sie dies? Weshalb ließ sie die Büchse mit den goldenen Löffeln hier? – Nun, auf diese Fragen wollen wir später eingehen. – Meine Mutter hatte mir das Äußere der alten Dame genau beschrieben, auch die graue Perücke erwähnt, die als solche sofort zu erkennen war, hatte ebenso von der behaarten[8] Warze auf der linken Wange gesprochen. Diese Warze fand ich nun bei dem Toten im Kleistpark wieder. Da auf dessen Schenkel auch noch ein Kanarienvogel gelegen hatte, da die Gesichtszüge auch die einer Frau sein konnten, da der Anzug des Toten geradezu miserabel saß und viel zu weit war, sagte ich mir heute dort im Park gleich: es ist die Rätin – keine andere! – Sie haben mir nun die Gewißheit gebracht, lieber Bechert.“

„Und Sie der Polizei den unschätzbaren Dienst geleistet, Namen und Wohnung der Ermordeten festgestellt zu haben.“

„Was vorläufig unbedingt geheim bleiben muß! Verstehen Sie: unbedingt! Sonst fassen wir die Mörder nicht.“

„Und das sind?“

„Gisbert Parnack und Anna Holm – den ganzen Umständen nach selbstverständlich! – Parnack ist der Mieter der Rätin, der ihr den Vogel stahl, tötete und für seine Zwecke verwendete. Die Holm war die Begleiterin der Rätin auf dem Gange zur Parkbank.“

Bechert sann nach, meinte: „Eine verzwickte Geschichte! – Was wollte die Greisin zu der Stunde im Park?“

„Sie war, vermute ich, von ihrem Mieter Parnack dorthin bestellt worden. – Viel wichtiger als all das ist eine andere Frage, lieber Bechert: woher wußte die Rätin, daß der tote Kanarienvogel sich bei mir befand? Wer hat ihr dies mitgeteilt? Etwa Anna Holm? Und – welche Rolle spielt die Holm bei alledem?“

Bechert nickte. „Verzwickt – verzwickt, zumal Sie noch behaupten, daß die Begleiterin der Rätin, also die Holm nach Ihrer Annahme, nicht die Urheberin der Halswunde ist.“

„Oh – das weiß ich bestimmt. Die Wunde hat ein Mann der Sturz beigebracht –“

Bechert fuhr hoch. „Ein Mann? Dann kann es ja nur Jakob Pfitzhuber gewesen sein! Nur er hat sich der Bank genähert!“

„Ja – er traf die Greisin in den Hals, und doch – ist er nicht der Mörder,“ sagte Harst, einzelne Worte betonend.

Bechert und ich stierten ihn an, als hätten wir nicht recht gehört.

„Die Mörder sind Parnack und die Holm,“ fügte Harst hinzu. „Und Schraut und ich werden sie zu fangen suchen, während Sie mit Ihren Leuten, lieber Bechert, nur das Haus Passauerstraße 119 umstellt halten. Wir beide werden uns sehr bald in die Wohnung der Sturz begeben, werden dort ausharren, bis die Mörder erscheinen, um das zu suchen, was sich bei mir im Gewahrsam befindet: die goldenen Löffel. – Die Rätin wird sich kaum eine Bedienung halten. Wir werden dort ungestört sein. Die Holm und Parnack dürften kaum ahnen, daß die Polizei oder jemand anders bereits die Tote erkannt hat. Sie werden kommen! Und dann – haben wir sie fest. Es bleibt also dabei, Bechert: wir drei und Ihre Leute führen den Schlag. Und – seien Sie genau so vorsichtig wie gestern abend. Vergessen Sie keinen Augenblick, daß Gisbert Parnack ein außerordentlich gefährlicher, schlauer und rücksichtsloser Mensch ist!“

Bechert machte ein mißmutiges Gesicht.

„Sie spielen wieder mal mit verdeckten Karten, Harst. Selbst Schraut ist nicht eingeweiht. Ich sehe es ihm an. Sie lassen uns beide im unklaren und verlangen, daß –“

„Bitte – fragen Sie!“ unterbrach Harald ihn.

„Ich möchte erklärt haben, wie Sie diesen ungeheuerlichen Widerspruch lösen wollen, daß Pfitzhuber der Rätin die Wunde beigebracht haben soll und doch nicht der Mörder ist,“ erwiderte Bechert sofort.

„Den Widerspruch brauche ich nicht zu lösen, da es keiner ist. Die Rätin ist eben gar nicht an der Halswunde gestorben. Verblutet ist sie. Aber ihren Tod hat etwas anderes herbeigeführt –“

Jetzt kam mir die Erleuchtung.

„Die Sandviper!“ rief ich. „Gift – Schlangengift! Die Quetschung an der Wade ist ein Schlangenbiß!“

„Endlich!“ meinte Harald. „Endlich bist Du auf dem rechten Wege, lieber Alter.“

Dann wandte er sich Bechert wieder zu und berichtete ihm das, was Frau Zenzi uns über die Sandviper anvertraut hatte.

„Ah – nun begreife ich alles!“ nickte Freund Bechert. „Während die Rätin ahnungslos auf der Bank saß, kam das Reptil zufällig –“

„Falsch!“

Bechert schlug mit der Faust auf den Tisch. „Harst, Sie sind heute ekelhaft! Sie fallen mir auf die Nerven!“

 

4. Kapitel.

Um elf Uhr vormittags kam ein Briefträger die Passauerstraße entlang, betrat das Haus Nr. 119, ging über den Hof in das schmale Gartenhaus und machte hier im ersten Stock rechter Hand vor der Flurtür halt, an der außer einem Messingschild mit der Aufschrift „Sturz“ noch eine mit Tinte geschriebene Visitenkarte „Georg Arna, Agent“ hing.

Kaum hatte er vor dieser Tür ein paar Sekunden gestanden, als sie sich öffnete und er rasch eintrat.

Der Briefträger war ich, der Öffnende war Harst, der schon fünf Minuten vor mir als „Gasableser“ sich hier mit Hilfe eines Dietrichs Zutritt verschafft hatte.

Alles blieb still.

„Da wären wir also,“ meinte Harald nun gemütlich.

„Ich habe die drei Zimmer und das Nebengelaß bereits durchsucht. Wir sind allein hier,“ fuhr er fort. „Die Wohnung hat nur diesen einen Zugang. Dort die Tür führt in des Agenten Georg Arna Zimmer. Dieser Georg ist natürlich Gisbert Parnack. Das zweite Vorderzimmer, einfenstrig, ist der Rätin Eß- und Wohnstube, das Hinterzimmer ihr Schlafraum. Zunächst müssen wir jetzt die elektrische Alarmvorrichtung anbringen, damit uns niemand überrascht. Wir werden uns im Schlafzimmer aufhalten. Dort können wir uns am leichtesten verbergen. Es stehen zwei ehrwürdige Schränke dort, Riesendinger.“

Und Harst begann die große Ledertasche, die er als „Gasableser“ mitgebracht hatte, auszupacken.

Ich half ihm dann, oben an der Tür den Kontakt anzuschrauben. Die dünnen Drähte führten wir auf der dunklen Tapetenborte des Flurs bis zum Schlafzimmer, befestigten sie nur mit Teppichnägeln, die sich geräuschlos in den Wandputz eindrücken ließen.

Die Taschenbatterie und die winzige elektrische Glocke wurden auf Sturz Bett gelegt.

Wenn nun jemand die Flurtür auch noch so leise öffnete, schlug hier unsere Alarmglocke mit feinem Stimmchen an und warnte uns.

Dann wollte Harst Herrn Georg Arnas Zimmer gründlich durchsuchen. Er ließ die Tür nach dem Flur offen, und ich stand an der Flurtür Wache, durch deren Spion ich den Treppenabsatz beobachten konnte.

Diese Durchsuchung dauerte eine volle Stunde.

Hin und wieder mußte sie unterbrochen werden, da jemand die Treppe heraufkam und wir uns dann bereithalten mußten, im Schlafzimmer zu verschwinden, wo wir den einen Schrank schon für unseren Empfang hergerichtet hatten. –

Harald erklärte jetzt, daß „Arnas“ Zimmer erledigt sei.

„Die Ausbeute ist gering, lieber Alter. Ich habe nur festgestellt, daß Parnack hier als Arna seit vierzehn Tagen wohnt, daß er hier nur zwei mäßige Anzüge, wenig Wäsche und sonst nichts in dem Schranke untergebracht hat und daß der Schreibtisch auch nicht ein Fetzchen beschriebenes Papier außer diesen zwei Wochenrechnungen der Rätin für ihren Mieter über Auslagen enthält. Und dabei habe ich so gesucht, wir nur wir zu suchen verstehen. – Nun kommt das Wohnzimmer heran. Du mußt also schon noch eine Weile Wache halten.“

Die Ausbeute des Wohnzimmers war nicht üppiger: Harst entdeckte lediglich in einer chinesischen Vexiervase mit doppeltem Boden einen versiegelten Umschlag mit der Aufschrift „Mein Testament“.

Diesen Umschlag hatte er zu sich gesteckt.

Dann nahm er Küche, Speisekammer und Badezimmer vor. Nichts entging ihm. Er fand in der Speisekammer ein heraushebbares Dielenstück, unter dem die Rätin ihr Silberzeug versteckt hatte, fand im Badeofen ein Hamsterlager von Schokolade, Kakao, Kaffee, Tee und anderen Dingen, deren Preis mit dem Dollar ins Unendliche zu steigen drohte.

Aus dem Hängeboden des Badezimmers förderte er dann auch einen sorgsam in Leinwand gehüllten Vogelkäfig ans Tageslicht, zeigte ihn mir und machte mich darauf aufmerksam, daß bei diesem Käfig eine Drahtrosette fehlte und daß diese fehlende Rosette zweifellos diejenige war, die wir in Parnacks Westentasche entdeckt hatten.

Es war zwei Uhr nachmittags geworden, als wir uns ins Schlafzimmer zurückzogen, nachdem wir uns nochmals überzeugt hatten, ob die Alarmglocke auch richtig arbeitete.

Dieser lautlose Aufenthalt in den Räumen einer Frau, die nun in der Leichenkammer des Schauhauses lag, hatte seine aufregenden Momente.

Um drei Uhr nahmen wir unser kaltes Mittagmahl ein. Harsts Ledertasche enthielt auch Proviant für zwei Tage.

Nach dem Essen machte er sich an die Durchsuchung des Schlafzimmers heran, in dem wir einen kleinen Tisch nebst Sofa in der Fensterecke mit Beschlag belegt hatten.

Ich sah zu, wie Harald ganz besonders die beiden riesigen Biedermeier-Schränke auf Geheimfächer abtastete. Sie hatten breite Zieraufsätze, in denen Raum genug für verborgene Fächer war.

Und – er fand auch wirklich in diesen Aufsätzen je ein Geheimfach. Diese waren jedoch leer.

Dann gab es für uns nichts mehr zu tun, als abzuwarten, ob sich etwas ereignen, das heißt, ob jemand kommen würde.

Über den Mord im Kleistpark und dessen Begleitumstände hatten wir nicht mehr gesprochen.

Nun saßen wir auf dem kleinen Sofa.

Die Tür des einen Schrankes stand offen, damit wir sofort hineinschlüpfen könnten, nachdem wir die Alarmglocke und die Batterie rasch von den Drähten losgerissen hatten.

Und Harald faßte in die Tasche und holte den Briefumschlag hervor – das Testament.

Beschaute ihn, sagte:

„Die Aufschrift „Mein Testament“ ist noch keine vierundzwanzig Stunden alt, die Siegel ebenfalls. Man riecht es bei den Siegeln. Die Rätin hat das Testament also erst gestern in diesen Umschlag getan und ihn in der Vase verborgen, gestern! Vielleicht, nachdem ihr am Tage vorher ihr geliebter Kanarienvogel gestohlen war – vielleicht! Vielleicht wurde ihr auch noch mehr gestohlen, vielleicht steht in diesem Testament mancherlei, was die noch dunklen Punkte dieses Verbrechens klären könnte –“

„Du möchtest den Umschlag öffnen?“

„Ja. Nur zu gern. Ob wir es tun oder die Polizei, bleibt sich schließlich gleich.“

Wirklich – er schnitt den Umschlag sauber auf, zog einen Briefbogen heraus, der eng beschrieben war – mit derselben kritzlichen Greisinnenschrift wie „Mein Testament“.

Und wir lasen mit wachsender Spannung folgendes – einen ganzen Roman:

Berlin, den 11. Mai 1922

Passauerstraße 119.

Mein letzter Wille.

Ich, Anna Maria Josephine Sturz, geborene von Bonnzaart, in kinderloser Ehe verheiratet gewesen mit Heinrich Sturz, zuletzt Rechnungsrat bei der Domänenverwaltung, ohne nähere Verwandte, bestimme, daß meine Vermögenswerte, insbesondere die fünf goldenen Familienlöffel der Bonnzaarts, dem Bankbeamten, früheren Hauptmann Ernst Schönborn, Berlin SO 26, Elisabethufer 39 wohnhaft, zufallen sollen.

Ich weiß, daß Ernst Schönborn mich kaum dem Namen nach kennt. Lebte sein Vater, Oberst Schönborn, noch, so könnte dieser seinem Sohne erklären, weshalb ich das älteste seiner Kinder zu meinem Erben einsetze. Ich habe den Oberst Schönborn, damals Leutnant, über alles geliebt. Als er eine andere wählte, habe ich aus Trotz, ohne Überlegung die bescheidene Werbung meines späteren Gatten angenommen. Mein Leben blieb arm an Glück. Meine schönsten Erinnerungen waren die an jene mit Leutnant Schönborn in harmloser Jugendfröhlichkeit verlebten Stunden. So ist es letzten Endes doch der heimlich Geliebte gewesen, der mich innerlich ein wenig reich gemacht hat.

Ich habe lange gezögert, dieses Testament aufzusetzen. Ein besonderer Anlaß hat mir jetzt die Feder in die Hand gedrückt. Seit der verflossenen Nacht ist mein Kanarienvogel, meine einzige Freude, verschwunden. Heute früh fand ich den Käfig im Wohnzimmer leer. Ich habe meinen neuen Mieter Georg Arna im Verdacht, das Tierchen aus Rache beseitigt zu haben, da ich ihm gestern gekündigt habe, weil ich ihn dabei überraschte, wie er in meinem Schlafzimmer den einen Schrank durchsuchte. Aus dem Geheimfach des anderen Schrankes hatte er bereits drei dort verborgene Aktien der Mexikanischen Silbergruben-Gesellschaft herausgenommen, hatte auch durch Einsichtnahme in meine Notizen über meine Steuererklärung festgestellt, daß ich diese drei ausländischen Werte nicht mit angegeben hatte. Er drohte mir, mich zu denunzieren, falls ich ihm die Aktien nicht verkaufte. So zwang er mich, sie ihm für eine lächerlich geringe Summe zu überlassen. Ich kündigte ihm darauf das Zimmer. Wir trennten uns als Feinde. Zum Glück hatte er das Geheimfach des anderen Schrankes noch nicht entdeckt gehabt, denn darin lagen die fünf goldenen Löffel, die ich nun aus Furcht vor Arna mit in mein Wohnzimmer genommen habe. Mein Mann hat sie während des Krieges in eine Büchse eingelötet, da wir sie im Notfalle vergraben wollten.

Meine Angst vor diesem Arna ist vielleicht übertrieben. Vielleicht ist er eines Verbrechens, eines Mordes, nicht fähig. Trotzdem will ich vorsichtig sein. Soeben hat mir – es ist vier Uhr nachmittags – jemand einen Rohrpostbrief geschickt, daß mein liebes Tierchen sich bei dem Detektiv Harald Harst, Schmargendorf, Blücherstraße 10, befände. Dort sollte ich mir meinen leider ums Leben gekommenen Liebling abholen und zwar abends gegen zehn Uhr. Der Brief war unterzeichnet: „Jemand, der ebenfalls Tiere liebt.“

Ich werde nun Herrn Harst, von dem ich bereits so viel Gutes gehört habe, die fünf Löffel vorläufig übergeben, bis Arna meine Wohnung verlassen hat.

Frau verwitw. Anna Sturz, geb. von Bonnzaart.

Nachschrift.

Am selben Tage sechs Uhr nachmittags.

Soeben war ein junges Mädchen hier, das mir mitteilte, Arna habe sich anders besonnen, bereue sein Vorgehen gegen mich und wolle mir die drei Aktien wieder aushändigen. Er selbst dürfe sich jedoch öffentlich nicht mehr zeigen, weil er wegen politischer Vergehen verfolgt würde. Ich soll morgens gegen zwei Uhr möglichst unkenntlich in den Kleistpark kommen, wo er mir die Aktien aushändigen werde.

Das junge Mädchen erklärte mir noch, Arna müßte die Aktien erst von einem Bekannten zurückverlangen, dem er sie übergeben. Sie versprach mir, mich zu begleiten. Da sie auf mich einen sehr guten Eindruck machte, werde ich mich in ihrer Begleitung in den Park wagen. Sie will mich abends besuchen und mir bis zum Morgen Gesellschaft leisten. Ich habe ihr meinen Hausschlüssel gegeben und erwarte sie gegen elf Uhr. Bis dahin werde ich von Herrn Harst zurück sein. Diesen Besuch will ich ihr doch besser verschweigen. Es gibt so viele Menschen, die meine Tierliebe belächeln, und mein armer Liebling soll doch liebevoll bestattet werden.

Anna Sturz.

 

5. Kapitel.

„Arglose Seele! Also so ist sie ins Verderben gelockt worden!“ meinte Harald leise. „Anna Holm war dieses junge Mädchen! Und die, von der jener Rohrpostbrief kam, war Vroni Pfitzhuber, die also doch gewußt hat, woher Parnack den toten Kanarienvogel hatte. Da mag ihr die Rätin leid getan haben. Daher der Brief, der Vronis Herzen ein gutes Zeugnis ausstellt. – Jetzt werde ich das Testament wieder in die Vase tun. Es hat uns bessere Dienste geleistet, als ich ahnte. Wir sind jetzt über alles unterrichtet. Parnack hat mit Hilfe der Holm die Rätin ermordet, damit sie ihm die 3 Mexikaner, die heute ein Vermögen darstellen, nicht wieder irgendwie abnehmen könnte. Sie sollte eben stumm gemacht werden, die Ärmste.“

Lautlos schlich Harst ins Wohnzimmer hinüber, kehrte sehr bald zurück und nahm wieder auf dem Sofa Platz.

„Ich will Dir jetzt auch mitteilen, mein Alter, wie man die Greisin beseitigt hat,“ begann er, nachdem er eine Weile stumm neben mir gesessen hatte. „Nur eine weltfremde, vertrauensselige, grundgütige Frau, wie es diese Rätin gewesen, konnte den elenden Schurken zum Opfer fallen. Du hast von Bechert gehört, daß die Rätin allein bis zur Bank ging, während ihre Begleiterin umkehrte. Die Holm wird ihr gesagt haben, sie würde in der Nähe bleiben. Sie hatte der Greisin genau die eine Bank bezeichnet und sie ihr auch gezeigt, – die Mordbank, an deren Fuß diese menschlichen Ungeheuer mit feinem Draht die Sandviper angebunden hatten –“

„Ah – der Draht!“

„Ja – der schleimige Draht, schleimig von den Ausscheidungen des Reptils, das außerdem selbst mitten am Leibe noch den feinen Drahtring trug, als wir es im Komposthaufen fanden. – Das Drama wird sich nun wohl so abgespielt haben: die Sandviper, durch die Drahtumschnürung und die Gefangenschaft (sie wird nicht viel Spielraum gehabt haben) aufs höchste gereizt, beißt die alte Dame in die Wade. Vielleicht hat die Rätin gar nicht geahnt, daß es ein Schlangenbiß war. Jedenfalls: sie bleibt sitzen! – Vielleicht hat sie auch das Reptil gesehen. Da mag eine Schrecklähmung eingetreten sein. – Das Gift einer gereizten Giftschlange wirkt nun weit stärker als das eines mehr im ersten Affekt zuschnappenden Tieres –“

Er sprach immer leiser.

Wechselte plötzlich das Thema.

„Du – die Alarmglocke versagt. Es sind Menschen im Flur. Die Glastür des Speisezimmers wirft auf die der Schlafstube hier einen so hellen Schein, daß ich dieses Helle durch das Schlüsselloch, in dem kein Schlüssel steckt, bemerken kann. Und dieses Helle da wurde jetzt wiederholt verdunkelt, als ob Leute im Flur hin und her schlichen und vielleicht durch das Schlüsselloch schauten. – Raus mit der Clement, mein Alter! Aber keine hastige Bewegung. Und – sollte sich was ereignen, schießen wir zuerst! Ich danke dafür, Parnack nochmals in die Hände zu fallen!“

Ein zweifaches leises Knacken. Die Waffen waren gespannt, entsichert, ruhten in unserem Schoße in den rechten Händen.

Mit jener Ruhe, die stets meine Bewunderung erregt hat und stets wieder erregen wird, sprach Harald weiter:

„Das Gift in der Bißwunde wirkte also. Bei der Greisin werden sich sehr bald Schwindelanfälle, Lähmung der Arme und Beine eingestellt haben –“

„Und Pfitzhuber?!“ – Ich konnte nicht anders! Ich mußte Harald daran erinnern, daß die Greisin doch auch erstochen war und daß er Pfitzhuber vorhin beschuldigt hatte.

„Ja – Pfitzhuber hat in zwei Punkten uns belogen – nein, in drei Punkten. Er ist weit früher im Parke gewesen, als es noch dunkel war. Daß er Regenwürmer suchen wollte, bezweifle ich nicht –“

„Das Schlüsselloch wurde soeben wieder dunkel!“ hauchte ich.

„Bitte – starre doch nicht andauernd hin! Die Leute dort sind mir sehr gleichgültig, tun mir höchstens insofern leid, als –“

Und in diesem Moment flog die Tür auf.

Flog auf ohne Geräusch.

Zwei Kerle dort im Türrahmen: von Parnacks Garde! Mit Revolvern in den Pranken.

Hinter ihnen Parnack – jetzt als blondbärtiger Biedermann. Neben ihm ein junger hübscher Bengel, – Geck mit Monokel: Anna Holm!

Parnack riß den Mund auf, wollte uns warnen: „Hände hoch!“ – dergleichen.

Wollte.

Harst feuerte schon – nur zwei Schüsse.

Traf – traf genau: die beiden rechten Arme der Kerle!

Und Parnack und Anna Holm verschwanden – flüchteten.

Die Holm erwischte Harst, als sie hinter Parnack her durch den Kleiderschrank „Georg Arnas“ und durch das Loch in der Mauer in die Nebenwohnung hineinwollte, woher die Bande auch gekommen war.

Er erwischte sie, war unhöflich genug, ihr durch einen Hieb gegen die Stirn einen Platz auf dem Teppich anzuweisen.

Wollte Parnack nach, fand jenseits der Mauer einen schweren Schrank vorgeschoben.

Da halfen ihm all seine Kräfte nicht. Keuchend gab er es auf, den Schrank wegzurücken, hoffte auch, daß Bechert den Schuft fangen würde.

Und wandte sich dem elenden Weibe zu, band ihr die Hände auf dem Rücken, ließ Bechert ein, rief dessen Leuten zu:

„Parnack dort in der Nebenwohnung! Keinen Menschen herauslassen!“

Derweil hatte ich die beiden Kerle bewacht.

Alles ging ganz nach Wunsch. Nur Gisbert Parnack blieb verschwunden!

Und – wie haben wir damals gesucht – wie!

Haben bis sieben Uhr abends jeden Winkel des Hauses durchstöbert; bekamen noch Verstärkung vom Präsidium. In der Passauer war ein Menschenauflauf wie bei einem Dachstuhlbrand.

Nichts – kein Parnack! Und dabei hatte der Mensch keine drei Minuten Vorsprung! Dabei waren die Treppen schon besetzt. –

Auch die Mordkommission war eingetroffen.

Auch Jakob Pfitzhuber war geholt worden – auf Harsts Veranlassung.

Im Speisezimmer der Rätin fielen die letzten Schleier von den Vorgängen der verflossenen Nacht.

Harald schilderte den Herren von der Kommission, wie man die Rätin in den Park gelockt hatte, wie Anna Holm ihr den Vorschlag gemacht hatte, daß sie einen Anzug des Rats anziehen sollte.

„Es war doch so?“ fragte er die Holm.

„Sie haben viel Phantasie und keine Beweise!“ höhnte das Weib.

Da las Harst das Testament vor, von dem er bisher geschwiegen hatte.

Die Holm wurde grüngelb. –

Und weiter entwickelte Harst die Vorgänge des schändlichen Verbrechens, kam zu Pfitzhubers Person.

„Pfitzhuber näherte sich der Bank zufällig. Sah im ungewissen Licht des ersten Morgendämmerns die Gestalt auf der Bank und – an der Gestalt sich hochwindend, die ihm entflohene Sandviper, sprang zu, wollte dem Reptil, dem er nicht anders beikonnte, mit der großen Klinge seines Taschenmessers den Kopf abschlagen, war zu aufgeregt, schlug – und traf den Hals der Greisin. – Pfitzhuber, so war es doch?“

„Beim ewigen Gott: so war’s, die Herren, so, nit anders!“

„Und in Ihrer Angst – Sie merkten, daß der Mann schon gebissen und bewußtlos war – haben Sie die Viper nur verscheucht, die sich losriß und entschlüpfte –“

„Ja – und das tote Vogerl hob’ i dem Mann aus dera Taschen g’nommen und auf den Schenkel g’legt, damit die Sach’ noch g’heimnisvoller wär’ –“

„Dann kamen Sie zu mir in die Blücherstraße, halbtot vor Aufregung – viel zu aufgeregt, als daß nur der Anblick einer Leiche Sie in diesen Zustand versetzt haben konnte.“

Er wandte sich wieder der Holm zu:

„Wollen Sie ein Geständnis ablegen – jetzt vielleicht?“

Da brach die Holm zusammen, bestätigte alles. –

Der Mord im Kleistpark war aufgeklärt. Aber Gisbert Parnack war frei. Und das sollte der Erbe der Rätin sehr bald merken.

Hierüber im nächsten Band.

 

Nächster Band:

Der Obstkahn am Elisabethufer.

 

 

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Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „piff“.
  2. Wacholderdrossel.
  3. In der Vorlage steht: „Zwergpintscher“.
  4. In der Vorlage steht: „überaschend“.
  5. In der Vorlage steht: „Stallluft“.
  6. In der Vorlage steht: „weiters“.
  7. In der Vorlage steht: „ergebnisosen“.
  8. In der Vorlage steht: „beharrten“.