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Die Höllenmaschine Dr. Blucks

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 73:

 

Die Höllenmaschine Dr. Blucks[1]

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1922.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Der Fall „Doktor Bluck“ hat seiner Zeit volle drei Tage die Berliner Bevölkerung in Aufregung gehalten. Und das heißt schon etwas bei der Fülle von Sensationen, die nun einmal jede Weltstadt dauernd hervorbringt.

Heute darf ich den Schleier, der noch über diesen Vorgängen lag, vollständig lüften. Doktor Bluck ist vor vierzehn Tagen in Australien gestorben und sein Tod wurde Harst durch Blucks Vertrauten telegraphisch mitgeteilt. –

Ich will nun die Ereignisse des Falles Bluck so vor dem Leser aufrollen, wie sie zu unserer Kenntnis gelangten und wie wir dann veranlaßt wurden, uns mit diesem merkwürdigen Verbrechertyp, den Doktor Hilmar Bluck darstellte, ganz eingehend zu beschäftigen.

Am 21. September nachmittags saßen Harst und ich auf der Veranda des Harstschen Familienhauses in Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10, und schauten Haralds Mutter zu, die für uns eine der soeben an der Tür von einer Händlerin gekauften vier Apfelsinen sorgfältig und „mit Liebe“ schälte.

Frau Auguste Harst ließ plötzlich die Hände sinken und rief:

„Ah – hier befindet sich ja ein Metallbüchschen in der Mitte der Frucht! Harald, sieh nur, – ein Büchschen, wie man sie erhält, wenn man Zündsteine für einen Gasanzünder kauft!“

Sie reichte Harst das etwa zwei Zentimeter lange dünne Ding und fügte hinzu:

„Natürlich wieder eine besondere Nachricht für Dich! Man kennt dies ja!“

Harst trocknete das von Apfelsinensaft feuchte Blechbüchschen vorsichtig ab und besichtigte es dann.

„Man hat es in heißes Stearin getaucht, damit die erkaltete Stearinschicht das Eindringen des Apfelsinensaftes verhinderte,“ meinte er ohne rechtes Interesse. „In dieser Blechhülle wird sich also ein beschriebenes Röllchen Papier befinden.“

Er zog die beiden Teile des kleinen Behälters auseinander.

„Da haben wir es ja schon!“

Und er zeigte uns das winzige Papierröllchen, legte es auf den Tisch und glättete es.

„Hm – nichts als ein Zahlenquadrat! Die Sache wird interessant. Liebe Mutter, entschuldige uns. – Wie sah übrigens die Händlerin aus, die Dir die Früchte verkaufte?“

Frau Harst dachte erst nach. „Sie war eigentlich recht nett angezogen, hatte graues Haar und ein sehr mageres Gesicht. In ihrem Körbchen lagen nur noch diese vier Apfelsinen.“

„Ihr Organ, die Ausdruckweise?“

„Oh – es war eine tiefe Stimme. Die Frau bat so flehentlich, ihr die Früchte doch abzunehmen. Sie war so seltsam verschüchtert und drehte sich immer wieder nach der Straße hin um, als ob sie fürchtete, sie könnte beim unerlaubten Hausieren abgefaßt werden.“

„Oder – als ob sie fürchtete, sie könnte von jemand verfolgt worden sein,“ verbesserte Harald und stand auf. „Dies letztere dürfte zutreffen. – Schraut, gehen wir in mein Arbeitszimmer hinüber.“

Als wir kaum den Flur betreten hatten, schrillte vorn die Glocke der Haustür.

Ich öffnete. Es war ein hagerer Mann mit kurzem blonden Vollbart in schlichtem Anzug, der sofort überstürzt rief:

„Entschuldigen Sie. Meine Frau hat Ihnen Apfelsinen verkauft, nicht wahr?“

„Wollen Sie nicht näher treten,“ meinte Harald freundlich.

„Danke!“ Die grauen, kurzsichtig zugekniffenen Augen des Mannes ruhten erwartungsvoll auf Harsts Gesicht. „Danke,“ wiederholte er. „Ich muß die Apfelsinen unbedingt zurückhaben. Ich bin Obsthändler und hatte die vier Früchte mittags einer alten Kundin zurückgelegt. Meine Frau wußte das nicht und hat –“

„Schade,“ unterbrach Harald ihn. „Wir haben soeben eine der Apfelsinen verspeist. Aber die drei anderen sollen Sie zurückerhalten. – Treten Sie nur hier ein.“

Er stieß die Tür nach seinem Arbeitszimmer auf.

Der Mann zögerte. Der lauernde Ausdruck seines Gesichts verstärkte sich.

„Und – die – die Apfelsine war – war nicht faul?“ fragte er hastig.

„Nein, durchaus nicht! Vorzüglich war sie.“ Harald schnalzte dabei lachend mit der Zunge.

Des Mannes Mißtrauen schwand. „Ich will nicht weiter stören, meine Herren,“ sagte er und zog seine Börse. „Wieviel haben Sie für die Früchte bezahlt. Ich möchte Ihnen das Geld wiedergeben –“

„Sie müssen schon noch ein paar Minuten warten,“ erklärte Harald. „Meine Mutter ist vorhin zum Kaufmann gegangen und hat den Schlüssel vom Büfett bei sich. Sobald sie erscheint, bekommen Sie die Apfelsinen. – Woher haben Sie eigentlich um diese Jahreszeit die köstlichen Früchte? Wenn Sie mir davon ein Dutzend besorgen wollten, wäre ich Ihnen dankbar. Doch – wir stehen hier gerade im Zug. Nehmen Sie doch die wenigen Minuten Platz. Ich kann ohne die Büfettschlüssel Ihrem Wunsch nicht nachkommen, Herr –“

„– Meier mit ei ist mein Name,“ dienerte der Hagere, der nun auch den Rest seines Mißtrauens infolge Haralds tadelloser Komödie überwunden hatte, und betrat dann das elegante Herrenzimmer, wo Harst einladend auf den Klubsessel hinwies, der neben dem türkischen Rauchtischchen am Fenster stand und stets für derartige Besuche bestimmt war, die nicht ganz einwandfrei schienen.

Doch der Mann, der die Ausdrucksweise eines einfachen Obsthändlers nicht sehr geschickt kopierte und der seine Miene noch schlechter zu verstellen verstand, meinte bescheiden:

„Nein – ich setze mich lieber hier auf den Stuhl. An so ’ne feinen Sessel bin ich nicht gewöhnt –“

So nahm er denn gleich neben der Flurtür Platz.

„Wie Sie wollen,“ sagte Harald und lehnte sich an die Türfüllung, während ich den Klubsessel wählte. „Wie Sie wollen, Herr Meier. – Werden Sie mir ebenso gute Apfelsinen besorgen können?“

„Ja. Gern. Ich bringe sie Ihnen noch heute abend. Ich wohne drüben in Wilmersdorf Wilhelmsaue Nr. 10.“

„Schraut,“ wandle Harald sich da an mich, „mir fällt soeben ein, daß ich um sechs Uhr Doktor Ramm anläuten wollte –“

Kein Wort war davon wahr. Wir kannten gar keinen Doktor Ramm.

Harald ging zum Schreibtisch und nahm den Hörer von den Stützen, verlangte Zentrum 1816 und meldete sich dann.

„Ah – Tag, Ramm. Wie steht’s? – So?! Da will ich Ihnen gleich mal Schraut schicken. Ich komme nach zehn Minuten nach. – Gut – Wiedersehen. Schluß –“

Ich hatte inzwischen begriffen, was dieses Telephongespräch mit dieser Phantasiefigur bezweckte, erhob mich und meinte:

„Ich werde ein Auto nehmen, Harald. Die Sache Ramm scheint sich zu komplizieren.“

„Tu’s, mein Alter –“

Ich nickte Herrn Meier zu, verließ das Zimmer und gleich darauf das Haus, ging schnell bis zur nächsten Querstraße, fand hier ein leeres, geschlossenes Taxameterauto und gab dem Fahrer ganz bestimmte Anweisungen. –

Inzwischen unterhielt Harald sich noch drei Minuten etwa weiter mit Herrn Meier und sagte dann, er wolle einmal nachsehen, ob seine Mutter vielleicht durch den Gemüsegarten zurückgekehrt sei.

Er holte die drei Apfelsinen, ließ sich von Meier das Geld dafür zurückzahlen und bat den Mann nochmals, ihm das Dutzend Früchte bestimmt noch heute zu bringen. – Dies alles hat Harst mir nachher im einzelnen erzählt.

Meier griff mit verdächtiger Hast nach den drei Orangen, stammelte einen Dank und eilte durch den Vorgarten der Straße zu. Harald schloß die Haustür und stellte sich hinter die Gardine an das Fenster, sah, wie der angebliche Obsthändler sich auf der Straße erst zweimal umschaute und dann nach rechts weiterging.

In der Nähe hatte ich in dem Auto auf Meiers Erscheinen gewartet. „Meier“, der natürlich niemals Meier hieß, sollte sich wundern! Sein Interesse für diese Apfelsinen war ja mehr als verdächtig! Wir würden schon herausbekommen, wer dieser Meier war!

Mein Chauffeur fuhr hinter ihm drein. Meier stieg auf eine Straßenbahn. Das Auto ließ ihn nicht aus den Klauen. An der Wilhelmsaue stieg er aus und – betrat eine große Mietskaserne. Ich war im Nu zu Fuß hinterdrein, war kaum zwei Minuten nach ihm vor dem Hause und – wunderte mich!

Wahrhaftig – Nr. 10! Und – wahrhaftig – der eine der beiden Läden im Erdgeschoß war ein Obstgeschäft! Besitzer Gustav Meyer mit y! Jedenfalls ein „Meier“!

Ob unser Meier nun gerade diesen Laden betreten hatte, konnte ich nicht wissen. Das war vom Auto aus nicht zu erkennen gewesen.

Ich betrat also nun meinerseits das Obstgeschäft. Und – hatte so den echten Gustav Meyer vor mir, der recht dick war und pomadig fragte, was ich wünsche.

Ein Wort gab das andere. Der echte Meyer glaubte fraglos, ich sei nicht recht klar im Kopf, als ich nach seiner Frau mich erkundigte.

„Ne – ich bin Gott sei Dank geschieden,“ meinte er.

„Haben Sie auch keine Apfelsinen?“

„Jetzt im September?!“

„Und Sie kennen auch keinen Mann, der hager, blondbärtig und etwas kahlköpfig ist und der auf der Oberlippe eine kleine Narbe hat?“

„Ne – tut mir leid. – Sonst noch Wünsche?“

Da entfernte ich mich. Ich merkte: unser Meier hatte mich geleimt, war natürlich nicht hier in den Laden, sondern in den Hausflur eingetreten, hatte gewartet, bis ich, sein Verfolger, im Laden verschwunden war, und hatte sich dann in aller Seelenruhe anderswohin aus dem Staube gemacht. Das Haus nach ihm jetzt noch abzusuchen, war zwecklos.

Ich kehrte also zu dem Auto zurück, das noch etwa dreißig Meter weiter am Straßenrande hielt, stieg ein und fuhr heim.

Harald war jedoch nicht anwesend. Seine Mutter sagte mir, er habe gleich nach „Herrn Meier“ das Haus verlassen. In seinem Arbeitszimmer auf dem Schreibtisch lag jener winzige Zettel, der in dem Büchschen enthalten gewesen.

Ich setzte mich und schaute mir Stückchen Papier an. Es war sogenanntes Fettpapier, und das Zahlenquadrat war mit einem spitzen harten Bleistift geschrieben.

Zahlenquadrat! Die Bezeichnung paßte sehr gut.

So sah es aus:

 1  3  2  8 15 21
23              2
 1              3
 6              8
 3             19
10  6 22  9  8  2

Das Viereck, das die Zahlen bildeten, war kleiner, da der Zettel nur knapp 2 Zentimeter Länge und Breite hatte.

Ich rate dem Leser, dasselbe zu tun, was ich nun tat: zu versuchen, diese Zahlenschrift zu enträtseln.

Ich rate dazu nur, weil ich weiß, daß ich dadurch Haralds Genie im Lösen derartiger Chiffreschriften dick unterstreiche.

Eine Stunde brütete ich über dieser Aufgabe – ohne jeden Erfolg!

Dann kam Harald, trat pfeifend ein und sagte:

„Das Gewitter naht. Es wird ein böses Unwetter geben. Hoffentlich gießt es gegen zehn Uhr nicht mehr, denn später möchte ich unserem Apfelsinen-Meier nicht auf den Pelz rücken –“

 

2. Kapitel.

Plötzlich umheulte auch schon der erste Windstoß des drohenden Regengusses das Harstsche Haus.

Ich hatte vorhin die Fenstervorhänge geschlossen, aber nur die Schreibtischlampe eingeschaltet. Harald drehte jetzt die Krone an. Es wurde taghell. Und er stand vor mir, kniff ein Auge zu und meinte:

„Na, lieber Alter, da ist Dir ja unser Meier fein durch die Lappen gegangen. Mir auch. Allerdings nur insofern, als ich von einem gegenüberliegenden Hausflur feststellte, nachdem ich Euch in einem zweiten Auto gefolgt war, daß Meier das Haus Nr. 10 nicht verließ, wenigstens nicht bis vor zwanzig Minuten.“

„Er blieb also dort?“ meinte ich etwas beschämt.

„Ja. Er blieb dort. Und ich denke, er wird dort auch wohnen.“

„So?!“

„Natürlich in anderer Aufmachung –“ – Harald setzte sich in einen der Sessel neben den Sofatisch und spielte mit seinem goldenen Zigarettenetui. „Wir wollen die Sache mal gemeinsam durchsprechen, mein Alter. Was hältst Du von der Frau, die die Apfelsinen bei uns hier feilbot? Gerade nur vier Apfelsinen.“

„Die Frau wollte Dir nur das Zahlenquadrat in die Hände spielen.“

„Ja, und – das ist wichtig! – sie fürchtete Verfolger.“

„Stimmt. Und einer der Verfolger kann „Meier“ gewesen sein,“ erklärte ich schnell.

Harald nickte. „Ohne Frage war Meier der Verfolger. Er wußte, daß eine der Apfelsinen das Büchschen mit dem Zettel enthielt. – Woher wußte er es?“

„Hm“ – – Ich dachte angestrengt nach, sagte dann: „Er kann die Frau zu Dir geschickt haben. Nachher mag es ihm leid geworden sein, und er wollte das Büchschen, das mit irgend einem Geheimnis oder dergleichen zusammenhängt, wiederhaben.“

„Das wäre die eine Möglichkeit, die sich jedoch nicht recht mit meinen bisherigen Feststellungen deckt. Ich habe nämlich bereits ermittelt, wo die Frau die Apfelsinen gekauft hat: auch in der Wilhelmsaue, einige zwanzig Häuser weiter in einem großen Delikatessengeschäft, das nur für reiche Leute die Apfelsinen auf besondere Art konserviert. Die Frau hat die vier Orangen erst um vier Uhr nachmittags erstanden. Der Kassiererin war sie nicht unbekannt. Sie müsse in der Nähe wohnen, sagte mir das Kassenfräulein: sie kaufe zuweilen Aufschnitt. – Ich ging dann zu Gustav Meyer nach Nr. 10. Warum wohl?“

Ich hüllte mich in Schweigen.

„Nun – deshalb,“ erläuterte Harald, „weil ich mir überlegt hatte, es sei doch nicht ausgeschlossen, daß Herrn Gustav Meyer diese Frau bekannt sei, und ebensowenig ausgeschlossen, daß unser Meier wieder den echten Meyer kennt, dessen Namen mit ei und dessen Adresse er ja hier bei uns für seine Rolle als Ehemann der Orangenverkäuferin benutzt hat. – Der echte Meyer machte erst Ausflüchte. Du hast ihm die Frau nicht beschrieben. Ich tat es: nett angezogen, graues Haar, sehr mageres Gesicht! – Meyer glaubte, einen Kriminalbeamten vor sich zu haben und meinte, solche Frauen liefen zu Dutzenden herum. Meyer hat eben den sogenannten Polizeikoller. Nachdem ich mich als Harst vorgestellt hatte, war er jedoch um den Finger zu wickeln. Kurz: eine Grauhaarige mit sehr magerem Gesicht wohnt im vierten Stock von Nr. 10 rechts, ist Witwe, heißt Anna Bermuth und hat zwei Zimmer seit einem Monat an einen Schriftsteller Doktor Hilmar Bluck vermietet, einen älteren Herrn von recht vernachlässigtem Äußern. Meyer bezeichnete diesen Bluck als – Schmierlappen, also als Schmutzfink. – Hilmar Bluck kann nun aber kaum unser Meier sein, denn der echte Meyer beschrieb ihn mir als lahm, dunkelbärtig und mit Künstlermähne. Immerhin: es dürfte lohnen, diesen Hilmar Bluck noch heute zu beobachten. Meyer wird uns nach zehn Uhr – ah – das war ein gehöriger Donner! – nach zehn Uhr ins Haus einlassen. Er scheint zuverlässig, das heißt verschwiegen zu sein.“

Harald brannte sich eine Zigarette an.

„Ich komme nun auf den Anfang unserer Erörterungen zurück,“ fuhr er fort. „Ich sagte, die eine Möglichkeit decke sich nicht mit meinen Feststellungen. Wenn jemand die Witwe Bermuth zunächst mit den Apfelsinen zu uns geschickt hätte, damit ich das Büchschen fände, und wenn der Jemand dann seine Absichten geändert und die Apfelsinen hätte zurückhaben wollen, dann wäre es unverfänglicher gewesen, die Bermuth wieder hiermit zu beauftragen. Wäre die Bermuth zu uns gekommen und hätte sie die Geschichte von den bereits an eine andere Kundin verkauft gewesenen Orangen erzählt, so würde ich kaum argwöhnisch geworden sein, hätte vielmehr gedacht, die präparierte Apfelsine mit dem Büchschen sei eben nicht für mich, sondern für einen anderen bestimmt gewesen. – Ich möchte dies nicht weiter ausspinnen, lieber Alter. Jedenfalls: weil die Bermuth nicht kam, sondern unser Meier, denke ich mir die Sache so: die Bermuth mag zufällig gemerkt haben, daß solche Büchsen ihrem Mieter schon häufiger irgendwie zugestellt worden sind. Da sie diesem Mieter, dem Doktor Bluck, nicht recht traut, wollte sie mir mal ein solches Büchschen in die Hände spielen. Sie stahl es also, erschien hier als Händlerin, fürchtete aber Bluck oder sonst jemand hinter sich. Als sie heimkehrte, mag ihr dann Bluck den Diebstahl des Büchschens auf den Kopf zugesagt haben. Sie verriet in ihrer Angst alles, und Blucks Spießgeselle ward nun abgesandt, die Apfelsinen zurückzuholen. Dieser Spießgeselle, unser Meier, wird gehofft haben wir hätten eine harmlose Orange verzehrt und das Büchschen noch nicht gefunden. Erst bei Bluck stellte sich heraus, daß doch gerade die präparierte Frucht fehlte. Und – da wird „Meier“ eingesehen haben, wie ich ihn hier „eingewickelt“ und daß ich ihn bestimmt nicht aus den Augen gelassen habe. Er und Bluck rechnen also damit, von uns irgendwie belästigt zu werden, nehme ich an. Und deshalb werde ich auch im Hause Nr. 10 heute sehr vorsichtig sein.“

„Im Kostüm, Harald?“ fragte ich kurz und mit jenem ungeheuchelten Interesse, das ich einem offenbar harmlosen Abenteuer stets entgegenbringe. Für stärkere Aufregungen schwärme ich nicht. Diesen Fall „Bluck“ hielt ich für ungefährlich.

„Natürlich im Kostüm,“ nickte Harald. „Als Freunde Gustav Meyers, die zum Skat kommen.“

Abermals ein Blitz und ein ohrenbetäubender Donner.

„Und das Zahlenquadrat?“ fragte ich dann.

„Ich habe mich damit noch nicht beschäftigen können. – Ah – meine Mutter ruft uns zum Abendbrot. Lassen wir sie nicht warten. Komm’! Und verrate nicht, daß wir gegen dreiviertel zehn noch weg wollen. Du kennst ja Mutters Ängstlichkeit.“ –

Um neun Uhr sagten wir Frau Auguste Harst gute Nacht. Ein paar Minuten nach zehn waren wir vor Wilhelmsaue 10 angelangt. Als wir an die Ladentür Gustav Meyers herantraten, öffnete sie sich sofort. Der Laden war dunkel. Wir sahen einen Mann vor uns, der eine Zigarette im Mundwinkel hatte, sie jetzt übereifrig herausriß und leise erklärte:

„Justav hat mir ins Vertrauen jezogen. Er is oben vor die Bodentür. Der Bluck will auskneifen. Einen Koffer hat er schon wegjeschafft. Justav meint, Sie sollen man lieber die Polizei hinzuziehen, Herr Harst. – Aber bitte – kommen Sie nur in Justavs Wohnzimmer. Dort brennt die Jaslyra.“

Er ging und machte die Tür nach dorthin ein wenig auf. Wir folgten ihm.

Harald musterte den Mann recht mißtrauisch. Der Mensch sah auch mit seinem rötlichen Backenbart und mit dem einen, durch ein Pechpflaster verklebten Auge etwas strolchmäßig aus. – Harst schien irgend eine Falle zu wittern denn er zog jetzt plötzlich seine Clementpistole und sagte kurz:

„Setzen Sie sich dorthin!“ Er wies auf einen Stuhl.

„Na nu!“ rief Meyers angeblicher Freund. „Nun schlägt’s dreizehn! Weshalb behandeln Sie mir so, als ob ich ’n Verbrecher wär’, Herr Harst.“

„Nimm ihm den falschen Bart ab!“ befahl Harald mir. „Falls Sie sich bewegen, knallt’s!“ – Das galt dem Einäugigen.

Der Mann lachte ärgerlich, setzte sich und meinte:

„Sie werden’s bereuen –! Sehr bald!“ – Das klang wie ein Zugeständnis, klang aber auch so gelassen, so ruhig und doch so drohend, daß ich unwillkürlich zögerte.

Aber – nur einen Moment.

Dann faßte ich zu. Der rote Vollbart löste sich sehr leicht. Nun bekam man schon mehr von dem Gesicht zu sehen; noch mehr, als ich auch die fuchsige Perücke entfernte.

Der Mann war fast kahlköpfig und hatte ein sehr mageres Gesicht.

„Ah – Herr Meier!“ sagte Harald da, der hinter dem Tisch stehen geblieben war. „Herr Meier, der die Apfelsinen holte! – Wer sind Sie nun eigentlich?“

„Mein Name ist Doktor Hilmar Bluck,“ erklärte der Mann mit ironischer Verbeugung und grinste dabei so recht tückisch.

„Und wo ist der Obsthändler?“

„Dort in seiner Schlafstube, wo ein Schlafender hingehört. Ich habe mir erlaubt, Herrn Gustav Meyer vorhin in anderer Gestalt eine Zigarre anzubieten, die ein kräftiges Schlafpulver ersetzt.“

„Schraut, sieh nach, ob Meyer sich dort wirklich befindet,“ sagte Harald und deutete auf eine nur angelehnte Tür.

Ich nahm die elektrische Lampe aus der Tasche und stieß die Tür vollends auf, schaltete die Lampe ein und ging langsam auf das Bett zu, das an der linken Schmalseite stand. Dort lag ein Mann in Kleidern auf dem Bett. Ich leuchtete ihm ins Gesicht und beugte mich über ihn.

Dann kam blitzartig die ganze Teufelei zu Tage: der Mann schnellte hoch, packte mich beim Halse, riß mich auf das Bett.

Ein Hieb gegen die linke Schläfe raubte mir auch sofort die Besinnung. –

Und Harald?! – Er hörte wohl, daß dort in der Schlafstube etwas vorging; er schaute über den Tisch hinweg in Doktor Blucks diabolisch feixendes Gesicht.

„Ein böses Dilemma für Sie, Herr Harst!“ höhnte Bluck. „Stecken Sie Ihr Schießeisen nur ein! Das nützt Ihnen nun nichts mehr, denn Sie werden sich hüten, mich grundlos niederzuknallen. Ich habe von Ihnen gelernt. Hier in meinem linken aufgeschlitzten Hosenbein hatte ich am Knie einen Revolver befestigt. Und den habe ich nun in der Hand, während dort –“ – seine Augen wanderten zur Schlafstubentür – „mein Freund Stümke steht und auch bereits auf Sie zielt – aber nicht mit einem Revolver, sondern mit einer Windbüchse amerikanischer Konstruktion mit hoher Durchschlagskraft. Bisher haben Sie die Sicherung Ihrer Pistole noch gar nicht zurückgeschoben, und –“

Da – das schwache Klacken des Luftbüchsenschusses.

Jener Stümke mußte tadellos gezielt haben: Harald wurde die Clement aus der Hand gerissen, und im selben Moment fuhr auch Blucks Arm empor und schüttete Harst ein weißgraues Pulver ins Gesicht.

Doch – Harald ahnte, daß er durch gestoßenen Pfeffer geblendet werden sollte, kniff ebenso schnell die Augen zu und entging so diesem rohen Attentat[2], erhielt dann schon wie ich vorhin einen Faustschlag vor die Stirn, wurde bewußtlos und kam erst zu sich, als er gefesselt und geknebelt auf einen Stuhl gebunden war. –

So hat er mir nachher diesen Überfall geschildert.

Das weitere erlebte ich dann ja wieder persönlich mit.

Auch mich hatte man in Gustav Meyers Wohnzimmer geschleppt und auf einem zweiten Stuhl festgebunden. Harald und ich erlangten fast gleichzeitig die Besinnung wieder. – Nur Hilmar Bluck befand sich in dem bescheiden eingerichteten Zimmer. Er rauchte eine Zigarre und saß mit übergeschlagenen Beinen in der Sofaecke.

„Es war nicht Pfeffer, Herr Harst,“ sagte er nun durchaus im Ton einer gemütlichen Plauderei. „Nein, so rüde sind wir nicht. Es war nur Zigarrenasche. Sie sollten eben die Augen schließen, damit Freund Stümke seinen prachtvollen Jagdhieb anbringen könnte. – Ich nehme an, daß Sie die heutigen Vorfälle bereits richtig durchschaut haben. Frau Bermuth, meine Zimmervermieterin, hatte mir so etwas nachspioniert. Stümke schickte mir aus Vorsicht stets nur solche Blechbüchschen per Post im eingeschriebenen Brief zu. Weshalb wir so vorsichtig waren, geht Sie nichts weiter an, Herr Harst. Sie werden dies auch kaum je ermitteln, denn Stümke und ich verschwinden heute für immer. Jedenfalls: die Bermuth ahnte, daß ihr Mieter Dinge trieb, die das Tageslicht scheuten. Aber mit der Polizei mochte sie nichts zu tun haben. Daher brachte sie Ihnen die vier Orangen und in der einen das eine Büchschen, das sie mir entwendet hatte. Sie sollten sich eben mit mir beschäftigen, Sie, der weltberühmte Harald Harst!“

Nun wurde er ironisch; nun fiel er aus der Rolle und zeigte wieder seinen wahren Charakter, den eines höhnischen, schadenfrohen, verbitterten Menschen, dem alle moralischen Hemmungen fehlten.

„Na, Herr Harst, Ihre Berühmtheit wird sich diesmal blamieren!“ fuhr er fort. „Hat sich schon blamiert! Beweis: Stümke und ich haben Sie beide in unserer Gewalt! – Als ich merkte, daß ich verfolgt wurde, als ich Sie in dem Hausflur gegenüber stehen sah, beschloß ich, mein Quartier aufzugeben. Ich rief Stümke telephonisch zu Hilfe. Jetzt brauchte ich eben nicht mehr vorsichtig zu sein. Vorher hatte ich ja bereits die neugierige Bermuth, deren scheues Wesen nach ihrer Rückkehr von Ihnen mir aufgefallen war, so in die Enge getrieben, daß sie mir alles eingestand. Zur Versöhnung hatte ich mit ihr dann einen Likör getrunken. Sie liebt süße Schnäpse. Der Pfefferminz, den ich ihr spendierte, hatte genau die Wirkung wie die Zigarre bei Meyer: die liebe Bermuth schläft oben in ihrer Wohnung sehr fest, noch fester als Meyer, der übrigens doch dort im Schlafzimmer liegt, aber unter dem Bett. – Wir sind nun gezwungen, Sie und Ihren Intimus Schraut bis Montag, den 23. des Monats – also bis übermorgen mittag festzuhalten. Zu diesem Zweck werden wir Sie beide in einer Taxameterdroschke, die Stümke jetzt gerade irgendwo „borgt“, das heißt, ohne den Kutscher entführt, an einen sicheren Ort bringen. Montag mittag werden wir Sie beide wieder in Freiheit setzen, indem wir der Polizei mitteilen, wo Sie sich befinden. – So, das wäre alles –“

Er rauchte ein paar Züge und lächelte uns triumphierend an.

„Hm – ich könnte Ihnen noch über mich selbst so einiges angeben,“ meinte er dann. „Ich heiße tatsächlich Hilmar Bluck, bin auch Doktor der Philosophie und heute 43 Jahre alt. Als Schriftsteller errang ich nur mäßige Erfolge. Die Idioten von Kritiker waren eben zu geistesarm, den tiefen Gehalt meiner Romane und Dramen zu erkennen.“

Er ballte plötzlich die rechte Hand und schlug sich aufs Knie. Seine Augen (das Pechpflaster hatte er längst entfernt) flammten.

„Diese Idioten nannten mich einen kläglichen Nachahmer Frank Wedekinds!“ zischte er förmlich. „Oh – sie sollen verflucht sein, diese Bande!“

Dann ein heiseres Auflachen. „Unsinn – was rege ich mich auf!“ – Er horchte plötzlich. „Stümke kommt –“ – Er sah nach der Uhr. „Ein Uhr morgens! Und draußen gießt es noch. Da wird die Straße leer sein –“

Stümke trat ein – ein Mann von herkulischem Gliederbau mit schwarzem Vollbart, einem falschen Bart, wie ich sofort erkannte. –

Ich will die nächste Stunde nur kurz streifen. – Wir bekamen jeder eine Decke über den Kopf. Stümke trug uns spielend leicht in die Droschke. Wir waren mit dünnen Stricken sehr raffiniert gefesselt.

Meiner Schätzung nach fuhren wir dann eine dreiviertel Stunde erst durch Straßen, darauf durch noch unbebautes Gelände.

Wieder trug Stümke uns einzeln in seinen Armen aus der Droschke davon – nur eine Strecke von etwa hundert Meter durch die frische Nachtluft, legte uns in einem Raume nieder, in dem es sehr merkwürdig roch, und Doktor Bluck war’s, der dann die Decken uns abnahm, während Stümke beim Scheine einer Petroleumlaterne in die Ziegelmauer dieses kahlen Gelasses, das nur eine Tür aus ungehobelten Brettern hatte, mehrere Eisenhaken einschraubte, an die er uns nachher so festband, daß wir auf dem kahlen Sandboden dieses Kerkers saßen und zwar mit dem Rücken gegen die Mauer gelehnt.

Bluck schaute zu, wie sein Freund durch die Ösen der Eisenhaken neue Stricke zog und uns so sorgfältig an die Mauer band, daß wir nun die ebenfalls gefesselten Füße nur ganz wenig an den Leib bringen und wieder ausstrecken konnten.

„Ich würde Ihnen die Knebel schenken,“ sagte Bluck dann, „wenn Sie beide mir ehrenwörtlich versprechen, nicht um Hilfe zu rufen.“

Harald nickte eifrig, und auch ich tat es.

Bluck nahm uns die Knebel ab. „Ich habe ja wahre Gentlemen vor mir!“ sagte er mit einer Verbeugung. Und das war nicht ironisch gemeint.

Harst erwiderte scharf: „Diese Gentlemen werden aber alles versuchen, sich zu befreien, ohne um Hilfe zu rufen, Herr Doktor Bluck. Und ich werde dafür sorgen, daß das, was Sie planen oder bereits ausgeführt haben, verhindert oder gesühnt wird.“

„Was Ihnen nie glücken wird,“ höhnte Bluck. „Es wird ein furchtbares Unglück sich ereignen! Rache ist süß! Und wenn –“

Da hatte Stümke Bluck einen Rippenstoß versetzt.

„Halten Sie das Maul!“ knurrte er dumpf. „Fort von hier! Sie quasseln zu ville!“

Bluck wünschte uns noch angenehme Ruhe, und dann schloß sich die Brettertür hinter den beiden.

 

3. Kapitel.

Wir befanden uns im Finstern. Das Geräusch der sich entfernenden Schritte verstummte schnell.

„Wenn wir nicht bis spätestens morgen Sonntag abend uns befreien können,“ flüsterte Harald neben mir nach einer Weile, „dann geschieht fraglos irgend ein Verbrechen. Diesem Bluck traue ich alles zu. Der Mensch erstickt ja förmlich innerlich vor Haß gegen irgend welche Leute.“

„Das scheint allerdings der Fall zu sein,“ erwiderte ich leise. „Wir hätten unser Ehrenwort nicht geben sollen. Die Möglichkeit, die Knebel zu entfernen, war größer als die, diese Stricke loszuwerden.“

Harald schwieg. Erst nach einer geraumen Weile sagte er dann:

„Ich hielt es für besser, daß wir uns miteinander verständigen könnten, mein Alter. Im übrigen sind wir schon raffinierter gefesselt gewesen.“

„Das heißt, Du hast Hoffnung, Dich der Stricke zu entledigen?“

„Hoffnung habe ich immer. Hier, wo noch die Pflicht uns anspornen wird, ein Verbrechen zu verhüten, hoffe ich nicht, sondern ich will!“

„Gegen wen richtet sich das Verbrechen?“ fragte ich gespannt.

„Du wechselst allzu rasch von der Praxis des Fesselsprengens auf das Gebiet theoretischer Erörterungen über. Ich erkläre Dir und ich lüge nicht: ich weiß über Blucks Pläne und alles andere keinen Deut mehr als Du. Ich vermute lediglich, daß er sich vielleicht an einem Kritiker rächen will.“

„Ah – der Gedanke liegt nahe! Und sonst vermutest Du nichts?“

„Doch. Zum Beispiel, daß dieser Stümke Varieteemensch sein kann – Kunstschütze! Er besitzt eine Luftbüchse besonderer Konstruktion und schießt besser als ich, ist trotz seiner Stärke überaus gewandt und muß seine Faust für solche Hiebe trainiert haben, wie er sie unseren Schädeln versetzte.“

Ich merkte jetzt, daß Harald die Füße ständig bewegte und den Sand scheinbar mit den Absätzen lockerte.

„Was tust Du?“ meinte ich neugierig.

„Ich will alles vorbereiten –“

„Was?!“

„Das Alarmsignal!“

„Das verstehe ich nicht –“

„Rechts an der Mauer lehnt doch ein langes Brett –“

„Ja. Das Brett habe ich vorhin gesehen –“

„Sobald jemand in der Nähe dieser Schwindelbude zu hören ist, bringe ich das Brett zum Umkippen –“

„Schwindelbude?!“ meinte ich erstaunt.

„Ja. Denn nur die Mauer, an der wir sitzen, ist eine echte Mauer. Die drei anderen Wände sind mauerähnlich bemalte Bretter. Und das Brett, das ich gern in das Loch hineinrutschen lassen möchte, dessen Tiefe durch meine Hacken immer größer wird, war ebenfalls in ganz besonderer Art bepinselt. Ich behaupte, wir befinden uns hier auf dem Grundstück einer – Filmfabrik!“

„Ah – deshalb Schwindelbude!“

„Deshalb! – Es ist dies eben ein Bau für eine Filmaufnahme. Die Droschke, die uns herbrachte, fuhr nach Süden durch die Stadt. Es kann das Grundstück der Zeus-Filmgesellschaft bei Lankwitz sein. Und dieses Grundstück wird fraglos bewacht. Wenn der Wächter in der Nähe unseres Gefängnisses erscheint, muß das Brett fallen und den Mann herbeilocken.“

Ich schwieg. Was sollte ich dazu noch bemerken?! Harald hatte eben wieder mal den einzigen Rettungsweg gefunden.

Als der Morgen graute (unser Kerker hatte über uns in der „echten“ Mauer ein vergittertes viereckiges Loch) und der erste fahle Tagesschimmer durch diese Fensteröffnung hereindrang, hörte ich draußen jemand laut husten.

Und – in[3] demselben Augenblick sank auch das Brett, das schon vorher in das Sandloch geglitten und so in den Bereich von Haralds Füßen geraten war, nach links um und schlug mit dem oberen Ende dumpf krachend gegen die unechte Mauer – eben gegen die gegenüberliegende Holzwand.

Eine Weile nichts.

Dann draußen leise Geräusche; dann eine Stimme an der Brettertür:

„He – da sind wohl ’n paar Pennbruder drin?!“

Wir schwiegen.

„Kommt nur raus!“ meinte der Baß gutmütig. „Ich beiße nich!“

Als niemand sich meldete, öffnete der Wächter vorsichtig die Tür.

Ein großer Wolfshund steckte den Kopf herein und knurrte. –

So wurden wir frei. Der Wächter bekam von Harald hundert Mark geschenkt und versprach, reinen Mund zu halten.

Wir gingen bis zum Bahnhof Lankwitz und fuhren mit der elektrischen Vorortbahn bis zum Potsdamer Bahnhof und von da im Auto heim. Harald hatte recht gehabt: Das Gelände und die Schwindelbude gehörten der Zeus-Filmgesellschaft.

Blücherstraße 10 war alles in großer Aufregung. Um fünf Uhr morgens war nämlich Gustav Meyer aus seiner Betäubung unter dem Bett erwacht und hatte sich sofort zur nächsten Polizeiwache begeben. So war denn auch Frau Bermuth gefunden worden, auch bewußtlos, und so tauchte bei den Kriminalbeamten die Vermutung auf, daß wir beide ebenfalls von Bluck und seinen Helfershelfern unschädlich gemacht sein könnten.

Haralds Mutter war überglücklich, als wir gegen halb acht Uhr lebend und gesund uns einstellten.

Unser Freund, Kommissar Lenk, der lange Lenk, war noch im Hause und hatte sich soeben von Haralds Mutter die Orangen-Geschichte nochmals erzählen lassen.

Wir frühstückten nun gemeinsam, und bei weichen Eiern, Schinken und schönen weißen Berliner Schrippen, die man sonst Brötchen nennt, berichtete Harald mit sprühendem Humor unser Abenteuer in Gustav Meyers Wohnung und weiter auch unsere kurze Gefangenschaft in der Schwindelbude der Zeus-Filmfabrik.

Der Humor sollte lediglich Frau Auguste Harst beruhigen. Sie durchschaute aber wohl Haralds Absicht und meinte: „Ich glaube, wenn Du mit Herrn Lenk und mit Schraut nachher in Deinem Arbeitszimmer allein bist, wirst Du ganz anders reden!“

Sie hatte recht, die treffliche alte Dame, denn Harald bot uns gegen neun Uhr dann in seinem Herrenzimmer mit sehr ernstem Gesicht eine Zigarre an und meinte:

„Ich bin überzeugt, daß Bluck eine große Schurkerei plant. – Haben Sie irgend etwas in Blucks Zimmern bei der Bermuth gefunden, das hierüber Aufschluß geben könnte, lieber Lenk?“

„Nichts. Dabei haben wir sehr sorgfältig gesucht.“

„Trotzdem möchte ich nochmals hin. Wie wär’s, wenn wir sofort hinführen?“

Lenk war natürlich einverstanden, betonte jedoch, daß es dort wirklich nichts zu sehen gäbe. –

Frau Bermuth sah noch recht elend aus.

„Ach – und der Herr Doktor war doch alles in allem ein so angenehmer Mieter!“ seufzte sie. „Nur daß er sich oft in seine Zimmer einschloß und so geheimnisvoll tat, gefiel mir mit der Zeit nicht. Manchmal schien es mir ja auch, als ob ich nachts bei ihm seltsame Geräusche hörte, so ein leises Quieken und Schnarren. Und dann noch die Briefe – die eingeschriebenen Briefe mit den Röhrchen! Wenn ich sie ihm morgens ins Zimmer brachte, damit er den Schein unterschriebe, dann fühlte ich ja stets, daß in den dicken Umschlägen sich so ein rundes längliches Ding befand –“

„Schon gut,“ meinte Harald. „Wir haben jetzt hier zu tun, liebe Frau Bermuth.“

Harald begann nun auf seine Weise zu suchen. In der Papierasche des Ofens, die übrigens auch schon von Lenk durchwühlt worden war, entdeckte er folgendes:

Sechs Stückchen Kupferdraht, von denen keins über sieben Zentimeter lang war; dann ein paar Blechstückchen; weiter ein verbogenes Rädchen aus Messing mit einer Achse, die an einer Seite abgebrochen war; schließlich einen kleinen Zinkzylinder aus einer Taschenlampenbatterie.

Diese Nichtigkeiten legte er auf eine Zeitung nebeneinander.

„Was soll das?!“ meinte Lenk.

„Warten Sie ab. – Was ist dies hier, Lenk?“ und Harald deutete auf die Kante des Nußbaumschreibtisches, die gerade dort, wo der grüne Tuchbezug von dem den Tisch Benutzenden am meisten bescheuert worden war, eine Anzahl feiner Kerben hatte.

„Hm – das sind Messerschnitte,“ erwiderte Lenk.

„Nein, das sind keine Messerschnitte. Hier hat jemand einen Gegenstand zurechtgefeilt. Die Feile glitt ab und erzeugte die Kerben. Die Feilspäne wurden von dem mit dieser Arbeit Beschäftigten sorgfältig entfernt. Nur vergaß er, daß sie sich in der Ritze, wo das grüne Tuch in die Tischplatte eingelassen ist, teilweise ablagerten.“ – Er nahm sein Taschenmesser und schnitt den Bezug, indem er in der Ritze mit der Klingenspitze schräg entlangfuhr, durch, zog den Bezug heraus und brachte gleichzeitig eine Menge Staub und silbergrau glänzender Feilspäne zum Vorschein.

„Frau Bermuth betonte, daß sie hier ein leises Quieken und Schnarren hörte,“ erklärte er jetzt. „Bluck hat also hier mit einer Feile gearbeitet.“

Lenk wurde jetzt aufmerksam und schaute auf die Zeitung, wo die in der Asche gefundenen kleinen Gegenstände lagen.

„Ich glaube Ihre Gedanken zu erraten, Harst,“ meinte er. „Bluck hat etwas hergestellt – eine besondere Art von Maschine – eine Höllenmaschine.“

„Ja. Er sprach von einem furchtbaren Unglück, das sich ereignen würde und von „Rache ist süß!“ – Der Gedanke, er könnte hier eine Höllenmaschine gebaut haben, liegt also ziemlich nahe, wenn man die Feilspäne, das Uhrrädchen, das wohl aus einem Wecker stammt, die Drähte, die Blechstücke und den Zylinder der Batterie noch mit berücksichtigt.“

Lenk nickte nachdenklich.

„Also ein Anschlag mit Hilfe einer Höllenmaschine,“ sagte er leise. „Gegen wen aber?!“

„Ich weiß es nicht,“ antwortete Harald achselzuckend. „Vielleicht verrät jedoch das Zahlenquadrat etwas. – Hier ist der kleine Zettel, Lenk. Schreiben Sie das Zahlenquadrat genau ab und lassen Sie durch Ihre Spezialisten auf dem Präsidium diese Geheimschrift entziffern. Ich will daheim dasselbe tun. Wenn es mir nicht gelingt, so hat vielleicht einer Ihrer Fachleute mehr Erfolg. Außerdem suchen Sie festzustellen, welche Kritiker Blucks Romane am meisten heruntergemacht haben. Möglich, daß er unter ihnen einen speziellen „Freund“ hat, an dem er sich nun rächen will.“

Gleich darauf verließen wir die Wohnung der Bermuth und gingen zu Fuß heim, während Lenk nach dem Polizeipräsidium fuhr.

Als wir jedoch, schweigend und jeder mit seinen Gedanken beschäftigt, in die Nähe des Harstschen Hauses gelangt waren, sagte Harald unvermittelt:

„Der bekannte Agent für Varieteekünstler heißt Samuel Bukowzer. Ich denke, wir fragen dort mal nach, ob es einen Mann namens Stümke gibt, der Kunstschütze ist.“

Ein Auto brachte uns nach der Mohrenstraße zu der Agentur „Bukowzer“.

Der Inhaber empfing uns mit großer Liebenswürdigkeit.

„Fragen Sie, Herr Harst,“ meinte er. „Fragen Sie mir das Hemd vom Leib – ich halte gern still.“ – Herr Bukowzer war ein Witzbold; natürlich ein gerissener.

„Kennen Sie einen Kunstschützen und Akrobaten namens Stümke?“

„Nein. Tut mir leid.“

„Dann etwa einen anderen Namens?“

„Ja. Soll’s ein Berliner sein? Ein geborener Berliner?“

„Allerdings.“ Und er beschrieb „Stümke“, so gut er’s konnte.

„Hm,“ meinte der Agent. „Das könnte Tom Tomaso, alias Thomas Gliemer sein.“

„Wo war er zuletzt engagiert? Und – ist er Kunstschütze?“

„Ja, das ist er. Und er war noch vor zwei Jahren eine gesuchte Nummer. Aber dann sperrte man ihn für anderthalb Jahre ein, weil er die Taschen verwechselt hatte, nämlich seine eigene und die eines Amerikaners, in der sich leider ein Portefeuille befand –“ – Bukowzer meckerte. Ich fand den Witz reichlich abgedroschen.

Harald erhob sich. „Wir danken Ihnen,“ sagte er und gab dem Agenten die Hand.

Im Zentrum Berlins war es heute recht still. Es war ja Sonntag. Wir nahmen eine Taxameterdroschke und ließen uns nach dem Zentral-Cafee bringen, wo die internationalen Artisten in Berlin Stammgäste sind. –

Der Leser lernt hier einmal einen Fall kennen, wo systematische Nachfragen einen vollen Erfolg zeitigten, denn im Zentral-Cafee konnte uns ein seit Jahren dort tätiger Kellner über „Tom Tomaso“ wieder etwas Interessantes berichten: er war gestern abend gegen acht Uhr noch hier im Cafee gewesen. Dann hatte jemand ihn am Telephon verlangt, worauf er schleunigst seine Zeche bezahlte und mit seiner Braut, der Trapezkünstlerin Lola Mentoz alias Lotte Menke, eiligst das Cafee verließ. –

Als wir beide wieder die Straße betreten hatten, sagte Harald:

„Diese Lotte Menke soll irgendwo in Steglitz bei ihrer Mutter wohnen. Wir werden bald heraushaben, wo. Dann dürfte es sich empfehlen, daß Lenks Beamte das Haus bewachen. Vielleicht haben Bluck und „Stümke“ dort einen Unterschlupf gefunden. Bluck war es ja, der den Tom Tomaso gestern abend telephonisch zu Hilfe rief, wie er selbst uns höhnend verriet.“

Wir begaben uns zu Lenk nach dem Polizeipräsidium.

Der lange Lenk lächelte, als Harst berichtete, was wir über Tom Tomaso festgestellt hatten.

„Genau dasselbe hat mir soeben mein Assistent Röhling[4] telephonisch aus dem Zentral-Cafee gemeldet. Auch bei Bukowzer war er gleich nach Ihnen, lieber Harst. – Gut, das weitere wegen Lotte Menke besorge ich dann also. – Auf Wiedersehen!“

Wir fuhren heim. Kurz nach ein Uhr waren wir in der Blücherstraße. – Nach Tisch machte sich Harald über das Zahlenquadrat her. Volle drei Stunden dieses schönen Sonntagnachmittags quälte er sich mit der Lösung der Zahlenschrift ab.

Dann gab er es auf. Er hatte ganze Bogen Papier mit Dechiffrierversuchen bedeckt.

Ich legte die Film-Rundschau weg, in der ich bisher gelesen hatte. Harald war an den Sofatisch herangetreten und sagte ärgerlich:

„Ich habe alles getan, was sich nur tun läßt,“ und er griff nach der Film-Rundschau und blätterte darin, fügte hinzu: „In der oberen Reihe stehen die Zahlen 1, 3, 2, 8, die sich rechts in der Reihenfolge 2, 3, 8, 2 und in der Grundlinie des Quadrats mit 8, 2 wiederholen. Diese Ziffern müßten doch einen Anhalt geben, wie der Geheimschrift beizukommen ist – müßten! Doch – es klappt nicht! Vorläufig verzichte ich auf weitere Lösungsversuche.“

„In der Film-Rundschau steht übrigens auch etwas, das mich an die verflossene Nacht erinnerte,“ meinte ich, um ihn nach dieser Enttäuschung auf andere Gedanken zu bringen.

„Also etwas über die Zeus-Fabrik?“

„Ja. Sie kurbelt jetzt einen Sensationsfilm „Der Extrazug“ –“

„Ah – hier ist die Notiz –“

 

4. Kapitel.

Im selben Moment meldete sich das Telephon. Harald warf die Zeitschrift auf den Tisch und nahm den Hörer ab, sagte dabei:

„Vielleicht ist es Lenk –“

Dann –

„Hier Harald Harst. – Ah, Lenk. So – abgefaßt?! Das heißt Glück haben. – Wie – er ist frech und – Gut – kommen Sie nur –“

Er legte den Hörer auf die Stützen. „Sie haben Bluck verhaftet, mein Alter, als er gerade zu Frau Menke nach einem Spaziergang zurückkehrte. Thomas Gliemer, also Stümke, und die Lotte Menke sind jedoch dort im Haus Glarner Straße 32 nicht angetroffen worden; sie sollen verreist sein. – Lenk bringt Bluck zu uns. Bluck hat Lenk in frechster Weise verhöhnt.“

„Na – dann wäre dieses Höllenmaschinen-Abenteuer ja erledigt!“ lachte ich.

Harst sah mich etwas erstaunt an. „Ich betonte doch soeben: Bluck hat Lenk frech verhöhnt! Deine Freude durfte verfrüht sein –“

„Inwiefern?!“

„Wenn man nun die Höllenmaschine nicht gefunden hat?“ erwiderte Harald.

Da wurde ich ernst. „Ah, Du denkst an eine mit Zeitzünder, also mit –“

„– mit einem Uhrwerk, das vielleicht erst nach so und so viel Stunden das Ding zur Explosion bringt –“

„Also: Du fürchtest, Bluck könnte seine Höllenmaschine bereits dorthin eingeschmuggelt haben, wo –“

„– sie explodieren soll! – Das fürchte ich!“

„Man muß ihn zu einem Geständnis zwingen!“

„Versuch’s nachher. Ich bezweifle den Erfolg –“

Harald ging hastig auf und ab, den Kopf tief gesenkt, die Hände in den Außentaschen seiner Hausjacke. Wir schwiegen. Dann fuhr ein geschlossenes Auto vor, und Lenk und der uns gleichfalls bekannte Kriminalbeamte Röhling geleiteten Bluck durch den Vorgarten, traten ein. Ich hatte ihnen die Haustür geöffnet.

Blucks graue Augen blitzten uns triumphierend an.

„’n Tag, Herr Harst,“ meinte er mit einem Grinsen, das kaum unangenehmer sein konnte. „Sie lassen nun wohl Tusch blasen, weil Sie mich fest haben?! – Das nützt Ihnen gar nichts!“

„Sie vergessen den Zettel mit dem Zahlenquadrat,“ sagte Harald gleichmütig. „Sie vergessen, daß ich schon schwierigere Geheimschriften –“

Bluck lachte schneidend auf. „Diese Scherze sparen Sie sich nur! Mich führen Sie nicht aufs Glatteis!“

„Das will ich gar nicht. – Setzen Sie sich, Herr Doktor. – So, wir wollen in Ruhe die Sache durchsprechen –“

Lenk mischte sich ein. „Blucks Koffer enthalten nichts Verdächtiges, und –“

„– die Höllenmaschine fehlt also noch,“ ergänzte Harald. „Bluck hat sie eben bereits an Ort und Stelle gebracht.“

„Sehr richtig!“ rief dieser Satan von Bluck und rieb sich die Hände. „Sehr richtig – an Ort und Stelle!“

„Er war drei Stunden weg, bekundete Frau Menke,“ erklärte Lenk wütend. „Von zwei Uhr nachmittags bis fünf Uhr. Dann faßten wir ihn bei der Heimkehr ab. Frau Menke ist im übrigen ganz ahnungslos. Sie bestätigte mir, daß Bluck um 2 Uhr mit einem größeren Paket ihre Wohnung verlassen hatte.“

„Ja – mit der Höllenmaschine!“ feixte Bluck. „So – nun suchen Sie sie nur!“

„Das brauchen wir nicht,“ meinte Harald. „Wir wissen, wo sie ist und wo das Uhrwerk läuft –“

Bluck schlug sich auf den Schenkel. „Können Sie lügen, Herr Harst. Nichts wissen Sie – nichts! Selbst der Zettel würde Ihnen nichts verraten. Ich gebe Ihnen mein Wort: der Zettel hilft Ihnen gar nichts! Der Ort steht nicht darauf!“ – Er krümmte sich förmlich vor Schadenfreude. „Und Freund Stümke, wie ich ihn nenne, und seine Lotte sind längst über die Grenze. Fünfzigtausend Mark habe ich dem guten Tom geschenkt.“

„Ja – und 120 000 Mark haben wir in Ihrem Koffer beschlagnahmt,“ sagte Lenk ingrimmig.

„Meinetwegen! Wenn ich nur meine Rache habe! Und die werde ich haben! So wahr ich hier sitze!“

„Mensch, Sie sind ein Teufel!“ fuhr Lenk auf.

„Wie steht’s mit den Kritikern?“ fragte Harst jetzt den Kommissar.

„Es käme nur Doktor Salbert in Betracht. Ich habe bereits zwei meiner Leute zu Salbert –“

Bluck lachte wiehernd. „Salbert – Salbert – köstlich! Wie schlau die Herren sind!“

„Lassen Sie Bluck fortschaffen,“ meinte Harst da.

Dann zog er Lenk und mich in eine Ecke. „Der Mensch ist nicht normal,“ flüsterte er. „Sorgen Sie dafür, Lenk, daß er sofort auf seinen Geisteszustand beobachtet wird.“

„Und die Höllenmaschine?!“ fragte der Kommissar ängstlich. „Wir können doch nicht warten, bis tatsächlich irgendwo –“

„Wir sind machtlos!“ meinte Harald dumpf. „Ich weiß nicht, wie wir hier –“

Abermals hatte Bluck aufgelacht. „Na – nun stehen Sie drei mit recht betretenen Gesichtern in der Ecke! Ich will barmherzig sein: die Maschine explodiert um acht Uhr vormittags und setzt eine andere Maschine außer Betrieb. – Bin ich nicht sehr anständig, daß ich so viel verrate?“

Lenk gab Röhling einen Wink. Bluck wurde wieder in das Auto gebracht, hatte uns noch zugerufen: „Sie werden staunen, meine Herren!“

Lenk blieb bei uns.

„Was tun wir nur, um das Attentat zu verhindern?“ fragte er trübe.

Harald saß in der Sofaecke und rauchte eine Mirakulum, antwortete nicht, regte sich nicht.

So verstrichen gut zehn Minuten.

Dann: „Ich finde kein Mittel, das Attentat zu verhüten,“ sagte Harald kurz. „Bluck ist geisteskrank. Und einem Geisteskranken ist schwerer beizukommen als einem Gesunden.“

Lenk machte eine trostlose Handbewegung. „Herr Gott, das ist ja fürchterlich! Wenn man sich vorstellt, daß wir drei untätig abwarten müssen, bis das Unheil –“ – Er vollendete den Satz nicht, denn Harst hatte plötzlich die Zigarette in die Aschenschale geworfen, hatte sich in seiner Ecke hoch aufgerichtet, sagte:

„Thomas Gliemer alias Stümke hat doch fraglos für Bluck den Spion bei der Person gespielt, auf die Bluck es abgesehen hat. Also lassen Sie schleunigst in dieser Richtung Nachforschungen anstellen, Lenk, schleunigst! Setzen Sie den ganzen Polizeiapparat dieserhalb in Tätigkeit. Schraut und ich werden zu Frau Menke fahren. Vielleicht weiß sie etwas –“

Das war ein Hoffnungsschimmer – ein sehr schwacher.

Lenk fuhr nach dem Präsidium; wir nach Steglitz.

Frau Menke, verängstigt und in Tränen aufgelöst, beteuerte immer wieder, daß sie von nichts eine Ahnung hätte. Sie log nicht. Man merkte es.

Harald durchsuchte noch das Zimmer ihrer Tochter. Auch ohne Erfolg. –

Wie nervös Harald damals war! Selten habe ich ihn in solcher Unruhe gesehen. Seine Stirn lag dauernd in Falten.

Wir kamen wieder heim. Neun Uhr abends war es. Wir aßen Abendbrot. Frau Harst sagte bei Tisch – und mit Recht:

„Harald, Du siehst wie ein Gewitter aus!“

„Nein, wie ein Mensch, der ein Unheil abwenden möchte und nicht kann!“ erwiderte er zerstreut.

Er rührte das Essen kaum an. – Nachher ließ er durch die Köchin Malwine eine Flasche Sekt aus dem Keller holen und kalt stellen.

„Vielleicht hilft das dem trägen Hirn!“ meinte er aus seiner Sofaecke heraus. –

Auch das half nichts! – Um Mitternacht wollte ich schlafen gehen.

„Ich bleibe auf,“ erklärte Harald. „Lenk könnte anläuten. Ich werde mir Kaffee aufbrühen.“

Da verzichtete ich gleichfalls auf mein Bett. Aber so gegen zwei Uhr morgens schlummerte ich in meinem Sessel doch ein.

Dann rüttelte mich jemand.

Schlaftrunken fragte ich: „Was gibt’s?“

Harald riß mich hoch. „Werde munter – schnell, zum Teufel! Es ist ein Viertel acht. – Wir müssen weg. Ich weiß, wo die Höllenmaschine steckt –“

Ich sprang schon in den Flur nach Hut und Mantel. Harst war bereits völlig angezogen.

Wir liefen auf die Straße. Aber – wo nur um diese Zeit ein Auto finden?!

„Wir müssen eins haben!“ rief Harald.

Die Leute schauten uns nach. Mancher mag wohl argwöhnisch geworden sein, mag gedacht haben, wir wären Diebe, Einbrecher – dergleichen.

Dann endlich ein Taxameterauto.

„Halt. – Chauffeur – dreihundert Mark extra! Höchstgeschwindigkeit! Nach Lankwitz – Filmfabrik Zeus. – Wissen Sie Bescheid?“

„Jawohl! – Steigen Sie nur ein! – Filmaufnahme – wie?!“

Wir kletterten in den Wagen.

Nach Lankwitz also! Nach der Filmfabrik! Dorthin, wo wir gefangen gewesen waren.

 

5. Kapitel.

Dieser Herbstmorgen zeichnete sich durch völlige Windstille, klaren, durchsichtig blauen Himmel und angenehme Wärme aus.

Unser Chauffeur fuhr wie der Teufel. Wir saßen nebeneinander in dem sanft rüttelnden Auto, und Harald war’s nun, der zuerst wieder zu Atem kam. Er nahm seine Uhr aus der Westentasche, hakte sie von der Kette los und legte sie so auf den Rücksitz, daß wir das Zifferblatt bequem sehen konnten.

„Du wirst mit Recht neugierig sein, woher ich so plötzlich die Erleuchtung bekam,“ meinte er. „Höre also. – Du schliefst so fest, daß Du nicht einmal durch das Schrillen des Tischtelephons um 7 Uhr geweckt wurdest. Lenk läutete mich an und teilte mir mit, daß Stümke alias Thomas Gliemer zuletzt bei der Zeus-Filmfabrik für den Film „Der Extrazug“ als Akrobat verpflichtet war, daß er jedoch infolge gänzlicher Talentlosigkeit, sich vor dem Objektiv zu bewegen, die Rolle an einen anderen hätte abtreten müssen, was Gliemer als schwere Beleidigung empfand. Wir haben es hier also fraglos mit dem Motiv für Gliemers Beteiligung an dem Attentat zu tun: verletzte Künstlereitelkeit! – Weil man ihm die Rolle abgenommen hatte, wurde er ein willfähriger heimlicher Helfershelfer Doktor Blucks. Dies so nebenbei. – Als Lenk mir diese Mitteilung machte, das heißt, als ich den Telephonhörer am Ohr hatte, da geschah das, was man „blitzartige Erleuchtung“ nennt. Denn Lenk fügte noch hinzu, die Zeus-Fabrik sei vormittags so beschäftigt, daß ich keinen ihrer Hauptmacher sprechen könnte, was vielleicht meine Absicht wäre. Man kurbele nämlich heute vormittag die Hauptszene des Films, und zwar punkt acht Uhr die „Sensation“ des Stückes, den Extrazug, der entgleist und den Bahndamm hinabkollert. – Ja, mein lieber Alter, wie Lenk so von 8 Uhr vormittags sprach, ergänzte ich in Gedanken: „Also am 23., 8 Uhr vormittags.“ Kaum war dieses „23.“, das Datum von heute, dergestalt als zweistellige Zahl in meinem Geist lebendig geworden, kaum stellte ich mir diese beiden Ziffern 2 und 3 wie in die Luft geschrieben vor, – da sah ich sie auch schon anderswo, auch nur im Geiste, anderswo und anders geschrieben, als zwei untereinander stehende Zahlen! – und – auf einem Zettel!“

„Halt – ich besinne mich!“ meinte ich rasch. „Die rechte Seite des Zahlenquadrats enthielt die Ziffern 2, 3, 8, 19, 2 –“

„Stimmt! – Und – da legte ich den Hörer auf die Stützen, nahm den Zettel vor, überlegte: die obere Seite des Zahlenquadrats hat sechs Ziffern, und der Name „Montag“, also die Bezeichnung für diesen 23., hat auch sechs Buchstaben. – Es war ein Versuch, es war eine Probe. Ich schrieb auf ein Stück Papier:

M  o  n  t  a  g, und darunter
1  3  2  8 15 21

hatte also nun für sechs Buchstaben des Alphabets die entsprechenden Zahlen, sah, daß M gleich 1, daß n gleich 2 und o gleich 3 war daß man also von M angefangen die Buchstaben des Alphabets nur zu numerieren brauchte, und entdeckte dann nach wenigen Minuten auch die völlige Lösung des Quadrats, nämlich:

M  o  n  t  a  g
i              2
m              3
r              t
o              e
v  r  h  U  8  n
,

also: Montag, 23., 8 Uhr vormi, das heißt: vormittags, und wußte nun, daß dies genau dieselbe Zeit war, wo heute bei der Zeus-Fabrik die Hauptsensation gedreht werden sollte, wußte weiter aus der Film-Rundschau, daß die „Zeus“ für den Haupttrick auf ihrem Gelände kostspielige Bauten ausgeführt hatte und – erkannte, wo Bluck seine Höllenmaschine angebracht hatte –“

„Hm,“ meinte ich sehr gedehnt. „Weshalb soll Bluck es gerade auf die „Zeus“ abgesehen haben –“

„Oh – das wird sich schon herausstellen, mein Alter! Ich nehme an, er hat der Zeus-Gesellschaft ein Filmstück eingereicht, von dem er sich sehr viel versprach. Man lehnte es ab, und da ist in dem kranken Hirn dieses Menschen sofort ein wahnwitziger Racheplan ausgereift.“ – Er schwieg.

Ein lauter Knall ließ uns Böses ahnen. Das Auto hielt. Ein Radreifen war schadhaft geworden.

Und – wir befanden uns gerade in Steglitz, in einer wenig belebten Straße.

Wir sprangen heraus. Es war jetzt drei Minuten bis dreiviertel acht. – Harald warf dem Chauffeur eine Banknote hin. Dann rannten wir weiter.

Und trafen eine Taxameterdroschke. Harst war im Moment auf dem Bock; ich im Wagen; der Kutscher schimpfte erst; Harald brüllte ihm zu, daß es sich hier um ein zu verhütendes Verbrechen handele.

Und er peitschte nun auf den Gaul ein. Der arme Hafermotor mußte sich notwendig zu beschleunigter Gangart bequemen.

Fast im Galopp ging’s weiter, hindurch durch die Eisenbahnunterführung am Bahnhof Lankwitz, hinaus auf unbebautes Gelände – an Laubengärten vorbei, dann an einem hohen Holzzaun entlang, der in riesigen weißen Buchstaben immer wieder den Namen der Filmfabrik als Reklameinschrift trug.

Jetzt ein großes Tor – verschlossen. Daneben eine Pforte und ein grober Pförtner, der uns beide nicht einlassen wollte. –

Und hinter uns kam ein Polizeiauto angerast.

Harald rief: „Ah – Lenk mit Bluck! Ich habe Lenk telephonisch Bescheid gesagt, bevor ich Dich weckte –“

Lenk, Bluck gefesselt, und Röhling stiegen aus. Lenk schnaubte den Pförtner an. Wir liefen weiter. Bluck lief hohngrinsend mit.

Wir trafen zwei Arbeiter.

„Wo wird die Entgleisung gekurbelt?“ fragte Harald.

Die Leute gaben uns die Richtung an.

Wir durchquerten ein kleines Waldstück.

Und – da vor uns ein Bahndamm, – ein scheinbarer Bahndamm! – hergestellt aus einem natürlichen Abhang, mit Telegraphenstangen und einer Wärterbude versehen.

Weiter rechts ein künstlicher Berg – bemalte Pappe, und ein Tunnelausgang.

Und vor dem Bahndamm der ganze Stab der Filmfabrik – drei Aufnahmeapparate, – Herren, Damen, alle in gespannter Erwartung nach rechts blickend.

Da – aus dem Tunnel tauchte schon ein Zug auf, eine Maschine und zwei Personenwagen.

In den Fenstern des einen Wagens lehnten vier Menschen, – Puppen natürlich.

Harald brüllte: „Halt – halt!“

Doch auf der Maschine befanden sich ja ebenfalls nur Puppen als Lokomotivführer und Heizer. Und von den Filmherrschaften hörte uns niemand. Es hätte ja auch nichts mehr genutzt.

Der Zug raste weiter – der Extrazug, der bald entgleisen sollte.

Da – ein ohrbetäubender Krach. Die Maschine bäumte sich hoch. Die beiden Personenwagen schoben sich übereinander. Schienenteile, Sand, Schwellen flogen umher.

Der Filmstab war von dem Luftdruck umgefegt worden, nur einer der Kinooperateure kurbelte seelenruhig weiter.

Auch wir fünf hatten einen Luftstoß erhalten, der uns umwarf.

Bluck war als erster wieder auf den Beinen, rannte auf den Direktor Trughitzki der Zeus-Fabrik zu, der sich auch schon aufgerappelt hatte.

Und Hilmar Bluck tanzte jetzt vor dem dicken Herrn wie ein irrsinnig gewordener Ziegenbock hin und her, kreischte in satanischer Schadenfreude:

„Sehen Sie, Sie Gauner! Die besten Ideen aus meinem Filmstück haben Sie mir gestohlen und daraus Ihren „Extrazug“ zusammengestoppelt! Gerichtlich konnte ich Ihnen nicht an den Kragen, Sie edler Trug–hitzki, Sie! So, nun haben Sie die Bescherung! All Ihr Geld, das Sie für diese Hauptsensation angelegt haben, ist zum Teufel. Meine Höllenmaschine hat Ihren Zug vorzeitig demoliert. Oh – sie war tadellos gearbeitet, sie funktionierte großartig, hatte keinen Zeitzünder, sondern einen Kontaktzünder! Nun mag man mich vor die Geschworenen bringen! Ich lasse mich gern verurteilen! Die Verhandlung gegen mich wird dann auch Ihren literarischen Diebstahl beweisen!“ –

Direktor Trughitzki hatte offenbar kein ganz reines Gewissen, denn er behauptete plötzlich, die Explosion, die den Zug so vollständig demoliert hatte, wäre von ihm vorbereitet gewesen. Dabei blieb er.

Da niemand verletzt worden war und da auch Bluck nach kurzer leiser Zwiesprache mit Trughitzki mit einem Male erklärte, er wüßte nichts von einer Höllenmaschine, da ferner Harst für Bluck ein gutes Wort einlegte, wurde Lenk schließlich mürbe gemacht und gab Bluck frei.

Kurz und gut: die Geschichte wurde damals tatsächlich vertuscht, weil für die Polizei noch andere, hier nicht zu erörternde Gründe mitsprachen, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

Bluck verließ Europa schon am nächsten Tag und wanderte mit Thomas Gliemer und dessen Braut nach Australien aus.

Wir beide aber erhielten drei Monate später Einladungskarten zur Premiere des Films „Der Extrazug“, gingen auch hin und – sahen so die Wirkung von Blucks Höllenmaschine nochmals auf der Zappelleinwand, denn der smarte Direktor hatte eben statt der Entgleisung die „Zugkatastrophe durch Dynamit“ in die Handlung eingefügt. –

Doch der Fall „Bluck“ sollte noch ein anderes, weit merkwürdigeres Nachspiel haben. Dieses will ich im folgenden Abenteuer schildern. Es ist weit weniger harmlos als die Höllenmaschine: es ist ein Blick in die tiefsten Tiefen menschlicher Verworfenheit.

 

 

Das Opfer der Millionen

 

1. Kapitel.

Der Herr, der uns acht Tage nach der Film-Zugkatastrophe vormittags elf Uhr besuchte, hatte sich durch die Köchin Malwine anmelden lassen und uns seine Visitenkarte hineingeschickt:

Professor Dr. Leonardo Rapivari

Rom

z. Z. Berlin W, Griseldisstr. 21.

Als Harald diese Karte überflogen hatte, sagte er leise:

„Ein interessanter Mann, der Professor Rapivari. Eine Hauptstütze der römischen Spiritisten, ein Geisterseher, der hier in Berlin seit Monaten jeden Abend Anhänger des Spiritismus versammelt und Experimente zeigen soll, die einfach staunenswert sind. – Liebe Malwine, ich lasse den Herrn bitten –“

Malwine ging hinaus. Dann trat Rapivari ein, äußerlich halb Mephistopheles, halb Don Juan mit schwarzem Spitzbart, schmalem Gesicht, dunkeln Glutaugen, gekleidet wie – wie ein sittenstrenger Kandidat ganz in Schwarz, was den Eindruck seiner Erscheinung noch erhöhte. Im übrigen ein Herr von tadellosen Manieren, sehr gemessenem Wesen und einer verträumten Art, die das etwas diabolische Äußere stark milderte.

Er nahm in dem Klubsessel am Fenster Platz, wo Harald alle unsere Klienten hindirigierte, damit das helle Tageslicht ein Beobachten ihrer Gesichter erleichtere.

„Herr Harst,“ begann er dann mit einem tiefen Atemholen, das wie ein Seufzer klang. „Sie gestatten, daß ich Ihnen sofort erkläre, weshalb ich mich gerade an Sie und nicht an die Polizei wende. Meine Frau ist seit dem 23. September, also seit acht Tagen, verschwunden. Sie ist ermordet worden.“

Er seufzte jetzt stärker.

„Sie sind wohl kaum Anhänger der spiritistischen Lehren, Herr Harst?“ fuhr er fort.

„Allerdings nicht –“

„So, das dachte ich mir. Und doch – glauben Sie mir: es ist etwas Tatsächliches an alledem, was man so gern als „Schwindel“, als spiritistische Betrügereien bezeichnet. Meine Frau ist uns gestern zum dritten Male erschienen – mit einer furchtbaren Stirnwunde, blutend, – also als materialisierter Geist –“

„Und daraus schließen Sie, daß Ihre Gattin ermordet worden ist, Herr Professor?“

„Ja – nur daraus. Wie gesagt: Bianka verließ am Montag morgen kurz nach halb sieben unsere hiesige Wohnung in der Griseldisstraße und ist seitdem nicht mehr zurückgekehrt, hat auch nichts mehr von sich hören lassen.“

„Weshalb entfernte sich Ihre Gattin damals zu so früher Stunde?“

„Weil wir Streit miteinander gehabt hatten. Bianka war sehr nervös und sehr empfindlich. Wir hatten den Sonntag, also den 22. September, auf dem Schlosse des Grafen Balling bei Eberswalde zugebracht, wo ich einem Spiritistenzirkel beiwohnen sollte. Der Graf ließ uns auf meinen Wunsch mit seinem Auto am Montag um 4 Uhr morgens nach Berlin zurückbringen. Um ½6 trafen wir in unserer Wohnung ein. Außer Bianka war noch meine Schwester Lukretia mit in Schloß Ballinghof gewesen. Lukretia hatte infolge Krankheit der Sitzung, die um 11 Uhr abends begonnen hatte, nicht beiwohnen können. Dies verargte Bianka ihr. Die beiden Frauen vertrugen sich überhaupt nicht zubest. Lukretia ist ebenfalls empfindlich. Kurz, meine Frau war gereizt, brach einen Streit vom Zaun und erklärte dann, sie würde einen Spaziergang machen, um sich zu beruhigen. Sie kam jedoch nicht zurück. Am 29. fand eine spiritistische Sitzung bei Doktor Möller in der Gneisenaustraße statt. Hier war es, wo ich, getrieben von einer Unruhe, die schon an Angst grenzte, Bianka im Reiche der Schatten suchte –“ – Seine Stimme sank zum Flüstern herab. „Sie verstehen mich, Herr Harst. Ich wollte feststellen, ob meiner Frau ein Unglück zugestoßen sei.“

Harald machte eine abwehrende Handbewegung. „Ihre Gattin erschien Ihnen dann also – mit einer Stirnwunde und blutigem Antlitz –“

„Ja. – Am folgenden Abend war Sitzung bei der Generalin Helgerbach in der Kleiststraße. Auch hier ward den Teilnehmern Bianka sichtbar. Und zum dritten Male geschah es dann gestern abend bei dem Kommerzienrat Schönfelder in der Grunewaldkolonie.“

„Sie hegen Verdacht gegen eine bestimmte Person?“

„Ja. Leider.“

„Gegen Ihre Schwester?“

Der Professor schwieg.

„Wohnt Ihre Schwester mit Ihnen zusammen?“ forschte Harald weiter.

„Nein. Sie hat ein Zimmer drei Häuser weiter in der Griseldisstraße Nr. 24 gemietet.“

„Wie ist dieser Verdacht bei Ihnen entstanden?“

„Durch Lukretias Benehmen und die Tatsache, daß sie damals am 23. morgens ihr Zimmer sofort wieder verlassen hat.“

„Glauben Sie wirklich an einen Mord, Herr Professor?“

„Ja! Ich muß daran glauben. Lukretia täuscht seit jenem 23. Krankheit vor und läßt mich nur selten vor, wenn ich bei ihrer Wirtin mich nach ihrem Ergehen erkundige. Sie benimmt sich eben so eigentümlich, daß es mir auffallen mußte. Sie, die sonst jede unserer Sitzungen mitmacht, gebraucht Ausflüchte, um ihnen fern zu bleiben.“

„Hatte Ihre Schwester Sie von Italien hierher begleitet, Herr Professor?“

„Ja. Damals, als wir Rom vor acht Monaten verließen, waren Bianka und Lukretia noch ein Herz und eine Seele. Ich war etwa vier Monate verheiratet, und erst später trat die Eifersucht der beiden Frauen zu Tage. Die eine liebte mich als Weib, die andere als Schwester, und keine wollte etwas von dieser Liebe zu Gunsten der andern preisgeben.“

„Ich durchschaue den Konflikt, Herr Professor. Für Sie muß das alles sehr wenig angenehm gewesen sein. – Sie glauben nun, Ihre Schwester könnte Ihre Gattin auf der Straße damals am 23. morgens angesprochen und sie begleitet haben. Irgendwo im Freien könnte es dann zwischen den beiden zu Tätlichkeiten gekommen sein, bei denen Lukretia –“

„– Die bedeutend kräftigere,“ warf Rapivari ein.

„– Ihre Gattin getötet haben könnte –“

Der arme Professor, der mir aufrichtig leid tat, senkte wieder den Kopf und schwieg.

Bevor Harald noch etwas Neues äußern konnte, schlug das Telephon an.

Harst nahm den Hörer ab, indem er sich bei Rapivari der Störung wegen entschuldigte.

„Hier Harald Harst. – Ah, guten Morgen, Lenk. Was gibt’s denn? – So – eine bereits in Verwesung übergegangene Frauenleiche –“

Rapivari schnellte aus seinem Sessel hoch.

„Mein Gott – eine Frauenleiche?!“ stöhnte er auf.

Dann sank er wieder in den Sessel zurück und starrte Harst unverwandt an, der Lenks telephonischer Nachricht gespannt lauschte.

„Also ein Unfall?“ sagte Harald jetzt. „Lieber Lenk, ich möchte mir die Leiche an Ort und Stelle ansehen. – Gut – auf Wiedersehen –“

Er legte den Hörer auf die Stützen, schaute Rapivari ernst an und erklärte:

„Herr Professor, Ihre Gattin ist vor drei Stunden von einem Arbeiter in einem Gebüsch auf einem Schuttplatz westlich von dem Gelände der Zeus-Filmfabrik tot aufgefunden worden. Neben der Toten lag ein schweres Eisenstück, das von einer Lokomotive herstammt. Ihre Gattin hat eine schwere Wunde an der Stirn. Der Schädel ist zertrümmert. – Gestatten Sie, daß ich Ihnen mein herzliches Beileid ausspreche.“

Er reichte Rapivari die Hand. Dieser hatte sich erhoben.

„Ich danke Ihnen, Herr Harst,“ meinte er leise. „Ich brauche Sie jetzt nicht mehr zu bemühen. Die Polizei hat ja die Angelegenheit bereits untersucht oder wird sie weiter untersuchen. – Ist auch gewiß, daß die Tote Bianka sein muß?“

„Ja. In dem silbernen Handtäschchen der Toten fand mein Freund Kommissar[5] Lenk einen an Ihre Gattin gerichteten Brief und außerdem zwei quittierte Rechnungen.“

Der Professor strich sich geistesabwesend den schwarzen Spitzbart glatt.

„Ich wußte es. Tot – tot!“ sagte er wie zu sich selbst. „Man spottet über uns Spiritisten. Und doch: Bianka zeigte sich uns! Ein Dutzend Herren und Damen sind Zeugen.“

Dann griff er nach seinem Filzhut und verabschiedete sich höflich.

Wir begleiteten ihn bis in den Vorgarten.

 

2. Kapitel.

„Fahren wir nach Lankwitz,“ sagte Harald, als wir wieder in seinem Arbeitszimmer waren. „Der Fall Bianka Rapivari geht uns beide sehr viel an, mein Alter, denn Lenk teilte mir noch mit, daß er annehme, das Eisenstück, das der Frau den Tod gab, sei durch die Luft geflogen gekommen – eben infolge der Explosion, die Blucks Höllenmaschine verursacht hat. – Und – Lenk hat das Richtige getroffen: am 23. morgens verschwand Frau Rapivari, und um 8 Uhr früh am 23. warf Blucks Dynamit die Lokomotive aus den Schienen. Also kann es sehr gut möglich sein, daß der eiserne Trittbretteil der Maschine so weit fortgeschleudert wurde und das Unheil anrichtete. – Anderseits weiß Lenk nicht, was wir wissen: Daß dieses Fräulein Lukretia Rapivari sich wirklich stark verdächtig gemacht hat. – Fahren wir hinaus –“ –

Lenk war bereits mit einem seiner Beamten zur Stelle. Das Gebüsch und der Schuttplatz lagen etwa 150 Meter vom Zaune der Filmfabrik und etwa 250 Meter von dem „Bahndamm“ entfernt, wo Bluck seine Höllenmaschine hatte losgehen lassen.

Nachdem Harald die Wunde und das Eisenstück besichtigt hatte, untersuchte er das Gebüsch, bog Zweige auseinander und schickte dann den Kriminalbeamten Röhling nach dem Zaun der Filmfabrik hinüber.

„Setzen Sie sich bitte gerade dort auf den Zaun, wo eine gedachte Linie zwischen diesem Gebüsch und dem Orte der Explosion den Zaun schneiden würde.“

Gleich darauf saß Röhling auf dem Zaun.

„So,“ meinte Harst zu Lenk, „jetzt sehen Sie, daß das Eisenstück nicht durch die Luft hierher geflogen sein kann. Wäre dies der Fall gewesen, dann –“

„– Ja, dann hätte es in den dichten Zweigen und Ästen der alten Kastanie hängen bleiben müssen, die hier vor dem Buschwerk steht,“ ergänzte Lenk.

„Allerdings. Und wenn das Eisenstück durch einen Zufall die Baumkrone wirklich glatt durchschlagen hätte, dann müßten hier auf der Erde mindestens einige dabei abgebrochene Zweige und Blätter liegen. Der Blattschmuck der Kastanie ist sehr frisch. Es sind nur sehr wenig welke Blätter am Boden zu sehen.“

Lenk nickte und fragte:

„Also ein Verbrechen, kein Unfall?“

„Ja – ein Verbrechen, lieber Lenk.“

„Hm – es ist doch aber ein Stück vom Trittbrett der Maschine gewesen, das die Krempe des Filzhutes der Frau Rapivari zum Teil wie eine Beilschneide durchschnitt und dann die Stirndecke zertrümmerte. Welcher Mörder, mag es sich nun um einen überlegten Mord oder einen Totschlag im Affekt handeln, wird sich gerade einer solchen Waffe bedienen?! Und – wo nahm er sie her?! Ferner – hätte er wohl das Eisenstück, das er allerdings hier in der Nähe gefunden haben mag, neben der Toten liegen lassen?! Wenn ja, dann würde der Täter ja gewußt haben, daß es sich um ein losgesprengtes Stück jener Lokomotive handelt, die die Zeus-Fabrik für ihre Filmaufnahme gekauft hatte, und dann hätte er vielleicht damit gerechnet, daß man hier einen Unfall vermuten würde, dann läge also ein überlegter Mord vor, gegen den jedoch wieder so viele andere Momente sprechen, daß ich meinerseits trotz Ihrer abweichenden Ansicht, lieber Harst, behaupten möchte –“

„Schon gut, Lenk. Und die Momente, die dagegen sprechen?!“

Diese Unterredung nahm sowohl Röhlings als auch meine Aufmerksamkeit derart in Anspruch, daß wir ebensowenig wie Harst und der Kommissar die junge Dame gewahrten, die sich von der Nordseite her dem Gebüsch auf einem Feldrain näherte.

Lenk erwiderte jetzt: „Der Mörder müßte ja, falls er einen Unfall hätte vortäuschen wollen, sein Opfer hierher gelockt haben. Er müßte also von vornherein beabsichtigt haben, die Explosion für diesen Zweck auszunutzen. Das ist ausgeschlossen, da der Zwischenfall mit Doktor Blucks Höllenmaschine noch heute für die Öffentlichkeit ein Geheimnis ist und die große Menge glaubt, die Zeus-Fabrik hätte –“

In diesem Augenblick bog die Dame um das Buschwerk. Harald sah sie zuerst, gab Lenk schnell ein Zeichen, und wir vier schauten nun der elegant gekleideten Fremden gespannt entgegen.

Sie war über mittelgroß und sehr schlank und hatte in ihrer Körperhaltung und in ihren Bewegungen etwas auffallend Scheues, Ängstliches. Ihre Blicke waren zu Boden gerichtet. Sie schien etwas zu suchen. Sie kam sehr langsam daher und gewahrte uns erst, als sie kaum noch acht Schritt entfernt war.

Ich werde nie diesen wild entsetzten Ausdruck der großen dunkeln Augen vergessen, nie dieses jähe Emporstrecken beider Arme, als wollte sie irgend ein Unheil von sich abwehren.

Harald trat jetzt auf das junge, dunkelhaarige Weib zu, zog den Hut, fragte höflich:

„Fräulein Lukretia Rapivari?“

Die Dame machte eine Bewegung, als ob sie fliehen wollte.

„Bleiben Sie!“ sagte Harst strengen Tones. „Sie sind Fräulein Rapivari! Was suchen Sie hier? – Ich denke, Sie sind krank, wie mir Ihr Bruder vorhin mitteilte!“

Sie hatte sich jetzt gefaßt. Ihr Gesicht wurde abweisend und hochmütig. Sie richtete sich höher auf.

„Wer sind Sie, mein Herr, wenn ich fragen darf,“ meinte sie eisig. „Und was gibt Ihnen das Recht, in einem solchen Tone Antwort von mir zu verlangen?! Ich kenne Sie nicht. Ich wüßte nicht, daß Sie zum Bekanntenkreise meines Bruders gehören.“

„Mein Name ist Harald Harst, mein Fräulein. Ich bin Detektiv aus Liebhaberei. Sie gestatten, daß ich Ihnen die drei Herren dort vorstelle –“

Auch wir traten näher. Als Harald den Amtstitel Lenks nannte, und dieses „Kriminalkommissar“ etwas hervorhob, da zuckte Lukretia Rapivari wieder derart zusammen, daß es für mich nun keinerlei Zweifel mehr an ihrer Schuld gab.

„Ich muß meine Frage wiederholen,“ erklärte Harald dann. „Was suchten Sie hier?“

Sie hatte sich jetzt schneller von dem jähen Schreck über die Anwesenheit der Polizei an diesem Orte erholt als vorher über unseren Anblick. Sie wandte sich Lenk zu und sagte mit geradezu eisiger Miene:

„Herr Kommissar, bin ich verpflichtet, hier Rede und Antwort zu stehen?! Es sieht ja fast so aus, als wollte man mich irgend einer Verfehlung beschuldigen. Anders kann ich mir Herrn Harsts merkwürdiges Benehmen nicht deuten.“

Lenk verbeugte sich knapp. „Herr Harst handelt in meinem Einverständnis, Fräulein Rapivari. Sie werden sofort hören, was man Ihnen vorwirft.“

Harald nickte. „Ich brauche Ihnen dies kaum vorzuhalten. Sie wissen ja, daß Ihre Schwägerin seit dem 23. September verschwunden ist. Wir haben sie gefunden –“

Lukretia Rapivari senkte langsam den Kopf.

„Wo?“ hauchte sie. „Und ist Bianka etwa – etwa tot?“

„Es ist wohl besser, Sie spielen diese Komödie nicht weiter,“ meinte Harald jetzt lebhafter und recht eindringlich. „Was Sie hier suchten, habe ich bereits entdeckt. Vielleicht heben Sie einmal den linken Fuß ein wenig. Das dünne goldene Kettenarmband ist zu schade, als daß Sie es noch tiefer in die Erde treten sollten!“

Oh – wie glänzend heuchelte sie nun ein maßloses Erstaunen! Wie echt klang ihr Ausruf:

„Mein Kettenarmband?! Ja – das suchte ich hier!“

Sie machte einen Schritt seitwärts. Und – da kam das Armband zum Vorschein.

Lenk bückte sich schnell und hob es auf, fragte scharfen Tones:

„Seit wann vermissen Sie es denn, Fräulein Rapivari?“

„Seit – seit einigen Tagen –“

„Also waren Sie vor einigen Tagen hier?“ setzte Lenk das Verhör fort.

„Ja –“ Das war mehr geflüstert als gesprochen.

„Und was taten Sie damals an dieser entlegenen Stelle?“

„Ich – ich ging spazieren –“

„Wann war das? Denken Sie bitte nach!“

Lange Pause.

„Genau weiß ich es nicht mehr. Es kann am 24. September gewesen sein –“

„Das war ein Dienstag. – Vielleicht war es auch am 23.?!“

„Ja – vielleicht –“

Da mischte sich Harald ein.

„Machten Sie diesen Spaziergang früh morgens?“

„Ja –“

„Dann war es am 23. morgens, Fräulein Rapivari. – Befanden Sie sich in Begleitung Ihrer Schwägerin?“

„Nein – nein! Bestimmt nicht! Ich – ich habe eine Zeugin, die bekunden kann, daß ich nicht mit Bianka damals zusammen war, die verwitwete Generalin Helgerbach.“

„So?! Wir werden diese Dame befragen. – War sie denn bis an dieses Gebüsch mit Ihnen gegangen?“

Wieder eine längere Pause.

„– Nein. – Sie – sie blieb dort drüben auf dem Wege zu dem Schuttabladeplatz stehen –“

„Und weshalb gingen Sie allein weiter?“

„Weil – weil ich hier –“ – Sie schwieg plötzlich, rief dann leidenschaftlich: „Nein – das sage ich nicht! Niemals werde ich das verraten! Niemals!“

„Selbst dann nicht, wenn man Sie – eines Mordes beschuldigt?!“

Sie ließ abermals den Kopf mit einer mutlosen Bewegung sinken und preßte die frischen Lippen fest aufeinander.

Lenk sagte jetzt schneidend:

„Sollen wir Ihnen die Tote zeigen?!“

„Tote?! Tote?!“ stammelte sie. „Das ist ja nicht möglich. Ich kann –“

Lenk hatte sie unterbrochen. „Fräulein Rapivari,“ erklärte er streng, „ich verhafte Sie wegen dringenden Verdachtes, Ihre Schwägerin ermordet zu haben! – Folgen Sie mir! Sie müssen die Tote sich ansehen. Vielleicht legen Sie angesichts Ihres Opfers ein Geständnis ab!“

Da – sie drohte umzusinken. Röhling fing sie auf.

„Ich – ich gestehe alles!“ wimmerte sie. „Alles! Nur – nur ersparen Sie mir das Furchtbare! Ich kann keine Leichen –“ – Ein trockenes Schluchzen erstickte ihre Stimme.

Röhling brachte Lukretia Rapivari dann zum Kraftwagen. Sie ließ sich willenlos wegführen.

 

3. Kapitel.

Auch wir verabschiedeten uns gleich darauf von Lenk, der das Eintreffen der Mordkommission abwarten wollte.

Als wir in unserem Taxameterauto davonfuhren, sagte Harald unvermittelt:

„Sie ist die Mörderin nicht. Aber – sie kennt den Täter!“

„Woraus schließt Du das?“ fragte ich zweifelnd.

„Daraus, daß diese Lukretia nie die Körperkraft gehabt hätte, mit dem Eisenstück einen Hieb von solcher Wirkung zu führen, einen Hieb, der einen Filzhut durchtrennt und eine Schädeldecke zertrümmert. Das kann nur ein Mann von beträchtlicher Armkraft getan haben.“

„Freilich, das leuchtet mir ein –“

„Im übrigen, mein Alter, schauspielerte sie vom ersten Augenblick an. Sie hatte uns längst bemerkt, behaupte ich. Ihr Erschrecken war Komödie. Es ist eine gefährliche Person, diese Schwester des Professors. Aber eine Mörderin ist sie nicht!“

[Nach diesen Worten Harsts keimte in mir jetzt langsam][6] ein besonderer Verdacht auf.

„Der Professor selbst?“ fragte ich gespannt.

„Sehr wahrscheinlich,“ erwiderte Harald. „Gönne mir jetzt aber etwas Ruhe. Ich möchte mir die Einzelheiten nochmals im Geiste ordnen.“ –

Unser Auto hielt vor dem Hause Kleiststraße 28. Die Generalin wohnte im ersten Stock. Sie war zu Hause.

Wir lernten jetzt eine große, dicke Dame jenes Schlages kennen, die in der heutigen Zeit nicht selten sind, – eine Frau, die trotz ihres Reichtums sich von allem Weltlichen völlig abgewandt und nur noch für Mystik, Spiritismus und Ähnliches Interesse hatte.

Sie machte dabei jedoch einen völlig glaubwürdigen Eindruck, was ihre Angaben über ihren damaligen Spaziergang mit Lukretia anbetraf. Sie erzählte folgendes:

Fräulein Rapivari war am 23. September gegen ein Viertel acht Uhr morgens sehr erregt zu ihr gekommen und hatte sie gebeten, sie mit ins Freie zu begleiten. Da die Generalin durch die spiritistischen Sitzungen mit Lukretia sich sehr angefreundet hatte, schlug sie ihr die Bitte nicht ab, obwohl es ihr seltsam erschien, weshalb das junge Mädchen gerade nach Lankwitz hinauswolle. – Die beiden Damen fuhren dann im Auto bis Lankwitz und gingen nachher zu Fuß bis an einen Gebüschstreifen weiter westlich von dem Buschwerk, wo nachher Frau Bianka tot aufgefunden wurde. Hinter diesem Buschwerk hatte Lukretia mit der Generalin haltgemacht und hatte etwa gesagt: „Gnädige Frau, Sie sollen mir als Zeugin dienen. – Sehen Sie, dort kommt meine Schwägerin, und von dort nähert sich demselben Gebüsch, auf das Bianka zuschreitet, ein Herr –“ – Die Generalin hatte beide Personen denn auch bemerkt, hatte Frau Bianka erkannt und auch den Herrn so deutlich beobachten können, daß sie ihn uns jetzt folgendermaßen beschrieb: blonder Vollbart, Hornbrille, heller Anzug, heller weicher Filzhut, groß, schlank, gewandte Bewegungen. – Sie sah Frau Bianka und den Herrn in dem Gebüsch verschwinden. Im selben Moment ertönte auf dem nahen Gelände der Filmfabrik der starke Krach der Explosion. Lukretia hatte sich hierdurch nicht beirren lassen und die Generalin mit vor Erregung zitternder Stimme gebeten, hier einen Augenblick auf sie zu warten. Sie war dann auf jenes Gebüsch zugelaufen, machte jedoch in der Nähe der Kastanie plötzlich kehrt und eilte unsicheren Schrittes auf die Generalin zu, der sie dann zurief: „Oh – nur fort von hier! Nur fort! Es ist zu schändlich!“ – Die Generalin betonte uns gegenüber, daß sie den Eindruck gehabt habe, als ob Frau Rapivari sich mit dem blonden Herrn ein Stelldichein gegeben hätte. Sie hatte Lukretia aus Zartgefühl jedoch nicht weiter ausgefragt, und beide seien dann mit der elektrischen Vorortbahn nach Berlin zurückgefahren, wo Lukretia sich sofort nach Hause begeben habe. –

Harald richtete jetzt an die Generalin verschiedene Fragen, von denen ich die wichtigsten hier anführen will.

Harst: „Haben Sie Fräulein Rapivari damals, als sie auf das Gebüsch zulief, nicht einen Moment aus den Augen verloren?“

Frau Helgerbach: „Nein, nicht einen Moment.“

Harst: „Hier in Ihrer Wohnung soll Frau Rapivari bei einer spiritistischen Sitzung als Geist erschienen sein.“

Frau H.: „Ja, so ist es, Herr Harst. Sind Sie Spiritist?“

Harst: „Nein. – Wo fand die Sitzung statt?“

Frau H.: „In diesem Salon.“

Harst: „Wo zeigte sich der Geist?“

Frau H.: „Dort an jener Tür war ein schwarzseidener Vorhang angebracht, und vor dem Vorhang –“

Harst: „Danke, gnädige Frau. – Gestatten Sie, daß ich mir das Nebenzimmer einmal ansehe?“

Frau H.: „Ah – ich merke, Sie halten es für möglich, daß der Geist Frau Rapivaris lediglich ein Betrug gewesen ist! Nun, da kann ich Ihnen versichern: das ist gänzlich ausgeschlossen – gänzlich! – Aber – wie Sie wollen, Herr Harst. Schauen Sie nur in das Nebenzimmer hinein. Es ist mein Speisezimmer –“

Harald betrat es, drückte die Tür hinter sich zu und ließ mich fünf Minuten mit der Generalin allein.

Dann kehrte er zurück. „Ich danke Ihnen verbindlichst, gnädige Frau,“ sagte er gleichgültig. „Jedenfalls steht nun fest, daß Fräulein Lukretia ihre Schwägerin nicht getötet haben kann. Das ist vorläufig die Hauptsache.“ –

Als wir die Straße wieder betraten, schob Harald seinen Arm in den meinen. – „Lieber Alter, Lenk wird die junge Dame wieder freigeben müssen. An den Worten der Generalin ist nicht zu zweifeln. Es ist klar, daß Lukretia irgendwie entdeckt hatte, daß Frau Bianka Beziehungen zu einem Herrn unterhielt, und daß sie ihrem Bruder verheimlichen wollte, wie sehr er von seinem Weibe betrogen wurde. Lukretias Verhalten wird durch dieses Bestreben, ihrem Bruder die für ihn so demütigende Wahrheit vorzuenthalten, völlig erklärt. – Nun zu Leonardo Rapivari, dem ich leider alles mitteilen muß. Vielleicht finden wir unter Frau Biankas Sachen irgend etwas, das auf den Mörder hinweist. Nur deren Geliebter, eben jener blonde Mann, kann der Täter sein.“ –

Professor Rapivari war daheim. Starr und mit völlig unbewegtem Gesicht hörte er Harsts Mitteilungen an. Dann sagte er mit tonloser Stimme:

„Ich habe es geahnt, daß Bianka irgendwelche Geheimnisse vor mir hatte.“

„Und Sie wissen nicht, wer jener Mann ist, den Ihre Schwester doch fraglos schon längere Zeit als den Vernichter Ihres Eheglückes kennt?“

„Nein, Herr Harst.“

„Dann müßte man einmal die Sachen Ihrer Gattin durchsuchen, Herr Professor. Vielleicht entdeckt man so wenigstens einen Hinweis auf jenen Herrn.“

„Bitte, Herr Harst. Wenn Sie mit in Biankas Zimmer kommen wollen –“ –

Dieses Damenzimmer war sehr geschmackvoll eingerichtet, enthielt zwei Bücherschränke und einen breiten, eichenen Diplomatenschreibtisch, wirkte eigentlich mehr wie ein Studierzimmer eines Gelehrten oder Schriftstellers.

„Sie haben sich jetzt wohl für dauernd in Berlin niedergelassen, Herr Professor?“ fragte Harald, als Rapivari die Schubfächer des Schreibtisches aufschloß.

„Ja, Herr Harst. Meine italienische Heimat ist mir verleidet worden. Ich war bereits einmal und sehr glücklich verheiratet. Meine erste Frau starb vor zwei Jahren an Typhus. Ich habe diesen Schlag nie ganz verwunden. – Bitte, wollen Sie mir bei der Durchsicht helfen –“ –

Harald war es, der in einer Bonbonniere unter einer Schicht Konfekt acht Zettel fand, deren Aufschrift sofort bewies, daß es sich hier um Verabredungen zu Stelldicheins handelte, wobei der Ort allerdings stets nur angedeutet war. Die Zettel hatten stets etwa denselben Wortlaut:

Montag (oder ein anderer Tag) den soundsovielten zu der und der Stunde „bei der Kastanie“ (oder „bei den Rosenstöcken“ und so weiter).

Die Schrift war lateinisch, der Text deutsch. Eine Unterschrift fehlte. –

Rapivari erklärte, die Handschrift nicht zu kennen.

Harald sagte darauf sinnend: „Sie ist verstellt, und zwar recht geschickt verstellt. – Reichen Sie mir bitte doch jenes Vergrößerungsglas –“

Der Professor holte es von einem Nebentischchen. Diese Gelegenheit benutzte Harst, einen der Zettel verschwinden zu lassen.

Dann prüfte er die Schrift mit Hilfe des Vergrößerungsglases.

„Sehr geschickt“, meinte er.

Ich wußte, daß er Rapivari nur hatte täuschen und den einen Zettel hatte an sich bringen wollen. Und ich fragte mich erstaunt, ob er denn etwa gegen den Professor Verdacht hegte. Das wäre doch unsinnig gewesen! – Oder – bezweckte er mit diesem harmlosen Diebstahl etwas anderes?!

„Wir werden die Zettel jetzt in die Bonbonniere einsiegeln,“ meinte er nun zu Rapivari. „Kommissar Lenk wird sie sehen wollen. Vielleicht kann ich etwas Siegellack bekommen.“

Der Professor war ganz einverstanden. Als der Pappkarton dann kaum versiegelt war, erschien unser Freund Lenk. Es gab für ihn hier nicht mehr viel zu tun. Wir drei fuhren bereits zehn Minuten später nach dem Polizeipräsidium. In Lenks Dienstzimmer wohnten wir dem ersten Verhör Lukretia Rapivaris bei.

Als Lenk ihr mitteilte, daß durch die Aussagen der Generalin jeder Verdacht von ihr genommen sei, rief sie in seltsamer Erregung und fast verzweifelt:

„Oh – ich habe Bianka trotzdem ermordet! Die Generalin irrt sich! Sie hat mich nicht die ganze Zeit über im Auge behalten, als ich –“

Harst fiel ihr ins Wort. „Ihr Bestreben, Ihrem Bruder die Wahrheit zu verheimlichen, geht zu weit. – Sie wollen also nicht zugeben, den blonden Herrn zu kennen, der sich mit Ihrer Schwägerin dort bei dem Kastanienbaum schon dreimal getroffen hatte?“

„Nein – nein, ich kenne ihn nicht!“ rief sie wieder leidenschaftlich und rang die Hände.

Sie war mir völlig unverständlich. Auch Lenk blickte ratlos drein. Nur Harald zeigte keinerlei Enttäuschung. Er erklärte vielmehr sehr ruhig:

„Fräulein Rapivari, wir bekommen die Wahrheit doch heraus! Halb kennen wir sie schon. Auch die fehlende Hälfte wird sich ergänzen lassen.“

Er schaute sie dabei so durchdringend an, daß der Ausdruck ihrer Augen und ihres Gesichts langsam wechselte. Etwas Lauerndes, etwas wie versteckte Angst war jetzt deutlich zu erkennen. – Und Harst fügte noch selbstbewußter hinzu:

„Sie wissen, daß man mir die Fähigkeit nachrühmt, auch die raffiniertesten Verbrechen aufzudecken. Hier liegt ein solches vor. Sie tun unrecht, Fräulein Rapivari, nicht alles zu sagen, was Ihnen über die Beziehungen Ihrer Schwägerin zu jenem Manne bekannt ist.“

Seltsam: ihr Gesicht entspannte sich nach dieser letzten Bemerkung in einer Weise, als ob nun eine geheime Befürchtung von ihr genommen sei.

Ich begriff dieses junge Weib immer weniger.

„Ich weiß nichts!“ erwiderte sie schnell. „Ich gebe lediglich zu, daß ich von diesen Verabredungen Biankas mit jenem Herrn schon längere Zeit Kenntnis habe und daß ich Bianka wiederholt deshalb zur Rede stellte. Sie hat mir gegenüber stets behauptet, der Herr sei lediglich ihr Freund und Berater, sei ein Schriftsteller, der ihr bei ihren schriftstellerischen Versuchen insofern behilflich sei, als sie ihm ihre Arbeiten vorlese. – Es ist ja Tatsache, daß Bianka sehr viel sich wissenschaftlich und schöngeistig beschäftigte. Trotzdem glaubte ich ihr nicht.“

„Weshalb nahmen Sie damals denn die Generalin als Zeugin mit?“ fragte Harald nach kurzer Pause.

„Weil ich Bianka nachher vorhalten wollte, daß nun auch Frau Helgerbach von diesen Stelldicheins etwas wüßte. Ich wollte Bianka hierdurch veranlassen, diese Beziehungen abzubrechen.“

Harst schwieg zu dieser etwas fadenscheinigen Erklärung.

Lenk sagte darauf sehr dienstlich: „Ihre Selbstbezichtigung ist hier gegenstandslos, Fräulein Rapivari. Ich kann Ihre Verhaftung nicht aufrecht erhalten. Sie sind frei. – Ich vernehme Sie jetzt als Zeugin in der Mordsache Rapivari. Sie sind verpflichtet, meine Fragen zu beantworten. Als Angeschuldigte durften Sie schweigen. Jetzt nicht! – Wer ist jener blonde Herr?“

Lukretia blickte Lenk traurig an und seufzte.

„Mein armer, armer Bruder,“ flüsterte sie mit kaum vernehmlicher Stimme. „Nun wird er unter diesem Schlag völlig zusammenbrechen! – Herr Kommissar, ich lüge nicht: ich kenne jenen Mann nur von Ansehen! Ich weiß nur, daß er hier in Berlin in der Potsdamerstraße 208 im Fremdenheim Müller unter dem Namen Weinreich ein möbliertes Zimmer bewohnt. Ich gebe weiter zu, daß ich eine Verhaftung dieses Mannes verhindern wollte und daß diese meine Absicht dem Wunsche entsprang, Leonardo die ganze Wahrheit nie erfahren zu lassen. Wenn Sie jenen Weinreich jetzt festnehmen, wird Bianka durch ihn fraglos aufs schwerste bloßgestellt werden.“

Diese Erklärung wirkte in ihrer Schlichtheit durchaus überzeugend.

Auch Lenk hatte jetzt den Eindruck gewonnen, daß Lukretia Rapivari nichts mehr bekunden könne. Er entließ sie in höflichster Weise.

 

4. Kapitel.

Wir drei waren nun in Lenks Dienstzimmer allein.

„Kommen Sie mit nach der Potsdamerstraße?“ fragte Lenk, indem er Harst prüfend ansah. Dessen versonnener Gesichtsausdruck behagte ihm offenbar nicht ganz.

„Nein, lieber Lenk,“ erklärte Harald, „Weinreich ist ja längst über alle Berge. Ich werde den Fall Rapivari auf meine Art erledigen. Und die ist ja stets etwas verschieden von der Ihrigen, bester Lenk. Lukretia hat Sie belogen. Sie kennt den Mörder ganz genau.“

„Und – weshalb schützt sie ihn dann?!“ meinte Lenk etwas ironisch. „Weshalb verheimlicht sie uns Kleinigkeiten, wo sie doch die Hauptsache bereits eingestanden hat und also weiß, daß ihr Bruder nun doch alles –“

„Oh – lassen Sie den Professor hier aus dem Spiel!“ unterbrach Harald ihn. „Es handelt sich hier um mehr als nur einen Mord im Affekt! Hier spielen noch Dinge mit, die vorläufig unter der Oberfläche der Geschehnisse verborgen sind und die trotzdem das Fundament des Ganzen bilden.“

„Also glauben Sie Lukretia mit dem Mörder im Bunde?“ fragte Lenk tastend.

„Ja. Sie ist eine Komödiantin. Dies brauchen Sie Leonardo Rapivari jedoch nicht mitzuteilen, obwohl er ja selbst von seiner Schwester nicht viel hält.“

Harst erhob sich und reichte Lenk die Hand. „Auf Wiedersehen. Wir drei werden, so hoffe ich, an einem der nächsten Abende einer spiritistischen Sitzung beiwohnen können. Halten Sie sich also die Abende frei, Lenk.“ –

Vom Polizeipräsidium fuhren wir nach der italienischen Botschaft, wo wir uns bei dem Legationsrat Grafen Sartillo, den Harald vom Universum-Klub her kannte, melden ließen.

Sartillo konnte Harst über die Rapivaris eine recht erschöpfende Auskunft geben.

Der Professor sei in Rom sehr berühmt und auch sehr beliebt gewesen. Seine erste Gattin, eine geborene Gravenna, hatte er über alle Maßen geliebt. Seine zweite Frau, die einzige Tochter der verstorbenen sizilianischen Großgrundbesitzers Baron Paterno, eine Vollwaise, heiratete er wohl nur, weil Bianka Paterno sich ihm so halb und halb aufgedrängt hatte. Sie war trotz ihrer Jugend begeisterte Anhängerin des Spiritismus, und ein Mann wie Rapivari mit diesem Stich ins Dämonische, meinte der Legationsrat, habe es leicht, aus den in ihn sterblich verliebten Damen die wohlhabendste zu wählen. – „Ich selbst glaube nicht recht daran,“ fügte Sartillo hinzu, „daß für den Professor das ungeheure Vermögen Bianka Paternos irgendwie mitsprach, als er sich mit ihr verlobte, obwohl damals in Rom auch Stimmen laut wurden, die Rapivari als äußerst berechnend hinstellten. Er ist ja selbst reich. Nie läßt er sich für die Sitzungen, an denen er teilnimmt, etwas bezahlen. Hier in Berlin in der italienischen Kolonie genießt er das größte Ansehen. Auch in meinem Hause verkehrt er mit seinen Damen. Der Tod Bianka Rapivaris wird uns alle in Trauer versetzen. Sie war eine kluge, ja sogar geistvolle Frau.“

„Wie stand das Ehepaar zueinander?“

„Hm – sie behandelte ihren Mann eigentlich sehr kühl. Und doch war es von ihrer Seite bestimmt eine Liebesheirat.“

„Sind Sie selbst Spiritist, Graf?“

„Ja. Seit Jahren.“

„Wissen Sie, ob Rapivari in nächster Zeit einer Sitzung beiwohnen wird?“

„Morgen abend sollte bei unserem Botschaftsarzt Doktor Manello eine Sitzung stattfinden. Aber Rapivari wird jetzt wohl absagen.“

„Falls er nicht absagt, würden Sie uns beide und den Kriminalkommissar Lenk dann vielleicht bei Doktor Manello unter anderem Namen einführen und uns so die Teilnahme an der Sitzung ermöglichen? Wir würden etwa als Amerikaner auftreten. Daß man uns nicht erkennt, dafür sorgen wir schon.“

Graf Sartillo warf einen prüfenden Blick auf Harsts Gesicht.

„Beargwöhnen Sie des Professors Schwester?“ fragte er zögernd.

„Im Vertrauen: ja! – Dieser Mord läßt sich auf dem gewöhnlichen Wege nicht aufklären, Graf. Helfen Sie mir, daß ich Nebenwege wandeln kann.“

„Gern, lieber Harst. Ich gebe Ihnen telephonisch Nachricht, ob Rapivari morgen bei Manello erscheint.“

Harst bedankte sich, und wir fuhren dann heim nach der Blücherstraße. Harald hüllte sich in Schweigen. Ich sah ihm an, daß er über irgend etwas nachgrübelte.

Zu Hause angelangt sagte er plötzlich: „Wir reisen abends nach Hamburg. Ich werde Graf Sartillo unsere dortige Adresse, Hotel Imperial, sofort angeben.“

„Nach Hamburg?!“ meinte ich erstaunt.

„Ja. Ich hoffe, daß Weinreich sich noch eine weitere Blöße gibt.“

„Weinreich?! – Entschuldige, mir ist’s schon wirr genug im Kopf!“

„Dir wäre klarer im Kopf, wenn Du von vornherein damit gerechnet hättest, daß wir beobachtet werden. Drei Leute sind hinter uns her.“

Ich war sprachlos. „Drei Leute?! Und Weinreich?!“

„Ist natürlich einer der drei. Es sind zwei Herren und eine Dame, die ihre Sache nicht ungeschickt machen.“

„Also ein ganzes Komplott!“

„Ja, lieber Alter, – ein Komplott! Die Baronesse Bianka Paterno besitzt an fünfzehn Millionen, wie Sartillo uns ja noch beim Abschied mitteilte. Ihr Testament wird das weitere ergeben.“ –

Nach dem Mittagessen fuhren wir abermals zu Leonardo Rapivari. Harst fragte den Professor, ob ein Testament seiner Gattin vorhanden sei, worauf dieser erklärte, er habe die Urkunde soeben erst in einer Mappe gefunden. Das Testament sei ohne Umschlag gewesen und trage das Datum des 15. Mai dieses Jahres. – Er holte dann die handschriftliche Urkunde, die in italienischer Sprache abgefaßt war. Ins Deutsche übertragen lautete sie:

Berlin, den 15. Mai 19…

Mein letzter Wille!

Ich, Bianka, verehelichte Rapivari, geborene Baronesse Paterno, bestimme hiermit, daß nach meinem Tode, wie dies mein Gatte wiederholt als seinen Wunsch angedeutet hat, mein Vermögen mit Ausnahme des meinem Gatten gebührenden Pflichtteiles an meinen Vetter Silvio Baron Paterno, in Rom wohnhaft, fällt. Obwohl ich Silvio Paterno seit Jugend an als einem mir wenig sympathischen Menschen aus dem Wege gegangen bin, soll das Vermögen meiner Eltern ihm als dem einzigen männlichen Paterno doch verbleiben.

Bianka Rapivari, geb. Paterno.

„Hat der Haupterbe Kenntnis von dieser Urkunde?“ fragte Harst nun, nachdem er sie langsam gelesen und sie mir übersetzt hatte.

„Das halte ich für ausgeschlossen,“ erklärte der Professor. „Bianka hat ihren Vetter nie sehr geschätzt. Sie stand nie im Briefwechsel mit ihm. Wenn sie sogar mir nichts von dem Testament gesagt hat, dürfte sie erst recht nicht diesen Silvio eingeweiht haben.“

„Kennen Sie den Baron persönlich, Herr Professor?“

„Ja. Ich habe ihn zweimal gesehen und gesprochen, Herr Harst. Es ist ein Lebemann wie tausend andere, nicht besser, nicht schlechter.“

„War Ihre Schwester Lukretia bereits bei Ihnen?“

Rapivari fuhr sich mit der wohlgepflegten Hand über die Stirn, als wollte er etwas Unangenehmes fortwischen.

„Ja, sie war bei mir. Aber wir haben uns nicht versöhnt. Lukretia ist sehr nachtragend. Sie vergißt es mir nicht, daß ich Sie für Biankas –“ – Er schwieg und machte eine heftige Handbewegung. „Es ist besser, über all das Unerquickliche nicht mehr zu sprechen! Was ist in den letzten Tagen alles auf mich eingestürmt! Mein Weib habe ich verloren – in doppelter Weise! Ich mag an die Tote nicht mehr denken! Ist mir das zu verargen?! Und nun auch noch Lukretia – sie, die mich so sehr geliebt hat! Sie war wie verwandelt. Ihre einzige Antwort auf alle meine Bitten war: „Wie konntest gerade Du an mir zweifeln!“ – Nun verläßt sie Berlin, nun bin ich ganz einsam!“

„Wann will sie denn abreisen? – Mag sie nicht vergessen, daß die Polizei sie als Zeugin noch braucht.“

„Oh, so eilig hat sie es nicht, Herr Harst. Sie ist nur umgezogen vorläufig. Wohin weiß ich nicht.“

Harst stand auf. „Wir müssen uns verabschieden, Herr Professor. Man hat mich telephonisch nach auswärts gebeten. In drei Tagen hoffen wir zurück zu sein. Sollte die Polizei bis dahin den Mörder noch nicht entdeckt haben, so will ich mir alle Mühe geben, ihn zu finden. Auf Wiedersehen –“

Rapivari reichte uns die Hand und begleitete uns bis in den Flur.

„Sie halten sich keine Bedienung?“ fragte Harst noch so nebenbei, da der Professor uns bisher stets selbst geöffnet hatte.

„Doch, Herr Harst. Eine Köchin und ein Stubenmädchen. Die zweite elektrische Glocke in der Küche ist jedoch in Unordnung. Daher muß ich schon selbst die Besucher einlassen.“ –

Als wir zwei Stunden später auf dem Lehrter Bahnhof den D-Zug bestiegen hatten und es uns dann in unserem Abteil 2. Klasse bequem machten, flüsterte Harald.

„Die drei sind abermals zur Stelle! Die beiden Männer sehen wieder ganz anders aus. – Ich glaube, die Bande wird etwas gegen uns unternehmen. Wenn sie’s nur täten.“

Ich lehnte mich zum Fenster hinaus und kaufte mir ein paar Zeitungen, konnte jedoch niemand bemerken, der mir irgendwie verdächtig vorgekommen wäre.

Da – im letzten Moment vor der Abfahrt kam noch eine verschleierte Dame mit einer Handtasche den Zug entlanggeeilt. Sie bestieg den Nebenwagen. Ihre Bewegungen waren mir nicht fremd. Es lag etwas Stolzes, Herbes in ihrer Haltung. Und – ich dachte sofort an Lukretia Rapivari, an jene Lukretia, die Harst für eine glänzende Komödiantin gehalten hatte – oder vielleicht noch hielt. Genau wußte ich das nicht.

Ich wandte mich Harald zu.

„Du, ich glaube, Lukretia ist soeben in den Zug gestiegen –“

Er zog die Augenbrauen etwas hoch. „Lukretia?! Das wäre allerdings seltsam!“

Die Tatsachen gestalteten sich noch seltsamer. – Die Tür unsers Abteils wurde aufgeschoben, und in der Tür stand die, über die wir soeben gesprochen hatten.

„Gott sei Dank,“ rief sie leise und sank halb auf den nächsten Sitz. „Gott sei Dank – ich habe den Zug und Sie beide noch erreicht!“

Sie schlug den Schleier hoch. Ihr Gesicht war blaß, und die Augen tief umschattet.

„Bitte – rasch, – verlassen Sie den Zug wieder, Herr Harst,“ fuhr sie überstürzt fort. „Ich habe Weinreich aufgestöbert – durch einen Zufall! – Schnell – kommen Sie!“

Der Zug ruckte bereits an.

„Sie sehen, es ist zu spät,“ meinte Harald liebenswürdig. „Wir können jedoch auf der nächsten Station die Fahrt unterbrechen, falls mir dies nötig erscheint. Erzählen Sie zunächst, Fräulein Rapivari –“

„Ich traf Weinreich gegen halb acht Uhr in der Leipzigerstraße,“ berichtete sie, wiederholt hastig Atem holend. „Er war’s ganz bestimmt. Ich folgte ihm. Er betrat ein Haus in der Wellingtonstraße am Tiergarten. Dort befindet sich ein vornehmes Pensionat. Ich wagte mich jedoch nicht in das Haus hinein, sondern fuhr im Auto zu Ihnen nach der Blücherstraße. Sie beide hätten sich erst vor ein paar Minuten zum Lehrter Bahnhof begeben, erklärte mir Ihre Mutter. Ich holte mir für alle Fälle noch meine Handtasche, löste dann auch eine Fahrkarte bis Hamburg und – hatte wenigstens das Glück, den Zug noch zu erreichen.“

Harald nickte. „Gut, wir werden also in Wittenberge aussteigen, Fräulein Rapivari. Ihre Entdeckung verlangt meine sofortige Rückkehr.“ –

Ich gebe zu: von dem Fall Rapivari begriff ich noch immer nichts! Da waren nur Widersprüche, nur Unklarheiten und Fäden, die meines Erachtens bis Rom hinliefen – zu dem Erben der toten Frau Bianka! Und jetzt noch dieser Zwischenfall! Jetzt noch Lukretia als Reisebegleiterin! Was sollte das nun wieder?! War es denn glaubhaft, daß der angebliche Weinreich so offen in der Leipzigerstraße sich bewegt hatte?! –

Harald unterhielt sich weiter mit Lukretia. Es war ein Gespräch wie in einem Salon: über Kunst, Spiritismus und Theater. –

Als der Zug in Wittenberge hielt, stiegen außer uns dreien nur noch fünf Reisende aus. – Wir passieren die Sperre. Auch wir hatten nur Handtaschen mit. Der Schaffner an der Sperre nannte Harald dann ein Autoverleihgeschäft. Wir klingelten den Inhaber heraus. Harst nannte seinen Namen und verlangte einen recht schnellen Wagen.

Nach einer halben Stunde stand der große Tourenwagen bereit. Der Chauffeur war ein älterer Mann, den der Geschäftsinhaber uns als sehr zuverlässig bezeichnet hatte.

Die Nacht war mondhell. Das Auto erreichte sehr bald die Chaussee. Harald saß links von Lukretia Rapivari auf dem Vordersitz, ich auf dem rechten Rücksitz.

Die Geschwindigkeit des Wagens entsprach ganz Haralds Wünschen.

„Um zwei Uhr morgens sind wir wieder in Berlin,“ sagte er zu Lukretia, die vor der Abfahrt den Wagen sehr sachverständig gemustert hatte.

Zwei andere Kraftwagen begegneten uns kurz nacheinander. Dann bat Lukretia Harst um Feuer für ihre Zigarette, die sie ihrem silbernen Etui entnommen hatte.

Sie rauchte langsam, weit zurückgelehnt, und starrte geradeaus in die helle Mondlandschaft. Sie schien leidenschaftliche Raucherin zu sein, denn ohne Unterbrechung sog sie jetzt an den stark parfümierten Zigaretten, von deren Spitzen in der Zugluft häufig Fünkchen aufsprühten. Zuweilen warf sie sie auch erst halb aufgeraucht in weitem Bogen auf die Chaussee.

Wir passierten gerade einen hohen Wald, als unser Chauffeur plötzlich die Geschwindigkeit mäßigte, sich nach uns umdrehte und rief:

„Ein Auto steht quer über der Straße –“

„Wohl eine Panne,“ meinte Lukretia gleichgültig und richtete sich auf.

Unser Chauffeur hielt dicht vor dem fremden Auto an. Es war ebenfalls ein großer Tourenwagen. Ich erkannte zwei Herren in langen hellen Mänteln, die mit einer Taschenlampe in den Motorkasten hineinleuchteten.

Der eine trat an unseren Wagen heran faßte an die Mütze und – packte Lukretia Rapivari plötzlich um die Taille, riß gleichzeitig die Tür auf und trug die sich angstvoll Wehrende in das andere Auto, hinter dem nun ein dritter Mann erschienen war, der in jeder Hand einen Revolver hielt und auf uns zielte.

Harald saß noch immer auf seinem Platz. Auch ich war vor Überraschung keiner Bewegung fähig. Der Mensch mit den Revolvern brüllte schon in fließendem Englisch:

„Nur ein einziges verdächtiges Heben eines Armes und ich schieße! Sitzen Sie ganz ruhig! Ihnen geschieht nichts. Wir –“

Lukretias gellender Hilferuf übertönte die Stimme des Mannes.

„Es ist Weinreich! Herr Harst – retten Sie mich!“

Da – der Kerl feuerte – drückte dreimal ab.

Harald hatte mir einen Stoß versetzt, war nach vorn gerutscht.

Ich folgte seinem Beispiel.

Über uns weg sausten die Kugeln – noch drei Schuß.

Dann ein zischendes Pfeifen. Dann raste der andere Wagen davon.

„Die Schufte haben uns die Pneumatiks zerschossen!“ fluchte der Chauffeur.

Wir tauchten aus der Versenkung wieder auf.

„Sie haben ja Ersatzreifen mit!“ meinte Harald gelassen. „In einer halben Stunde ist der Schaden beseitigt. Wir helfen Ihnen gern.“

Der biedere Chauffeur konnte sich gar nicht über diesen Überfall beruhigen. Auch Harald spielte jetzt den Ergrimmten. Und ich – ich war jetzt noch ratloser als bisher. Weshalb hatte man Lukretia entführt? Weshalb nur?! Und wie hatten die drei Männer wissen können, daß sie gerade unser Auto aufhalten mußten, wo doch der Autoverkehr in Richtung Berlin recht lebhaft war?! –

Die beiden zerschossenen Vorderreifen wurden in einer knappen halben Stunde ausgewechselt. Dann fuhren wir weiter – mit mäßiger Geschwindigkeit, wie Harst dies angeordnet hatte.

Wir saßen nebeneinander. Harald spendete auch mir eine Mirakulum. Nach den ersten Zügen sagte er:

„Es ist etwas anders gekommen, als ich dachte. Lukretia soll als harmloses Schäfchen hingestellt und das Ganze noch mehr verschleiert werden. Sie warf die fünfte Zigarette halb aufgeraucht auf die Chaussee, als das andere Auto vor uns noch nicht den Weg versperrt hatte. Das Aufsprühen der Funken war das verabredete Zeichen: „Achtung – wir kommen!“ – Und nun bilden diese Leute sich ein, ich wüßte nicht, was weiter geschehen wird! Sie irren sich! Ich weiß jetzt alles! Es soll noch einen zweiten Mord geben. Dann erst ist der Plan geglückt und die Millionen der armen Bianka sind in den richtigen Händen, das heißt, in denen dieses Schurken Leonardo[7] Rapivari. Wenn je ein Mensch die Bezeichnung Schurke verdient, dann ist es dieser raffinierte Heuchler und Gattenmörder! Und wenn je ein Weib den Namen Teufelin führen müßte, dann ist es diese Lukretia, die niemals Rapivaris Schwester, sondern – seine erste Gattin sein dürfte!“

Ich saß ganz still und lauschte.

„Die Sache begann für uns so,“ fuhr Harald fort. „Lukretia hat jenes Gebüsch gestern morgen fraglos aus weiter Ferne wie schon oft beobachtet und gesehen, daß die Leiche von dem Arbeiter entdeckt wurde. Sie mag täglich viele Stunden auf der Lauer gelegen haben, um rechtzeitig zu erfahren, wann der Herr Professor uns seine fein berechnete Aufwartung machen müßte. Wir beide, mein Alter, waren für diese Leute am allergefährlichsten; wir beide mußten also von vornherein so mit in diesen Fall hineingezogen werden, daß wir den wahren Schuldigen anderswo suchen müßten; uns sollte Sand in die Augen gestreut werden; alles, was die angeblichen Geschwister taten, entsprang dem Bestreben, die Fährte zu verwischen. So mußt Du jedes ihre Worte beurteilen, so ist ihr Tun zu bewerten. – Die Zettel mit den Angaben über die Stelldicheins hat Rapivari fabriziert; das Testament jedoch wird echt sein, glaube ich.“

„Halt,“ meinte ich da. „Wenn es echt ist, wird –“

„– Ja – wird eben noch etwas passieren. Der Erbe, der letzte Paterno, wird gleichfalls sterben, und dann – dann muß alles an Rapivari zurückfallen!“

„So hat er seine Gattin mit dem Eisenstück getötet?“

„Nein und ja. Er selbst tat es nicht. Aber er war der Anstifter.“

„Und unsere drei Verfolger?“

„Es werden Verwandte Rapivaris sein – sehr wahrscheinlich!“

„Wie entstand der erste Verdacht gegen den Professor bei Dir?“ fragte ich jetzt gespannt.

„Schon bei seinem Besuch bei uns – durch die Erwähnung der Erscheinung der Toten. Es war eine Frechheit ohnegleichen von ihm, diese „Erscheinung“ – natürlich hat die „kranke“ Lukretia sie gemimt – mit einer Stirnwunde auftreten zu lassen. Dadurch hat er sich verraten. Wer wußte denn von dieser Stirnwunde etwas?! Doch nur der Mörder und seine Helfershelfer. Und – Erscheinungen aus dem Jenseits gibt es nicht! Nein – diesen taktischen Fehler hätte Rapivari nicht begehen dürfen! Aber gerade das Bestreben, den Mord in recht tiefes und geheimnisvolles Dunkel zu hüllen und außerdem noch für den Spiritismus so etwas Reklame zu machen, trieben den klugen Professor weit über das Ziel hinaus.“

„Wie mag Bianka Rapivari aber an jenen entlegenen Platz geraten sein, wenn ein Stelldichein ausscheidet?!“

„Oh – es kann trotzdem ein Stelldichein gewesen sein, nur keins mit einem Liebhaber. Offenbar hatte Frau Bianka schon Verdacht gegen ihren Gatten und Lukretia geschöpft, weil die „Geschwister“ ihr allzu zärtlich miteinander taten. Vielleicht wollte sie insgeheim Lukretia beobachten lassen; vielleicht drängte sich ein Mann an sie heran, der ihr Vertrauen erschlich und diese Beobachtung übernehmen wollte; vielleicht gehörte dieser Mann mit zu der Bande. Wir stehen hier ja fraglos einem bis ins einzelne genau überlegten Plane gegenüber: jeder Schritt der Mittäter war berechnet; jeder hatte seine Rolle zu spielen.“

„Und – Du erwartest noch einen zweiten Mord?“

„Ja! Denn in der heutigen Abendzeitung steht unter den im Hotel Esplanade abgestiegenen Gästen der Baron Silvio Paterno mit aufgeführt. – Nimm an, daß ein Unbekannter ihn benachrichtigt hat, seine Verwandte Bianka Rapivari sei verschwunden. So kann man ihn nach Berlin gelockt haben. Jedenfalls: er ist in Berlin! Und – wir werden ihn sprechen!“ –

Eine halbe Stunde später waren wir daheim.

 

5. Kapitel.

Wir ließen das Auto warten, holten nur unseren Requisitenkoffer und fuhren bis Spandau, stellten auf der einsamen Straße fest, daß niemand uns folgte, fuhren auf Umwegen nach Lenks Privatwohnung, wo wir gegen halb sieben Uhr morgens anlangten.

Der gute Lenk hörte Harsts Schilderung von Lukretias Entführung staunend an. Beim Frühstück berieten wir alles weitere. – So kam es, daß bereits gegen neun Uhr vormittag drei Herren in kurzen Abständen das Esplanade betraten, – drei Herren, die Lenk und uns beiden nicht im entferntesten ähnlich sahen.

Lenk verständigte insgeheim den Portier. Dann suchten wir, ebenfalls getrennt und ganz unauffällig, das Zimmer 42 auf, wo der Baron wohnte.

Silvio Palermo war bereits fertig angezogen. Als Lenk ihm nun sofort den Zweck unseres Kommens mitgeteilt hatte, erklärte Paterno kopfschüttelnd:

„Meine Herren, Sie müssen sich hier in einem schweren Irrtum befinden. Allerdings hat mir jemand telegraphisch von dem Verschwinden Biankas Nachricht gegeben. Doch dieser Herr ist ein Ehrenmann und ein guter Bekannter von mir: der Advokat Doktor Cesare Gravenna aus Rom. Er depeschierte mir außerdem noch, daß er mich heute vormittag gegen zehn Uhr hier bestimmt im Esplanade auf meinem Zimmer sprechen müsse. Ich dürfe jedoch von dem Inhalt der Depesche niemandem etwas verraten, denn es stünde für mich sehr viel auf dem Spiel.“

„Oh, das genügt uns schon, Herr Baron!“ meinte Harald da. „Wir werden Zeugen dieses Besuches des Herrn Gravenna sein – dort von Ihrem Schlafzimmer aus! Und – ohne daß er etwas davon ahnt!“ –

Der Baron, ein etwas verlebter Herr von etwa vierzig Jahren, nahm sich zusammen, setzte sich an den Schreibtisch und blätterte in einem Buche. – Wieder vergingen zehn Minuten. Dann klopfte es. Paterno rief: „Herein!“ Wir hörten eine tiefe Männerstimme, die den Baron vertraulich begrüßte und dann hinzufügte:

„Gestatten Sie, lieber Paterno, daß ich Ihnen meine Schwägerin Signora Lydia Almada, vorstelle. Sie weilt zufällig hier in Berlin.“

Die drei setzten sich dann, wobei Paterno, ganz wie Harald es gewünscht hatte, den Anwalt und die Dame recht geschickt so dirigierte, daß sie mit dem Rücken nach der Schlafzimmertür auf Sesseln Platz nahmen.

„Baron, wir sind hier doch allein?!“ begann Gravenna dann. „Was ich Ihnen mitzuteilen habe, duldet keine Zeugen. Lydia und ich sind deshalb auch so vorsichtig gewesen, hier im Hotel nicht nach Ihnen, sondern nach einem andern, neben Ihnen wohnenden Herrn zu fragen. Niemand sah uns, als wir bei Ihnen eintraten. Es handelt sich eben um – viele Millionen, und da kann man nicht vorsichtig genug sein.“

„Wir sind allein,“ erklärte Paterno. „Ich werde die Tür nach dem Flur noch abschließen –“ Und er ging und drehte den von innen steckenden Schlüssel um, zog ihn ab und legte ihn (auch das war vereinbart) auf den Tisch ab, setzte sich dann auf das Sofa. – „So, nun erzählen Sie mir, worum es sich eigentlich handelt, Gravenna,“ sagte er jetzt. „Sie können sich denken, wie neugierig ich bin.“

„Mit Recht, Baron, – mit Recht! Sie werden staunen: Sie sind der Erbe Ihrer Kusine Bianka Rapivari, die man gestern früh tot aufgefunden hat. Sie ist ermordet worden und hat ein Testament zu Ihren Gunsten hinterlassen. Da es nun dieser Erbschaft wegen eine Menge Formalitäten zu erledigen gibt, möchte ich Ihnen vorschlagen, mir eine diesbezügliche Vollmacht auszustellen. So ganz ohne Schwierigkeiten werden Sie die Erbschaft nämlich nicht antreten können. Professor Rapivari wird fraglos das Testament, das ihn auf den Pflichtteil setzt, anfechten wollen. Sie selbst müssen sich möglichst wenig mit dieser Angelegenheit beschäftigen, da zu leicht der Verdacht, den Mord begangen oder angestiftet zu haben, auf Sie fallen könnte. Als guter Freund gebe ich Ihnen weiter den Rat, mir diese Vollmacht sofort auszuhändigen. Eile tut not. Ich will Rapivari in Ihrem Interesse einen Besuch abstatten und ihn warnen, es auf einen Prozeß ankommen zu lassen. Sie kennen mich ja, Paterno: in Rom hält man mich für den gerissensten Advokaten!“

Silvio Paterno spielte seine Rolle jetzt vorzüglich.

„Sehr gern, mein lieber Gravenna, – sehr gern!“ erwiderte er lebhaft. „Diktieren Sie mir nur, was ich schreiben soll. Ich setze mich dort an den Schreibtisch.“

Er stand auf und ließ sich im Schreibsessel nieder. Gravenna hatte sich gleichfalls erhoben, trat hinter ihn und sagte: „Also dann vorwärts, Baron. Schreiben Sie –“

Harald hatte die Tür sacht weiter geöffnet. Und wir drei sahen, wie der Anwalt jetzt aus seinem Ulster ein kurzes, dickes Brecheisen hervorzog, wie er zum tödlichen Hiebe ausholte.

Harst war mit zwei Sätzen neben ihm, packte zu.

Das Weib – es war Lukretia Rapivari – schrie auf.

Lenk kam Harald zu Hilfe, denn Gravenna wehrte sich wie ein Verzweifelter.

Handschellen schnappten um seine Gelenke.

„So,“ meinte Harst, „nun ist das satanische Spiel aus, Herr Gravenna! Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie uns auch gleich verraten haben, wo Ihre Genossen sich befinden – im Nebenzimmer, als harmlose Hotelgäste natürlich! – Lenk, wir werden Fräulein Rapivari das zweite Paar Handschellen anlegen – oder besser Frau Rapivari, denn diese gefährliche Dame dürfte des Professors erste Gattin sein, eine geborene Gravenna, wie Graf Sartillo uns mitzuteilen wußte.“

Lukretia wehrte sich nicht. Sie gab ihre Sache verloren. Ich mußte die beiden Gefangenen dann bewachen, während Lenk und Harst sofort hinüber nach Nr. 44 gingen, wo ein italienischer Arzt Doktor Mincio mit seiner Frau wohnte. Diese wurden so vollständig überrumpelt, daß sie gleichfalls ohne Schwierigkeiten verhaftet und nach dem Polizeipräsidium geschafft werden konnten. Hier in Lenks Dienstzimmer mußten die vier Verbrecher warten, bis auch Leonardo Rapivari durch Lenk festgenommen worden war. Gegen halb zwölf mittags hatten wir die fünfköpfige Bande beisammen, und Harald stellte nun die inzwischen telephonisch herbeigerufene Generalin Helgerbach den Verhafteten gegenüber, fragte, ob der blondbärtige Gravenna der Größe und der Figur nach dem Herrn ähnlich sehe, der damals morgens auf das Gebüsch zugeschritten sei.

Die Generalin bejahte. „Der Herr trug allerdings eine Brille,“ fügte sie hinzu.

„Dann sind Sie der Mörder!“ erklärte Harst und blickte Gravenna durchdringend an. „Dieses ganze ungeheuerliche Komplott ist nun enthüllt. Sie, Professor Rapivari, merkten, daß die Baronesse Paterno sich für Sie interessierte. Da ließen Sie Ihre erste Gattin mit Hilfe Doktor Mincios zum Schein sterben, ließen sie später aber als Ihre Schwester wieder auftauchen. Sie hatten es auf die Millionen der Paternos abgesehen. Ihr Schwager Gravenna half Ihnen dann, Ihr Opfer in ein Netz von Lüge und Heimtücke einzuspinnen. Er muß es verstanden haben, Frau Biankas Vertrauen sich zu erschleichen. Vielleicht hat er ihr, die bereits auf Lukretia eifersüchtig war, vorgeredet, ihr Gatte betrüge sie, und er wolle ihr behilflich sein, den Professor einer Untreue zu überführen, wobei Gravenna so getan haben mag, als ob er Rapivari haßte. Jedenfalls verkehrte er mit Frau Bianka ganz insgeheim und bestellte sie für jenen 23. September an den entlegenen Platz in das Gebüsch zu einer Besprechung, wo er sie dann erschlug, jedoch nicht mit dem losgesprengten Eisenteil der Lokomotive, sondern mit einem scharfkantigen Instrument – vielleicht demselben Brecheisen, das vorhin im Esplanade-Hotel den Baron Paterno beseitigen sollte. – Daß das Eisenstück der Maschine die Mordwaffe nicht gewesen sein konnte, sah ich sofort. Die Stirnwunde hätte, falls durch diesen Gegenstand hervorgerufen, eine ganz andere Form haben müssen. Immerhin wollte Gravenna, als nach der Explosion das Eisenstück außerhalb des Gebüsches krachend niederfiel, es dazu benutzen, einen Unfall vorzutäuschen. Nachdem dann aber durch die in den Zeitungen so viel erörterte Filmaufnahme den Verbrechern, die die Millionen der Palermos an sich bringen wollten, bekannt geworden, daß ich mich mit dem „Extrazug“ beschäftigt hatte, wurde von der Bande der Gedanke, den Tod Biankas als Unglücksfall hinzustellen, aus Angst vor einer Einmischung meinerseits aufgegeben und der Professor zu mir geschickt, der das, was er Schraut und mir berichtete, sehr schlau den Tatsachen anpaßte, gleichzeitig aber auch die raffinierte Komödie einleitete, die die Anstifter und Mitwisser dieses Mordes in ein undurchdringliches Dunkel hüllen sollte. Wenn ich trotz dieses Ränkespiels allmählich der Wahrheit doch auf die Spur kam, so hatte ich dies nur zwei Umständen zu verdanken: erstens der Dummheit Rapivaris, die Erscheinung seiner verschwundenen Gattin in den spiritistischen Zirkeln heraufzubeschwören, und zweitens der Frau Generalin Helgerbach, die mir gestattete, ihr Speisezimmer in Augenschein zu nehmen, wo ich sehr bald herausfand, daß die eine Füllung der Verbindungstür sich entfernen und wieder einsetzen ließ. Ich behaupte daher: Lukretia Rapivari hat den „Geist“ Frau Biankas gespielt, der sich vor dem schwarzseidenen Vorhang bei den Sitzungen zeigte –“

Harald brauchte nichts weiter über den Fall Rapivari zu erläutern, da jetzt Doktor Mincio sich meldete und ein umfassendes Geständnis ablegte, daß Harsts Kombinationen in den Hauptpunkten bestätigte. –

Als wir beide nachmittags gegen zwei Uhr wieder nach Hause fuhren, sagte Harald zu mir so nebenbei:

„Es war natürlich kein Zufall, daß ich in den Zeitungen nach dem Namen des Barons Paterno als eines hiesigen Hotelgastes suchte. Nein – der Professor hätte ja Frau Bianka nie zur Abfassung dieses Testaments gedrängt, das den Baron zum Haupterben machte, wenn die Bande nicht schon damals die Absicht gehabt hätte, auch Paterno vielleicht zu ermorden. Ich sagte mir, daß man Paterno vielleicht hier nach Berlin gerufen hatte, um ihn hier „abzutun“, wo der geheimnisvolle Liebhaber „Weinreich“ sein Wesen trieb. – Wünschest Du noch etwas aufgeklärt zu haben, mein Alter?“

„Danke. Wer all dies miterlebt hat – diese ganze raffinierte Komödie, der sieht jetzt völlig klar. Niemals wäre auf den Professor und dessen Helfershelfer ein Schatten von Verdacht gefallen, wenn sie eben nicht die Torheit begangen hätten –“

„Schon gut,“ fiel Harald mir ins Wort. Unser Auto hielt vor Blücherstraße 10. – Aber – noch ein anderes Auto hielt hier.

Und dieses brachte uns den nächsten „Fall“:

 

Das Geheimnis der Kabine Nr. 24.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band


























108:
109:
110:
111:
112:
113:
114:
115:
116:
117:
118:
119:
120:
121:
122:
123:
124:
125:
126:
127:
128:
129:
130:
131:
132:
133:
134:
135:

Die Motorjacht ohne Namen.
Der Kampf gegen Lionel Barring.
Das Geheimnis der Tokkara-Höhle.
Die große Null.
Das Geheimnis des Bosporus.
Anna Karstens Amulett.
Der Mann mit dem Glasauge.
Der Kopf des Maharadscha.
Die Treppe des Todes.
Dr. Groupys Verhängnis.
Das Geisterschiff.
Der Tennisschläger der Rani.
Der Mann am Kreuze.
Tawa Burru, der Verrückte.
Das Piratendorf.
Die Hexenküche.
Das Geheimnis von H. O. 3.
Die Gräfin mit den Kormoranen.
Der Bouillonkeller 113.
Der tote Tümmler.
Das Erbe der Verschollenen.
Das Geheimnis der Dabri-Fälle.
Die Faktorei auf der Toteninsel.
Das gestohlene Auto.
Das Rätsel der Spielkarten.
Die Diamanten des Bettlers.
Die Photographien d. Sennor Trimaldo.
Der Kokain-Klub.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hier wurde in den ersten Auflagen die zweite Geschichte als Hefttitel angegeben, in späteren Auflagen dagegen die Erste. Siehe dazu auch unter „Zusätzliche Informationen“.
  2. In der Vorlage steht: „Atentat“.
  3. In der Vorlage steht: „im“.
  4. „Röling“ / „Röhling“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Röhling“ geändert.
  5. In der Vorlage steht: „Komissar“.
  6. Hier fehlt in der Vorlage eine Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  7. In der Vorlage steht: „Leornardo“.