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Eine Wettfahrt ums Leben

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 62:

 

Ein Gentleman-Buschklepper[1]

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1922 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin 26.

 

1. Kapitel.

Ein besorgter Vater.

In der Reihe der indischen Abenteuer Harald Harsts verdient der Gentleman-Buschklepper einen Ehrenplatz. Kaum ein anderes unserer Erlebnisse bot eine solche Fülle von überraschenden, teilweise bitter-ernsten, teilweise komischen Zwischenfällen wie dieses. Eine diesem Problem des „ritterlichen Briganten“ leidlich gerecht werdende Einleitung zu schreiben, ist schwer.

Drei besondere Ereignisse liefen damals in der am rechten Gangesufer gelegenen Stadt Mirzapur nebeneinander her. Ich will mit der dem Leser fraglos aus Zeitungsberichten bekannten Tatsache von Harsts schwerer Verwundung bei einer Tigerjagd in dem Dschungelgebiet nördlich von Mirzapur beginnen.

Die Tigerjagd wurde mit Elefanten unternommen. Harald kam zuerst zum Schuß, fehlte aber, da der Elefant durch das dumpfe Jaulen des Tigers unruhig geworden war.

Die Bestie sprang dem Elefanten auf den Rücken, klammerte sich an dem Tragkorbe an und schlug mit der rechten Pranke nach Harst. In demselben Augenblick schoß der Plantagenbesitzer Ribley, der uns zu der Jagd eingeladen hatte. Die Kugel traf das rechte Auge des Tigers von der Seite und durchbohrte Harald die linke Lunge. Die Bestie plumpste herab und entkam.

Harst wurde in das Krankenhaus in Mirzapur geschafft, wo er fünf Tage in schwerem Wundfieber lag. Nach vierzehn Tagen war er wieder so weit hergestellt, daß er aus dem Krankenhause an Bord unserer Jacht Atlanta zurückkehren konnte, wo ihn Kapitän Banfy und unsere brave Besatzung einen festlichen Empfang bereitete.

Da der Arzt mir streng anbefohlen hatte, Harst jede Aufregung fernzuhalten, hatte ich ihm auch den Besuch des Kaufmanns van Baalker aus Lahore verschwiegen, der eine Woche nach Haralds Verwundung sich in Mirzapur eingefunden und mir als Harsts Freund und Privatsekretär eine sehr eigenartige Geschichte erzählt hatte, die so sehr den Stempel des Ungewöhnlichen an sich trug, daß ich mich schon deshalb hütete, sie dem Genesenden mitzuteilen, der bei seiner starken Neigung für derartige Sensationsfälle sich mit van Baalkers Angelegenheit ohne Zweifel dauernd im Geiste beschäftigt hätte.

Der reiche Holländer, der in Lahore ein großes Exportgeschäft besaß, war daher auch nach Lahore zurückgekehrt. Er wollte sich in Mirzapur wieder einfinden, sobald Harald genesen sei. –

Van Baalkers Geschichte war das zweite der oben erwähnten drei Ereignisse.

Das dritte fand ich am Abend nach des Holländers Besuch in der englischen, in Allahabad erscheinenden Zeitung „Allahabad Magazin“.

Dieser Artikel lautete:

Das sonst so stille, friedliche Lahore hat sich jetzt plötzlich einen Gentleman-Buschklepper zugelegt, von dessen Taten in kurzem ganz Indien und bald auch die übrige Welt sprechen dürfte.

Ich möchte hier noch einfügen, daß auch van Baalker mir von diesem ritterlichen Desperado einiges erzählt und erklärt hatte, dieser Mensch sei nichts als ein Witzbold. Inzwischen – er war vier Tage bis nach Mirzapur infolge Revision einiger Zweigstellen seines Geschäfts unterwegs gewesen – hatte der „Unhold“ aber drei neue Raubüberfälle verübt und dabei nicht weniger als eine halbe Million Rupien erbeutet.

„Dieser Gentleman-Buschklepper,“ hieß es in der Zeitung weiter, „tauchte zuerst vor zehn Tagen auf der Straße nach Shekhupura, der nordwestlich von Lahore gelegenen Stadt auf. Damals kehrten drei Damen und zwei Herren der europäischen Kolonie in einem Wagen von einem Abendbesuch bei Sir Paterlan, dem Gouverneur der Provinz Pandschab, zurück. Eine halbe Meile vor Lahore, wo die Straße einen Teil der Ruinen des alten Lahore durchschneidet, hielt ein Reiter auf einem Schimmel den Wagen mit vorgehaltenem Revolver an und plünderte die Damen und Herren aus, wobei er sich so höflich zeigte, daß Master Flox, einer der Geplünderten, noch in derselben Nacht dem Detektivinspektor Greep gegenüber erklärte, dieser Straßenräuber sei ein vollendeter Gentleman gewesen, was auch die drei Damen bestätigten. Am anderen Morgen erhielten die fünf Ausgeplünderten ihr Geld und ihren Schmuck, Uhren und so weiter, in fünf kleinen Paketen durch indische Gepäckträger zugesandt, die eine verschleierte Inderin am Bahnhof in Lahore nacheinander mit der Bestellung beauftragt hatte. Die fünf Gepäckträger sagten vor Mr. Greep aus, daß die verschleierte Inderin mit ihnen englisch gesprochen hätte und fraglos ein verkleideter Mann gewesen sei. – Die Beraubten hatten den Gentleman-Buschklepper übereinstimmend als etwas über mittelgroß, sehr schlank, blondbärtig (blonder Vollbart) und als Europäer beschrieben. Sein Anzug bestand aus einer grauen Reitjacke, helleren Reithosen, dunklen Wickelgamaschen und gelben Schnürschuhen mit Sporen daran. Das Gesicht war gebräunt; die Augenbrauen sehr stark und die Nase breit und plump; die Stimme war rauh und wurde offenbar verstellt. Mr. Greep hatte nun schon in der Nacht ermittelt, daß es weder in Lahore noch in der Umgegend einen Schimmel gab. Und der elegante Desperado, der noch eine weiche, graue Reisemütze und ein Monokel im rechten Auge getragen hatte, war im Besitz eines Schimmels mit einem schwarzen Brustfleck gewesen.“

Ich will hier nicht den ganzen Artikel wiedergeben. – Die Geschichte des Gentleman-Buschkleppers setzte sich folgendermaßen fort:

Am nächsten Abend hielt derselbe blonde Reiter auf einem Seitenwege derselben Straße drei Angestellte der India-Bank an und raubte sie aus. Die Herren hatten per Rad einen Ausflug gemacht. Am Morgen drauf bekamen sie ihr Eigentum zurück. Eine Inderin erschien in der India-Bank, legte ein Paket auf den Zahltisch und verschwand wieder.

Der dritte Streich des Desperado war noch kühner. Aber auch diesmal hatte der Schimmelreiter die Beute wieder herausgegeben. Mr. Greep und mit ihm ganz Lahore war jetzt überzeugt, daß irgend ein überspannter Mensch sich diese „Scherze“ leistete.

Doch – die Sache wurde am fünften Tage verdammt ernst.

An diesem Abend fuhr Mr. Flox, der ja schon einmal mit dem Buschklepper zusammengetroffen war, allein mit seinem Ponywagen, nur begleitet von einem Diener, von einem Besuch bei dem Gouverneur heim. Exzellenz Paterlan hatte ihm einen Betrag von 182 000 Rupien mitgegeben, den Flox am nächsten Morgen für Paterlan bei der Bank einzahlen sollte. Und – wieder tauchte der Desperado auf. Flox jedoch war vorbereitet, hatte schon einen Revolver entsichert in der Hand und suchte den Gentleman-Strauchritter abzuschrecken. Dieser feuerte zweimal und schoß Flox die Waffe aus den Fingern, brachte ihm dabei eine kleine Wunde bei, erhielt das Geld, auf das er es geradezu abgesehen gehabt zu haben schien, und verschwand.

Diesmal bekam Flox den Betrag nicht zurück.

Noch zwei weitere Raubüberfälle in den nächsten Nächten nahmen denselben Ausgang: der Schimmelreiter bewies, daß er vortrefflich schoß, plünderte zwei indische Großkaufleute, die große Summen bei sich führten, aus und – freute sich so über diese Beute, daß er wenig gentlemanmäßig das Geld nicht wieder herausrückte.

Zum Schluß des Artikels standen dann folgende Sätze:

„Es unterliegt wohl kaum einen Zweifel, daß in Lahore jetzt derselbe internationale Hochstapler Vincent Saalborg, den der deutsche Liebhaberdetektiv Harald Harst infolge einer Wette in bestimmter Zeit unschädlich machen muß, eine Gastrolle gibt. Saalborg ist zuletzt in Mirzapur, wo Harst zur Zeit im Krankenhause liegt, gesehen worden. Unsere Leser besinnen sich noch auf die Photographie des Zauberschlosses der Miß Arbuton, die wir vor elf Tagen veröffentlichten. Die Festnahme dieser Verbrecherin geschah mit Saalborgs Hilfe, der ja so gern den Gentleman-Gauner herauskehrt und der ohne Frage eine der eigenartigsten Erscheinungen des „vornehmen“ Diebesgelichters ist. – Leider hat Mr. Greep bei der Jagd auf diesen Saalborg, der nun als Schimmelreiter sich produziert, bisher genau so wenig Erfolg gehabt wie der berühmte Harst, dem man das Prädikat „berühmt“ mit Freuden zubilligt.“ –

Meine Leser bitte ich, sich diese Einzelheiten der Angaben des Gentleman-Buschkleppers Streiche recht genau einzuprägen. Weshalb – das wird ein jeder sehr bald merken. –

Ich gehe nun zur Schilderung des ersten Abends nach Haralds Rückkehr auf die Atlanta über.

Die weiße Motorjacht lag in einer Bucht des Ganges westlich der Stadt vor Anker.

Harst, Kapitän Banfy und ich saßen gegen neun Uhr plaudernd im Salon der Jacht. Harald hatte mich soeben gefragt, ob Vincent Saalborg sich inzwischen nicht irgendwie gemeldet hätte. Ich wollte nicht lügen und reichte ihm das Allahabad-Magazin, das seit jenem ersten Artikel nichts mehr über den Schimmelreiter veröffentlicht hatte.

Er überflog den Artikel. Als er die Zeitung wieder aus der Hand legte, trat der Matrose Preatgar, unser Schiffskoch und Steward, ein und meldete, daß Master van Baalker soeben mit einem Ruderboot längsseit gekommen sei. –

Dann hatte der recht korpulente Holländer, ein Herr von etwa sechzig Jahren, uns gegenüber auf dem Wandsofa Platz genommen.

„Erzählen Sie, Master van Baalker,“ sagte Harald. „Freund Schraut hat mir Ihren ersten Besuch aus Sorge um meine kostbare Gesundheit bisher unterschlagen. Ich kenne also noch nichts von dem, was Sie nun zum zweiten Male nach Mirzapur führt.“

Der alte Herr seufzte. Er sah recht vergrämt aus.

„Es handelt sich um meinen einzigen Sohn, mein einziges Kind, Master Harst,“ begann er leise. „In solchen Dingen wendet man sich nicht gern an die Polizei. Ich habe einen so geachteten Namen, daß ich nichts so sehr fürchte wie einen öffentlichen Skandal. Mein Sohn Hendrik ist jetzt 28 Jahre alt und Teilhaber meiner Firma in Lahore. Aber – er ist kein Kaufmann. Nein, er hat zu viel von dem unruhigen Blut meiner verstorbenen Frau in den Adern, die mal Schauspielerin war und als geborene Französin reichlich viel Temperament besaß.“

„Kürzer!“ mahnte Harst. „Erst die Tatsachen. Nachher frage ich schon, was mir nötig erscheint.“

„Nun – die Geschichte ist bald erzählt. Hendrik bewohnt mit mir in Lahore denselben Bungalow. Vor einiger Zeit fiel mir auf, daß er in seinem Wesen völlig verändert war. Er kam eines Morgens übernächtig an den Frühstückstisch, war traurig und niedergeschlagen, während er doch bisher sehr vergnügt und beinahe zu ausgelassen für den Teilhaber einer Weltfirma –“

„Eines Morgens? Wann war das?“

Van Baalker dachte nach.

„Ja – es war genau heute vor drei Wochen. – Diese Niedergeschlagenheit verstärkte sich von Tag zu Tag. Hendrik wurde mager und elend. Dann erzählte mir mein vertrauter alter Hausmeister Shiradaka, daß mein Sohn jetzt keine einzige Nacht daheim sei und stets erst nach Sonnenaufgang sich ins Haus und in seine Zimmer schleiche.“

„Eine Liebesaffäre?“ warf Harst ein.

„Ausgeschlossen! Hendrik hat Miß Evelyn Croker seit langem den Hof gemacht. Ich glaubte, er würde sich mit ihr verloben. Er liebt sie fraglos, und er ist auch ihr nicht gleichgültig. Ihr Onkel ist der Gouverneur Sir Edward Paterlan, der sie so halb an Kindesstatt angenommen hat.“

„Also hat Ihr Sohn sich mit Miß Evelyn entzweit?“

„Nein. Auch davon ist keine Rede. Er verkehrt im Gouverneurpalast und in der Sommervilla Sir Paterlans genau wie früher.“

„Hm – ich finde diese Geschichte nicht besonders interessant, Master van Baalker. Ihr Sohn wird eben in anderen Liebesbanden schmachten und –“

„Oh – die Geschichte hat noch weitere Einzelheiten, Master Harst. Gedulden Sie sich nur. – Am vierten Abend, nachdem ich an Hendrik jene auffallende Veränderung bemerkt hatte, bin ich ihm – nachgeschlichen, als er abends gegen zehn Uhr das Haus verließ. Er ging hinten durch den Garten, zog hier ein indisches Frauengewand über seinen Anzug, verhüllte Haar und Gesicht durch einen dunklen Schal und entschwand meinen Blicken in den Reisfeldern, die sich an unseren parkähnlichen Garten anschließen. Ich habe damals auf ihn die ganze Nacht gewartet. Gegen vier Uhr morgens kehrte er zurück, verbarg das Frauengewand in demselben Pavillon und – wurde dann von mir gestellt. Als ich so plötzlich vor ihn hintrat, taumelte er zurück und –“

„Eine Frage, Master van Baalker. Wurden nicht in derselben Nacht die drei Bankangestellten von dem Schimmelreiter angehalten?“

„Ja – Sie sind da aber auf einer falschen Fährte, Master Harst. Was Sie denken, kann nicht sein. Das ist einfach unmöglich. Hendrik hat viele dumme Streiche berissen, als er noch jünger war. Doch der Desperado ist er nicht! Niemals!“

 

2. Kapitel.

Die Kugel in der Rinde.

Harald, dieser leidenschaftliche Zigarettenraucher, hatte bisher auf seine geliebte Mirakulum verzichtet, obwohl der Arzt ihm ein paar am Tage gestattet hatte.

Jetzt griff er doch nach seinem Etui, lächelte und meinte: „Ich fühle, ich bin wieder ganz gesund. Mein Hunger nach einem neuen „Fall“ und einer Zigarette regt sich stark.“

Er rauchte ein paar Züge und sagte dann zu dem dicken alten Herrn:

„Es muß sich einem unwillkürlich der Verdacht aufdrängen, daß Ihr Sohn der Gentleman-Buschklepper ist, freilich aus Gründen, die nicht so leicht zu durchschauen sind. Haben Sie denn Beweise, Master van Baalker, daß Hendrik es nicht sein kann?“

„Beweise?! Mir genügt, daß wir dreißig Millionen besitzen und daß mein einziger Erbe geradezu wahnsinnig sein müßte, wollte er –“

Harald hatte eine Handbewegung gemacht. „Erzählen Sie bitte erst zu Ende –“

„Ja, das wird wohl am richtigsten sein. – Hendrik taumelte also zurück, faßte sich jedoch sehr schnell wieder und rief: „Vater, nur nicht eine Einmischung Deinerseits – nur das nicht! Denke nicht schlecht von mir. Wir hatten bisher kaum Geheimnisse voreinander. Würdest Du mich jetzt aber irgend etwas fragen, was diese Dinge angeht, müßte ich Dir jede Antwort verweigern.“ – Er machte dabei ein Gesicht, Master Harst, das ebenso verzweifelt wie energisch war. Und seine Stimme verriet dasselbe. Ich hätte nie etwas über diese Angelegenheit von ihm erfahren – nie! – Damals packte mich die Angst. Ich hatte gelesen, daß Sie in Mirzapur weilten. Ich wollte zu Ihnen. Hendrik ist ja mein einziges Kind. – Das schoß mir durch den Kopf, als ich mit meinem Sohne dem Hause zuschritt. Er reichte mir dann die Hand. „Gute Nacht, Vater,“ sagte er leise. „Ich – ich flehe Dich an: schweige!“ – Ach, mein armer Junge! Dieses vergrämte Gesicht dabei! Dieser trostlos leere Blick!“

„Noch etwas, Master van Baalker?“

„Ja – noch etwas! – Am nächsten Abend hatte Hendrik Besuch. Ich kam über den Flur. Er bewohnt die rechte Seite des Hauses. In der Bibliothek hörte ich streitende, erregte Stimmen. Ich verstand gerade die Worte: „Und Sie waren es doch!“ – Da blieb ich stehen. Ich kannte die Stimme nicht. Die Türen sind auch sehr dick und haben innen Vorhänge. Hendrik erwiderte – und er schrie es ganz heiser vor Wut: „Wagen Sie noch einmal diese infame Verdächtigung, dann –“ – Das weitere entging mir. Ich wollte ins Zimmer, klopfte an und suchte die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. Drinnen alles still. Ich klopfte dann nochmals. Ich mußte den Menschen sehen, der Hendrik dieses – „Und Sie waren es doch!“ – zugerufen hatte. – Dann schob mein Sohn den Riegel zurück und ließ mich ein. Er hatte eine Zigarre zwischen den Fingern, spielte vor mir den Harmlosen, leugnete, daß er Besuch gehabt hätte. Es war auch niemand außer ihm in der Bibliothek. Nur auf der Aschenschale lag eine zweite, leicht glimmende Zigarre, und die Bibliothek war so voll Qualm, daß hier mindestens zwei Herren geraucht haben mußten.“

„Es gab für den Besucher doch aber eine Möglichkeit, sich zu entfernen,“ meinte Harald. „Er brauchte den Flur nicht zu betreten?“

„Nein. Aus der Bibliothek führt eine Tür auf die Veranda, eine dritte noch in Hendriks Arbeitszimmer.“

„Und Ihr Sohn behauptete, er hätte lediglich mit sich selbst Zwiesprache gehalten?“

„Ja, das tat er. Diese Lüge war so durchsichtig, daß ich still wieder hinausging. Und – und in derselben Nacht erfolgte der dritte Überfall durch den Schimmelreiter auf das Auto meines Freundes Belfast. Am Morgen reiste ich dann hier nach Mirzapur, um Ihnen meine Sorgen anzuvertrauen, Master Harst. Ich konnte aber nur ihren Freund Schraut sprechen, begab mich wieder nach Hause und fand die Europäerkolonie in Lahore in wilder Aufregung vor, denn der Buschklepper hatte jetzt die Maske fallen lassen und –“

„Ich weiß Bescheid. Danke, Master van Baalker. Allerdings liegt unser Zeitungsbericht über des Schimmelreiters Räuberstreiche eine Woche zurück. Ist seitdem noch etwas Neues geschehen, auch was Ihren Sohn betrifft?“

„So – eine Woche! Oh – dann kennen Sie ja das Schlimmste nicht! Der sogenannte Gentleman-Buschklepper hat noch zwei weitere Stückchen verübt und zwar diesmal früh morgens. Bei dem einen wäre er beinahe erschossen worden. Er überfiel Lady Grearing auf einem Spazierritt. Die Lady trägt stets ein Vermögen an Brillanten bei sich. Bevor der Brigant mit dem Raube entschlüpfen konnte, kamen der Reitknecht der Lady und Hauptmann Seelport herbei. Seelport feuerte mit dem Revolver. Aber der Buschklepper war der bessere Schütze. Er jagte des Hauptmanns Stute eine Kugel ins Auge und verschwand in den Reisfeldern. Bei dem zweiten Überfall handelte es sich um den Postwagen, der die Pakete von Lahore nach Shekhupura bringt. Der Kutscher und dessen Begleiter waren gleichfalls bewaffnet. Es half ihnen jedoch nichts: der Wegelagerer zwang sie, den Wagen zu öffnen, in dem sich auch zwei Pakete mit Banknoten befanden. Dem Räuber geriet so eine Beute von nahezu 300 000 Rupien in die Hände.“

„Und Inspektor Greep?“

„Steht vor einem Rätsel. Er hat bisher nichts erreicht, nichts.“

„Und Ihr Sohn?“

Der alte Herr starrte vor sich hin. „Mein Sohn – ist keine Nacht zu Hause, kehrt jetzt erst regelmäßig gegen sieben Uhr morgens heim, gleicht mehr einem Schatten als einem lebenden Menschen –“

Bisher hatte van Baalker sich beherrscht. Jetzt aber kam doch seine Angst um den Sohn und seine Verzweiflung über dessen unerklärliche Veränderung bei ihm zum Durchbruch. Er ergriff Haralds Hand, flüsterte mit halb erstickter Stimme:

„Helfen Sie mir – helfen Sie mir! Mein Freund Doktor Rhatby sagte mir vor drei Tagen, Hendriks Zustand bereite ihm ernsteste Sorgen. In Lahore – ja – ich will ganz ehrlich sein – glaubt man nicht mehr, daß jener Vincent Saalborg der geheimnisvolle, nie zu fassende Buschklepper ist. Gerüchte laufen um, daß Hendrik mit dem Briganten identisch sei. Meine Diener müssen geplaudert haben. Die ganze Stadt weiß, daß mein Sohn jede Nacht außerhalb des Hauses zubringt –“

Harald nickte Baalker freundlich zu. „Beruhigen Sie sich. Wir werden morgen nachmittag nach Lahore reisen. Morgen vormittag habe ich hier noch etwas zu erledigen. Der Ganges ist für die Atlanta bis Hartwar schiffbar. Dort haben wir Anschluß an die Hauptbahnstrecke nach Lahore. Die Fahrt zu Wasser wird mich genügend kräftigen. Reisen Sie selbst von hier aus mit der Bahn, Master van Baalker. Wir werden drei Tage nach Ihnen in Lahore eintreffen. – Noch einige Fragen, wenn Sie gestatten. – Ist mit aller Bestimmtheit festgestellt, daß es in Lahore und Umgegend keinen Schimmel gibt?“

„Es gibt keinen! Greep hat jedes Gehöft, jeden Stall durchsuchen lassen.“

„Haben Sie keine Ahnung, wer damals bei Ihrem Sohne in der Bibliothek war?“

„Nein. Hendrik bleibt dabei, er hätte nur mit sich selbst gesprochen.“

„Sind Sie ihm nochmals nachgeschlichen?“

„Ja, Master Harst. Aber beide Male mit demselben Mißerfolg. Hendrik wußte in seiner Weiberkleidung zu schnell zu entschlüpfen.“ –

Hiermit endete diese Unterredung. Baalker verabschiedete sich mit herzlichen Dankesworten. Man merkte ihm an, daß ihm jetzt leichter ums Herz war. Er hatte noch erklärt, er würde morgen mittag abreisen.

Als wir drei nun allein waren, sagte Kapitän Banfy kopfschüttelnd: „Es ist einfach unglaublich, was alles in der Welt passiert! – Wie denken Sie über diese Geschichte, Master Harst?“

„Lieber Käpten, es gibt für Hendrik van Baalkers verändertes Wesen und für seinen körperlichen Zusammenbruch nur eine einzige Erklärung. Sie muß richtig sein. Die einzelnen Tatsachen deuten ja so eindringlich auf diese Lösung hin, daß es mich geradezu überrascht, wie wenig scharfsinnig sich der sonst so tüchtige Greep hier zeigt. Greep ist uns von früher her bekannt. Schraut und ich haben mal in Lahore die unterirdische Stadt – denn Lahore ist auf den Trümmern der alten Residenz der Mogulkaiser erbaut – kennen gelernt.“

„Auf diese Erklärung bin ich sehr gespannt,“ meinte Banfy bittend. „Reden Sie, Harst! Sie werden Schraut und mich doch nicht auf die Folter spannen, besonders mich nicht, der nicht mit nach Lahore reisen wird.“

„Lieber Banfy, vielleicht weiß Schraut auch schon Bescheid. – Na, mein Alter,“ wandte er sich an mich, „wie steht’s damit?“

„Schlecht steht’s. Ich habe keinen blassen Schimmer,“ erwiderte ich ehrlich.

„So?!“ sagte Harald sehr gedehnt.

„Hendrik ist doch der Buschklepper!“ platzte Banfy heraus. „Weshalb treibt er sich denn jede Nacht –“

Harst lächelte fein und nahm eine frische Zigarette, unterbrach unseren Käpten und meinte: „Er ist es[2] ebensowenig wie Vincent Saalborg. Denn Saalborg ist tatsächlich Gentleman-Gauner, führt nie eine Waffe bei sich und verachtet alle Verbrecher, die nicht genug Erfindungsgeist haben, ohne Zwangsanwendung zu stehlen. – Nein, auf diese Weise kommt man dem Kern der Sache niemals näher – niemals! Ich bedauere, heute darüber noch nicht sprechen zu können. Es ist ein Fall, der mit äußerster Schonung behandelt werden muß. Im übrigen bin ich müde und gehe zu Bett. Ich werde nur noch einen Brief an den Plantagenbesitzer Ribley schreiben, den einer unserer Matrosen noch heute besorgen muß. Ribley soll uns morgen früh in seinem Auto vom Postgebäude in Mirzapur abholen. Ich möchte den Platz nochmals besuchen, wo ich damals verwundet wurde. Durch den Dschungel führt ein Weg, den ein Auto zur Not passieren kann.“ –

Ribley, der uns vor etwa vierzehn Tagen zu jener Tigerjagd eingeladen gehabt hatte, war pünktlich mit dem Kraftwagen zur Stelle. Wir fuhren gegen sieben Uhr vom Postgebäude ab. Den Chauffeur nahmen wir auf Haralds Bitte hin nicht mit.

Nach zweistündiger Fahrt erreichten wir das meilenweite Dschungelgebiet. In der Nähe des Platzes, wo Harald durch Ribleys Kugel verwundet worden war, stiegen wir aus. Wir konnten den Kraftwagen hier ohne Aufsicht stehen lassen.

Harst hatte uns bisher nicht erklärt, was er eigentlich vorhätte. Erst als wir die kleine Lichtung gefunden hatten, wo der Tiger dem Elefanten auf den Rücken gesprungen war, sagte Harald zu Ribley, einem älteren, sehr sympathischen Herrn, der ein glühender Verehrer Harsts war:

„Lieber Ribley, Sie hatten damals zu der Jagd etwa zehn Herren eingeladen. Stammte der eine nicht aus Lahore?“

Ah – jetzt wurde ich aufmerksam. – Ribley wußte nichts von dem Besuch Baalkers auf der Atlanta, konnte auch nicht verstehen, weshalb gerade dieser Jagdgast aus Lahore Harald interessierte.

Ribley entgegnete: „Ganz recht. Der Sohn meines Freundes Annixter berührte auf der Durchreise mit seinem Auto Mirzapur und kam gerade zu der Jagd zurecht.“

„Wie alt ist er? Wie schätzen Sie ihn ein?“

„Hm – etwa 27 Jahre. – Einschätzen –?! Ein böses Früchtchen, bester Harst. In letzter Zeit soll er etwas vernünftiger geworden sein.“

„Liehen Sie ihm das Gewehr zur Jagd, Ribley?“

„Allerdings. Er hatte ja keins mit. Es war eine Browningbüchse.“

„Welches Kaliber?“

„8,2. – Aber – weshalb all die Fragen?“

„Nun, weil ich Sie darüber beruhigen möchte, mich verwundet zu haben. Sie waren’s nämlich gar nicht. So, wie ich damals im Korbe des Elefanten stand, konnte Ihre Kugel der Bestie wohl das Auge ausschießen, nicht aber mich treffen. Der Schußkanal in der Lunge und Ein- und Ausschuß sitzen so, daß der Schuß – der andere Schuß –“ Harald drehte sich um und wies auf ein Gebüsch am Rande der Lichtung – „etwa von dort gekommen sein muß. Sie aber, lieber Ribley, standen dort mehr links. Ich hörte auch genau, daß zwei Schüsse fielen, wenn auch fast gleichzeitig. In der allgemeinen Aufregung hat niemand darauf geachtet. Die anderen Herren waren ja mit ihren Elefanten noch zurück. Nur Annixter war dicht hinter uns. Ich besinne mich auf ihn noch sehr gut. Wollen jetzt mal die Kugel suchen, die meine Brust glatt durchschlagen hat. Wenn Annixter von jenem Gebüsch aus feuerte, kann die Kugel dort oben in der Rinde des uralten, dicken Baumes sitzen.“

Nun – Harald behielt wieder einmal recht. Ich fand die Kugelspur in der Rinde und schnitt das Geschoß heraus. Als ich es Ribley zeigte, sagte er sofort:

„Ja – das stammt aus meiner Browningbüchse!“

„Mithin war Annixter der unglückliche Schütze,“ sagte Harald leichthin. „Er wird sich gescheut haben, den Fehlschuß einzugestehen. Ich verarge ihm das nicht weiter. Sie aber, lieber Ribley, bitte ich, vorläufig über diese Feststellung Schweigen zu bewahren. Geben Sie mir Ihre Hand darauf.“

„Gern. – Aber – verzeihen Sie schon. Mir scheint, Sie verschweigen mir etwas, Harst.“

„Vielleicht. – Fragen Sie nicht weiter. Lassen Sie mich fragen. Die Jagd fand an einem Donnerstag statt. Annixter traf im Rennauto bei Ihnen ein, soweit ich mich erinnere. Am Montag vorher hatten die Zeitungen bereits einen Bericht über das Zauberschloß der Miß Arbuton gebracht. Wie lange braucht jemand, um von Lahore bis nach Mirzapur im Rennauto zu gelangen?“

„Wenn er so verrückt fährt wie Edward Annixter – anderthalb Tage.“

„Danke. – Kam Annixter damals direkt aus Lahore?“

„Ja. Er kehrte auch dorthin zurück, noch am Tage der Jagd, am Donnerstag. Er hatte nur seinen neuen Macfield-Wagen ausprobieren wollen, sagte er.“

„So – so! – Ribley! Also schweigen Sie! Es geht hier um sehr ernste Dinge.“ –

Wir langten um 12 Uhr mittags wieder auf der Atlanta an. Und – wer erwartete uns dort: van Baalker!

Sein Sohn war von Inspektor Greep verhaftet worden, wie sein Prokurist ihm telegraphisch mitgeteilt hatte.

„Es bleibt dabei,“ entschied Harst. „Sie fahren mit der Bahn nach Lahore, und wir beide folgen Ihnen in drei Tagen, Master van Baalker. Regen Sie sich nicht weiter auf. Ihr Sohn wird in kurzem wieder frei sein.“

 

3. Kapitel.

Der Balken.

Kaum hatte Baalker die Atlanta verlassen, als wir in großer Eile Toilette machten, – das heißt, wir verwandelten uns in zwei ältere Herren, die ganz wie harmlose Globetrotter aussahen. Banfy erhielt Befehl, mit der Atlanta den Ganges aufwärts bis Hartwar zu fahren und uns dort zu erwarten.

Die Atlanta setzte uns eine Meile oberhalb der Stadt unauffällig an Land. In der Nähe lag ein Bauerngehöft. Der indische Besitzer desselben brachte uns und unser Gepäck mit seinem Wagen nach Mirzapur. Am Bahnhof verließen wir das Gefährt. Bis zur Abfahrt des nächsten Schnellzuges über Agra und Dehli nach Lahore hatten wir noch 2 Stunden Zeit. Wir aßen in einem nahen Hotel Mittag und bemerkten dann auf dem Bahnsteig auch den alten Baalker, der denselben Zug benutzen wollte. Er erkannte uns nicht.

Am nächsten Abend gegen ½12 waren wir in Lahore. Auf der Reise hatte sich nichts ereignet. Ich merkte nur, daß Harald allen Mitreisenden gegenüber sehr mißtrauisch war. Über den Fall des Gentleman-Buschkleppers sprach Harst ebensowenig wie über Edward Annixter. – Trotzdem wußte ich das eine bestimmt: dieser Annixter hatte nicht auf den Tiger, sondern auf Harst geschossen! Nur ein harmloser Herr wie Ribley hatte sich einreden lassen, Annixter hätte einen Fehlschuß getan. –

In Lahore stiegen wir in dem Pensionat Trafalgar im Villenviertel der Europäerstadt ab, nahmen drei Zimmer nach dem Garten hinaus im Erdgeschoß und – verließen diese Zimmer um ein Uhr morgens bereits durch ein Fenster, das wir hinter uns nur anlehnten.

Es war eine köstliche, mondhelle Nacht. Wir fanden uns in den Straßen leicht zurecht. Ein schläfriger indischer Polizist wies uns den Weg nach der Hauptverkehrsstraße nach Shekhupura.

Wir trafen einen leeren Mietwagen, der mit zwei Bergponys bespannt war. Der Kutscher, ein alter Inder, sollte uns bis zu den äußersten Villen der Vorstadt fahren. Der Alte machte ein sehr bedenkliches Gesicht.

„Sahib,“ sagte er zu Harst. „Du hast wohl noch nichts von dem Straßenräuber gehört, der hier seit Wochen die Wege unsicher macht. Ihr seid fremd hier. Fahrt nicht bei Nacht durch die Ruinen. Denn die letzten Villen, so auch die des Gouverneurs Sir Paterlan, liegen anderthalb Meilen von der Stadtgrenze ab, und man muß einen Teil der Ruinenstätte –“

„Schon gut!“ meinte Harst kurz. „Mich gehen Eure Straßenräuber nichts an – gar nichts! Du bekommst den doppelten Fahrpreis. Vorwärts also.“ –

Der Wagen war neu und bequem. Die Fahrt war bei dieser Mondscheinbeleuchtung ein Genuß.

Nach zehn Minuten bog die Straße in das Trümmerfeld ein. Nur in Indien findet man solche Ruinengelände toter Städte mit so prachtvollen Überresten, mit so wundervollen Szenerien unkrautüberwucherter Gebäude, Tore und Tempelsäulen; nur Indien ist das uralte Kulturland erhabener, tausend Jahre überdauernder Bauten.

„Es wäre ein Glück, wenn der Buschklepper käme,“ meinte Harald mit einem Male. „Wir werden uns dann ruhig ausplündern lassen. Es gehört zu meinem Programm. Überfällt er uns heute nicht, dann fahren wir jede Nacht diesen Weg.“

Kurz vorher hatte unser Kutscher sich umgedreht und uns eine Stelle gezeigt, wo der Gentleman-Buschklepper, der noch immer sehr höflich sein sollte, vorgestern nacht nach längerer Pause wieder zwei Kaufleute ausgeraubt hatte. Der alte Inder hatte hinzugefügt:

„Nun hat die Polizei ja den jungen Sahib Baalker eingesperrt, weil man ihn für den Räuber hält. Aber – ich glaube nicht daran. Sahib Baalker ist ja so reich. Andere glauben es. Vielleicht ist er geisteskrank.“

Worauf Harald mir zugeflüstert hatte:

„Greep wird sich wundern!“ –

Die Fahrt durch die Ruinen dauerte etwa eine halbe Stunde. Daß gerade diese Örtlichkeit einem Straßenräuber die beste Gelegenheit zur Flucht bot, sah man auf den ersten Blick.

Doch – kein Schimmelreiter zeigte sich. Dann tauchte rechter Hand eine hohe Parkmauer auf.

„Die Villa des Gouverneurs,“ erklärte der Kutscher.

„Kehre um,“ befahl Harst kurz.

Als wir fünf Minuten gefahren waren, nahm Harald sein Fernglas aus dem Lederfutteral und stand halb auf, stellte das Glas ein und beobachtete die Straße, die zahlreiche Krümmungen machte.

Ein paar Lastwagen kamen uns entgegen. Dann ein Auto. Harald hatte sie stets auf weite Entfernung bemerkt.

Nun lag ein sehr langes schnurgerades Stück des breiten, tadellos gepflegten Weges vor uns.

Wieder beobachtete Harst nach rückwärts.

Mit einem Male setzte er sich und sagte leise:

„Er war’s! Es war ein Schimmel. Die Polizei paßt heute nicht mehr auf. Sie hat ja Hendrik eingesperrt. Welche Dummheit!“

„Also der Schimmelreiter?“

„Ja. Wir werden Glück haben. Wir sehen ganz wie wohlhabende Touristen aus.“ – Er holte die Clementpistole heraus und steckte sie in die rechte Jackentasche.

„Du verhältst dich ganz neutral, lieber Alter,“ ordnete er an. „Vollständig neutral. Ich will nur den Gaul etwas zeichnen, obwohl ich genau weiß, wo ich ihn zu suchen habe. Greep hätte sich selbst sagen müssen, daß man zum Beispiel einen Schecken leicht durch weiße Farbe in einen Schimmel mit Brustfleck verwandeln kann.“

„Ah – ein guter Gedanke!“

„Ein sehr naheliegender Gedanke. – Noch drei Minuten. Dann geht’s los. Du gehorchst also, spielst den Ängstlichen. Der Schimmelreiter muß vollständig –“

Der Überfall kam früher, erfolgte jetzt schon.

Vor uns aus einem Gebüsch am Wege sprengte ein Reiter auf uns zu.

„Hände hoch!“ rief er mit dumpfer, heiserer Stimme.

Das Mondlicht flimmerte auf dem blanken Revolver des hageren, blondbärtigen Buschkleppers.

Unser Kutscher riß seine Ponys zurück. Der Wagen hielt.

Wir hatten sofort die Arme hochgereckt.

„Aussteigen – bitte! Nur die beiden Fahrgäste!“ lautete der weitere Befehl.

Wir taten’s.

„Der Wagen fährt hundert Meter weiter! Vorwärts!“

Der Inder peitschte auf seine Ponys ein. –

„So, meine Herren, nun legen Sie bitte Ihren gesamten Tascheninhalt auf die Straße! Ich schieße, sobald eine Waffe zum Vorschein kommt! Waffen lassen Sie also stecken,“ befahl der Buschklepper durchaus höflich. Er machte auf dem Pferde eine gute Figur.

„Zuerst Ihre Brieftaschen!“ fügte er noch hinzu.

Harald und ich faßten in die Brusttaschen.

Und – da geschah das, das ganz gegen das Programm war.

Unsere Arme wurden plötzlich von hinten gepackt. Stahlfesseln schnappten um unsere Handgelenke zu; zwei Decken flogen uns über den Kopf. Man stieß uns vorwärts. Zwei Kerle führten mich sehr rasch von der Straße in die Ruinen, wo es dann über Grasboden, Steintrümmer und kurze Sandstrecken wohl eine halbe Stunde vorwärtsging.

Dann senkte sich der Weg. Meine Schritte fanden lauten Widerhall in einem Gewölbe; dann kam eine breite Treppe, ein neues Gewölbe. Sie Luft wurde kühler und dumpfig. Es roch hier auch nach einer schlecht gesäuberten Petroleumlaterne.

Nun schoben meine beiden Führer mich noch ein Stück vorwärts. Ich hörte flüstern, allerlei Geräusche; dann die Stimme des Schimmelreiters:

„So, nun machen Sie es sich bequem, meine Herren.“

Man hatte uns all unsere Sachen belassen. Das Dröhnen der sich entfernenden Schritte wurde immer schwächer.

Jetzt – Haralds Stimme, dicht neben mir:

„Rühre Dich nicht! Diese Schurken rechnen damit, daß wir blindlings ins Verderben tappen werden. Tu’ keinen Schritt – und sei ohne Sorge!“

Wir hatten noch die dicken Decken über dem Kopf. Man mußte fast schreien, wenn der andere die Worte verstehen sollte.

„Weshalb keinen Schritt?“ fragte ich.

„Weil vor und hinter uns die Tiefe gähnt. Wir stehen auf einem Balken. Also Vorsicht!“

Nun begriff ich alles. Auch die Geräusche. Man hatte die Dielen dieses Raumes ausgehoben!

Und wieder Harsts Stimme:

„Ich sitze jetzt im Reitsitz auf dem Balken. Bleibe Du aber ruhig stehen. Du könntest das Gleichgewicht verlieren, wolltest Du dasselbe versuchen –“

Ein paar Minuten verstrichen. Harald meldete sich nicht wieder. Mir begannen die Beine steif zu werden. Die Knie zitterten mir. Und – da kam auch die Angst, abzustürzen.

„Harald!“ rief ich.

Aus einer Entfernung die Antwort:

„Ja – hier! – Ich bin auf dem Balken weitergerutscht – bis an die Mauer. Ich komme –“

Dann war er wieder neben mir.

„Mein Alter, die Sache sieht faul aus. Der Balken ist in eine Backsteinmauer eingefügt. Und – diese Stahlfesseln lassen sich nicht öffnen.“

„Ich – ich werde nicht mehr lange stehen können –“

„Warte – ich rutsche dicht an Dich heran. Dann Kniebeuge! Ich werde mit den Händen Deine Jacke packen. Es wird schon gehen. Sobald Du merkst, daß ich Dich festhalte, suche Dich zu setzen –“

Es gelang. Ich atmete auf. – Wir saßen nebeneinander.

„Wollen wir nicht die Decken abwerfen?“ fragte ich.

„Nein. Wir werden sie brauchen können. Oder – ich werde erst mal die meine entfernen, aber so, daß sie auf den Balken fällt. Mit den Zähnen wird es schon gehen.“

Nach einer Weile hörte ich Haralds Stimme bedeutend klarer.

„Es ist geglückt! Beuge Dich nach rechts. Ich werde in Deine Decke beißen und sie Dir wegziehen –“

Meine Reisemütze ging dabei verloren. Als ich die Decke los war, sagte Harst leise lachend:

„Diese Schufte sollen sich verrechnet haben – sehr sogar! Ich hörte Deine Mütze unten aufschlagen. Ich schätze die Tiefe auf neun Meter.“

Zu sehen war nichts – nichts! Aber – zu hören desto mehr!

Harst hatte mir mit den Zähnen die rechte Beinkleidtasche und den Oberstoff zerfetzt, dann mit den gefesselten Händen mein Messer hervorgeholt und schnitt nun mit dem Messer die eine Decke in Streifen, indem ich sie stramm zog, während er halb auf ihr saß.

Es war ein mühsames Geschäft. Stunden vergingen, ehe wir beide Decken zerschnitten und die Streifen aneinandergeknotet hatten.

Harald brachte dann auch das Kunststück fertig, das eine Ende dieses Stricks um den Balken zu schlingen, wobei ihm die Füße helfen mußten.

„So,“ meinte er, „nun kommt’s drauf an, daß der Strick nicht reißt! Aber – es sind wollene Decken, und die Streifen werden schon halten. Ich werde zuerst hinabturnen. Es muß gehen!“

Ich hörte, wie er vor Anstrengung keuchte. Dann erklangen seine stoßweisen Atemzüge tiefer und tiefer.

Voller Angst lauschte ich.

Nun von unten dasselbe halblaute, triumphierend-drohende Lachen.

„Hier ist fester Boden! Hier sind Mauertrümmer, Schutt!“

Ich vernahm klirrende Schläge. – Ohne Zweifel versuchte Harald das Schnappschloß der Stahlfesseln zu öffnen.

Dann ein: „Ah – endlich!“

Und nach wenigen Minuten sprang unter mir der weiße Lichtkegel einer Taschenlaterne auf.

Ich beugte mich vor. Harald ging in einem kellerartigen Gelaß hin und her.

„Kein Ausgang!“ meldete er. „Ich komme wieder nach oben.“

Er steckte einen Stein in die Tasche, nahm die kleine Lampe in den Mund und saß gleich darauf neben mir.

„So – nun Deine Fesseln, mein Alter!“

Der Stein bewährte sich. Nach zwei Minuten war ich die Stahlarmbänder los.

Harald leuchtete den ganzen Raum ab. Vor uns waren die morschen Holzdielen zusammengebrochen. Hinter uns hatte man sie ausgehoben.

Der nächste Deckenbalken war anderthalb Meter entfernt. Der Raum war etwa sechs Meter breit und zehn Meter lang. Über uns wölbte sich eine Steindecke, in der man noch deutlich die Reste von Steinmosaik erkannte. Auch die Wände waren ursprünglich mit Marmorplatten ausgelegt gewesen.

 

4. Kapitel.

Die drei Fußspuren.

Harald stand auf. „Ich werde die Dielen über die Balken legen –“

Mit drei Sätzen hatte er die Türöffnung hinter uns erreicht.

Dann konnte auch ich getrost über die Dielen der Tür zuschreiten.

Harst gab mir meine Mütze, die er unten gleichfalls zu sich gesteckt hatte, meinte: „Nehmen wir für alle Fälle den Strick mit –“

Er knotete ihn von dem Balken los. Dann begannen wir den Ausgang zu suchen. Unsere Taschenlampen zeigten uns bald, daß wir uns im Erdgeschoß eines früheren Tempels befanden.

Wir gelangten an die Treppe. Als wir sie hinabgestiegen waren, sahen wir vor uns zwei gemauerte Gänge, die im spitzen Winkel sich vor der Treppe trafen.

„Ich denke, wir kamen von links, mein Alter,“ sagte Harald. „Also nach links!“

Wir merkten jedoch bald, daß dieser Gang weit länger war als der, durch den man uns zur Treppe geführt hatte.

„Schadet nichts,“ meinte Harst. „Sehen wir, wo er mündet.“

Wir kamen dann an eine zweite Treppe, die recht verfallen war und steil in die Höhe lief. Als wir oben standen, versperrte uns eine Schutthalde den Weg. Doch dort, wo der Schutt mit dem Deckengemäuer zusammenstieß, schimmerte Tageslicht hindurch.

Es war inzwischen Morgen geworden. – Wir kletterten den Schuttberg hinan, sahen nun vor uns – ein paar Bündel trockenes Strauchwerk, die ein mannshohes Loch bedeckten. Als wir sie weggestoßen und das Loch verlassen hatten, befanden wir uns in einem Dickicht, das eine kleine Lichtung umschloß. Linker Hand sahen wir den obersten Rand einer neuen Ziegelmauer, die noch ein spitzes Eisengitter trug.

Aus dem Dickicht führte ein schmaler Pfad auf eine unter Gras und Unkraut längst verschwundene Ruine zu. Jetzt hatten wir die Ziegelmauer kaum vier Schritt vor uns. In der Mauer gab es hier eine einflügelige Eisenpforte.

Harald machte jedoch nochmals kehrt und zeigte mir in dem Dickicht auf dem Boden eine Menge weißer Kalkspritzer, auch ein paar Stellen, wo man deutlich die Eindrücke von Pferdehufen erkannte.

„Hier wird der Schecke überpinselt,“ meinte er leise. „Vielleicht ist auch der Kalkeimer in der Nähe.“

Es war jetzt heller Tag – halb sechs Uhr morgens.

Nach einer halben Stunde hatte Harald, der jede Fußspur sorgfältig verfolgte, in der Ruine außerhalb des Dickichts ein von Schlingpflanzen verdecktes ehemaliges Tor entdeckt, von dem eine stark beschädigte Marmortreppe in die Tiefe führte. Wir gelangten so in ein großes, zum Teil eingestürztes Gewölbe, und hier fand Harald sehr schlau verborgen – einen Eimer mit Kalkfarbe, einen großen Pinsel und einen zweiten Eimer, in dem ein paar Bürsten lagen. Außerdem aber hatte sich in diesem Gewölbe das durch die Decke sickernde Regenwasser zu einem großen Tümpel angesammelt. Und – auf dem Grunde des Tümpels schimmerte es weißlich: Kalkniederschlag!

„Hier ist für den Gaul das Waschwasser geholt worden, mein Alter,“ lächelte Harald. „So – nun zu der Mauerpforte!“ – Er zeigte auf den mit kleinen Steintrümmern stellenweise dicht bedeckten Grasboden. „Diese menschlichen Fußspuren laufen nach der Pforte hin. Bitte, betrachte Dir die Eindrücke sehr genau. Sie sind sehr lehrreich. Nun – was sagst Du dazu?“

„Die Leute, die hier gegangen sind, müssen sehr dick und schwer sein. Die Schuhe sind sehr plump und haben Absätze. Die Eindrücke sind sehr tief. – Da – zum Beispiel diese hier!“

„Ganz recht – die Leute sind schwer! Und – wieviele sind’s, die diese abgelegene Pforte eines der Länge der Mauer nach sehr großen Parkes benutzten?“

„Das ist nicht leicht zu beantworten –“

„Doch! Du findest stets dieselben Spuren. Bitte hier zum Beispiel. Dieses Spurenpaar gehört zu einem Menschen mit außerordentlich langen Beinen und einer recht seltsamen Gangart. Beachte, wie die Grasnarbe durch die Absätze der Stiefel erst aufgerissen worden ist, bevor der Betreffende den Fuß richtig aufsetzte; beachte weiter die Schrittlänge. – Und hier wieder dieses Spurenpaar von kürzerer Schrittlänge hat die Eigentümlichkeit, daß die Absätze die Grasnarbe nach vorwärts eingekerbt haben, bevor die Füße festen Halt fanden. – Dann das dritte Spurenpaar – dieses hier! Ein zierlicher Stiefel; kurze Schritte; schwache Eindrücke. Die Person ist etwa mittelgroß und wiegt nicht viel. – Es sind immer diese drei „Erdvisitenkarten“, die Du hier bemerkst; also drei Personen, von denen zwei, die mit den plumpen Stiefeln, einer ganz besonderen Gattung angehören.“

Wir waren inzwischen bis an die Pforte gelangt.

„Wo hat der Schimmelreiter aber seinen Gaul versteckt?“ fragte ich. „Wahrscheinlich doch irgendwo in den Gewölben der Ruinenstadt!“

Harald blickte mich so seltsam an und sagte nur:

„Schade!“

„Also nicht in den Gewölben?“

Er erwiderte nichts, drückte mich an die Mauer und kletterte mir auf die Schultern. Dann warf er eine Schlinge unseres Decken-Stricks über eine der Eisenspitzen und zog sich bis auf Höhe der Mauer empor, schaute sich um und flüsterte:

„Dort weit links sehe ich das Dach eines weißen Bungalows. Dieser Parkteil ist recht verwildert. Dort rechts ein kleiner Bungalow. Warte, wir wollen mal hinüber.“

Er zog mich an dem Strick empor. Dann gingen wir einen schmalen Pfad entlang, dessen Grasnarbe sehr zertreten war.

„Bitte – dieselben drei Spuren!“ sagte Harald leise. „Folgen wir ihnen –“

Der Pfad schlängelte sich durch Büsche und Baumgruppen auf einen kleinen Stall zu, der hinter dem kleineren Bungalow errichtet war.

Dieser Bungalow hatte nur vier Fenster Front. Er konnte höchstens drei Zimmer, Küche und Nebengelaß enthalten. Die Bauart war zierlich; das reine Puppenhäuschen.

Wir schlichen nach der Vorderseite hin. Hier war der Garten tadellos gepflegt. Ein Springbrunnen plätscherte inmitten einer weiten Rasenfläche. Vor dem Hause standen vier breitästige alte Bäume. Eine Treppe lief zu der überdachten, offenen Veranda hinauf.

Mit einem Male öffnete sich die Eingangstür. Wir duckten uns schnell hinter einen Strauch. – Ein junges, blondes Weib kam die Treppe langsam hinab. Sie trug ein kostbares Spitzenmorgenkleid und hielt in den Fingern der Rechten eine Zigarette. Auf der untersten Stufe blieb sie stehen. Aus dem einen Baum turnten ein paar zahme Affen bis vor ihre Füße. Sie warf ihnen Zuckerstückchen zu. Aber ihr Gesichtsausdruck behielt das Starre, Leblose, Weltentrückte bei. Ihre Bewegungen waren müde und kraftlos. Über der ganzen Gestalt lag etwas, das man am besten als erstarrter Schmerz bezeichnet.

Sie setzte sich dann auf eine weiße Bank unter einen Baum, stierte vor sich hin. Ein paar Tränen stahlen sich unter den langen, dunklen Wimpern hervor. Sie tupfte sie ab – alles mit derselben trostlosen Müdigkeit. –

Dann vom Hauptwege her eine tiefe Männerstimme:

„Morgen, Evelyn! Na – gut geschlafen, Kind?“

Ein älterer Herr näherte sich ihr, streckte ihr beide Hände hin.

Sie zwang sich zu einem Lächeln.

„Morgen, Onkelchen. – Geschlafen – mäßig!“ –

Harald zog mich fort, flüsterte: „Leise – wir dürfen nicht gesehen werden!“

Wir erreichten unbemerkt die Pforte, kletterten über die Mauer, lösten den Strick und verbargen ihn.

Sehr bald gelangten wir auf die große Straße, die durch die Ruinenstätte nach Lahore führte. Ein indischer Gemüsehändler nahm uns auf seinem Wagen mit.

Harst war stumm, rauchte aber mindestens acht Zigaretten. Am alten Stadttor, das jetzt inmitten prächtiger Anlagen liegt, da die Backsteinmauern, die die Stadt einschlossen, größtenteils beseitigt worden sind, verließen wir den Wagen und begaben uns nach dem Polizeigebäude. – Es war jetzt ½9 vormittags.

Der Pförtner erklärte, Inspektor Greep sei in seinem Dienstzimmer – erster Stock Nr. 24.

Vor dieser Tür ging ein indischer Polizist auf und ab, der uns höflich mitteilte, der Inspektor habe jetzt nicht Zeit; er vernehme gerade einen Arrestanten.

„Vielleicht Master van Baalker?“ fragte Harald.

„Ja –“ – Der Polizist musterte uns erstaunt.

Harst gab ihm eine Visitenkarte, auf die er ein paar Worte mit Bleistift geschrieben hatte – „Bringe sie Master Greep hinein. Wir sind gute Bekannte von ihm,“ befahl er kurz.

Der Polizist verschwand hinter der Tür. Gleich darauf kam Greep sehr eilig heraus. Er strahlte über sein ganzes glattes, langes Schauspielergesicht.

„Sie, meine Herren, – Sie beide?! Welche Überraschung.“

Er drückte uns die Hände.

„Ja, lieber Greep, – diesmal kommen wir als Ankläger,“ sagte Harald. „Wir sind in der vergangenen Nacht von dem berühmten Gentleman-Buschklepper sehr wenig gentlemanmäßig überfallen worden.“

Greep starrte Harst ungläubig an. „Das – das ist unmöglich! Wir haben den Schimmelreiter verhaftet. Es ist ein Herr der hiesigen Europäerkolonie, ein vielfacher Millio…“

„Weiß schon: Hendrik van Baalker! – Ein Fehlgriff, lieber Greep – totaler Fehlgriff. – Hat denn der Kutscher des Mietwagens, mit dem wir gestern nacht die Straße nach Shekhupura[3] entlangfuhren, den Überfall nicht gemeldet?“

„Nein. Bisher nicht. – Sie sind also wirklich ausgeraubt worden – von dem Schimmelreiter?“

„Jawohl, Greep. Aber nicht ausgeraubt. Der Mensch wollte uns umbringen. Die Sache ist so. Der alte Baalker war bei uns in Mirzapur. Gestern abend kamen wir hier in dieser Verkleidung an. Ich wollte den Schimmelreiter zu einem neuen Streich verführen. Und – es gelang. Wir sollten dann, an den Händen gefesselt, in einem Gewölbe der Ruinenstadt uns selbst in die Tiefe stürzen. Man hatte uns auf einen einzelnen Balken gestellt. Wir entkamen. Ich möchte alles zu Protokoll geben.“

„Aber – aber Hendrik van Baalker hat doch bereits einstanden, daß er aus bloßer Sensationslust die Rolle des Buschkleppers gespielt hat. Merkwürdig ist nur, daß er weder die Beute herausgeben, noch verraten will, wo er den Schimmel versteckt hält.“

„Greep, sollen wir beide beschwören, daß der Schimmelreiter uns gestern nacht überfallen hat? – Baalker mag aus Ärger über seine Verhaftung dies Geständnis abgelegt haben. – Ich sage Ihnen ganz offen, Greep: ich weiß, wer der „echte“ Schimmelreiter ist, möchte aber diese Sache allein ins Reine bringen. Die Beute wird herausgegeben und die erschossenen Pferde werden bezahlt werden. Damit ist die Geschichte erledigt. – Jedenfalls: von mir erfahren Sie den Namen nicht! Es hängt mit diesen Streichen noch etwas anderes zusammen, das mich allein etwas angeht. Im Interesse dieser Angelegenheit behalten Sie Baalker auch noch in Haft und verschweigen Sie diese Unterredung. Lassen Sie nur in aller Stille nach dem Wagen und dem alten Inder suchen. Der Mann hieß Shandra Bogra. Ich fürchte, man wird ihn ermordet haben.“

„Der Schimmelreiter?“

„Nein, der nicht, lieber Greep. Der Mörder ist jemand anderes. Es ist ein Mann, der – im Vertrauen – mich schon in Mirzapur zu erschießen suchte.“

„Das – das verstehe ich nicht,“ meinte Greep kopfschüttelnd. „Aber – weil Sie es sind, Master Harst, – gut, ich lasse Ihnen völlig freie Hand –“

„Und – suchen Sie Shandra Bogra, Greep! Ich werde jetzt den Gouverneur Sir Paterlan telephonisch anfragen, ob ich ihn sofort draußen in seinem Sommerbungalow sprechen kann. Sollten Sie Shandra Bogra finden, geben Sie mir Bescheid.“

 

5. Kapitel.

Evelyn.

Greep hatte uns sein Polizeiauto zur Verfügung gestellt. Wir hatten uns bei Sir Paterlan als Hirt und Schroth in „sehr dringender Angelegenheit“ angemeldet.

Um 10 Uhr vormittags saßen wir Sir Paterlan in dessen Arbeitszimmer gegenüber. Ich erkannte in dem Gouverneur sofort denselben älteren Herrn wieder, den wir morgens in dem entlegenen Teile des großen Parks beobachtet hatten. Jene blonde Schönheit war also Evelyn Croker, Paterlans Nichte gewesen, und der Park der des Gouverneurs. – Ich ärgerte mich, daß der Vorname Evelyn, mit dem Paterlan die junge Dame angerufen hatte, nicht sofort die Situation geklärt und mir gesagt hatte, Evelyn sei Hendrik van Baalkers zukünftige Braut, wie uns doch von dem alten Baalker erzählt worden war. –

Sir Paterlan fragte höflich, aber kühl, in welcher Angelegenheit wir zu ihm kämen.

„Wir sind in der verflossenen Nacht von einem Schimmelreiter überfallen worden, Exzellenz,“ begann Harald. „Wir haben dann die Fährte dieses Buschkleppers gefunden.“

„Der sitzt doch im Polizeigefängnis,“ meinte Sir Paterlan verwundert.

„Im Gefängnis sitzt nur Hendrik van Baalker, Exzellenz. – Wir haben die Fährte bis zu der östlichen Pforte dieses Parkes verfolgt. Allerdings hat der Buschklepper seinem Pferde plumpe Schuhe über die Hufe gestreift gehabt. Die Polizei hat stets nach Hufspuren die Ruinenstätte durchstöbert und deshalb nie etwas entdeckt. Das Pferd ist ein Schecke, den der Buschklepper durch weiße Farbe, durch Überpinselung der dunklen Fellflecken, in einen Schimmel mit Brustfleck verwandelte. Das Pferd ist durch die Pforte zu dem kleinen Bungalow gebracht worden, den Ihre Nichte hinten im Park allein bewohnt.“

Sir Paterlan hatte die Farbe gewechselt. Und auch mir dämmerte jetzt die Wahrheit auf. Ich dachte an die merkwürdigen Fahrten, an Haralds Worte: „zwei einer ganz besonderen Gattung angehören –“ –

Harst sprach weiter. „Exzellenz, ich bitte Sie, Ihre Nichte herbeizurufen, aber so, daß sie nicht argwöhnisch wird. Übrigens möchte ich Sie gleich insofern beruhigen, als diese unüberlegten Streiche Miß Evelyns keinerlei Folgen haben werden. Ich heiße in Wahrheit Harald Harst, Exzellenz. Und der Herr ist mein Freund Schraut.“

Paterlan wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Das – das kann ja nicht sein! Evelyn soll –“

„Besitzt sie einen Schecken? Schießt sie gut?“

„Ja. Und – sie – sie ist in letzter Zeit so – so verstört, so verändert. – Master Harst, wie in aller Welt kann Evelyn nur auf diese wahnwitzige Idee gekommen sein?! Sie hat doch Geld in Hülle und Fülle! Ich bin Junggeselle! Sie ist meine Erbin!“ – Seine Bestürzung schwand immer mehr. Der Zorn packte ihn. „Freilich – etwas verschroben war sie schon immer, schrieb und agitierte für das Frauenstimmrecht, behauptete stets, die Weiber könnten genau so viel leisten, wie die Männer! – Gut, ich werde sie rufen. Soll ich Sie beide, meine Herren, mit Ihren richtigen Namen vorstellen?“

„Zunächst nicht, Exzellenz.“ –

Und Evelyn Croker erschien. Bei unserem Anblick stutzte sie. Dann nahm sie sehr zögernd Platz.

„Evelyn, diese Herren möchten Dich einiges fragen,“ sagte Sir Paterlan nun.

„Miß Croker, wir sind Detektive,“ erklärte Harst und schaute das junge Mädchen sehr scharf an.

Ihre Hände krallten sich um die Knäufe der Sessellehnen. Sie war bleich geworden.

„Hendrik van Baalker ist verhaftet worden,“ fuhr Harald fort. „Er hat gestanden, der Buschklepper gewesen zu sein. Sein Vater hat uns herbeigerufen, um den wahren Straßenräuber herauszufinden.“

Evelyn Croker lehnte mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel.

„Der alte Baalker, Miß, hat uns alles über seinen Sohn erzählt was er wußte. Ich merkte sofort, daß Hendriks nächtliche Ausflüge mit dem Gentleman-Buschklepper zusammenhingen. Hendrik wollte – diese Streiche verhindern. Deshalb brachte er die Nächte außer dem Hause zu. Er kannte und – liebte den Buschklepper. Seine Verzweiflung, seine Angst, daß man den Räuber fangen könnte, machten ihn elend –“

Sir Paterlan konnte jetzt nicht länger an sich halten.

„Evelyn,“ rief er. „Du – Du hast diese verrückten Streiche verübt! Gestehe es nur ein! Hendrik sitzt Deinetwegen im Gefängnis!“

Sie schlug die Hände vor das Gesicht, schluchzte.

Harald winkte Sir Paterlan zu und sagte freundlich und tröstend:

„Miß Croker, diese ganze Angelegenheit kann totgeschwiegen werden. Wir sind nicht Berufsdetektive. Mein Name ist Harald Harst –“

Sie ließ sofort die Hände sinken und blickte Harald ungläubig an.

„Sie müssen nur ganz offen sein,“ fügte er hinzu. „Außerdem auch verschwiegen.“

„Ja – ich will alles tun, – alles, was Sie wollen!“ rief sie leise. „Ich werde Ihnen erklären, wie ich auf diese Idee kam, als Buschklepper die Tatkraft, den Mut und die Klugheit eines Mannes zu beweisen. Vor etwa drei Wochen gaben Annixters ein Gartenfest. Hendrik, mit dem ich bereits so halb und halb verlobt war, zog wie schon oft die Gleichberechtigungsbestrebungen der Frauen ins Lächerliche. Wir hatten uns dieserhalb schon häufiger gezankt. Als er mir dann an jenen Abend den entscheidenden Antrag machte, wies ich ihn ab und erklärte, ich würde ihm erst noch zeigen, daß Evelyn Croker nicht zum sogenannten schwachen Geschlecht gehöre. Das „Wie“ würde ich mir noch überlegen. – Wir wurden damals belauscht, glaube ich. Am nächsten Tage erhielt ich ein Päckchen Zeitungsausschnitte zugeschickt, die sämtlich über die Geniestreiche des Gentleman-Gauners Saalborg handelten. Die Adresse war mit Maschine geschrieben, ebenso ein Zettel mit den Worten:

„Dies bringt nur ein Mann fertig, der Tatkraft, Mut und Klugheit besitzt.“

Ich war überzeugt, daß das Päckchen von Hendrik käme. Die überlegene Ironie auf dem Zettel reizte mich. Und – so begann ich mit meinen Buschklepper-Abenteuern. Zuerst gab ich die Beute sofort wieder zurück. Nach dem ersten Streich hatte mir Hendrik an der östlichen Parkpforte in der nächsten Nacht aufgelauert. Er beschwor mich, von dieser Torheit abzulassen. Er versicherte, er hätte die Zeitungsausschnitte mir nicht zugesandt. Ich glaubte ihm nicht. Wir schieden noch mehr in Unfrieden. – Hier in Lahore betrachtete man den Buschklepper mehr als scherzhafte Figur, weil der Mann ja nur zum Vergnügen raubte. Da änderte ich die Taktik. Ich behielt die Beute. Hendrik bewachte jede Nacht die Pforte. Ich beachtete ihn nicht. Wir entzweiten uns vollständig. Ich gebe zu, daß ich Gefallen an diesen nächtlichen Aufregungen gefunden hatte. Ich wußte stets durch Greep, was die Polizei unternahm. So konnte ich allen Nachstellungen entgehen. Erst durch Hendriks Verhaftung kam ich zur Besinnung. Gestern habe ich die ganze Beute und dazu 25 000 Rupien als Entschädigung für die Überfallenen verkleidet in Shekhupura an die hiesige Polizei abgeschickt und anonym gebeten, Hendrik zu entlassen. Hätte ihm dies die Freiheit nicht wiedergegeben, dann – wäre ich zu Greep gegangen und hätte ihm die Wahrheit enthüllt.“

Harald reichte ihr die Hand. „Miß Croker, damit ist die Sache ja erledigt. Nur noch eine Frage: Haben Sie außer Hendrik noch einen Bewerber gehabt? War dies vielleicht Edward Annixter?“

Evelyn schaute Harst überrascht an. „Ja. – Annixter merkte aber bald, daß er keine Aussichten bei mir hatte. Wir sind trotzdem gute Freunde geblieben.“

„So?! Gute Freunde! Miß Croker, dieser Annixter hat Sie beide damals fraglos belauscht; er sandte Ihnen die Zeitungsausschnitte, weil er Sie Hendrik nicht gönnte. Er wollte Sie verderben! Und – mich hat er zweimal zu ermorden gesucht. In der vergangenen Nacht hat er den Schimmelreiter gespielt. Doch – schweigen Sie über all das! Ich werde diese Rechnung mit Edward Annixter wettmachen – in aller Stille!“

Das Telephon auf dem Schreibtisch schlug an. Es meldete sich Greep, der Harald an den Apparat bat und ihm dann mitteilte, daß man mit Hilfe eines Polizeihundes Shandra Bogras Leiche gefunden hätte und daß soeben ein Wertpaket eingetroffen sei, in dem der Buschklepper die gesamte Beute nebst einer größeren Summe eingeschickt hätte. – Harald bat Greep, Hendrik nunmehr freizugeben und dies der Öffentlichkeit gegenüber durch das Paket und das gestrige abermalige Auftauchen des Schimmelreiters zu begründen; Hendrik solle auch sofort hier zu Sir Paterlan kommen. –

Die reizende Evelyn war von ihren Emanzipationsbestrebungen gründlich geheilt. Der „Gentleman-Buschklepper“ verlobte sich noch am selben Tage mit Hendrik. Am Verlobungsfest des jungen Paares ereignete sich dann das, was Harst und mich vor ein neues Rätsel stellte.

 

 

Eine Wettfahrt ums Leben.

 

1. Kapitel.

Noch ein besorgter Vater.

Zwei Tage nach der Verlobung Miß Evelyns und Hendrik van Baalkers stand Harald gegen sieben Uhr abends vor dem Schrankspiegel in seinem Schlafzimmer im Pensionat Trafalgar und band sich die weiße Krawatte zum Frackanzug in eine schicke Schleife, sagte dabei zu mir leise, während die Mirakulum im linken Mundwinkel auf und ab wippte:

„Frack! Also ganz Kulturmensch mal wieder! Gesellschaftsmensch! Übrigens ist Dir Dein Leichenträgerkostüm etwas weit geworden. Du bist magerer als vor drei Monaten. Ich glaube, da hatten wir unsere Frackmöbel zum letzten Male an.“

Ich saß auf dem Diwan, bereits fix und fertig angezogen und erwiderte: „Ich werde schon wieder dicker werden. Besonders wenn dieses ruhige Leben so weiter geht. Was soll nun eigentlich mit Edward Annixter werden? Du scheinst ihn ganz vergessen zu haben. Gestern im Klub spieltest Du sogar mit ihm mehrere Partien Poker.“

Harald drehte sich um. „Ich wiege ihn, mein Alter!“

„Wiegen?!“

„Ja – ich wiege ihn in Sicherheit. Er läßt uns beobachten. Du hast doch wohl ebenfalls bemerkt, daß unser rechter Zimmernachbar, dieser Monsieur Charles Distingalle[4], angeblich Kaufmann aus Bombay, zu Edwards Sippe gehört. – Oder – hast Du es nicht bemerkt? Dann rate ich Dir, mal die Tür Deines Schlafzimmers, die durch den Schrank verstellt ist, in Distingalles Abwesenheit in Augenschein zu nehmen. Sie führt in seinen Wohnsalon, und er hat sie frisch geölt. – Schloß und Angeln. Der Schlüssel fehlt. Er besitzt aber Dietriche. Er war in Deinem Schlafzimmer.“

Ich war einfach sprachlos. – Das war so ganz wieder Harst, wie er leibte und lebte!

„Wie bist Du denn auf diesen Distingalle aufmerksam geworden?“ fragte ich kopfschüttelnd. „Hast Du ihn mit Annixter zusammen irgendwo gesehen?“

„Nein – ich habe ihn nur gerochen –“

„Mach’ keine Witze!“

„Bitte – als wir auf der Straße in der Ruinenstätte überfallen worden waren und weggeführt wurden, hatte mich ein Kerl am rechten Arm gepackt. Und trotz der Decke überm Kopf roch ich, daß dieser Mensch sich parfümiert hatte – mit Peau d’Espagne von Roger und Galler aus Paris. Und bei einer Begegnung mit dem vorgestern hier abgestiegenen Monsieur Distingalle roch ich dasselbe Peau d’Espagne, was mich veranlaßte, heute vormittag auf einen Stuhl zu steigen, die Staubschicht auf Deinem Schrank mir anzusehen, wo ich deutliche Spuren von Händen und bloßen Füßen fand, den Schrank abzurücken und die Verbindungstür mit einem Dietrich zu öffnen, weil Herr Charles das Pensionat vor drei Minuten verlassen hatte. Sein Koffer hat ein miserables Schloß. In dem Koffer lag dasselbe wie in unserem Kostümkoffer: Bärte, Perücken – und auch tadelloses Diebeswerkzeug, ferner ein Brief, den ich in aller Eile abgeschrieben habe, da er mich interessierte. Für Chiffrebriefe interessiere ich mich stets. Der Brief war leider ohne Umschlag und steckte in der Tasche eines etwas schäbigen Fracks.“

„Du hast den Brief dechiffriert?“

„Leider noch nicht. Die Sache ist schwierig. Und –“

Es klopfte. – Eines der eingeborenen Stubenmädchen überbrachte Harst eine Karte:

Roger Edward Stuart Annixter

Lahore.

„Ich lasse bitten,“ sagte Harald zu dem Mädchen.

Dann zu mir auf deutsch: „Nun werden wir also auch den alten Annixter schon jetzt kennen lernen. Heute bei dem Fest bei Sir Paterlan wäre er uns ohnedies vorgestellt worden.“

Wir gingen in den Salon. Annixter erschien nach wenigen Minuten. Er war wie wir bereits im Frack, hatte eine Ordenskette am Frackaufschlag befestigt und benahm sich mit der zwanglosen Sicherheit des Weltmannes.

Er hatte einen dicken, grauen Schnurrbart, graues gescheiteltes Haar, trug einen goldenen Kneifer und besaß jene ungesunde gelbliche Gesichtsfarbe, die auf ein Gallensteinleiden hindeutet.

„Ich weiß, daß man sich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen kann, Master Harst,“ begann er. „Ich weiß ferner, daß Baalker Sie herbeigerufen hat, damit Sie seines Sohnes Schuldlosigkeit beweisen sollten. Nun, Hendrik ist ja nun entlassen. Aber – der Buschklepper, der ja auch Sie beide so übel behandelt hat, befindet sich noch immer in Freiheit. Inspektor Greep gibt sich alle Mühe, ihn festzunehmen, wie mir der alte Baalker heute erzählte. Sie selbst wollen sich noch nach Ihrer damaligen Verwundung schonen, Master Harst, was verständlich ist. Ich wage daher kaum, Ihnen –“

„Oh – wagen Sie es getrost, Master Annixter –“

„Danke. Sehr liebenswürdig. – Genau wie Baalker habe ich Sorgen meines Sohnes und Erben wegen. Ich habe außer ihm noch zwei Töchter, die zur Zeit in London bei Verwandten weilen. Während Edith und Helen mir niemals Kummer bereitet haben, muß ich leider von Edward das gerade Gegenteil behaupten. Er kehrte vor vier Jahren aus dem Pawlerschen Erziehungsinstitut aus Birmingham zurück. Ich mußte ihn schon als elfjährigen Jungen aus dem Hause geben, weil er unglaubliche Streiche verübte. Bei Reverend Pawler kam er in sehr strenge Hände. Ich ließ ihn dort bis zu seinem zweiundzwanzigsten Lebensjahr. Als wir, meine Frau, meine Töchter und ich ihn dann nach langer Zeit hier wiedersahen, waren wir erfreut, wie stattlich und ernst er geworden. Ein Jahr lang hatte ich keinerlei Grund zu irgend einer Klage. Dann begann er im Klub zu spielen, trieb allerlei Sport, schaffte sich drei Autos an und kümmerte sich um die Verwaltung meiner Plantagen gar nicht mehr. Gewiß, ich bin vielfacher Millionär. Aber wenn ein Sohn im Jahr 60 000 Pfund Sterling vergeudet, dann –“

„Also er spielt und verschwendet,“ warf Harst ein.

„Ich werde mich kürzer fassen, Master Harst. Seit einiger Zeit hat Edward allerlei Heimlichkeiten. Ich fand mal in einer Tasche seiner Hausjoppe einen Brief, der chiffriert war. Dann trifft er nachts mit Leuten zusammen, die offenbar verkleidet sind. Und –“

Es klopfte. – Dasselbe Stubenmädchen erschien und meldete Inspektor Greep.

Der alte Annixter erhob sich sofort. „Wir sprechen heute abend bei Sir Paterlan weiter darüber,“ sagte er schnell. „Greep soll nicht wissen, daß ich hier war. Lassen Sie mich bitte durch Ihr Schlafzimmer in den Flur, sobald Greep hier eingetreten ist.“

Ich führte Annixter in Harsts Schlafzimmer. Als wir Greeps Stimme hörten, verabschiedete sich Annixter auch von mir, reichte mir noch schnell einen Brief und sagte: „Mag Mr. Harst versuchen, ihn zu dechiffrieren. – Auf Wiedersehen.“ –

Ich ging in den Salon zurück. Greep drückte mir die Hand. Auch er war im Frack. Sein längliches, bartloses Schauspielergesicht lag in ernsten Falten. – Er beendete den bei meinem Eintritt unterbrochenen Satz:

„– lediglich durch einen Zufall dahinter. Sie kennen ja das Gebäude der India-Bank. Es liegt dem berühmten Schalimar, den drei Terrassen mit ihren 450 Springbrunnen, gerade gegenüber. Einer der Parkwärter des Schalimar hatte schon drei Tage einen zerlumpten indischen Bettler beobachtet, der stets auf der untersten Terrasse hockte und den Eingang der Bank nicht aus dem Auge ließ. Gestern abend folgte er dem Bettler heimlich, der zur Stadt hinaushumpelte, in den Ruinen des alten Lahore verschwand und nicht wieder sichtbar wurde. Der Parkwächter hatte sich neben der Straße versteckt. Nach einer halben Stunde tauchte ein Europäer auf, der bartlos und schlank war und – gleichfalls auf dem linken Fuße hinkte. Der Wärter schwört darauf, daß derselbe Mann der verkleidete Bettler gewesen sei. Leider merkte dieser, daß man ihm nachschlich, sprang in einen Mietwagen und fuhr davon. Diesen Wagen habe ich heute bereits ermittelt. Der Besitzer erklärte, der Sahib sei am Bahnhof ausgestiegen. Mehr wisse er nicht. – Ich vermute nun, daß hier ein Anschlag auf die India-Bank vorbereitet wird. Wie denken Sie darüber, Master Harst. Bankeinbrüche sind ja seit zwei Jahren in Indien an der Tagesordnung. Wir nehmen an, daß eine Bande europäischer Einbrecher hier tätig ist.“

„Möglich, lieber Greep. Sie wissen: für Einbrüche habe ich nicht viel Interesse. Die Filiale der Englischen Bank in Kalkutta bat mich vor acht Monaten telegraphisch um Beistand. Es waren damals etwa zwei Millionen Mark gestohlen worden. – Ich rate Ihnen festzustellen, ob die Keller der Bank und die Stahlkammern etwa auf Gewölben des alten Lahore errichtet sind. Das ganze Lahore erhebt sich ja auf Ruinen.“

„Ist schon besorgt, Master Harst. Es befinden sich unter dem Bankgebäude Teile eines uralten Kanals, die noch betreten werden können. Wir haben den Kanal genau durchsucht, aber nichts Verdächtiges gefunden. Jetzt habe ich dort unten eine ständige Wache hinbeordert.“

„Sehr gut, Greep. – Ich verspreche Ihnen, mich um diese Sache gleichfalls etwas zu bemühen. Ich habe jetzt genügend freie Zeit.“

„So?! Und der Mörder Shandra Bogras? Und der Buschklepper?“

„Die kommen schon noch heran, lieber Greep. Jedes zu seiner Zeit.“

Er sah nach der Uhr. „Wir müssen aufbrechen –“

„Mein Auto wartet unten,“ meinte der Inspektor. –

Als wir die Festräume des Gouverneurpalastes betraten, waren bereits gegen hundert Personen versammelt. Nachdem wir Sir Paterlan und das Brautpaar begrüßt hatten, stellten wir beide uns etwas abseits hinter eine Marmorsäule des Empfangssaales und beobachteten das bunte Bild dieser Festgesellschaft, in der sich eine ganze Anzahl eingeborener Fürstlichkeiten befanden und die gut zur Hälfte aus Offizieren bestand.

Jetzt nahten die beiden Annixters, Vater und Sohn. Wir hatten Sir Paterlan und den Brautleuten eingeschärft, sich gegenüber Edward Annixter nichts anmerken zu lassen.

Edward war eine recht bestechende Erscheinung. Er hatte ein mageres, bartloses Sportgesicht. Äußerlich stellte er Hendrik van Baalker vollständig in den Schatten.

Der alte Annixter schlenderte jetzt durch den Saal, begrüßte Bekannte und kam dann mit Greep auf uns zu. Der Inspektor stellte uns vor. Annixter tat, als kenne er uns noch nicht.

Greep ging weiter. – Gleich bei den ersten Worten Annixters hatte ich aufgehorcht.

Das war ja eine ganz andere Stimme als die des Herrn, der sich heute bei uns als Annixter eingeführt hatte. Und auch seine Frackweste war perlgrau, während der andere Annixter eine weiße getragen hatte. Diesem Annixter fehlte ferner die Ordenskette.

Der alte Herr sagte Harst einige Schmeicheleien. Harald war sehr einsilbig. Annixter verabschiedete sich wieder.

„Ich wollte doch wenigstens die jetzige größte Berühmtheit Lahores kennen lernen,“ meinte er liebenswürdig lächelnd, verbeugte sich und ging mit Greep davon.

Harst und ich schauten uns an.

„Saalborg!“ sagte Harald leise. „Aber – zu welchem Zweck erschien er bei uns als Annixter?! Die Maske war wieder mal tadellos. Nur die Weste und die Orden und die Kragenform stimmten nicht –, außer der Stimme. Deshalb ging er auch Greep aus dem Wege. – Hast Du den Brief noch in der Fracktasche, den er Dir gab? – Ja – Nun, dann wollen wir uns im Rauchzimmer den Brief mal näher betrachten.“ –

Wir setzten uns in eine Ecke. Das Rauchzimmer war völlig leer. Ich reichte Harald den Brief. Es war ein blaugrauer, zugeklebter Umschlag ohne Anschrift.

Darin lag ein einzelner, zerknitterter Bogen, auf dem ohne Ort und Datum in Maschinenschrift folgendes stand:

Erlen gever ingün zarich Dannfr innen edinicht Histstig
Mirte purbe begwir
1, 7, 2, 8, 3, 9, 4, 10, 5, 11, 6.

„Hm,“ meinte Harald, „Chiffreschriften zu enträtseln ist stets ein Vergnügen – falls sie gut erdacht sind und man den Schlüssel nicht kennt. Der Erfinder dieser Geheimschrift ist ein ziemlicher Idiot. Die Geschichte ist glatt herunterzulesen.“

„So?! – Dann bin ich ebenfalls ein Idiot.“

„Sage das nicht. Ich habe schon so viel derartige Wische in Händen gehabt, daß ich geübt bin.“

Er nahm seinen Bleistift aus der Westentasche und schrieb auf den Umschlag:

Erlen edinicht gever Histstig ingün Mirte zarich purbe
Dannfr begwir innen.

erklärte dazu:

„Du siehst, ich schreibe die elf Wörter jetzt in anderer Reihenfolge. „Erlen“ ist das erste, „edinicht“ das siebente, „gever“ das zweite – und so fort. Ich ordne sie also nach den Zahlen 1, 7, 2 und so weiter. Die höchste Zahl ist elf. Und es sind elf Wörter. Die Sache ist albern einfach. Nun lies mal von den so geordneten Wörtern zuerst die Anfangssilben, dann erhältst Du:

Erl edi ge Hist in Mir za pur Dann beg in

Nun von hinten die Restsilben:

nen wir fr be rich te gün stig ver nicht en.

Das Ganze heißt:

Erledige H – ist in Mirzapur. Dann beginnen wir. Fr Berichte günstig. Vernichten.

Wir haben hier also den Mordbefehl für Mirzapur. Dieser Zettel war also an Edward Annixter gerichtet.“

Er drehte das Blatt Papier um. Es war jedoch auf der anderen Seite leer.

Dann besah er sich den Umschlag, meinte: „Es war an den Klebstellen aufgetrennt und ist wieder zugeleimt worden.“

Als er ihn an den Schmalseiten aufgeschnitten und auseinander geklappt hatte, fanden wir folgende flüchtige Bleistiftzeilen in Saalborgs charakteristischer Schrift:

Verehrtester Herr Harst! Ich weiß, was Sie wissen und noch etwas mehr. Beherzigen Sie, was Ihnen heute der falsche Annixter anvertraute. Einliegenden Zettel stahl ich Edward A aus seinem Schlafzimmer. – Ihr ergebenster V. S.

 

2. Kapitel.

In der India-Bank.

Ein Diener kam und reichte uns Zigarren, Zigaretten und Eispunsch. Als wir wieder allein waren, sagte Harald:

„Es ist klar, daß Saalborg genau den Buschklepper kennt und daß er auch Annixter als unseren geheimen Gegner durchschaut hat. Er wird ebenso diese Chiffreschrift gelöst haben. Er will uns warnen. Er ist eben der wahre Gentleman-Gauner wie stets. – So, nun mal den Inhalt des Zettels. Ich sollte also „erledigt“ werden. Dann wollten die Herrschaften „beginnen“. – Womit beginnen? – Ich denke, da helfen uns Greeps Mitteilungen weiter. Greep argwöhnt einen Anschlag auf die India-Bank. Dazu paßt das „Fr Berichte günstig“, was doch heißen soll: Fr’s Berichte sind günstig. Dieser Fr kann hier also die „Gelegenheit ausbaldowern“, steht aber aus Vorsicht mit Annixter nicht in Verbindung. Es handelt sich vielleicht wirklich um jene Einbrecherbande, die schon zwei Jahre hier in Indien tätig ist. Und Edward Annixter gehört mit dazu. – Wenn ich nur erst die Schrift des Briefes enträtselt hätte, den ich bei Monsieur Charles Distingalle abschrieb –“

In demselben Augenblick erschien ein Diener mit der Meldung, daß die Festtafel beginne.

Wir verließen das Rauchzimmer. Wir saßen bei Tisch inmitten der „höchsten“ Spitzen von Lahore. Links von Harst hatte der Direktor der India-Bank seinen Platz; zwischen uns saß General Malgrove; rechts von mir der alte van Baalker; uns schräg gegenüber das Brautpaar.

Die Tafel zog sich fast drei Stunden hin. Ich fand die Geschichte herzlich langweilig und war froh, als wir uns endlich erheben konnten.

Harald winkte mir sofort mit den Augen zu. Wir traten in die Vorhalle hinaus, wo Harald flüsterte:

„Schnell! Holen wir unsere Mäntel. – Edward Annixter ist schon eine halbe Stunde nach Beginn der Tafel verschwunden. Hätte mir Direktor Houster von der India-Bank diese wichtige Mitteilung vorher gemacht, wäre ich sogleich Edward gefolgt. Leider erwähnte er erst vor zehn Minuten, daß oben im Bankgebäude drei Wohnungen für Beamte der Bank eingerichtet sind und daß in der einen seit fünf Monaten ein neu eingestellter Buchhalter namens Francois Istrelle wohnt, – ein Muster von einem Buchhalter, der lediglich aus Vorliebe für die Tropen aus Paris nach Indien gekommen sei. Francois! Fr; Fr!“

Wir waren inzwischen schon auf die Straße gelangt, fanden einen Wagen und fuhren an der India-Bank vorüber.

Das ganze Gebäude war dunkel.

Wir stiegen dann aus, entlohnten den Kutscher und schlenderten nochmals an der Bank vorüber.

Harst blieb plötzlich stehen. „Dort links ist der Seitenaufgang für die drei oben wohnenden Beamten,“ sagte er. „Das Haus hat daher auch zwei Pförtner, wie mir der Direktor erzählte, der um seine Stahlkammern außerordentlich besorgt ist. Greep hat ihm einen bösen Schreck durch die Schilderung von dem verkleideten, hinkenden Bettler eingejagt. Übrigens dürfte dieser Hinkende der vierte im Bunde sein: Edward Annixter, dann unser Zimmernachbar Charles Distingalle[5], dann Monsieur Francois Istrelle, ebenfalls also Franzose, und der Hinkende! Das sind vier! Und vier Mann überfielen uns damals auf der Straße: drei von hinten, der falsche Schimmelreiter alias Annixter von vorn. – Was meinst Du, ob wir nicht mal den Pförtner des Seitenaufgangs herausklingeln?“

Er schritt schon über die Straße der Tür zu, drückte auf den großen Porzellanknopf, über dem ein Messingschild „Pförtner“ angebracht war.

Niemand kam. Wir läuteten Sturm.

Nichts rührte sich.

„Hm – schon faul,“ meinte Harst. „Gehen wir zum Haupteingang!“

Hier erschien der Pförtner nach wenigen Minuten.

Harald fragte, ob der andere Pförtner beurlaubt sei, nannte auch unsere Namen.

Der Hauptpförtner war ein alter Engländer.

„Nein, Master Harst. Er ist nicht beurlaubt,“ erklärte er. „Mein Kollege ist ein Eurasier namens Sefton, ein sehr zuverlässiger Mensch. Er sieht mehr nach einem –“

„Schon gut. – Können wir in seine Wohnung hinein?“

„Ja. Ich habe einen Schlüssel zum Nebeneingang.“

Gleich darauf betraten wir Seftons Pförtnerloge, an die sich eine Wohnung von zwei Zimmern anschloß. In der Schlafstube lag Sefton auf dem Bett – in Kleidern – tot. Er hielt noch in der rechten Hand einen Revolver. Ein Loch in der rechten Schläfe mit versengten Wundrändern deutete auf Selbstmord hin.

Harald untersuchte den Toten. Nach zehn Minuten war er damit fertig, fragte den anderen Pförtner:

„Ich sehe da an Seftons linkem Zeigefinger Tintenspuren, die vom Schreiben herzurühren scheinen. War Sefton linkshändig?“

„Ja. Er schrieb auch mit der Linken, Master Harst.“

„Das genügt. Ein vorgetäuschter Selbstmord.“

Wir gingen in die Loge. Auf dem Tisch vor dem Guckfenster lag ein aufgeschlagener Roman, und in der Seitenspalte eine halb aufgerauchte Zigarre.

„Sefton hat noch gelesen,“ sagte Harald. „Dann kam der Mörder, den Sefton hier einließ. Sefton hatte die Zigarre in das Buch gelegt. Er rechnete also damit, daß der Mörder ihn bald wieder verlassen würde. Er muß diesen gut gekannt haben. – Wer wohnt hier über der Pförtnerwohnung.“

„Master Istrelle –“

„Aha! Also hätte nur Istrelle den Schuß gehört.“ –

Harst nahm den Hörer vom Telephon und ließ sich mit dem Palast des Gouverneurs verbinden, bat den Bankdirektor Houster und Greep an den Apparat und bestellte beide hierher.

Dann befahl er dem Hauptpförtner Tompkins, in der Loge zu bleiben.

Wir beide stiegen die Treppe empor, nachdem wir die Nachtbeleuchtung eingeschaltet hatten, und läuteten an Istrelles Flurtür.

Es öffnete niemand.

Wir läuteten nochmals. – Wieder ohne Erfolg.

Harald zog sein Schlüsselbund hervor und stellte den Patentdietrich ein. Es steckte ein Schlüssel im Schloß. Die Tür ging auf. – Wir knipsten das Licht an, durchsuchten die Zimmer. Und – in dem Schlafzimmer fanden wir Francois Istrelle, der an einen Stuhl gefesselt und geknebelt war.

Istrelle mochte vierzig Jahre alt sein und trug einen kurzen blonden Schnurrbart. – Wir befreiten ihn, taten ganz so, als ob wir ihm in keiner Weise mißtrauten.

Er spielte den völlig Erschöpften, deutete auf Würgemale an seinem Halse und teilte uns heiser und stockend mit, daß gegen zehn Uhr jemand bei ihm Einlaß begehrt hätte. Der Mann hätte eine Maske getragen und wäre ihm sofort an den Hals gesprungen; er sei dann erst auf dem Stuhl wieder zu sich gekommen.

„Haben Sie etwa die Schlüssel zu der Stahlkammer in Verwahrung?“ fragte Harald,

„Den einen Schlüssel, Master Harst. Den anderen hat der Prokurist Maxwell.“

Er faßte in die Tasche, kreischte:

„Der Schlüssel ist weg, – nein, die drei Schlüssel! Es sind drei Stahltüren zu –“

„Gut, Master Istrelle. Wir müssen wieder hinunter. Der Pförtner Sefton ist ermordet worden. Haben Sie vielleicht einen Schuß gehört?“

„Ja. Das heißt: ich hielt den Knall für das Geräusch einer im Zugwind zuschlagenden Tür. Sefton liebte es, mich häufiger durch diese Knalle zu erschrecken.“

„Wann hörten Sie das Geräusch?“

„Hm – es kann gegen ¾10 gewesen sein –“

„So – danke. Auf Wiedersehen, Master Istrelle. Trinken Sie ein Glas Wein. Inspektor Greep wird Sie wohl auch noch vernehmen wollen.“ –

Unten bei Sefton waren inzwischen schon Houster und Greep angelangt. Houster hatte noch schnell seine Reserveschlüssel zu der Stahlkammer aus seiner Wohnung geholt.

Wir begaben uns in die Kellerräume hinab. Als wir die Stahlkammer betraten, sahen wir sofort, was geschehen war: auf dem Boden lagen Papiere umher; die Schrankfächer standen offen. –

Houster lief der Schweiß über das Gesicht. Ihm klapperten die Zähne wie im Fieberfrost.

Harald riet Greep, Istrelle zunächst nicht zu verhaften, ihm gegenüber vielmehr sich völlig harmlos zu zeigen.

„Er ist bestimmt Seftons Mörder,“ fügte er hinzu. „Er hat Sefton in dessen Schlafstube gelockt und ihn dort mit Seftons eigenem Revolver erschossen, dann seine Komplicen eingelassen, die ihn nachher fesseln mußten, damit keinerlei Verdacht auf ihn fiele. Die Geschichte ist recht plump gemacht. Es bleibt nur noch aufzuklären, wie man dem Prokuristen die anderen Schlüssel entwendet hat.“

„Maxwell war gleichfalls auf dem Fest,“ stöhnte der Direktor.

„Dann hat man sie ihm daheim gestohlen. Verkehrt Maxwell mit einem Herrn hier häufiger? Hat er einen intimen Freund?“

„Das wohl nicht. Im Klub sitzt er oft mit dem jungen Annixter zusammen –“

„Nun, der kommt nicht in Betracht,“ log Harald kaltblütig. „Jedenfalls – man hat Maxwell die Schlüssel zu stehlen gewußt.“

Greep und Houster waren einverstanden, daß Istrelle vorläufig nur unauffällig überwacht würde.

Nach einer halben Stunde kehrten wir beide – es war ½2 morgens geworden – in unser Pensionat zurück.

Und da – da begann die Sache ernst zu werden – für uns.

 

3. Kapitel.

Der dritte Schimmelreiter.

Im Pensionat schlief alles. Nur der Nachtportier war wach und ließ uns ein.

Unsere Zimmer lagen im Hochparterre nach hinten heraus, wie ich schon erwähnt habe.

Wir warfen die Fräcke ab und setzten uns in den Salon auf das Ledersofa. Harald war müde. Er hatte die Folgen des Lungenschusses noch lange nicht völlig überwunden.

Ich hatte eine Flasche alten Kognak aus einem unserer Koffer geholt und zwei Likörgläser gefüllt, die zu einem Service gehörten, das auf einem Schränkchen des Salons stand.

Harst prostete mir zu. Als wir getrunken hatten, mußte ich unsere Clementpistolen aus dem anderen Koffer herausnehmen.

„Durchsuche jetzt erst mal die Zimmer,“ meinte Harald. „Wir müssen unseren Stubennachbar Distingalle nicht vergessen. Ich bin zu matt. Ich würde Dir – Verdammt!“ Er fuhr hoch. „Du – der Kog–nak –“

Er sank auf das Sofa zurück.

Auch ich taumelte plötzlich.

Ich fiel in einen Sessel. Alles drehte sich um mich.

Ganz undeutlich nahm ich wahr, daß aus der Tür meines Schlafzimmers zwei Leute eintraten – zwei bärtige Inder.

Der eine lachte höhnisch.

Ich hörte wie aus endloser Ferne die Worte:

„So – nun sind sie endgültig erledigt!“

Dann wußte ich nichts mehr. –

Aber – dieser Zustand dauerte nicht lange. Das Betäubungsmittel wirkte nur schwach.

Ich kam wieder zu mir, fühlte ein Schütteln und Schaukeln, fühlte frische Luft über mein Gesicht streichen.

Allmählich wurde mir klar, wo ich mich befand: In dem Lattenkasten eines Wagens, wie sie zum Viehtransport benutzt werden.

Ich war mit Stahlfesseln an Händen und Füßen gebunden, außerdem noch in sitzender Stellung an die Latten geknüpft. Ich saß auf einer hohen Strohschicht, die mir bis an den Kopf reichte. Der Knebel im Munde war im Genick befestigt.

Ich konnte jedoch den Oberkörper und den Kopf immerhin so weit drehen, daß ich nach links, wo die Segeltuchbespannung der Latten eine handbreite Spalte offen ließ, einen Fahrweg erkannte, dazu Bäume und Büsche, über denen das erste Licht des neuen Tages lag.

Ich drehte den Kopf nach rechts und bemerkte neben mir im Stroh eine zweite Gestalt: Harst!

Oben war der Lattenkasten ebenfalls mit Leinwand bespannt.

Ich suchte die Füße zu bewegen: sie waren an den gegenüberliegenden Latten angebunden! –

Ich schaute wieder Harald an. Er beugte sich nach links; ich nach rechts. Unsere Köpfe berührten sich.

Ich begriff, was Harst beabsichtigte. Ich brachte meinen Kopf in eine andere Lage, fühlte nun, wie Harald trotz seines Knebels mit den Zähnen die Schnur meines Knebels zu packen versuchte.

Nach einer Weile gelang es ihm. Er lockerte die Schnur. Dann war ich den Knebel los, erwies ihm nun denselben Liebesdienst. Und – wir konnten uns jetzt verständigen. Damit war schon viel gewonnen.

„Fühle mit dem Munde, ob der Knoten der Stricke, die mich an den Latten festhalten, auf der Brust sitzt,“ flüsterte Harst. „Bei Dir ist es der Fall –“

Ich stellte fest, daß auf der Brust zwei Knoten vorhanden waren.

„Dann werde ich mal erst Deine Knoten öffnen,“ meinte Harald leise.

Zehn Minuten später hatten wir die Oberkörper frei.

Nun kamen die Füße heran. Auch hier lagen die Knoten innerhalb des Wagens auf dem Fußblatt.

Nach abermals zehn Minuten konnten wir uns, nur noch durch die Stahlfesseln wehrlos gemacht, wenigstens frei bewegen.

Draußen war es jetzt heller Tag. Der Wagen fuhr in flottem Trab über die einsame Landstraße.

Dann – kam die neue Überraschung.

Plötzlich hielt der Wagen mit einem Ruck.

Eine Stimme brüllte:

„Hände hoch – oder es knallt!“

Die Leinwand oben war nur durch Bindfaden straff gespannt.

„Los – aufrichten – mit aller Kraft!“ flüsterte Harald.

Wir taten’s. Wir sprengten den Bindfaden an drei Stellen, drängten uns hoch.

Und – sahen ein Bild, das wir nie im Leben vermutet hätten.

Vor dem Wagen ein Reiter – der Schimmelreiter – mit dem Revolver in der Hand; auf dem Bock zwei Inder mit emporgereckten Armen.

Da – erneut des blondbärtigen Buschkleppers Stimme – sehr ironisch gefärbt:

„Verehrte verachtenswürdige Kollegen der Gaunerzunft! Ich gestatte mir, mich vorzustellen: Vincent Saalborg. – Ich habe Ihre Zurüstungen zur Gefangennahme der beiden Gentlemen dort hinten im Wagen zu Ihrem Schaden beobachtet und noch rechtzeitig mir diesen Gaul – geliehen, bin Ihnen gefolgt und bitte Sie nun, sofort abzusteigen!“

Leider ereignete sich jetzt etwas, womit Freund Saalborg nicht gerechnet hatte.

Der eine Inder lachte, ließ die Arme sinken.

„Aha – Saalborg! Saalborg, der stets nur Revolverattrappen bei sich führt! Schieß doch, mein Junge!“

Der Kerl hatte jetzt selbst einen Revolver in der Hand, legte auf Saalborg an.

Und – Harst schnellte sich nach vorwärts, versetzte dem Menschen mit dem Kopf einen solchen Stoß in den Rücken, daß jener vom Bock herunterflog.

Ich besann mich nicht lange. Mein Kopf war genau so gut zu gebrauchen.

Auch der andere Kerl purzelte vorn auf die Deichsel, dann auf die Erde.

Saalborg hatte bereits die Zügel der beiden vor den Wagen gespannten Maultiere ergriffen.

Im Galopp ging’s vorwärts.

Hinter uns knallten Schüsse. –

Nach fünf Minuten lenkte Saalborg den Wagen auf einen Seitenweg und in ein Dickicht hinein.

Wir waren bisher keinem Menschen begegnet, hatten kein Wort mit Saalborg gewechselt. – Jetzt stieg er vom Pferde, zog die Sportmütze, verbeugte sich, sagte:

„Herr Harst, es war mir ein Vergnügen, Ihnen ein wenig beispringen zu können. Ich weiß. Sie hätten sich allein befreit, hätten die Schufte heruntergeboxt, wie geschehen, und die Maultiere durch Brüllen in Galopp gebracht. Aber – der Wagen hat großen Wert, Herr Harst.“ – Er setzte die Mütze wieder auf. „Der Hinkende kaufte ihn. Er wohnte im Hotel Imperial am Bahnhof als Master Allan Robinson. Nebenbei: er hinkt nur aus Schlauheit – wenn er will! Greep suchte einen hinkenden Europäer, und –“

„Das dachte ich mir, Saalborg,“ nickte Harst. „Hier im Wagen befindet sich also der Raub der Bankräuber?“

„Ja – vorn – dort in dem Holzkasten! Es dürfte kaum wieder einen so wertvollen Viehwagen geben. Bevor ich Sie beide, meine Herren, nun von den Stahlfesseln befreie, müssen wir uns darüber einigen, daß ich mit einem Teil der Beute nachher verschwinden darf. Ich bin nun mal Gauner, und diese Gelegenheit, eine halbe Million zu verdienen, darf ich nicht vorübergehen lassen – unmöglich!“

„Davon wird nichts, Saalborg!“ erklärte Harald sehr bestimmt. „Diese Kerle haben den Pförtner Sefton ermordet und –“

„Wie?! Noch einen Mord?!“ rief Saalborg empört. „Ich hatte ja keine Ahnung, was sie eigentlich planten. Ich kenne nur drei von ihnen: Edward Annixter, Distingalle und Robinson. Den vierten sah ich nur verkleidet. Erst als dieser Wagen von dem Hinkenden an die hintere Mauer des Pensionatgartens gebracht wurde und als Annixter und Distingalle, auch als Inder kostümiert, den Kasten darauf verluden und dabei nicht ahnten, daß ich oben auf der Mauer lag, da –“

„Wo hatten Sie denn das Pferd so schnell her?“

„Das hatte ich schon gegen zehn Uhr abends aus dem Stall der Miß Croker mir geholt und in einem Gebüsch der Anlagen untergestellt –“

„Saalborg, Sie werden doch nicht Geld nehmen, an dem Blut klebt!“ sagte Harst nochmals eindringlich.

„Hm – Sie haben recht, Herr Harst. Außerdem ist mein Geschäft hier in Lahore ohnedies erledigt – gut erledigt! Ich werde Sie also befreien. Daß Sie mich dann laufen lassen, ist selbstverständlich.“

Er kletterte auf den Wagen, hatte einen Stein mitgenommen, schlug auf die Schnappschlösser der Fesseln, bis sie aufsprangen.

Wir waren frei. – Wir standen dann neben Saalborg, der uns eine Zigarette anbot (unsere Taschen waren völlig ausgeplündert), rauchten, und Harald meinte in freundlich überredendem Tone:

„Hören Sie mal, Saalborg, – geben Sie Ihr Handwerk auf! Mann, Sie mit Ihren Fähigkeiten –“

Saalborgs Gesicht hatte sich verfinstert. Er fiel Harst ins Wort.

„Jeder wird nach seiner Fasson selig, Herr Harst. Wenn Sie meine Lebensgeschichte – Ah bah – was rede ich da! Ich werde sentimental. – Darf ich Ihnen ein paar Zigaretten hierlassen? – Bitte. – Leben Sie wohl, meine Herren. Es war mir ein Vergnügen. Wo wir uns wiedersehen, schreibe ich Ihnen noch.“

Er schwang sich in den Sattel. Er machte eine brillante Figur als Reiter.

„Halt!“ rief Harald. „Noch eine Frage. Sie sprachen vorhin von einem erledigten Geschäft, Saalborg?“

„Ja –“ Er lächelte fein. „Ja. Ich war heute in der Maske Sir Paterlans gegen halb acht abends im Auto draußen in dessen Sommerheim und habe mir erlaubt, einen Teil der Paterlanschen Familienjuwelen zu – zu beschlagnahmen. Die Autobrille half dabei. Die Dienerschaft erstarb in Ehrfurcht. – Auf Wiedersehen!“

Er gab dem gefärbten Schimmel die Sporen und sprengte davon.

„Welch ein Mensch!“ seufzte Harst. „Wie soll man den fassen?! Und – immer Gentleman! Nur einen Teil der Juwelen hat er – beschlagnahmt! Nicht alles! Das tut nur Vincent Saalborg! Er stiehlt nur denen, die zu viel haben! – So – rauf auf den Wagen und nach Lahore zurück!“ –

Nach Lahore zurück –! – Es sollte ein wenig anders kommen – nein, sogar ganz anders.

Ich muß zugeben: weder Harald noch ich waren damals geistig auf der Höhe. – Wir waren sogar unverantwortlich leichtsinnig, rechneten bestimmt damit, daß Robinson und Distingalle, denn das waren ja die beiden bärtigen, heruntergeboxten Inder gewesen, schleunigst das Hasenpanier ergriffen haben würden und gar nicht daran dächten, uns nochmals gegenüberzutreten.

Wir fuhren also denselben Weg zurück, saßen vorn auf dem Bock und – fühlten uns jetzt beide, nachdem das Nervenaufpeitschungsmittel der Gefangenschaft vorüber, wie zerschlagen. Die Maultiere, elende Schinder, hatten nach dem langen Galopp vorhin ebenfalls alle Lust zu einer beschleunigten Gangart verloren.

In gemächlichem Schritt ratterten wir also mit unserem Viehwagen gen Westen, denn dort mußte die Stadt liegen, von der uns mehrere Meilen trennten.

Unser Weg schlängelte sich zumeist durch dünn bewaldete, flache Täler hindurch. Die Gegend um Lahore herum ist zumeist eben wie eine Tenne. Nur stellenweise gibt es niedere Bodenwellen und ganz selten ein paar Felspartien.

Uns war bekannt, daß die Plantagen des alten Annixter sich von Lahore nach Nordwesten, eine an die andere stoßend, etwa 18 Meilen weit hinzogen und daß Annixter für den Transport der Bodenerzeugnisse seines ungeheuren Landbesitzes eine eigene Schmalspurbahn gebaut hatte. Dies muß ich noch zum Verständnis des Folgenden vorausschicken. –

Ich war auf dem Bock halb eingenickt.

Da – Ich schnellte hoch – aus den Büschen links das unangenehme, nahe Peng, Peng, Peng von Revolverschüssen.

Eine Kugel riß Harald die Peitsche aus der Hand.

Das eine Maultier keilte wie wild aus.

Dann tauchten vor uns schon drei Kerle auf – Inder, unsere Gegner.

Harst hatte die Leine kurz gefaßt und schlug mit ihrem freien Ende auf die Maultiere ein.

Wieder feuerten die drei – nicht auf uns – auf die Maultiere.

Aber – die Bande zielte schlecht.

Die Schinder, wie sich nachher herausstellte mehrfach getroffen, begannen zu rasen.

Der längste der Kerle – es war Distingalle – knallte mir einen Schuß so dicht an der Schläfe vorbei, daß mir die Haare versengt wurden.

Ein anderer – es war Edward Annixter – konnte sich gerade noch hinten an den Wagen anhängen, kletterte hoch, hielt sich mit der Linken an den Latten des Kastens fest, zielte auf Harst.

Peng – Peng.

Die Stöße des Wagens hatten Harald gerettet. Die Kugeln gingen ins Blaue.

Annixters Revolverkammer war leer.

Harst reichte mir die Leine, schwang sich in den Kasten, wollte Annixter packen, doch der zog es vor, abzuspringen, lief hinter uns drein, lud seine Waffe.

Auch Robinson und Distingalle ließen von der Verfolgung nicht ab. Sie sahen wohl genau wie wir, daß die Maultiere viel Blut verloren und demnächst zusammenbrechen müßten.

Ein Weg bog nach links ab. Oben auf dem Talrande bemerkten wir die Dächer einiger Häuser.

Harald riß an der Leine. Die Maultiere warfen sich herum. Der Seitenweg führte aufwärts. Die Tiere liefen immer langsamer.

„Wir müssen den Kasten retten!“ rief Harald. „Da – er ist nur zugehakt. Öffne ihn!“

Er peitschte mit dem Leinenende die armen Schinder an.

Der Holzkasten enthielt zwei Lederkoffer. –

Das eine Maultier sank plötzlich in die Knie.

„Jeder einen Koffer!“ befahl Harst. „Rein in die Büsche!“

Wir tauchten in den Sträuchern unter.

„Nicht laufen!“ flüsterte Harald. „Nach rechts – den Gebäuden dort auf der Höhe zu!“

Lautlos schlüpften wir durch die dünnen Büsche.

Aber – der Grasboden war leider nur zu geeignet, eine deutliche Fährte zurückzulassen.

Harald hob einen Stein auf.

„Immerhin eine Waffe!“ meinte er.

Die Büsche lichteten sich. Wir sahen mit einem Male rechts von uns einen Reiter, der den Gebäuden zuritt. Es war Annixter auf einem der Maultiere.

Harald blieb stehen.

„Du – er hat den falschen Bart entfernt!“ keuchte er. „Ich fürchte, die Häuser dort sind eine Station der Annixterschen Privatbahn. – Edward wird die Angestellten zur Jagd auf uns alarmieren. Die Geschichte wird peinlich –“

Er überlegte. Dann schlug er mit dem Stein auf das Schloß seines Koffers. Es sprang auf.

Die eine Hälfte des Koffers enthielt Banknotenpakete, die andere drei indische Gewänder, Turbantücher, Bärte, Schminken.

„Los – wirf Kragen und Krawatte weg. – Da – anziehen!“ flüsterte Harald.

Im Nu waren wir auch notdürftig braun gefärbt, hatten auch die Turbane um den Kopf gewunden.

„Weiter, mein Alter! Wir werden die Koffer irgendwo verstecken. Folge mir –“

Wir hasteten am Rande des Buschstreifens dahin, gelangten auf die Anhöhe, lagen nun jappend im Grase.

Ja – es war ein kleiner Bahnhof, wie wir jetzt sahen. Und Annixter stand dort neben dem gestürzten Maultier und brüllte den vor ihm versammelten acht Indern etwas zu. –

„Du – eine Draisine!“ sagte Harst plötzlich freudig. „Da links auf den Schienen steht sie – jenseits des Bahnhofs nach Lahore zu. Wenn wir bis dorthin gelangen können! Eine Draisine ist besser als unsere Beine. – Versuchen wir’s! Im Bogen herum um die Gebäude!“

Es war ein Wagnis.

Wir krochen einen Graben entlang. Die Koffer waren uns lästig; der meine hatte ein gehöriges Gewicht.

Nun mußten wir über die Geleise. Zum Glück schaute niemand nach dieser Richtung hin. Annixter hielt den Indern drüben noch immer brüllend Vortrag.

Hohe Haufen Reisstroh deckten uns jetzt. Dann nahmen uns Reisfelder schützend auf.

„Gesiegt!“ jubelte ich. „Wir kommen an die Draisine heran!“

„Abwarten! Noch sind wir nicht da!“

Wir liefen. Der Schweiß lief auch – über unsere brennenden Gesichter.

Dann vor uns zwei Schuppen. Im dem einen stand eine Lokomotive, scheinbar nicht unter Dampf.

Wir schlichen links an den Schuppen vorüber. – Hinter uns eine Stimme – aus dem Lokomotivschuppen – von der Maschine herab. Es war ein Heizer.

„Galopp!“ rief Harald.

In langen Sätzen über die Geleise.

Ein angstvoller Blick, ob die Draisine auch auf dem Hauptschienenstrang stände.

Ein Aufatmen. Noch zwei Sätze – oben! Die Koffer abgesetzt; die Hebelstangen ergriffen.

Das leichte Ding kam in Gang.

 

4. Kapitel.

Die Weiche.

Wir drückten mit zitternden Knien die Hebelstangen. Die Draisine war neu und die Räder gut geschmiert. Vor uns freie Bahn. Und – die Weichen standen richtig. Wir hatten den Bahnhof sehr bald ein paar hundert Meter hinter uns.

Wieder blickte ich zurück, stutzte, hörte vor Schreck zu pumpen auf.

„Die Maschine!“

Harald fuhr herum.

„Jetzt gilt’s! Aber – die Ruhe bewahren! Kräfte sparen!“

Wir sausten weiter. Die Strecke war zunächst eben, senkte sich dann etwas. –

Ich schwitzte nicht mehr. Nein, ich löste mich in Schweiß auf. Die Sonne brannte trotz der frühen Vormittagsstunde so unbarmherzig auf uns herab.

Über kleine Brücken der zahlreichen Bewässerungsgräben donnerten wir hinweg.

Die Zugluft pfiff uns um die Ohren.

Und – die Strecke stieg jetzt an; die Arbeit an den Stangen wurde mühsamer.

Abermals ein Blick nach rückwärts. Die Lokomotive war kaum noch siebenhundert Meter entfernt.

„Wenn wir die Anhöhe hinter uns haben, geht’s wieder leichter!“ rief Harald aufmunternd. „Wir müssen’s schaffen! Sobald der Vorsprung genügt, verschwinden wir in den Feldern –!“

Vor meinen Augen sprühten Funkengarben. Daß mein Herz diese Anstrengung aushielt, wundert mich heute noch. –

Unsere Draisine rollte langsamer. Die Steigung war endlos.

Wir hörten das Arbeiten der Lokomotive näher und näher, stärker und stärker.

Wieder ein angstvoller Blick zurück.

Vorn auf der Maschine stand Edward Annixter, den Revolver in der Hand.

Noch hundert Meter etwa. Dann senkte sich die Strecke wieder.

Hundert Meter! Unser Leben hing davon ab, daß wir sie schafften.

Ich biß mir die Lippen blutig. Nur jetzt nicht schlapp werden!

Die Lokomotive fauchte wie ein gieriger Lindwurm hinter uns drein.

Peng – Peng.

Edward hatte gefeuert. Aber – die hundert Meter waren überwunden; es ging abwärts – auf einen Felsenhohlweg zu.

Wieder – peng – peng. Wieder vorbei.

Die Draisine begann zu rasen. Der Hohlweg flog vorüber. Eine Kurve kam; dichtes Buschwerk ringsum.

„Anhalten!“ brüllte Harst. „Da – ein Ausweichgeleis! Ich werde die Weiche herumwerfen –“

Gegendruck auf die Stangen. Harst sprang ab: der Weichengriff klappte um. Harald war wieder oben. Es ging weiter.

Da erschien auch schon die Lokomotive in der Kurve.

„Wenn sie mit dieser Geschwindigkeit den kurzen Bogen auf das Ausweichgeleis macht, entgleist sie,“ rief Harald. „Sie muß entgleisen! Langsamer!“

Wir hatten die zweite Weiche passiert.

Wir schauten uns um.

Da – die Maschine schwankte – tat einen Satz, kippte, rollte die Böschung hinab.

Edward Annixter war im Bogen auf die Schienen geflogen, lag regungslos.

Wir rannten hinüber. Harst hob den Revolver auf.

Unten an der Böschung das ohrbetäubende Zischen entweichenden Dampfes. Die Maschine war in eine weiße Wolke gehüllt. Gellende Schmerzensrufe. Sie wurden schwächer und schwächer.

Harst untersuchte Annixter, nahm ihm einen zweiten Revolver und die Patronen ab. Wir waren wieder bewaffnet. Jetzt – jetzt hatten wir wirklich gesiegt!

Annixter war nur bewußtlos.

„Binde ihn,“ sagte Harald. „Ich will nach der Maschine sehen.“

Ich riß mein Inderkostüm in Streifen. Annixter kam gerade zu sich, als ich ihm auch die Füße fesselte. Er blutete an der Stirn. Sein Gesicht ward vor Ingrimm zur Fratze.

Harald kehrte zurück.

„Alle drei tot. Der Heizer zermalmt, Robinson und Distingalle durch den Dampf verbrüht,“ sagte er kurz. „Und Sie, Edward Annixter, werden am Galgen enden, genau wie Istrelle.“

Wir hoben den Gefangenen auf, wollten ihn zur Draisine tragen. Er wehrte sich wie ein Rasender.

„Gut – dann anders!“ meinte Harald eisig, packte ihn bei den Beinen und ließ den Kopf Annixters auf dem Boden schleifen.

Wir banden ihn dann auf der Draisine fest.

Und wieder begann die Arbeit des Pumpens; wieder kam der leichte Wagen in Gang.

Eine halbe Stunde drauf eine Station –: Gebäude, Schuppen, ein Güterzug. – Wir hatten halt gemacht. Harald steckte Annixter einen Knebel in den Mund, verhüllte ihm den Kopf.

„Der Mensch könnte auch hier die Angestellten aufhetzen,“ erklärte Harst. „Sicher ist sicher! So wird man uns eine Lokomotive zur Verfügung stellen, hoffe ich, falls man die Station nicht telephonisch von unserer Flucht benachrichtigt hat, was leider der Fall zu sein scheint! Blicke nur hin. Da kommen schon fünf Inder angehetzt[6]. Nun – mit den Herrschaften werden wir wohl fertig werden. Unsere Revolver sind geladen, und die Dinger wirken überzeugender als langes Reden.“

Hinter den fünf braunen Bahnangestellten keuchte noch ein Europäer drein, ein langer Mensch mit einem noch längeren Coldrevolver in der Faust.

„Das scheint hier der Herr Stationsvorsteher zu sein,“ meinte Harald.

Die sechs bauten sich zehn Schritt vor der Draisine auf. Der lange Weiße hielt sich vorsichtig im Hintergrund, rief:

„Ihr seid unsere Gefangenen! Steigt ab!“

Harald holte seinen Revolver vor.

„Werfen Sie Ihre Waffe weg!“ befahl er dem Langen. „Ich zähle bis drei –“

Die Inder verdufteten plötzlich, blieben erst dreißig Schritt weiter zurück stehen.

„Eins – zwei –“

Der Coldrevolver lag schon zwischen den Schienen.

„So, Master, nun treten Sie mal näher,“ meinte Harst gemütlich. „Haben Sie keine Angst. Wir beide sind Ihnen wohl als ganz gefährliche Banditen signalisiert. Kennen Sie vielleicht den Namen Harald Harst? – Nun also! Ich bin Harst –“

„Das ist gelogen –“

„Nein, Freundchen, das ist die Wahrheit. Wir werden bis zum Stationsgebäude fahren, und dann werden Sie an Inspektor Greep nach Lahore telephonieren. Sobald er am Apparat ist, werde ich hineinkommen und mich melden. Greep kennt meine Stimme.“

Der Lange wurde unsicher.

„Gut. Wie Sie wünschen,“ sagte er bedeutend höflicher.

Fünf Minuten später hatte Harst mit Greep gesprochen. Der Lange war jetzt um den Finger zu wickeln.

Er stellte uns eine Lokomotive und einen Wagen. Wir verluden die Koffer und unseren Gefangenen in den offenen Güterwagen und dampften ab.

Gegen Mittag waren wir in Lahore.

 

5. Kapitel.

Letzte Enthüllungen.

Greep hatte uns mit einem Auto erwartet und brachte uns nach dem Pensionat. Edward Annixter aber wurde ins Polizeigefängnis geschafft. Die beiden Koffer nahmen wir nach dem Trafalgar mit.

Inzwischen hatte Greep auch schon den vierten Vertreter, den Buchhalter Istrelle verhaftet, wie Harst ihm dies durch das Telephon anempfohlen hatte.

Im Trafalgar erregte unser Erscheinen gewaltiges Aufsehen. Wir sahen ja in Hemdärmeln, zerfetzten Frackbeinkleidern und mit den schlecht gefärbten Gesichtern wie Strolche aus.

Greep verabschiedete sich. Wir wollten ein Bad nehmen, frühstücken und dann ein paar Stunden schlafen. Um sechs Uhr nachmittags sollte der Inspektor sich wieder bei uns einfinden.

In unserem Salon standen noch auf dem Sofatisch die verhängnisvollen Likörgläser. Unsere Fräcke lagen auf dem Diwan.

Das Likörservice hatte sechs Gläschen. Harald stellte fest, daß sich auch in den vier anderen ein durchsichtiger, kaum bemerkbarer Bodensatz befand. Auch die Wassergläser auf unseren Nachttischchen waren derart präpariert.

Unsere Koffer hatte man nicht durchwühlt. Auch unsere Pistolen und der Inhalt unserer Taschen fanden sich auf dem Diwan unter einem Kissen vor. Wir hatten lediglich unser bares Geld, ein Paar Lackstiefel, Frackweste und auch je ein Oberhemd bei diesem Abenteuer eingebüßt. – Erwähnen will ich, daß wir noch in Greeps Gegenwart die beiden Koffer durchsucht hatten. Sie enthielten insgesamt 2½ Millionen Rupien in größeren Banknoten. Die Koffer hatte der Inspektor dann mit nach der Polizeidirektion genommen. –

Nach dem Bade frühstückten wir schnell. Ich verschwand in meinem Schlafzimmer, ließ die Stabjalousien herab, zog die Vorhänge zu und war im Augenblick eingeschlafen.

Gegen fünf Uhr erwachte ich. Im Garten vor meinen Fenstern lachten ein paar junge Damen so laut, daß jeder dadurch munter geworden wäre.

Nachdem ich mir mein schon recht spärliches Kopfhaar mit Eiswasser gewaschen und sonst noch einige Kulturkünste zur Auffrischung der Lebensgeister angewandt hatte, war ich so leidlich wieder Max Schraut geworden.

Ich wollte gerade wieder den seidenen Schlafanzug gegen das übliche Ausgehkostüm eintauschen, als ich im Salon Harst rufen hörte.

„Hallo – ich hab’s!“

Ich öffnete die Tür. Zunächst sah ich nur Zigarettenrauch; dann auch Harald – auf dem Sofa – noch im Schlafanzug wie nach dem Bade.

„Wie – bist Du gar nicht schlafen gegangen?“ fragte ich entsetzt.

Ich trat an den Tisch heran. Auf der Aschenschale lagen etwa dreißig Zigarettenstummel.

„Ich glaube nicht,“ lächelte Harald. „Ich hatte zu tun. Du weißt: die Abschrift des Chiffrebriefes aus Distingalles Koffer!“

„Ah – also deshalb! Und Du hast den Schlüssel zu der Geheimschrift gefunden?“

„Leider –“

„Leider?!“

„Nun ja – von Edward Annixters Standpunkt aus! Er wird es sehr bedauern, daß ich den Inhalt des Briefes nun kenne. Er ist nämlich der Absender. Das heißt – eigentlich ist er es auch nicht!“

„Das verstehe ein anderer!“

„Stimmt! Mir kam’s zuerst auch total schleierhaft vor. Ich werde jetzt Greep anrufen und ihm sagen, daß wir zu ihm auf die Polizeidirektion kommen und daß er auch den alten Annixter hinbestellen soll. Der alte Herr wird sich freuen.“

„Bitte – nun rede endlich wie ein vernünftiger Mensch! Freuen soll dieser Ärmste sich, dessen Sohn baumeln muß?!“

Harald hatte schon den Hörer in der Hand. Ich riß alle Fenster auf, läutete nach der Bedienung und bestellte Kaffee.

Dann zog ich mich um. Als ich den Salon wieder betrat, war Harst schon fix und fertig und füllte mir gerade die Kaffeetasse.

„Übrigens hat Sir Paterlan mir schon vor anderthalb Stunden telephonisch sein Juwelen-Leid geklagt, mein Alter,“ sagte Harald und stürzte den Inhalt seiner Tasse hinab, füllte sie wieder. „Saalborg hat aus den Juwelen sich nur Stücke jüngeren Datums herausgesucht – für etwa 300 000 Mark. Paterlan lachte, als ich ihm schilderte, wie Saalborg den Schimmelreiter gespielt hatte.“

„Und der Chiffre-Brief?“

„Den möchte ich erst nachher in Annixters und Greeps Gegenwart erklären. Gedulde Dich also. – Der Kaffee ist gut. Ich bin nicht mehr die Spur müde.“

Er trank die vierte Tasse. Dann begaben wir uns nach der Polizeidirektion, wo wir in Greeps Dienstzimmer den alten Annixter schon vorfanden. Er war völlig gebrochen. Harst reichte ihm die Hand.

„Master Annixter,“ sagte er tröstend. „Sie werden nach einer Viertelstunde die Dinge mit anderen Augen ansehen. Glauben Sie mir das. – Greep, nun lassen Sie den Gefangenen vorführen.“ –

Edward Annixter trug Stahlfesseln. Er blickte nicht auf. Sein Vater schien bei seinem Anblick ohnmächtig werden zu wollen, raffte sich aber wieder auf.

Dann begann Harald. „Inspektor Greep hat mir gestattet, Sie zu verhören. – Zunächst Ihre Personalien. Wie heißen Sie?“

„Edward Annixter. Das wissen Sie ja, Sie Schnüffler!“

„So! Edward Annixter?! Das dürfte nicht ganz stimmen. Sie sind nicht Annixters Sohn und Erbe!“

„Und Sie sind verrückt!“ brauste der Verbrecher auf.

„Diese Art Verrücktheit wie die meine hat ihre guten Seiten,“ meinte Harst ruhig. „Ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich in Distingalles Koffer einen chiffrierten Brief fand, den Sie offenbar an Ihren Komplicen geschrieben haben. Ich konnte zunächst den Schlüssel zu der Chiffreschrift nicht finden, weil man oft Schwierigkeiten sucht, wo keine vorhanden sind. – Hier ist der Brief. Bitte, meine Herren, treten Sie näher an den Schreibtisch heran. Vorher mache ich Sie noch darauf aufmerksam, daß der Gefangene sehr bleich geworden ist! Der Brief fällt ihm auf die Nerven.“

Das Schreiben sah so aus:

Sache verzichte werden verschwinden Croker hier
Alten und wird weiter noch den
nicht Sohn gehörig Echten glücken zu
Ausplündern besser Dann spielen Dann freilassen.

„Die Lösung ist überraschend einfach,“ erklärte Harst. „Jede Zeile hat sechs Wörter, und es sind vier Zeilen. Man braucht nur immer jedes vierte Wort zu lesen. Das ergibt:

Sache Croker wird nicht glücken. Dann –

Nun fängt man mit dem zweiten Worte an, macht es ebenso,

– glücken. Dann verzichte, hier weiter Sohn zu spielen. Werden Alten noch gehörig ausplündern. Dann verschwinden und den Echten besser freilassen.

Diese Mitteilung deutet ohne Zweifel darauf hin, daß der Gefangene hier nur Ihren Sohn gespielt hat, Master Annixter, und daß Ihr echter Sohn irgendwo von diesem Schurken verborgen gehalten wird.“

Der alte Herr schnellte hoch, stürzte mit geballten Fäusten auf den Verbrecher.

Wir sprangen zu, hielten ihn zurück.

„Dieser Mensch wird uns schon sagen, wo Ihr Sohn sich befindet,“ meinte Harst zuversichtlich. „Und – wenn er es nicht tut, dann tut es Istrelle. Der hat ja bereits ein umfassendes Geständnis abgelegt.“

Harald hatte den falschen Edward bei den letzten Worten scharf beobachtet. Denn dieser wußte noch nichts von des Buchhalters Verhaftung, zuckte jetzt merklich zusammen und senkte den Kopf noch tiefer.

„Wie ist’s“ fuhr Harst nach kurzer Pause fort. „Wollen Sie uns die Wahrheit über diese Dinge mitteilen? Oder sollen wir Istrelle vorführen lassen, der Sie als den Mörder des Pförtners Sefton bezeichnet.“

„Er lügt. Er lügt!“ rief der Verbrecher. „Gerade ich bin bei alledem der Betörte – nur ich!“

„So! Das kann jeder sagen! Robinson und Distingalle sind tot. Es stehen dann also Ihre und Istrelles Aussagen sich gegenüber. Das Gericht wird Istrelle mehr glauben als Ihnen, der hier jahrelang den Sohn einer hochangesehenen Familie spielte.“

Diese Taktik Harsts, den falschen Edward gegen Istrelle aufzustacheln, bewährte sich.

„Gut! Ich will alles zu Protokoll geben,“ erklärte der Verbrecher hastig. „Ich heiße Thomas Wiplaar. Mein Vater war General der englischen Armee –“

„Kürzer!“ mahnte Harst. „Die Einzelheiten können Sie für später aufsparen. – Sie machten als Junge dumme Streiche und kamen daher in das strenge Pawlersche Erziehungsinstitut nach Birmingham, wo Sie mit Edward Annixter zusammentrafen. Daß dieser von seinem elften bis zweiundzwanzigsten Lebensjahr dort weilt, hatte schon Saalborg ermittelt, der es uns in der Maske des alten Herrn Annixter erzählte. – Sie hatten mit Edward eine auffallende Ähnlichkeit –“

„Ja – selbst unsere Stimmen glichen sich. Ich entwich[7] mit 18 Jahren aus dem Pawlerschen Institut und lernte Istrelle kennen, der mich zum Verbrecher machte. Als ich eines Tages beiläufig meine Ähnlichkeit mit Annixter erwähnte, baute er den ganzen Plan auf. – Edward reiste nach Indien zurück. Die Seinen hatten ihn seit 7 Jahren nicht gesehen. Er machte in Paris Station, und hier ließen wir ihn verschwinden, das heißt, wir lockten ihn in Istrelles Haus in der Rue Boutin, wo er noch heute von Istrelles Frau und dessen Bruder im Keller gefangen gehalten wird. Istrelle wollte ihn ermorden. Ich gab dazu meine Zustimmung nicht. Edward hat es dort nicht schlecht. Ich wollte hier meine Rolle als Sohn Master Annixters ja nur so lange spielen, bis wir alle Bankeinbrüche erledigt hatten. Dann verliebte ich mich in Evelyn Croker. Hätte sie mich erhört, würde ich weiter Edward Annixter geblieben sein. – Als Sie, Master Harst, hier in Indien auftauchten, bekam Istrelle es mit der Angst. Er fürchtete, Sie könnten unsere Pläne stören und –“

„– und dann suchten Sie mich auf der Tigerjagd zu erschießen, spielten nachher hier das eine Mal den Schimmelreiter, wollten uns umbringen, da Sie wußten, wer als Hirt und Schrot im Trafalgar abgestiegen war. – Ihre Bankräuber-Bande bestand also nur aus vier Mitgliedern?“

„Ja. Und meine Rennautos und mein angesehener Name Edward Annixter erleichterten uns die Einbrüche. Ich war stets gegen Gewalttaten. Selbst in den Gewölben der Ruinenstadt weigerte ich mich, Sie zu ermorden. Ich hoffte, Sie würden merken, daß Sie auf einem Balken standen. Und bei der Tigerjagd schoß ich absichtlich so, daß Sie nur verwundet wurden. Ich hätte ebenso gut auf Ihren Kopf zielen können. – Ich wollte mich gern von meinen drei Genossen lossagen. Die Liebe zu Evelyn hatte mich gebessert. Aber sie hatten mich eben zu fest in den Klauen, und – Evelyn wollte nichts von mir wissen. Istrelle war es wieder, der die Idee ausheckte, Evelyns Neigung zu Extravaganzen durch die Zeitungsausschnitte –“

„Das wissen wir. – Also Rue Boutin Nr. –?“

„Nummer 82. Istrelle heißt in Wahrheit Isaak Trellaux.“ –

Harald wandte sich an Greep. „Schicken Sie eine Depesche an die Pariser Polizei. Die Antwort kann morgen abend hier sein.“ –

Harst hatte recht: am folgenden Abend neun Uhr kam Greep mit der Antwort zu uns ins Trafalgar. Sie lautete:

„Edward Annixter gefunden. Ist gesund. Frau Trellaux und ihr Schwager verhaftet. Annixter reist sofort ab.“

„Ich war bereits bei Annixters,“ erklärte Greep dazu. „Frau Annixter hat mir vor Freude einen Kuß gegeben. Sie bekommen sicher zwei von ihr, bester Harst.“

„Dann hat Saalborg ebenfalls zwei verdient,“ lächelte Harald. „Dieser Gentleman-Gauner stiehlt und hilft nebenbei noch, Verbrecher zu entlarven. Wer weiß, wohin er mich jetzt infolge unserer Wette bestellt –“

 

Nächster Band:

Eine Bärenjagd in Kaschmir.

 

 

Verlagswerbung:

Kabels Kriminalbücher. Band 5:

Die Schildkröte

Durch jede Buchhandlung zu beziehen.

 

Kabels Kriminalbücher. Band 6:

Die grüne Schlange

Durch jede Buchhandlung zu beziehen.

 

Kabels Kriminalbücher. Band 7:

Das Teekästchen

Durch jede Buchhandlung zu beziehen.

 

Kabels Kriminalbücher. Band 8:

Die Todgeweihten

Durch jede Buchhandlung zu beziehen.

 

 

Männe und Max

Lustige Bubenstreiche

von

Walther Neuschub

mit Bildern von R. Hansche

Diese Ausgabe hat den Beifall weitester Kreise gefunden. Der zündende Humor der Dichtung und die goldige herzerfrischende Komik der Illustrationen kann nicht übertroffen werden. Die Heftchen haben ein dreifarbiges Titelbild und enthalten meist über 25 Textillustrationen.

Bisher sind die nachstehenden Heftchen erschienen:

1. Onkel Adolars Geburtstag – 2. Schornsteinfeger Krause. – 3. Das Gespenst. – 4. Der Gang zum Photographen. – 5. Der Schweinestall. – 6. Köchin Line. – 7. Räuber Trald. – 8. Die Kindtauffeier. – 9. Die Reise nach Berlin. – 10. Knödelmeyers neue Köchin. – 11. Eine Kremserfahrt. – 12. Der Ritt nach Afrika. – 13. Kohn, der Papagei. – 14. Der Flohzirkus. – 15. Daniel in der Löwengrube. – 16. Der tote Puterhahn. – 17. Die Kartoffeldiebe. – 18. Der strenge Kandidat. – 19. Bobbis Begräbnis. – 20. Das Motorrad. – 21. Sonntagsjäger Haberland. – 22. Die Moorbadkur. – 23. Äppelschnuts Lehrlinge. – 24. Die Gauner Klapp und Pelle. – 25. Der Boxkampf. – 26. Der Indianer Heitawai. – 27. Josua Grind, der Pirat. – 28. Die Fuchsjagd. – 29. Der Dreibund im Zoo. – 30. Der Meisterschuß. – 31. Die Walfischjagd. – 32. Die sechs Mohren.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hier wurde in den ersten Auflagen die zweite Geschichte als Hefttitel angegeben, in späteren Auflagen dagegen die Erste. Siehe dazu auch unter „Zusätzliche Informationen“.
  2. Fehlendes Wort „es“ ergänzt.
  3. In der Vorlage steht: „Shekupura“. Zwei Vorkommen geändert.
  4. In der Vorlage steht: „Dichingalle“.
  5. In der Vorlage steht: „Distingalla“.
  6. In der Vorlage steht: „angesetzt“.
  7. Überflüssiges (doppeltes) Wort „ich“ entfernt.