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Das Geheimnis der Kabine 24

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 74:

 

Das Geheimnis der Kabine Nr. 24[1]

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1922.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

Das Fährschiff.

Mit dem „Geheimnis der Kabine Nr. 24“ beginnt eine Reihe von Abenteuern, die man mit Recht als Nordland-Abenteuer bezeichnen könnte, da ihr Schauplatz hauptsächlich das landschaftlich so abwechslungsreiche Norwegen ist.

Die Kriminalfälle und seltsamen Geschehnisse, die mein Freund Harald Harst dort in Nordland aufklären konnte, gehören mit zu den eigenartigsten und aufregendsten, die er je in Arbeit hatte. –

Am 3. Oktober kehrten wir im Auto gegen drei Uhr nachmittags heim. Wir waren beide müde und abgespannt, denn „Die Höllenmaschine Doktor Blucks“ mit ihrem verworrenen Nachspiel hatte uns volle 32 Stunden hintereinander in Atem gehalten.

Vor dem Harstschen Familienhause in Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 10, stand ein Taxameterauto. Als wir unseren Kraftwagen verließen und Harald noch den Chauffeur bezahlte, kam die Köchin Malwine bereits durch den Vorgarten uns entgegengeeilt.

„Es ist ein Herr aus Norwegen da,“ sagte sie ganz atemlos. „Der Herr ist furchtbar erregt und rennt im Garten hinten vor Unruhe auf und ab. Hier ist seine Visitenkarte.“

Die Karte zeigte den Aufdruck:

Doktor Sigurd Olavsen,
prakt. Arzt,

Christiania[2],

Kungsgatan 38.

„Herr Doktor Olavsen wird sich etwas gedulden müssen,“ meinte Harald. „Ich habe Hunger. Ist das Mittagessen bereit, Malwine?“

„Jawohl, Herr Harst!“

Da sahen wir auch schon einen jüngeren Herrn mit blondem Schnurrbart aus der Haustür treten.

„Ah – endlich!“ rief er und winkte mit der Hand, schritt hastig auf uns zu und zog den Hut.

„Mein Name ist Olavsen,“ sagte er in gutem Deutsch. „Ich komme direkt aus Saßnitz vom Fährschiff „Preußen“[3], Herr Harst. Meine Schwester ist während der Überfahrt von Schweden nach Rügen spurlos von dem Fährschiff verschwunden. Daß sie ins Wasser gestürzt sein könnte, ist ausgeschlossen –“

Man merkte ihm an, wie sehr er in Sorge um diese Schwester war. Er machte einen recht sympathischen Eindruck, dieser Sigurd Olavsen, und die Angst, die in seinen blauen ehrlichen Augen lag, bestimmte denn auch Harst, freundlich zu erwidern:

„Wir, mein Freund Schraut und ich, haben seit vielen Stunden nichts genossen. Wenn Sie uns bei Tisch Gesellschaft leisten oder an unserer Mahlzeit teilnehmen wollten, könnten Sie uns alles Wichtige mitteilen.“

Olavsen nahm die Einladung ohne weiteres dankend an.

Er erzählte dann folgendes:

Er lebte in Christiania mit seiner Schwester Thora zusammen, besaß dort ein eigenes Haus, das er von seinen Eltern geerbt hatte und das zur Hälfte auch Thora gehörte.

Diese war seit drei Monaten mit dem Schiffskapitän Holger Boomlund verlobt. Die Hochzeit sollte Ende November stattfinden. Thora hatte nun einen Teil ihrer Wäscheausstattung in Berlin einkaufen wollen, wo sie ein halbes Jahr bei einer verheirateten Freundin sich aufgehalten und Malstunden genommen hatte.

Die Geschwister waren am 2. Oktober morgens mit dem Schnellzug von Christiania abgefahren, hatten heute früh 2 Uhr in Trelleborg, dem kleinen schwedischen Hafen, das Fährschiff Preußen bestiegen, das stark besetzt war, und nahmen im Speisesaal gleich nach der Abfahrt das Frühstück ein. Weiter in See zeigte sich das Meer jedoch so stark bewegt, daß Thora Olavsen, die zur Seekrankheit neigte, sich eine Kabine geben ließ. Die Schiffsaufwärterin wies ihr die Kabine Nr. 24 an. – Doktor Olavsen hatte sich, nachdem seine Schwester sich in Kleidern auf eins der beiden Betten gelegt hatte, wieder an Deck begeben, wo er sich in einem Liegestuhl in seine Zeitungen vertiefte.

Unterhalb der Küste von Rügen war die See ruhiger. Als die Kreidefelsen von Stubbenkammer in Sicht kamen, hatte der Arzt seine Schwester wecken wollen.

Er klopfte mehrmals an die Kabinentür. Niemand meldete sich. Er öffnete daher, fand die Kabine jedoch leer. Nun begann er seine Schwester zu suchen. Er glaubte, sie hätte die Kabine bereits verlassen.

Niemand hatte die junge Dame gesehen. Ein Teil des Schiffspersonals beteiligte sich bald bei diesen immer eifrigeren Bemühungen, Thora irgendwo zu entdecken.

Der Trajekt Preußen hatte inzwischen den Hafen von Saßnitz erreicht, und die unten im Schiffe stehenden schwedischen D-Zugwagen sollten nun auf die Schienen an Land geschoben werden.

Thora war nicht zu finden. Nochmals wurde jetzt das ganze Schiff abgesucht. Doktor Olavsen blieb an Bord, nachdem festgestellt war, daß seine Schwester sich auch nicht in den Eisenbahnwagen aufhielt. Diese wurden auf die Geleise gedrückt, und für die Reisenden begann nun die Zollabfertigung in der nahen Halle.

Der junge Arzt wurde immer besorgter und ratloser. Er meldete den Vorfall telephonisch der Polizei in Saßnitz, die sofort die Kabine Nr. 24 abschließen ließ, nachdem nunmehr erwiesen war, daß Thora während der Überfahrt verschwunden sein mußte.

Doktor Olavsen benutzte sodann den D-Zug nach Berlin, um hier die Hilfe meines Freundes anzurufen. Er hatte sich dann vom Stettiner Bahnhof direkt nach der Blücherstraße begeben. –

Dies teilte er uns mit, während wir den Speisen alle Ehre antaten.

Auch Olavsen zeigte einen gesegneten Appetit. Seine Aufregung hatte sich gelegt. Er betonte, daß er nun wieder guten Mutes sei, wo er sich Harst anvertraut hätte. „Sie werden Thora finden, daran zweifele ich nicht,“ meinte er. „Ihr Abhandenkommen muß ja eine harmlose Aufklärung finden, wie ich mir jetzt selbst sage. Thora hätte ja nicht den geringsten Grund gehabt, etwa in die See zu springen. Und durch einen unglücklichen Zufall kann sie auch nicht in die See gestürzt sein. Sie ist gesund und kräftig, sportgeübt und schwimmt vorzüglich. Nein – es wird sich hier wohl wieder um irgend eine von Thoras Extravaganzen handeln. Sie hat mir schon mancherlei zu raten aufgegeben.“

Er lächelte nachsichtig. „Thora ist nämlich durchaus keine sogenannte kühle, abgeklärte Nordländerin, Herr Harst,“ fügte er hinzu. „Sie besitzt Temperament und liebt es auch, allerlei kleine Geheimnisse vor mir zu haben.“

Harald hatte bisher den jungen Arzt nicht unterbrochen.

Jetzt fragte er, indem er Messer und Gabel weglegte:

„Wie kamen Sie auf den Gedanken, Herr Doktor, sofort zu mir zu fahren?“

„Der Saßnitzer Polizeiwachtmeister riet es mir. Er sagte, Sie hätten vor zwei Jahren in Saßnitz zu tun gehabt. Daher kennt er Sie persönlich. Er scheint ein glühender Bewunderer Ihrer berühmten Persönlichkeit zu sein.“

„Wann fährt die Preußen wieder nach Trelleborg?“

„Morgen mittag. Der Polizeiwachtmeister rechnete damit, daß Sie sich die Kabine Nr. 24 ansehen würden, Herr Harst. Deshalb schloß er sie auch ab.“

„Das war sehr verständig von ihm. – Wir werden mit dem Abendzug nach Saßnitz fahren, Herr Doktor.“

„Oh – wie soll ich Ihnen nur danken, Herr Harst!“

Die Köchin Malwine betrat wieder das Speisezimmer und reichte Harald eine Depesche.

Er öffnete sie, las dann vor:

Harald Harst, Berlin-Schmargendorf.

Beide Koffer Fräulein Thora Olavsens von unbekanntem Mann in Empfang genommen, der den Gepäckschein im Besitz hatte. Mann verschwunden.

Polizeiwachtmeister Bließke, Saßnitz.

„Ah – und Thora hatte ihr Geld in dem kleineren Koffer!“ rief der Doktor jetzt mit einem Gesicht, das wieder überaus ängstlich aussah.

„War es viel?“ fragte Harald.

„15 000 Kronen wollte sie mitnehmen. Sie besitzt ihr eigenes Vermögen. Wir sind reich, Herr Harst. Mein Vater war Fabrikbesitzer und hatte auch drei eigene Dampfer.“

„Wir wollen den Kaffee auf der Veranda trinken,“ meinte Harst etwas zerstreut.

Doktor Olavsen mußte ein sehr unausgeglichener Charakter sein. Man sah ihm an, daß er sich jetzt wieder seiner Schwester wegen schwere Sorgen machte. Und soeben war er noch so zuversichtlich gewesen. Ein merkwürdiger Mensch!

Harald trank zwei Schlückchen Kaffee und fragte dann:

„Worin äußerten sich die extravaganten Neigungen Ihrer Schwester, Herr Doktor? Und – welcher Art waren ihre kleinen Geheimnisse?“

Olavsen strich sich nervös den Schnurrbart glatt.

„Das läßt sich so im einzelnen schwer aufzählen, Herr Harst. Es sind alles Belanglosigkeiten. Sie raucht zum Beispiel leidenschaftlich Zigaretten, trinkt gern schweren Wein, unternimmt oft tagelange Ausflüge mit ihrem Motorrad, ohne mich davon irgendwie zu verständigen, korrespondiert mit ihren Bekannten meist postlagernd, selbst mit ihrem Verlobten, und verbrennt alle Briefe sofort, läßt mich nie einen sehen, obwohl zu dieser Heimlichtuerei doch wahrlich kein Grund vorhanden ist.“

„Wann war Ihre Schwester zu längerem Aufenthalt hier in Berlin?“ fragte Harst.

„Sie kehrte erst vor einem halben Jahr, im April, nach Christiania zurück. Dann lernte sie Holger Boomlund kennen. Von ihrer Seite war es wohl Liebe auf den ersten Blick, wie man zu sagen pflegt. Boomlund ist ein sehr stattlicher Mann.“

„Und von seiner Seite?“

„– Ist es die Liebe eines reifen Mannes, der über die Zeiten leidenschaftlicher Schwärmerei hinaus ist.“

„Wo befindet der Kapitän sich jetzt?“

„Wahrscheinlich in Kopenhagen. Er führt den großen Frachtdampfer „Haugesund“, der dem Reeder Westrup in Christiania gehört. Von Kopenhagen sollte die Haugesund nach Stettin gehen. In Stettin wollten Thora und ich mit Holger zusammentreffen.“

„Wie heißt Ihrer Schwester hier in Berlin verheiratete Freundin?“

„Frau Lotte Ruperti. Sie wohnt Lützowstraße 102. Ihr Mann ist Rechtsanwalt, Doktor Hans Ruperti –“

„Ruperti? – Den kenne ich ja persönlich. – Entschuldigen Sie uns einen Augenblick, ich möchte Ruperti einmal anläuten. Schraut, Du könntest zur Post gehen.“

Wir ließen den jungen Arzt auf der Veranda allein.

In seinem Arbeitszimmer sagte Harald leise, als er den Hörer vom Telephon nahm:

„Du brauchst Olavsens Mienen nicht so zu belauern, mein Alter. Der Doktor ist ein durchaus harmloser Mensch, der keinerlei Mißtrauen verdient. Anders steht es mit Fräulein Thora. Ihre „kleinen“ Geheimnisse scheinen recht bedeutungsvoll gewesen zu sein: postlagernder Briefwechsel, plötzliche Ausflüge per Motorrad, starker Wein – Hinter alledem steckt etwas –“

Er verlangte dann Rupertis Büronummer. Der Bürovorsteher teilte ihm jedoch mit, daß Herr und Frau Ruperti seit drei Tagen in Bad Harzburg weilten und daß sie vor dem zehnten Oktober kaum zurückkehren würden.

„Schade,“ meinte Harald. „Nun werde ich telephonisch eine Depesche an die Kopenhagener Polizei aufgeben, unter „dringend“. Die Antwort lasse ich nach Saßnitz postlagernd senden.“

Er rief das nächste Postamt an. – Das bestellte Telegramm hatte folgenden Wortlaut:

Polizeiinspektor Drombör, Kopenhagen, Polizeidirektion.

Bitte feststellen, ob Kapitän Boomlund vom Frachtdampfer Haugesund heute dort anwesend war. Wenn nicht, seit wann abwesend und wohin gereist. Antwort Saßnitz postlagernd. Gruß Harald Harst.

„Man muß hier möglichst zahlreiche Fühler ausstrecken,“ sagte er dann zu mir. „Der Bürovorsteher Rupertis gab mir das Pensionat Arnhelm in Harzburg an. Dort wohnt das Ehepaar. Ich werde auch an Ruperti depeschieren.“

Dieses zweite Telegramm lautete:

Bitte um Auskunft, ob Thora Olavsen, deren Bruder wegen plötzlichen Verschwindens Thoras sehr in Sorge, während Berliner Aufenthalt Beziehungen zu irgend einem Herrn hatte. Antwort recht erschöpfend Saßnitz postlagernd. – Gruß Harald Harst.

„Du merkst,“ erklärte er darauf, „daß ich hier eine Art Liebestragödie vermute. Olavsen wird uns hierüber auch so ein wenig Auskunft geben können. Ich werde ihn fragen, ob seine Schwester auch vor ihrer Berliner Reise sich ihre Briefe postlagernd senden ließ. Ist dies nicht der Fall gewesen, dann hat sie eben mit jemandem in Berlin, den sie hier kennengelernt hatte, insgeheim Briefe wechseln wollen.“

Wir gingen wieder in die Veranda zurück.

Olavsen erklärte auf Harsts Frage, Thora habe erst nach ihrer Rückkehr aus Berlin die „Schrulle“, ihre Postsachen selbst abzuholen und jeden Brief zu verbrennen.

„Und die Ausflüge, Herr Doktor? Sind auch die erst seit dem April erfolgt?“

„Ja. Thora kaufte sich im Mai das Motorrad. Es ist eine sehr starke Maschine.“

„Wie oft unternahm sie derartige plötzliche Fahrten?“

„Hm – vier Mal war sie fünf bis sechs Tage abwesend.“

„Fand einer dieser Ausflüge auch nach ihrer Verlobung statt? Die Verlobung war wohl im Juli?“

„Ja – am 28. Juli. Seitdem ist Thora nicht mehr längere Zeit von Hause fortgeblieben.“

Harald blickte sinnend durch das offene Fenster in den klaren Herbsthimmel. „Herr Doktor,“ sagte er dann ernst, „ich bin jetzt schon überzeugt, daß Ihre Schwester hier in Berlin während ihres Aufenthaltes bei Rupertis etwas erlebt hat, das zu ihrem jetzigen Verschwinden in Beziehung steht. Alles weitere wird sich wohl in Saßnitz ergeben.“

 

2. Kapitel.

Das wimmernde Kind.

Gleich nach unserer Ankunft in Saßnitz begaben wir beide uns zum Postamt. Olavsen blieb im Hotel Meeresblick, wo wir abgestiegen waren.

Der Postbeamte vom Nachtdienst machte ein sehr verdutztes Gesicht, als Harald seinen Namen nannte und nach postlagernden Depeschen fragte.

„Können Sie sich legitimieren?“ meinte er dann.

„Bitte. Hier ist mein Ausweis.“

„Oh – dann bin ich allerdings getäuscht worden, Herr Harst,“ sagte der Beamte ärgerlich. „Um zwölf Uhr, also vor einer viertel Stunde etwa, habe ich die Depeschen einem Herrn ausgehändigt, der sich für Harald Harst ausgab.“

„Können Sie mir wenigstens den Wortlaut der Telegramme noch mitteilen?“

„Ja. Natürlich. Einen Augenblick bitte.“ Er schloß das Schalterfenster, entfernte sich und gab Harst dann nach fünf Minuten ein Blatt Papier mit dem Text beider Depeschen.

Wir lasen folgendes:

  1. Harald Harst, Saßnitz, postlagernd, Deutschland – Rügen.

Boomlund gestern 2. Oktober morgens von hier nach Malmö übergesetzt und heute 7 Uhr abends zurückgekehrt. Stehe zu weiterem gern zur Verfügung. Gruß Inspektor Drombör.

  1. Harald Harst, Saßnitz-Rügen, postlagernd.

Nichts dergleichen bekannt. Bitte Nachricht, was vorgefallen. Frau Lotte Ruperti – Harzburg.

Dann verließen wir das kleine Postamt und wanderten durch die stillen Straßen nach dem Hotel zurück.

„Boomlund kann dasselbe Fährschiff, die Preußen, benutzt haben,“ sagte Harald nachdenklich. „Vielleicht ein Eifersuchtsdrama – vielleicht!“

„Dann müßte er sich gerade verkleidet haben. Die Geschwister hätten ihn sonst doch erkannt. Und – ein Schiffskapitän dürfte sich auf so etwas kaum verstehen!“

„Das ist richtig, mein Alter. Und doch: weshalb verließ er Kopenhagen?! Weshalb gerade zu derselben Zeit, als die Olavsens Malmö passieren mußten?! Das bleibt verdächtig; das darf man nicht außer Betracht lassen. Am besten wäre, der Doktor beriefe ihn telegraphisch für heute abend nach Trelleborg. Dort werden ja auch wir inzwischen dann eingetroffen sein. Ich möchte diesen Boomlund persönlich sprechen.“ –

Die Straßen in Saßnitz laufen bergan, bergab. Der Hafenort klebt ja an der hohen Rügenküste wie eine Ansammlung menschlicher Schwalbennester.

Die Herbstnacht war dunkel und stürmisch. Das Brandungsgeräusch hallte in den engen Gassen verstärkt wider.

Als wir nun eine steile Steintreppe hinabstiegen, blieb Harald plötzlich stehen und deutete auf den Hafen hinab. Aus zwei erleuchteten Fenstern des nächsten Hauses traf uns ein schwacher Lichtschein.

„Ein hübsches Bild,“ meinte Harald. „Diese dunklen Schiffssilhouetten mit den vielen Lichtpünktchen wirken recht romantisch –“ – Und ganz leise: „Es ist jemand hinter uns!“

Da erst dachte ich wieder an den Mann, der die beiden Depeschen unberechtigterweise abgeholt hatte. Merkwürdig, daß ich ihn über dem Inhalt des Kopenhagener Telegramms völlig vergessen hatte! Dabei war seine Person doch so wichtig – so sehr wichtig, denn – wahrscheinlich war’s ja derselbe, der Thoras Koffer sich angeeignet hatte und der nun beobachten wollte, was wir weiter tun würden. –

Harald schien zu lauschen.

Alles blieb still. Um uns her war es jetzt gleichfalls dunkel geworden. Das Licht in den beiden Fenstern war erloschen.

Wir standen im Finstern. Harald hatte sich halb umgedreht. „Die Sache läuft nicht gut ab,“ murmelte er. „Ich habe eine feine Witterung für –“

Er schwieg.

Unter uns lagen der Rest der Treppe und die Gasse wie ein Tunnel, der weiß Gott wohin führte.

Und aus diesem Tunnel war ein leises Wimmern zu uns emporgedrungen wie die Klagelaute eines Kindes, das seinen Schmerz zu verheimlichen sucht.

Was bedeutet am hellen Tage, in anderer Umgebung und unter anderen Umständen ein solches Wimmern?! Es regt unser Mitleid flüchtig an, und wir denken: Es wird wohl nicht so arg sein!

Wie so ganz anders nahmen sich die kindlichen Laute hier aus! Welche Bedeutung erhielten sie, als nun aus derselben Finsternis ein halb unterdrückter englischer Fluch erklang, dem die vor Wut halb gezischten Worte folgten – ebenfalls in englischer Sprache:

„Halte der Bestie den Mund zu! Es war mir vorhin, als käme jemand die Treppe hinab!“

Harald brachte seinen Mund dicht an mein Ohr:

„Ducke Dich zusammen! Zieh’ Dir im Sitzen die Schuhe aus!“

Ich tat’s. Und ich sah undeutlich, daß auch Harst die Schnürstiefel abstreifte.

„Warte hier,“ hauchte Harald mir abermals ins Ohr. „Ich glaube, wir haben es mit Einbrechern zu tun! Das, was ich vorhin für Schritte hinter uns hielt, werden Geräusche vor uns gewesen sein! Der Wind und das Lärmen der Brandung übertönen alles!“

Er huschte die Stufen hinab, nachdem er mir seine Stiefel in die Hand gedrückt hatte.

Ich sah, wie seine tief gebückte Gestalt in dem grauen Touristenanzug immer mehr mit der Finsternis verschmolz.

Nun war er ganz verschwunden.

„Warte hier!“ hatte er befohlen. – Ich wußte, er liebte keine Eigenmächtigkeiten. Aber nach etwa fünf Minuten packte mich die Angst – die Angst um den, der mein Freund war und zugleich ein Beschützer aller Bedrängten.

Fünf Minuten! Was konnte in dieser Zeitspanne nicht alles passiert sein. Man konnte Harald hinterrücks niedergeschlagen haben; man konnte –

Da – was war das soeben gewesen?! – Ein paar wimmernde Töne! Und dann ganz undeutlich ein neuer Fluch!

Ich konnte nicht länger hier untätig ausharren. Ich mußte Harald nach!

Ich schob die beiden Stiefelpaare ganz ans Ende der Stufe, schritt nun langsam Stufe für Stufe abwärts.

Wer Saßnitz kennt, kennt auch diese Treppe, die längste und steilste im Orte. Der kennt auch das Pensionat Fortuna, das alte, einstöckige Haus, das auf der dritten Terrasse dicht an der linken Seite der Treppe steht und ihr den Giebel mit zwei Fenstern zukehrt.

Noch vier Stufen etwa. – Da – wieder ein schnell verstummendes Wimmern.

Ich hatte mich halb zurückgebogen. Der hellgraue Giebel des Hauses zur linken Hand ragte über den hohen Bretterzaun hinweg. Und in dem Giebel standen die beiden unteren Flügel des einen Fensters offen. Und – von dorther war das Wimmern gekommen – aus dem Fenster.

Ein knorriger Birnbaum ragte hinter dem Zaun empor. Seine entlaubten Zweige, vom Winde bewegt, strichen mit seltsamen Tönen über die Scheiben des anderen Fensters und die Zinkrinne des Daches hin.

Nun dort oben im offenen Fenster eine Gestalt – Harsts weiche Reisemütze über einem verschwommenen Gesichtsfleck – und ein Arm, der eifrig winkte.

Die Gestalt verschwand.

Also das Fenster – also dort oben! – Der Weg war vorgezeichnet: der Zaun, der Birnbaum. Man mußte von einem der Äste sich in das Fenster hinüberschwingen können.

Ich kletterte empor. Unsereiner hat schon andere Wege gewählt, um irgendwo einzusteigen.

Ich bekam das Fensterkreuz zu packen; ich saß auf dem Fenster, die Beine nach innen. Und – plötzlich eine jäh aufsteigende Regung des Mißtrauens.

„Harald!“ flüsterte ich in die Finsternis hinein.

Meine Augen lernten das Dunkel zerlegen.

Da war mir gegenüber eine offene Tür, weiter hinten eine zweite.

Und dort flammte jetzt für Sekunden ein Lichtschein auf.

„Harald!“ flüsterte ich nochmals, obwohl ich bereits den ersten Schritt auf die Tür zu getan hatte.

Keine Antwort. Ich eilte rascher auf die Tür zu, faßte in die Tasche. Hatte die kleine elektrische Lampe in der Hand, suchte mit dem Daumen den Knopf.

Und fühlte von rückwärts zwei Hände um meinen Hals, erhielt einen Stoß, flog halb zur Seite auf eine federnde Bettmatratze. Lag unter dem heimtückischen Angreifer, merkte, wie mir eine eisige Flüssigkeit über das Gesicht lief: Äther – Äther mit Chloroform vermischt, – und wußte, daß es hier kein Entrinnen gab, daß es am klügsten war, recht schnell eine Betäubung vorzutäuschen.

Doch der Mann über mir war vorsichtig, lockerte die Hände, ließ mich dreimal keuchend atmen.

Ein Schwindel riß mich in einen bodenlosen Abgrund hinab. –

Ich konnte nicht lange bewußtlos gewesen sein. Ich wurde mir langsam klar über meine Lage. Ich befand mich noch auf derselben Matratze scheinbar, und Hände und Füße waren mir an die Knöpfe der Bettpfosten straff festgebunden, so daß ich nur mit dem Rücken die Matratze berührte.

Im Munde steckte mir ein Knebel, dessen Schnur bis ins Genick lief und tief in die Wangen einschnitt.

Um mich her dieselbe Finsternis. Und um mich her allerlei Geräusche, die jedoch von draußen kamen: das Scharren der Birnbaumzweige an den Scheiben und an der Zinkrinne, das Brandungsgeräusch – ganz schwach nur.

Und jetzt – jetzt noch etwas.

Ja – ein Knarren – so, wie ein Holzbett knarrt.

Das Knarren ertönte hier in demselben Raume. Es verstummte, erklang von neuem; es war eine gewisse Gleichmäßigkeit in diesem Knarren; es waren längere und kürzere Töne.

Da – lang, kurz, kurz – lang, kurz, kurz – lang, lang.

Ein Gedanke – für mich gar nicht so fern liegend: das war Harst, der ebenfalls auf einem Bett festgebunden war und der es absichtlich zum Knarren brachte.

Ich mußte Antwort geben, zerrte an den linken Fußfesseln, an den rechten, zog das Bein schärfer an.

Da – auch mein Bett knarrte unter dem auf den Knopf des Bettpfostens ausgeübten Druck.

Ich versuchte es abermals; ich lernte es, das Knarren zu meistern: – lang, kurz, kurz – lang, kurz, kurz – lang, lang.

Denn das war ja das Anfangszeichen unserer besonderen Telegraphie! –

Ich gab nun genau auf Haralds Zeichen acht und stellte dann folgendes zusammen:

„Geniale Falle. Abwarten, bis hell.“

Meine Antwort lautete: „Verstanden. Befinden gut. Nur unbequeme Lage.“

Harst meldete sich nicht mehr. – Ich hatte nicht übertrieben: die Lage auf dem Bett war sogar mehr als unbequem! Um dem Kopfe eine Stütze zu geben, mußte ich ihn ganz weit nach hinten hängen lassen. – Und dann der Knebel im Munde! Das war vielleicht das Peinvollste! Alle Versuche, ihn mit der Zunge herauszustoßen, waren umsonst.

Mit der Zeit starben mir die Arme und Beine ab. Und es wollte und wollte nicht hell werden!

Um mich abzulenken, überlegte ich mir das Vorgefallene nochmals mit allen Einzelheiten. Ich war jetzt überzeugt, daß es nur ein einzelner Mann gewesen, der uns so nacheinander überwältigt hatte. Das Wimmern des Kindes hatte er nachgeahmt; er hatte auch geflucht; alles war darauf berechnet gewesen, daß wir auf dem Heimwege von der Post denselben Weg zum Hotel wählen und die Treppe wieder benutzen würden.

Aber – wer war dieser Mann?! Kapitän Boomlund konnte es nicht sein. Der weilte jetzt wieder in Kopenhagen. – Jedenfalls war es jemand, der mit dem Verschwinden Thora Olavsens etwas zu tun hatte, eben derselbe Mensch, der mit Hilfe des richtigen Gepäckscheins deren Koffer an sich gebracht und der auch irgendwie erfahren hatte, daß Harst hier Depeschen abholen würde.

Haralds Behauptung, daß ein Verehrer Thoras hier eine Rolle spiele, schien ja allerdings durch die Antwortdepesche der Frau Lotte Ruperti widerlegt. Er hatte sich hierzu jetzt noch nicht äußern können. Ich war gespannt, wie er nun über den Fall dachte. –

Endlich begann dann der Morgen zu grauen – endlich! Allmählich wich die Dunkelheit in dem großen Zimmer. Ich sah, daß die Fenster geschlossen und die gelben Sonnenvorhänge zugezogen waren, sah weiter, daß Haralds Bett dem meinen gegenüber an der anderen Querwand stand.

Wir konnten uns jetzt anblicken. Harst bewegte wie grüßend den Kopf.

Ich – ich war bereits zu schwach dazu. Meine Arm- und Fußgelenke schmerzten derart, daß ich dauernd gegen Ohnmachtsanfälle ankämpfte.

Und – was half es uns, daß es nun Tag wurde?! Unsere Fesseln waren so geschickt angelegt, daß wir uns unmöglich selbst befreien konnten. Ja – wenn wir noch hätten rufen können! Aber auch das war ja ausgeschlossen.

Und wieder schlichen die Minuten hin. Mit umflortem Blick sah ich die Sonne unsere Kerkerfenster bescheinen. Es mußte also mindestens neun Uhr vormittags sein.

Eine träge Frage wurde immer wieder in meinem Hirn lebendig: Was sollte werden, wenn es uns nicht gelang, uns zu befreien?! Noch ein paar Stunden und wir waren so erschöpft, daß wir uns nicht mehr bewegen konnten!

Was sollte werden?! – Da – ein Gedanke, eine geringe Hoffnung: unsere Stiefel standen ja auf der Treppe! Doktor Olavsen würde unser Verschwinden der Polizei melden, und der eifrige und tüchtige Wachtmeister Bließke würde nichts unversucht lassen, uns zu finden.

Aber – auch dieser winzige Hoffnungsschimmer erlosch ebenso schnell wieder.

Wie sollte Bließke auch nur auf die Vermutung kommen, daß wir –

Da – mein Gedankenfaden riß jäh entzwei. – Harst begann wieder zu telegraphieren:

„Mut – eine Rettungsfahne draußen am Fenster!“

Das war’s, was ich mir Buchstabe für Buchstabe zusammenstellte.

Rettungsfahne?! Was sollte das?! Und – draußen am Fenster?! Wie kam eine Fahne dorthin?! Was wußte Harald davon? Hatte etwa er –

Und – nun die Erleuchtung; nun hob ich den Kopf, blickte zu Harald hinüber.

Seine Krawatte, sein lila und mattrot gestreifter Selbstbinder, fehlte! – Ich hatte begriffen: dieser Selbstbinder hing draußen irgendwo am Fenster! Harald hatte ihn also dort irgendwo befestigt, bevor er hier ins Zimmer stieg, hatte also doch Mißtrauen gehegt, eine Falle geargwöhnt!

Ja – die Krawatte mußte auffallen! Und Olavsen würde sie wiedererkennen! Sie würde Wachtmeister Bließke den Weg weisen!

Was doch die Hoffnung alles tut! Meine Schmerzen waren vergessen; meine Mattigkeit war wie weggezaubert.

 

3. Kapitel.

Auf der Preußen.

Aber – erst nach weiteren zwei Stunden hörte ich draußen auf der Treppe Stimmen, dann nach einer Weile eine helle Knabenstimme dicht am Fenster:

„Een Schlips, Herr Wachtmeester!“

Wieder fünf Minuten nichts.

Und dann wurde die einzige Tür unseres Zimmers aufgestoßen. Drei Männer traten ein: Bließke, ein Hafenpolizist und Olavsen!

Wir wurden losgebunden. Ich taumelte wie ein Trunkener.

Und Haralds Frage, ob das Fährschiff Preußen bereits abgefahren, war mir so vollständig gleichgültig.

„Vor drei Minuten, Herr Harst,“ erwiderte Bließke.

„Dann rasch ein schnelles Motorboot für uns! – Eilen Sie, Bließke! Wir müssen die Preußen einholen!“ –

Der Hotelbesitzer Dankert stellte uns sein Motorboot zur Verfügung. Außerdem wurde die Preußen durch Funkspruch verständigt, daß wir an Bord wollten.

Um ½12 mittags war das Fährschiff abgedampft. Um 12 jagten wir vier – Bließke hatte durchaus mitkommen wollen – und Dankert hinterdrein.

Wir saßen in der kleinen Kajüte. Dankert steuerte und gab auf den Motor acht.

„Sind unsere Schuhe auf der Treppe gefunden worden?“ fragte Harald und biß dann tüchtig in eins der belegten Brötchen hinein, die Dankert vorsorglich mitgenommen hatte.

„Ja, aber nicht auf der Treppe, Herr Harst,“ erwiderte Bließke, „sondern oben bei der Kreidefabrik auf einem Feldweg.“

„Sonst etwas Neues?“

„Nichts, Herr Harst. Die Kabine Nr. 24 ist noch verschlossen. Hier habe ich den Schlüssel – bitte.“

Harald steckte ihn zu sich, fragte wieder:

„Hatte die Preußen heute viele Passagiere?“

„Gegen hundert, Herr Harst.“

Harald wandte sich an Olavsen „Sie müssen, sobald wir an Bord der Preußen sind, eine Funkendepesche nach Kopenhagen an Boomlund senden und die Antwort nach Trelleborg erbitten. Boomlund soll sofort nach Trelleborg kommen. Telegraphieren Sie:

Thora etwas zugestoßen. Erwarte Dich Bahnhof Trelleborg sofort.

Falls Boomlund ausweichend antwortet, besagt das genug.“

Der junge Arzt schüttelte den Kopf. „Aber Herr Harst, Sie werden doch nicht etwa Boomlund verdächtigen, hierbei irgendwie –“

„Bitte – irgendwie ist er beteiligt!“ fiel Harald ihm ins Wort. „Ich glaube auch schon zu wissen, was geschehen wird: Boomlund wird antworten, daß er die Verlobung von seiner Seite als gelöst betrachte und daß er an Thora keinerlei Interesse mehr hätte.“

„Oh – da irren Sie sich!“ meinte Olavsen sehr bestimmt. „Wie sollte Holger wohl derart handeln können?! Er hat doch gar keinen Grund dazu!“

„Er hat einen Grund, Herr Doktor! Mag auch Frau Ruperti zurückdepeschiert haben, daß sie nichts von Beziehungen Ihrer Schwester zu einem Herrn wisse: Diese Beziehungen haben bestanden und haben auch dieses Unglück verschuldet.“

Olavsens Augen weiteten sich. „Ein Unglück?! Mein Gott, nehmen Sie wirklich an, Thora könnte etwas Ernstliches zugestoßen sein?!“

„Wir wollen hoffen, daß es nicht der Fall ist! Obwohl ich, um ehrlich zu sein, fürchte, daß –“

Im selben Moment rief Dankert in die Kajüte hinein:

„Die Preußen ist in Sicht und hat beigedreht!“

„Was fürchten Sie, Herr Harst?“ fragte Olavsen, der erregt aufgesprungen war.

„Daß Sie Ihre Schwester nie wiedersehen werden, Herr Doktor –“

„Wie – etwa ermordet?!“

„Nein – nicht ermordet. – Doch darüber möchte ich mich erst später genauer äußern –“ –

Fünf Minuten nachher waren wir an Bord des großen Fährdampfers. Dankert fuhr mit dem Motorboot nach Saßnitz zurück.

Die Passagiere umdrängten uns neugierig. Es hatte sich schon herumgesprochen, daß der Liebhaberdetektiv Harald Harst hier auf der Preußen das Verschwinden einer jungen Norwegerin aufklären wolle.

Wir begaben uns sofort in die Kajüte des Kapitäns, der uns mit einem Glase Wein bewillkommnete und dann die Depesche an Boomlund absenden ließ.

Nachdem wir jeder zwei Glas Rotwein getrunken hatten, führte der Kapitän uns nach unten auf das Hauptdeck, wo in dem Gange unter der Brücke die Kabine Nr. 24 lag.

Wir blieben vor der Tür stehen. Harald trat allein ein. Er begann die Kabine nun ganz systematisch zu durchsuchen. Das dauerte etwa eine Stunde. Der Kapitän hatte sich inzwischen wieder entfernt.

Die Durchsuchung schien ergebnislos verlaufen zu sein. Wenigstens hatte Harald, so weit wir von draußen hatten beobachten können, nichts gefunden – keinen Gegenstand, der von uns bemerkt worden wäre.

Er kam jetzt in den Gang hinaus, sagte kurz:

„Dies wäre erledigt –“

„Und – ohne Erfolg?!“ platzte Olavsen enttäuscht hervor.

„Nein, das nicht, Herr Doktor. Kehren wir in die Kapitänskajüte zurück –“

Hier nahmen wir wieder Platz, und Harst faßte nun in die Tasche und holte dreierlei hervor:

Sechs lange blonde Haare, die er zu einem Knäuel zusammengewickelt hatte; dann ein Stückchen einer bräunlichen Masse von etwa Erbsengröße; schließlich noch einen Herrenkragenknopf.

Er fragte nun Olavsen, indem er ihm die blonden Haare hinhielt:

„Können das Haare Ihrer Schwester sein?“

„Ja. Sie war hellblond.“

„Diese Haare sind mit einer Schere abgeschnitten worden. Sie lagen vor dem Türspiegel des Wandschränkchens auf dem Teppich. – Hatte Ihre Schwester auch hellblonde Augenbrauen?“

„Ja. Aber die Brauen waren etwas dunkler als das Kopfhaar.“

„Nun – und dies hier ist ein Stückchen von einem dunkelbraunen Augenbrauenstift, wie ihn Damen zum Verstärken oder Färben der Brauen benutzen. Dieses Stückchen lag gleichfalls auf dem Teppich. – Herr Doktor, trug Ihre Schwester Blusen mit anknöpfbaren Kragen?“

„Nein, niemals. Nur halsfreie Blusen, im Winter solche mit Stehkragen von demselben Stoff.“

„Dieser Kragenknopf ist ganz neu. Er war in das Bett gefallen, auf dem Ihre Schwester angekleidet gelegen hatte. Man wird ihn gesucht und nicht gefunden haben.“

„Und – und was soll das alles?!“ fragte Olavsen verwirrt.

„Das alles ist der Beweis für die Richtigkeit meiner Vermutung, die jedoch erst zur Gewißheit werden soll, bevor ich mich darüber äußere. Jetzt werden wir, Schraut und ich, in der Kabine 24 bis Trelleborg einen Teil des versäumten Nachtschlafes nachholen.“ –

Wir waren in Nr. 24 allein. Harald verriegelte die Tür, machte es sich bequem und legte sich auf das eine Bett.

„Hm – würdest Du nicht wenigstens mir –“ begann ich, wurde aber unterbrochen.

„Ist es wirklich noch nötig, Dir etwas zu erklären?!“ meinte er.

„Daß Thora Olavsen sich hier in der Kabine verkleidet hat –“

„– als Mann –“

„– ja, als Mann, das weiß ich natürlich. Sie ist in dieser Verkleidung unbehelligt von Bord gegangen, hat ihre Koffer abgeholt und – und – wozu das alles!?“

„Es gibt da wohl nur eine Möglichkeit,“ gähnte Harald und rückte sich das Kopfkissen zurecht.

„Ja – sie ist mit einem oder besser dem Berliner Verehrer entflohen!“

„Ganz recht –“

„Wer ist dieser Verehrer?“

„Du bist etwas anspruchsvoll. Den Namen kenne ich nicht. Ich weiß nur, daß es ein sehr intelligenter, sehr energischer, sehr rücksichtsloser und auf dem Gebiete des Verbrechens recht bewanderter Mensch sein muß.“

„Also – ein Verbrecher?“

Wieder gähnte Harst. „Vielleicht, mein Alter! Wenn Du Dein wertes Hirn besser zu benutzen verständest, würdest Du Dir noch eine besondere Eigenschaft dieses Mannes herausklügeln können – eine sehr wichtige, die unsere Sache mit einem Schlage klärt und die mich auf eine bestimmte Spur geführt hat.“

„Ah – und die wäre?“

„Eine sehr naheliegende. – Doch jetzt will ich schlafen. Gute Nacht –“

Er drehte sich der Wand zu, und ich mußte schweigen.

Ich legte mich gleichfalls nieder und schlief auch sehr bald vor Erschöpfung ein.

Harald weckte mich dann aus diesem todähnlichen Schlummer, sagte überlaut:

„Aufstehn! Wir sind in Trelleborg! Und – wir sind um eine Botschaft reicher. – Da, dieser Zettel lag dort unter dem Bullauge (rundes Kabinenfenster), das ja weit offenstand und in das man vom Promenadendeck zum Beispiel mit einer Schirmspitze – der Zettel ist ja durchlocht – ganz bequem ein Stück Papier hineindirigieren kann.“

Ich las folgendes:

Herr Harst, lassen Sie die Finger von dieser Sache weg! Die Gefangenschaft im Pensionat Fortuna in Saßnitz, das nach der Saison nur von einer alten Frau bewohnt und beaufsichtigt wird, hätte Sie warnen sollen! Wir lassen nicht mit uns spaßen! Thora Olavsen hat nur die Strafe erhalten, die sie verdiente. Wenn Sie von Trelleborg nicht sofort nach Berlin zurückkehren, geht es Ihnen schlecht! Wir sind unser drei – alles Leute mit einer Vergangenheit, an der dieses Weib schuld ist! Hüten Sie sich!

Die Handschrift war gut verstellt. Zum Schreiben war ein Tintenstift benutzt worden. Das Papier war ein halber Bogen sogenannten überseeischen Briefpapiers.

„Hm!“ meinte ich zweifelnd.

„Ja – Bluff!“ lächelte Harald. „Nun aber schnell an Deck! Ich will die Passagiere mit Hilfe des Kapitäns einzeln mustern.“

 

4. Kapitel.

Das grauhaarige Weib.

Diese Prüfung hatte keinerlei Ergebnis, obwohl sie sehr streng durchgeführt wurde. Auch Olavsen war dabei und mußte sich die Fahrgäste recht genau ansehen.

Kaum war dies erledigt, als auch schon ein schwedischer Depeschenbote an Bord kam und nach Doktor Olavsen fragte. Er brachte die Antwort Holger Boomlunds:

Muß leider Verlobung aufheben. Hatte gegen Thora schon längere Zeit Verdacht. Vor Abfahrt der Preußen traf sie heimlich auf Bahnhof Trelleborg mit einem Herren im Wartesaal zusammen, mit dem sie sehr vertraut stand. Ihr durch Zeitungen hier schon bekanntes Verschwinden dürfte nichts als Flucht mit diesem Liebhaber sein. Bedauere mich, wie ich Dich bedauere. Boomlund.

Olavsen hatte Harald die Depesche gereicht. Wir vier – Wachtmeister Bließke war ebenfalls dabei – standen auf dem Achterschiff an der Reling.

„Das – das ist unmöglich!“ meinte der junge Arzt. „So etwas würde Thora nie tun! Nie! Sie hat Holger sehr lieb gehabt!“

„War sie denn im Wartesaal hier eine Zeit allein?“ fragte Harald.

„Ja. Sie wollte sich Zigaretten kaufen.“

„Merkten Sie ihr eine gewisse Erregung an, als sie sich Ihnen nachher wieder zugesellte?“

„Ja – jetzt, wo Sie mich darauf aufmerksam machen, erinnere ich mich tatsächlich, daß sie ganz rot und atemlos war, als sie –“

„Schon gut. – Gehen wir an Land. Sie bleiben hier in Trelleborg, Herr Doktor. Schraut und ich fahren weiter nach Malmö und Kopenhagen. Ich muß Boomlund persönlich sprechen.“

Bließke und der Doktor gingen voran.

„Es waren nur drei Schirme mit dünnen eisernen Stöcken dabei,“ flüsterte Harald mir hastig zu. „Du verstehst: eine solche Schirmspitze war durch den Zettel gebohrt!“

„Und – was beabsichtigst Du?!“

„Im Zuge bis Malmö die „Richtige“ herauszufinden.“

„Also Thora Olavsen?“

„Ja. Eine von den drei Schirmbesitzerinnen war eine alte Dame mit kleinem Hut, grauem Scheitel, gesticktem Schleier und Hornkneifer. Sie kam mir gleich etwas eigentümlich vor. – Nun – warten wir den Erfolg ab!“

„Aber – dann müßte doch auch der Liebhaber Thoras an Bord gewesen sein!“

„Weshalb?! – Nein, mein Alter, der wird erst – sterben müssen, glaube ich!“

„Soll das ein Witz sein?!“

„Durchaus nicht. Es ist eine neue Vermutung.“

Olavsen drehte sich jetzt um und sagte:

„Der Zug nach Malmö geht in einer halben Stunde ab, Herr Harst. Weshalb wollen Sie mich eigentlich nicht mitnehmen nach Kopenhagen?“

„Es ist besser, Sie bleiben hier, Herr Doktor. Wozu die Aufregung, die eine Aussprache mit Boomlund für Sie notwendig mit sich bringt?! – Entschuldigen Sie. Ich will Fahrkarten besorgen.“

Er eilte voraus. – Der Bahnhof in Trelleborg liegt ein Stück vom Hafen ab. Als wir drei den Vorraum betraten, war Harald nirgends zu finden.

Wir wurden immer unruhiger und besorgter. Der Schalterbeamte erklärte uns dann, ein bartloser Herr habe keine Fahrkarten bis Malmö gekauft.

Wo war Harst geblieben?! Wo nur?!

Wir lösten Bahnsteigkarten und suchten den Zug ab. Ich gab acht, ob die alte Dame noch anwesend war. Sie hatte, wie wir wußten, eine Karte erster Klasse bis Göteborg gehabt, und – sie war nicht im Zuge, obwohl bis zur Abfahrt nur noch zehn Minuten Zeit waren.

Ich überlegte mir diesen Zwischenfall nun sorgfältiger. Harst war uns auf dem Wege zum Bahnhof bald aus den Augen gekommen. Und – die Grauhaarige fehlte ebenfalls! Ob er etwa hinter dieser her war?!

Wir begaben uns vor das Bahnhofsgebäude. Hier hielten zwei Droschken. Olavsen mußte die Kutscher ausfragen.

Der eine erklärte, es habe hier ein Auto gestanden, in dem eine ältere Dame mit einer großen Reisetasche davongefahren sei. Dann sei ein Herr gekommen und habe sich von dem einen Hoteldiener ein Rad geliehen, dem er vierhundert Kronen als Pfand gab. Der Herr radelte sehr eilig auf dem Hauptwege der Stadt zu. Dorthin war auch das Auto verschwunden.

Nun wußten wir Bescheid: Harald war wirklich der Dame gefolgt! –

Der Zug nach Malmö fuhr ab. Wir waren unschlüssig, was wir tun sollten. Wir blieben dann auf dem Bahnhof und setzten uns in den Wartesaal.

Es war jetzt fünf Uhr nachmittags. Die Abenddämmerung nahte; es wurde sechs Uhr, sieben Uhr. Kein Harst fand sich ein.

Wir drei saßen und schwiegen und warteten mit steigender Sorge.

Ich dachte an den Zettel, an die Warnung.

Sollte der Fall Thora Olavsen doch vielleicht ganz anders liegen, als wir bisher vermutet hatten?! Spielten hier vielleicht doch weit ernstere Dinge mit?!

Um halb acht betrat dann der Kapitän der Preußen den Wartesaal.

„Ah – finde ich Sie endlich!“ meinte er atemlos. „Ich wußte doch, daß Sie noch hier in Trelleborg bleiben würden, lieber Bließke. Ich habe eine Depesche für Sie – bitte.“

„Nanu?!“ kopfschüttelte der Wachtmeister. „Depesche?! Her damit!“

Er riß sie auf, las.

Und sein Gesicht erstarrte förmlich.

Dann winkte er mir zu. „Einen Moment, Herr Schraut –“

Wir gingen in den Vorraum.

„Lesen Sie!“ sagte er dumpf.

Ich nahm die Depesche. Ich ahnte, was darin stehen würde, – und ich hatte mich nicht geirrt.

„Weibliche Leiche in Männerkleidung mit durch Schläge unkenntlich gemachtem Gesicht bei Binz an Land gespült. Bitte womöglich mit Harst sofort zurück. – Gemeindevorstand Saßnitz.“

„Das ist Thora Olavsen,“ sagte Bließke leise.

Ich nickte nur. Ich war, obwohl ich dies vorausgeahnt hatte, doch völlig sprachlos vor Entsetzen.

Also doch ein Mord! – Und – wo war Harald?! Wo war er gerade jetzt, da wir ihn so nötig brauchten?!

Bließke schaute mich ängstlich an. „Ob wir’s dem Doktor noch verschweigen, Herr Schraut?“

„Ja. Wir –“ – Mir blieb das Wort im Munde stecken, denn – durch die Haupttür war soeben Harald eingetreten, der sich auf einen schwedischen Polizeibeamten stützte und um die Stirn einen weißen Verband trug.

Ich eilte ihm entgegen.

„Es ist nichts!“ beruhigte er mich. Aber seine Stimme klang sehr matt. „Wirklich nichts – nur ein Streifschuß, nichts weiter –“

„Du warst mit dem Rade hinter dem Auto –“

„Ja – hinter dem Auto her, das vor der Stadt abbog. An einer Biegung verlor ich es aus den Augen. Als ich die Biegung erreicht hatte, kam es mir entgegen. Aber – der Chauffeur war verschwunden, und das Weib steuerte, raste auf mich los, schoß dreimal, und ich sank vom Rade. – Wir haben schon festgestellt, daß das Auto durch eine Depesche von Saßnitz aus hier bei einem Autoverleiher bestellt worden war. Das Weib hat dann dem Chauffeur hinter der Biegung zu halten befohlen, hat ihn niedergeschlagen und ist entkommen. Nun sind jedoch bereits alle Ortschaften in der Nähe telephonisch verständigt. Thora Olavsen wird sehr bald gefaßt werden.“

Da gab ich Harald die Depesche, die Bließke erhalten hatte.

Er las, stierte auf das Papier, murmelte:

„Also nicht er – sie mußte sterben! Welch ein Verbrecher!“

„Was sollen wir nun Olavsen sagen?“ meinte ich zögernd.

„Er ist Arzt. Er wird die Wahrheit vertragen.“

Ja – er war Arzt. Aber – wie mußte er seine Schwester geliebt haben, daß er so völlig fassungslos sich seinem Schmerze hingab und wie ein Kind weinte! –

Um neun Uhr abends fuhren Harald und ich nach Malmö und dann weiter nach Kopenhagen, wo wir um Mitternacht eintrafen. Wir begaben uns sofort zum Hafen, fanden auch die Liegestelle des Dampfers Haugesund und ließen den Kapitän durch die Deckwache wecken.

Boomlund kleidete sich notdürftig an und holte uns dann in seine Kajüte.

„Sie müssen uns genau erzählen,“ begann Harald sehr ernst, „weshalb Sie gegen Thora schon längere Zeit Mißtrauen hegten und was in Trelleborg von Ihnen beobachtet wurde. Ich will Ihnen die traurige Wahrheit nicht verhehlen: Thora Olavsen ist ermordet worden!“

Holger Boomlund bedeckte die Augen mit der rechten Hand und saß eine lange Zeit völlig regungslos da.

Dann ließ er die Hand sinken. Sein wetterbraunes, hübsches und doch so männliches Gesicht war zur Maske tiefsten Seelenschmerzes erstarrt.

„Sie sollen alles erfahren,“ sagte er leise. „Thora war mir von Anbeginn unserer Bekanntschaft ein Rätsel. In Christiania ist sie unter dem Namen „Thora mit dem Spleen“ fast – berüchtigt. Und doch – ich verliebte mich in sie, weil ich merkte, daß auch sie Gefallen an mir fand. Wir verlobten uns. Und damit begannen für mich die seelischen Martern. Heute war sie von wilder Zärtlichkeit, morgen von verletzender Kälte. Das wechselte wie Regen und Sonnenschein – grundlos, ganz plötzlich. Dieses widerspruchsvolle Verhalten machte mich sehr bald stutzig. Ich bin kein Jüngling mehr und kenne das Leben und die Menschen. Ich beobachtete Thora schärfer und gelangte so allmählich zu der Überzeugung, daß sie eine andere Liebe in ihrem Herzen trage und daß ich ihr helfen solle, diesen Anderen zu vergessen. Ich deutete dies ihr gegenüber auch an. Sie leugnete nicht, gab aber auch nichts zu, sondern umklammerte mich und flüsterte: „Rette mich, Holger, – rette mich vor mir selber!“ – Sie tat mir jetzt leid, Herr Harst, und in letzter Zeit änderte sich auch ihre Unausgeglichenheit, besserte sich. Dann sah ich sie vier Tage vor ihrer Abreise, wie sie aus dem Hauptpostamt in Christiania kam. Sie war leichenblaß und schritt wie eine Schlafwandlerin dahin. Am Hafen setzte sie sich auf eine Bank und zog einen Brief aus ihrem Handtäschchen –“

Er schwieg einen Augenblick und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

„Sie ist ja nun tot. Ich brauche nichts mehr zu verheimlichen. Ich will jedoch alle Einzelheiten fortlassen. Diese Erinnerungen sind so peinvoll für mich. – Sie zerriß den Brief, nachdem sie ihn gelesen hatte, und streute die Schnitzel ins Wasser. Ich habe vier Papierstückchen herausgefischt. Sie bewiesen mir, daß der Brief von einem Manne herrührte, der Thora mit „Du“ anredete und sie –“

„Eine Zwischenfrage,“ fiel Harald ihm ins Wort. „War der Brief in deutscher Sprache abgefaßt?“

„Ja.“

„Besitzen Sie die Schnitzel noch?“

„Nein. So etwas hebt man sich nicht auf.“

„Schade. – Diese Brieffetzen verrieten Ihnen, daß Thora sich mit dem Manne in Trelleborg treffen wollte?“

„Ja. Es stand da: „Wartesaal Trelle–“ Das andere fehlte. Aber ich reimte mir das Richtige zusammen und –“

„– und wurden Zeuge der Begrüßung zwischen den beiden –“

„Thora flog dem Manne an die Brust –“

„Wie sah der Mann aus?“

„Er hatte einen dunklen kurzen Vollbart, trug eine Hornbrille mit grauen Gläsern und war elegant gekleidet. – Ich hatte die Tür des Wartesaales nur ein wenig geöffnet, schloß sie sofort wieder und kehrte in einer sehr, sehr traurigen Gemütsverfassung in die Stadt zurück. Ich hatte Thora aufrichtig geliebt. Nun – nun war alles aus zwischen uns. Mein Verdacht hatte sich bestätigt: ihre wahre Liebe war der Andere!“

„Mehr können Sie über diesen Mann wohl nicht angeben?“

„Nein. Ich sah ihn ja nur halb von der Seite und ganz flüchtig.“

Holger Boomlund bat Harst nun, ihm mitzuteilen, was bisher über Thoras Tod bekannt sei.

Harald berichtete ihm alles: von Doktor Olavsens Besuch bei uns und von unserem Abenteuer in Saßnitz, von dem Überfall durch die Grauhaarige in Trelleborg und dem letzten Telegramm, das die Auffindung der weiblichen Leiche mit dem durch Schläge unkenntlich gemachten Gesicht meldete.

Der Kapitän hatte wieder die Augen mit der Hand bedeckt. Sein Gesicht zuckte vor mühsam zurückgedrängtem Schmerz.

Dann fragte er leise:

„Werden Sie den Mörder finden, Herr Harst?“

Harald schwieg erst, erwiderte dann laut und klar:

„Er ist gefunden!“

Boomlund ließ die Hand sinken. Auch ich starrte Harst überrascht an.

„Es bedürfte nur noch des Beweises, daß der Liebhaber Thoras wirklich ein Deutscher ist,“ fügte er hinzu. „Diesen Beweis liefert der Brief, dessen Schnitzel Sie aus dem Wasser herausgefischt haben!“

„Und – wer ist’s?“ meinte der Kapitän gespannt, und seine sonngebräunten Hände schlossen sich zu Fäusten.

„Ein Mann von hervorragender Intelligenz, der stets viel Glück bei Frauen gehabt hat, – ein Mensch, auf den die Bezeichnung „faszinierende Persönlichkeit“ zutrifft, – ein gewissenloser Schürzenjäger, der schon viel Unheil angerichtet, – ein Gelehrter, der das Verbrechen an den Quellen studiert hat –“

„Und der Name?“ keuchte Boomlund mit verzerrtem Gesicht.

„Was besagt ein Name?! Sie kennen den Mann nicht, wenn Sie auch seinen Namen fraglos wiederholt gehört haben. Warten Sie noch drei Tage, dann erfahren Sie auch den Namen!“

„Dann bin ich bereits mit meinem Dampfer in Stettin. Ich gehe heute früh in See –“

„Ah – das trifft sich gut. Sie passieren ja Rügen, Herr Kapitän. Nehmen Sie uns mit. Dann brauchen wir nicht erst nach Trelleborg zurück. In Saßnitz lassen Sie uns dann ausbooten.“

„Ich werde vor Saßnitz vor Anker gehen, Herr Harst. Ich will Thora noch einmal sehen. Sie hat gesühnt. Sie mag diesem Anderen mit Leib und Seele verfallen gewesen sein, kam von ihm nicht mehr los. Sie war nicht schlecht. Nein – sie hatte bei mir Schutz vor diesem Anderen gesucht. Aber – er war stärker als sie! Es gibt ja eine Liebeshörigkeit, wie man im Altertum die Sklaverei als Hörigkeit bezeichnete. Und – diese Liebeshörigkeit hat Thora den Tod gebracht. Doch – weshalb dieser Mord, Herr Harst, – weshalb?!“

„Gewinnsucht – Raubmord!“ erklärte Harald sehr bestimmt.

Boomlund schüttelte den Kopf. „Der 15 000 Kronen wegen, die Thoras Koffer enthielt?! Deswegen ein Mord?!“

„Der Koffer kann auch Thoras ganzes Barvermögen enthalten haben, was ich übrigens als sicher annehme. Der Mörder hat Thora eben in jenem Briefe, dessen Schnitzel Sie fanden, überredet, mit ihm zu fliehen. Und da wird sie in aller Stille ihr Geld abgehoben haben.“

 

5. Kapitel.

Um Minuten.

Nachmittags warf der Dampfer Haugesund vor Saßnitz Anker.

Die Leiche war in einem Raume des Gemeindehauses vorläufig untergebracht. Doktor Olavsen, den wir von Kopenhagen aus davon benachrichtigt hatten, daß wir direkt nach Saßnitz führen, war hier zusammen mit Bließke schon um zwei Uhr eingetroffen und hatte in der Toten seine Schwester sofort wiedererkannt.

Bereits um 6 Uhr verließen wir beide Saßnitz mit dem D-Zuge und fuhren über Stralsund nach Berlin, wo wir um 11 Uhr eintrafen.

Harald war während der Reise stumm wie ein Fisch. Ich sah es ihm an, daß ihn irgend etwas quälte. Erst als wir vor dem Stettiner Bahnhof in Berlin ein Auto bestiegen hatten und als er dem Chauffeur als Ziel „Polizeipräsidium Alexanderplatz“ genannt hatte, sagte er zu mir:

„Wenn meine Kombinationen, was die Person des Mörders betrifft, nicht stimmen, dann dürfte dieses Verbrechen nie aufgeklärt werden. Ich hätte nicht nach Kopenhagen fahren, sondern in Trelleborg bleiben und der Grauhaarigen nicht von den Fersen weichen sollen, denn – sie war der Mörder. Das leere Auto hat man ja noch an demselben Abend in der Nähe von Trelleborg gefunden. Wer weiß, was Freund Lenk dazu sagen wird!“ –

Dann begrüßten wir den langen Lenk, der uns sofort mit den Worten empfing:

„In allen Zeitungen steht bereits, daß Harald Harst das Verschwinden der Norwegerin aufzuklären sucht. Und heute brachten die Abendblätter die Nachricht von dem Leichenfund bei Binz. – Sie haben den Mörder ermittelt. Harst, – das sehe ich Ihnen an!“

„Ich hoffe es. Setzen wir uns. Urteilen Sie selbst, Lenk, ob mein Belastungsmaterial genügt. – Sie kennen den Rechtsanwalt Ruperti doch persönlich, nicht wahr –“

Ah – endlich ein Name – der Name! – Ruperti also! Niemals wäre ich auf Ruperti gekommen!

„Ja, ich kenne ihn, natürlich! So ein bekannter Strafverteidiger, nebenbei noch Liebhaberdetektiv wie Sie!“

„Ruperti ist seit sechs Jahren mit einer Norwegerin, die sehr reich war, aber weder äußere noch geistige Vorzüge besitzt, verheiratet. Der Ehe sind zwei Kinder entsprossen. Ruperti ist als Weiberheld ebenso berüchtigt wie als geistvoller Verteidiger berühmt. Nebenbei spielt er, treibt Sport, ist Jäger, schießt sehr gut, liebt es, in Verkleidungen Verbrecherkaschemmen zu besuchen –“

„Das stimmt alles,“ nickte Lenk. „Weiter nur!“

„Am 30. September ist er mit den Seinen nach Bad Harzburg gereist. Dorthin telegraphierte ich Thora Olavsens wegen. Die Antwort war „Lotte Ruperti“ unterzeichnet, obwohl ich mich doch nicht an seine Frau, sondern an ihn gewandt hatte. Dies fiel mir auf. – Dann zweitens: Thora Olavsen hat bei Rupertis ein halbes Jahr gewohnt. Konnten sich da nicht zwischen Ruperti und Thora Beziehungen angesponnen haben?! – Drittens: Thora ließ sich alle Briefe – erst nach ihrer Rückkehr aus Berlin – postlagernd senden. Sie wollte also verhüten, daß ihr Bruder erführe, mit wem sie Briefe wechselte. Einer dieser Briefe, von einem Deutschen, geriet zum Teil in die Hände ihres Verlobten. Der Liebhaber Thoras war also ein Deutscher – konnte also Ruperti sein! – Viertens: Wenn es Ruperti war, dann war auch eine Erklärung dafür gegeben, weshalb der Liebhaber Thora nicht heiratete, weshalb diese Heimlichkeiten mit dem Briefwechsel nötig waren: Ruperti war ja bereits verheiratet! – Und fünftens: Ruperti schießt vorzüglich! Und die Grauhaarige schoß ebenfalls glänzend – auf mich! Wie durch ein Wunder kam ich nur mit einem Streifschuß davon. – So, wenn wir nun bedenken, daß Ruperti bartlos ist, sich gut zu verkleiden versteht, dann –“

Lenk war aufgesprungen.

„Und wenn wir hier feststellen, daß er nicht in Harzburg in den letzten drei Tagen war –“

„Worauf das von seiner Frau unterzeichnete Antworttelegramm hindeutet,“ ergänzte Harald.

„– Dann soll er uns beweisen, wo er gewesen! – Harst, wir fahren noch heute abend!“ –

Als wir drei am folgenden Vormittag gegen zehn Uhr durch die Straßen Harzburgs dem Pensionat Arnhelm zuwanderten, sagte Lenk ehrlich:

„Mir ist etwas beklommen zu Mute. Wir werden Ruperti gegenüber keinen leichten Stand haben! Er ist mit allen Hunden gehetzt. Er wird für ein Alibi gesorgt haben –“

„Das sich leicht nachprüfen läßt,“ erklärte Harald gelassen. „Ich fürchte nur, er wird nicht anzutreffen sein –“

„Entflohen?“

„Nein – gar nicht mehr nach Harzburg zurückgekehrt! Ich bin überzeugt, er hat sich gesichert, ist gestern bis Berlin hinter Schraut und mir her gewesen und weiß, daß wir Sie sofort aufsuchten, lieber Lenk. Wenn er dann noch beobachtet hat, wie wir gestern abend Fahrkarten nach hier lösten, dann – wird er sich wohl selbst sagen, daß wir es auf ihn abgesehen haben. – Ich habe ja scharf aufgepaßt, ob jemand uns beobachtete. Aber ein Ruperti versteht seine Sache!“

Lenk blieb stumm. – Wir waren vor der mitten in einem Garten liegenden Villa angelangt. – Gleich darauf standen wir der Pensionsinhaberin gegenüber. Lenk legitimierte sich als Kriminalkommissar, fragte dann:

„Herr Rechtsanwalt Ruperti aus Berlin wohnt doch hier bei Ihnen, Fräulein Arnhelm?“

„Gewiß, gewiß!“ bestätigte die hagere, etwas säuerlich-liebenswürdige Pensionsmama. „Allerdings ist zur Zeit nur seine Gattin mit den beiden Kindern anwesend. Er selbst ist verreist. – Sie kommen wohl in irgend einer Strafsache, Herr Kriminalkommissar? Herr Ruperti ist ja ein so berühmter Verteidiger –“

„Seit wann mag er wohl verreist sein, Fräulein Arnhelm?“ fragte Lenk, indem er ein ärgerliches Gesicht schnitt. „So ein Pech, ihn nicht anzutreffen!“ fügte er noch hinzu.

„Seit – ja seit vier Tagen, seit Dienstag. Er sagte noch beim Abschied zu mir: „Kneifen Sie nur den Daumen, Arnhelmchen! Ich will einen Verbrecher abfassen!“ – Es ist ja ein so reizender Herr! Stets so vergnügt! Für jeden hat er ein freundliches Wort!“

„Ob Frau Ruperti bereits zu sprechen ist?“

„Sie sitzt hinten im Garten im Liegestuhl. Sie ist sehr elend, die arme Frau Rechtsanwalt –“ –

Wir gingen um das villenähnliche Haus herum in den Garten.

Ach – daß dieses sieche, bleiche Geschöpf einem Manne von Rupertis Charakter nicht genügen konnte, sah man auf den ersten Blick.

Harald machte jetzt hier den Sprecher. Lenk hatte ihn darum gebeten. Nachdem wir uns Frau Ruperti vorgestellt hatten, erhob sie sich mit matten Bewegungen aus ihrem Liegestuhl und schaute nun Harst aus weiten, gram- und angsterfüllten Augen prüfend an.

„Ihr Herr Gemahl ist nach Schweden gereist, gnädige Frau,“ begann Harald. Dieser einleitende Satz klang mehr wie eine Behauptung, und sollte doch eine Frage sein.

„Ja, nach Malmö, Herr Harst –“

„Sie besinnen sich auf meine Depesche, gnädige Frau.“

„Ah – Sie kommen Thora Olavsens wegen. Ich las das Furchtbare schon in den Zeitungen. Ist sie wirklich ermordet worden?“

„Ja – von – ihrem Liebhaber –“

„Das – das ist wohl ausgeschlossen! Thora sollte – nein, nein, – sie war doch verlobt, und –“

„– und unterhielt trotzdem Beziehungen zu einem Herrn, dem man eine fast unheimliche Macht über Frauen zuschreibt, einem verheirateten Manne –“

Frau Ruperti schoß jetzt das Blut in starker Welle zu Kopfe, flutete zurück und machte das schmale Antlitz noch bleicher. Die blaugrauen Augen des armen Weibes flammten ebenso plötzlich auf. Haß und Verachtung lohten in diesem Blick, der jetzt noch durchdringender auf Harst ruhte.

„Sagen Sie mir nur die Wahrheit!“ meinte sie mit tonloser Stimme. „Es gibt nichts, was ich diesem Manne nicht zutraue! Mein Vermögen hat er vergeudet; mich hat er seelisch gemordet. Weshalb soll er da nicht auch Thora umgarnt haben, der ich, wenn es so wäre, nicht einmal zürnen könnte! Denn – was vermag ein Weib gegenüber den raffinierten Künsten eines Ruperti, denen ich ja vor Jahren selbst unterlegen bin!“

Harald holte jetzt den Drohbrief, den er in der Kabine Nr. 24 gefunden, hervor und zeigte ihn Frau Ruperti.

„Die Handschrift ist sorgfältig verstellt,“ sagte er. „Trotzdem dürfte jemand, der Ihres Gatten Schrift genau kennt, geringe Ähnlichkeiten herausfinden.“

Frau Ruperti lachte plötzlich schrill auf. „Wünschen Sie, daß ich es beschwöre, daß er dies geschrieben?! Ich kann’s jeden Augenblick! Jeden! Es ist seine Schrift, wenn auch verstellt! Sie ist’s! Also – jetzt noch die Gattin eines Mörders! Auch das noch! Freilich – konnte mir denn überhaupt noch irgend etwas an der Seite dieses Mannes zustoßen, das mich noch unglücklicher werden läßt als ich es schon bin?! Hätte ich nicht meine Kinder, ich lebte nicht mehr!“

Sie sank erschöpft in den Liegestuhl zurück.

Was sollten wir hier noch?! Sie trösten? Gab es denn einen Trost für diese Ärmste?!

Wir verabschiedeten uns. Harald allein drückte Frau Ruperti teilnehmend die Hand. –

Vor dem Hause trafen wir Fräulein Arnhelm. Sie stand an der Gitterpforte und blickte die Straße nach links entlang, wandte sich jetzt nach uns um und meinte:

„Warten Sie nur einen Augenblick, meine Herren. – Der Herr Rechtsanwalt hatte nur vergessen, ein eiliges Telegramm aufzugeben. Er kam gerade vom Bahnhof –“

Wir schauten uns gegenseitig an. Und Harald fragte dann hastig: „Sie sagten ihm, daß Kriminalkommissar Lenk nach ihm gefragt hätte und daß Schraut und ich in Lenks Begleitung waren?“

„Natürlich, Herr Harst –“

„Und er eilte dann nach links die Straße hinab?“

„Ja – zum Postamt – mit seiner Reisetasche –“

Wir drei liefen plötzlich wie gehetzt davon.

Er hatte ja nur wenige Minuten Vorsprung! Und doch! Ihm genügten sie! – Hiermit begann die aufregendste aller Verbrecherjagden, die wir je unternahmen.

 

 

Die Steinhütte am Buarbrä

 

1. Kapitel.

Frau Rupertis Brief.

Diese Ereignisse spielten sich erst im Mai des folgenden Jahres ab. Die dazwischen liegenden Monate waren ausgefüllt durch Haralds schwere Erkrankung an Grippe, durch den achtwöchigen Kuraufenthalt in Meran und den sich anschließenden in Nizza.

Erst am 5. Mai kehrten wir beide wieder nach Berlin zurück, Harald in die Arme seiner freudestrahlenden Mutter, ich mit nicht geringerer Freude in meine beiden Zimmer, die ich im Harstschen Hause bewohnte und die ja meine wahre Heimat bildeten.

Auf meinem Schreibtisch hatte Frau Auguste Harst die ganzen in den letzten acht Wochen für Harald eingelaufenen Briefe, Drucksachen und so weiter aufgehäuft. Haralds eigener Wunsch war es gewesen, daß ihm nichts hiervon nachgeschickt würde. Er selbst hatte ja nur einen Wunsch: rasch wieder gesund zu werden! Und er kannte sich: hätte er einen Brief mit einem interessanten Auftrag erhalten, dann würde dieser ihm keine Ruhe gelassen haben, hätte ihn in Gedanken dauernd beschäftigt und die Genesung so verzögert. Der Arzt hatte Harald eben jede, aber auch jede „Arbeit“ verboten. Und Harsts „Arbeit“ griff Nerven und Hirn mehr an, als man anzunehmen geneigt ist. –

Ich überließ Mutter und Sohn, nachdem wir gemeinsam gefrühstückt hatten, ihrer Wiedersehensfreude und machte mich als pflichtgetreuer Privatsekretär über die eingegangene Post her. Es waren allein 42 Briefe und fünf Depeschen, ganz abgesehen von Geschäftsreklamen, Postkartengrüßen und Druckschriften wissenschaftlichen Inhalts. –

Ich muß über den Fall Thora Olavsen nun zunächst noch einiges nachholen. – Trotz aller Bemühungen der Polizei hatte man von dem Mörder Hans Ruperti auch nicht die geringste Spur mehr entdeckt. Harald hatte sich mit Ruperti nicht weiter befassen können, da er schon am Abend nach unserer Rückkehr aus Harzburg mit über 39 Grad Fieber zu Bett lag und da sich drei Tage später jene beiderseitige Lungenentzündung hinzufand, die Harst an den Rand des Grabes brachte. Inzwischen waren dann zwei Briefe von Doktor Olavsen eingetroffen. Er schrieb, daß seine Schwester tatsächlich ihr ganzes Barvermögen flüssig gemacht und mitgenommen hatte. Ruperti waren auf diese Weise insgesamt 200 000 Kronen in die Hände gefallen. – Weiter wußte ich durch Lenk, daß Frau Lotte Ruperti mit ihren beiden Kindern zu ihren Eltern nach Christiania zurückgekehrt war und nun dort in deren Hause lebte. –

Als ich die Depeschen zunächst öffnete und durchsah, stellte sich heraus, daß die zuletzt eingetroffene am 28. April aus Christiania abgeschickt war und Frau Ruperti als Absenderin hatte, die übrigens ihren Mädchennamen Balnör jetzt wieder führte. Dieses Telegramm lautete:

„Ich bitte Sie nochmals unter Hinweis auf meinen Brief vom 3. April herzlichst, sofort nach Ihrer Wiederherstellung hierher zu kommen. Doktor Olavsen noch nicht gefunden. Frau Lotte Balnör, Christiania, Christiansgatan 36.“

Man kann sich leicht vorstellen, mit welchen Gefühlen ich diese Depesche las. Doktor Olavsen schien also irgend etwas zugestoßen zu sein. Und – auch ich hatte Sigurd Olavsen, diesen bescheidenen, offenen und so gemütvollen Menschen, fast liebgewonnen.

Ich beeilte mich, Frau Rupertis Brief herauszusuchen, dessen Inhalt ich hier nur im Auszuge wiedergeben will.

„– Ich mache kein Hehl daraus, daß mir Olavsen jetzt hier in Christiania ein lieber, treuer Freund geworden. Er, der sich zu derselben Zeit um mich bewarb, als der Andere mich zu umgarnen verstand, hat mir seine tiefe Liebe bewahrt. Deshalb auch mein großes Interesse für seine Person, das sich hier in diesem Briefe zeigt, der nichts anderes als die flehende Bitte ist, Sigurds plötzliches Verschwinden aufzuklären, sehr verehrter Herr Harst. Ich weiß ja, daß Sie als Rekonvaleszent irgendwo im Süden weilen. In den Zeitungen war zu lesen, Sie hielten Ihren Aufenthaltsort geheim, damit Sie ganz unbelästigt blieben. Meine beiden Glückwunschschreiben zu Ihrer Genesung, die nach Berlin-Schmargendorf gerichtet waren, werden Sie also auch erst verspätet erhalten.

Nun lassen Sie mich Ihnen die Vorfälle hier schildern, wie ich sie zum Teil miterlebt habe –“

Ich möchte diese Schilderung etwas knapper fassen und gebe sie hier mit meinen Worten wieder.

Am 15. März war Sigurd Olavsen abends bei Frau Lottes Eltern zu Gaste. Um 9 Uhr wurde er an das Telephon gerufen. Als er in das Wohnzimmer wieder zurückkehrte, erklärte er, er müsse sofort zu einem Patienten, der eine halbe Meile von Christiania entfernt in einem Dörfchen am Ostufer des Christianiafjords wohnte; er wolle mit seinem Motorboot dorthin fahren, weil dies am schnellsten ginge: der Fjord sei ja bereits eisfrei.

Frau Lotte hatte darauf den Wunsch geäußert, ihn zu begleiten. Die Nacht war mondhell, und der Reeder Gunnar Balnör, Frau Lottes Vater, war bereit, ebenfalls mitzufahren.

Um halb zehn verließ das Motorboot, das eine kleine Heckkajüte hatte, den Hafen und landete gegen dreiviertel zehn an dem Holzstege des Dorfes Söndar. Olavsen stieg mit seiner Instrumententasche aus und eilte den nahen Häusern zu, während Vater und Tochter im Boote blieben. Olavsen hatte ihnen erklärt, er würde spätestens nach zwanzig Minuten wieder zurück sein.

Doch – eine Stunde verstrich, und er erschien noch immer nicht. Der Reeder und seine Tochter waren zuletzt in der Nähe der Anlegebrücke auf und ab gegangen, um sich in der recht kühlen Märznacht nicht zu erkälten. Nachdem noch eine halbe Stunde vorüber war, wurde Herr Balnör unruhig. Er und Frau Lotte begaben sich dann zu dem Fischer Börgersen, dessen linke Hand nach einer schweren Quetschung zum Teil vereitert war.

Börgersen wohnte im viertletzten Hause des Dörfchens, das sich eine Anhöhe hinanzog. Der Reeder pochte gegen das Fenster. Erst nach einer geraumen Weile öffnete der Fischer die Haustür und erklärte dann sehr verwundert, daß er es nicht gewesen, der den Doktor telephonisch hergerufen hatte. Seiner Hand ginge es seit gestern besser. Der Doktor sei auch gar nicht hier bei ihm gewesen.

An Börgersens Worten war kaum zu zweifeln. Und doch hatte Olavsen im Wohnzimmer bei Balnörs ausdrücklich gesagt, es handele sich um Fischer Börgersens kranke Hand.

Der Reeder fragte Börgersen, wer denn hier im Dorfe Telephon habe. – „Nur der Gastwirt Brank und der Villenbesitzer Blosmer,“ erwiderte der Fischer.

Herr Balnör und seine Tochter klopften nacheinander den Gastwirt und Blosmer heraus. Beide behaupteten, das Telephon sei heute abend nicht benutzt worden.

Nun erschien dem Reeder die Sache verdächtig. Er rief von der Villa aus die Polizei in Christiania an. Um halb zwölf landete an dem Stege ein Motorkutter mit drei Kriminalbeamten. Auch diese richteten nichts aus. Haus für Haus wurde angefragt, ob jemand Doktor Olavsen gesehen habe, der hier gut bekannt war. Überall eine verneinende Antwort.

Ein Teil der männlichen Dorfbewohner half jetzt suchen. Man durchstreifte auch die Umgebung – ohne jeden Erfolg. Um ein Uhr morgens begann es zu schneien. Es schneite bis drei Uhr. Inzwischen waren Herr Balnör und Tochter wieder heimgekehrt. Die drei Beamten blieben im Dorfe.

Nach Tagesanbruch – die Schneedecke war gut zehn Zentimeter hoch – wurde die Suche nach Olavsen wieder aufgenommen. Um elf Uhr vormittags war der größte Teil des Schnees durch die Sonne wieder weggeschmolzen. Der Doktor wurde nicht gefunden. Dieser Tag verging, der nächste, der folgende. Die ganze Polizei der norwegischen Hauptstadt war auf den Beinen. Dann, am vierten Tage meldete sich ein Fischer aus einem benachbarten Fjorddorfe, der damals nachts Aalschnüre an der Küste ausgelegt hatte und eine größere Motorjacht beobachtet haben wollte, die ohne Positionslaternen südlich vom Dorfe Söndar bis halb elf vor Anker gelegen und der sich kurz vor elf ein kleines Boot vom Ostufer genähert hatte. Die Jacht sei dann den Fjord sehr schnell hinabgefahren.

Die Polizei stellte nun Nachforschungen nach dieser Jacht an. Erst am 24. März kam aus der Hafenstadt Bergen an der Nordwestküste Norwegens die überraschende Meldung, daß dort eine herrenlose Motorjacht in einer Bucht von Fischern aufgefunden worden sei. Die Jacht hieß Albatros. – Nun wurde ermittelt, daß sie einem Berliner Großkaufmann namens Schradler gehörte, der am Christianiafjord eine Sommervilla nebst Bootshaus besaß. Aus diesem Bootshaus war die Jacht gestohlen worden.

Die Polizei in Christiania lehnte die Möglichkeit, man habe Olavsen mit Hilfe dieser Jacht entführt (diese Möglichkeit war in einer dortigen Zeitung erörtert worden) als allzu phantastisch und durch nichts begründet ab. Kriminalinspektor Booger, den Harst und ich übrigens von früher her als tüchtigen Beamten kannten, hielt an der Annahme fest, Olavsen sei in ein Haus des Dorfes Söndar gelockt und ermordet worden – weshalb, das müsse erst noch festgestellt werden. –

Bis zum 3. April, dem Tage also, an dem Frau Lotte Balnör diesen Brief an Harst geschrieben hatte, war dann nichts Neues mehr ermittelt worden.

Der Brief schloß mit der nochmaligen Bitte, recht bald nach Christiania zu kommen. –

Ich legte ihn jetzt vorläufig nebst der Depesche beiseite und sah die übrigen Postsachen durch, vernichtete das, was kein Interesse mehr für Harst hatte, so auch die vier übrigen Depeschen, und stieß dann auf ein Schreiben, das auf der Rückseite des Umschlags als Absender vermerkt trug:

Eugen Schradler, Kommerzienrat,

Berlin W, Knesebeckstraße 181.

Schradler! Das war ja der Besitzer der Sommervilla am Christianiafjord und der Motorjacht Albatros!

Ich öffnete den Brief mit einiger Spannung. Gerade als ich zu lesen begonnen hatte, trat Harald ein.

„Na, mein Alter, etwas Wichtiges?! Vielleicht über Sigurd Olavsen? – Meine Mutter erzählte mir soeben, daß sie in hiesigen Zeitungen über dessen Verschwinden mancherlei gelesen habe. Da ließ es mir keine Ruhe mehr. Ich mußte Dich fragen, ob unter den Briefen –“

Ich hielt ihm Frau Lottes Schreiben und Depesche hin. Er griff hastig danach, lehnte sich an das Fenster und las.

Ich tat dasselbe mit Schradlers Brief.

Berlin, den 5. April 19…

Sehr geehrter Herr Harst!

Sie werden wohl bereits erfahren haben, daß Herr Doktor Sigurd Olavsen auf sehr seltsame Weise in der Nähe von Christiania verschwunden ist und daß ein phantasievoller Zeitungsschreiber dort den Raub meiner Motorjacht Albatros mit Olavsens Verschwinden in Zusammenhang bringt – in einen recht lockeren allerdings. – Da ich am 27. März gerade geschäftlich in Göteborg in Schweden zu tun hatte und da ein Abstecher bis Christiania von Göteborg aus nicht viel Zeit in Anspruch nimmt, fuhr ich dorthin, um mal zu sehen, ob etwa auch meine Sommervilla, die den Winter über nur von dem pensionierten Lotsen Darfanger bewohnt wird, von den Dieben ebenfalls heimgesucht worden sei. Ich fand dort alles in Ordnung, machte nur eine merkwürdige Entdeckung: die Schlafzimmer im ersten Stock waren von Fremden benutzt worden, ohne daß Darfanger davon eine Ahnung hatte. In dem einen Nachttischchen im Schlafzimmer meiner Frau lag in der oberen Schublade ein Stück Papier, der Teil einer Druckseite, den ich diesem Briefe beifüge. Da meine Frau dies Stück Papier in der Schublade bestimmt nicht zurückgelassen hat, nehme ich an, daß die unerlaubten Gäste es liegen gelassen haben. – Inspektor Booger meinte nun, Sie würden nach Ihrer Genesung wohl nach Christiania kommen, und deshalb hat vielleicht dieses Stück Druckseite für Sie Interesse.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Ihr ergebener

Eugen Schradler.

Ich suchte nun in dem Umschlag nach dem Papierstück.

Ein Blick genügte mir: es war ein Stück von einer Seite aus Band 68 dieser Sammlung – aus unserem Abenteuer „Der Klub der Zuchthäusler“, also etwas, das ich selbst geschrieben hatte, und zwar gerade ein Kapitelanfang, in dem ich eine Bemerkung über Haralds geniale Art, schwierige Probleme zu lösen, eingeflochten hatte. –

Inzwischen war Harald mit Frau Lotte Rupertis Brief ebenfalls fertig geworden.

Ich gab ihm nun Schradlers Schreiben und das Papierstück.

„Hm,“ meinte er dann, „was meinst Du, ob es nicht lohnen dürfte, die Nachkur noch in Christiania fortzusetzen?“

Er kniff lächelnd das eine Auge zu.

„Meine Mutter wird zwar entsetzt sein, aber – dieser Fall Olavsen lockt doch zu sehr, obwohl ich an einen Mord niemals glaube. Weshalb sollte man Olavsen ermordet haben?! Gibt es einen besseren, gütigeren, harmloseren Menschen als ihn?! Und ausgerechnet in einem Fischerdörfchen soll er in einen Hinterhalt gelockt worden sein, wo doch nur biedere, einfache Leute wohnen, denen Olavsen als Arzt fraglos ein Wohltäter war!“

„Bitte – in dem Dorfe befindet sich doch auch ein Villengrundstück.“

„Allerdings. Und dem Besitzer dieser Villa werden wir natürlich etwas auf den Zahn fühlen –“ – Er schwieg eine Weile und starrte auf das Stück bedrucktes Papier – auf den Kapitelanfang aus Band 68. – „Seltsam!“ meinte er dann. „Erst die Schwester, nun der Bruder, – und Doktor Hans Ruperti noch immer frei!“

Er deutete hier etwas an, das auch bei mir bereits als leiser Verdacht lebendig geworden.

„Ruperti könnte dahinter stecken!“ warf ich mit besonderer Betonung hin.

„Mit demselben Recht könntest Du Schradler oder den Vater Frau Lottes verdächtigen,“ erwiderte er sinnend. „Mit genau demselben Recht. Hast Du denn irgend einen Anhaltspunkt dafür, daß Ruperti sich aus irgend welchen Gründen an Olavsen herangemacht haben könnte?!“

„Nein. Das nicht –“

Er schaute nach dieser meiner Antwort auf, blickte mich eigentümlich an und erklärte:

„Und doch gibt es hierfür einen Anhaltspunkt –“

„Der wäre?!“

„Du hast ihn selbst geliefert –“

„Ich?!“

„Ja, lieber Alter: Du! – Wenn Du nicht selber darauf kommst, wirst Du Dich noch gedulden müssen. – Morgen früh reisen wir. Du bist so gut, alles Nötige vorzubereiten. Übermorgen um 9 Uhr vormittags sind wir dann in Christiania.“

 

2. Kapitel.

Der Anfang der Spur.

Wir waren in Christiania in einem kleinen Hotel in der Drottninggatan abgestiegen. Abends gegen sieben Uhr machten wir uns dann auf den Weg zu Reeder Balnör, bei dem wir uns telephonisch mit der Bitte angemeldet hatten, von unserem Besuch niemandem etwas mitzuteilen. Unsere Anwesenheit in Christiania sollte eben geheim bleiben. Deshalb hatten wir in dem Hotel auch andere Namen angegeben.

Balnörs bewohnten die erste Etage ihres großen, würdigen Patrizierhauses. Man merkte hier sofort, wie reich Herr Balnör sein mußte.

Nach dem gemeinsamen Abendessen, an dem das Ehepaar Balnör, Frau Lotte und der einzige, ebenfalls schon erwachsene Sohn teilnahmen, zogen wir uns mit dem Reeder und Frau Lotte in das Arbeitszimmer des Hausherrn zurück, saßen nun gemütlich um einen ovalen Tisch herum, tranken einen leichten Punsch und rauchten tadellose Zigarren – wenigstens Balnör und ich. Harald und Frau Lotte hatten Zigaretten vorgezogen.

Harst erzählte nun zunächst, daß wir heute bereits draußen im Dorfe Söndar am Fjord gewesen seien, wo wir dem Villenbesitzer Blosmer einen Besuch abgestattet hatten.

„Der Mann ist ohne Frage ganz harmlos,“ meinte Harald. „Um nun Doktor Olavsens Verschwinden auf meine Art aufklären zu können, möchte ich über einiges Aufschluß erhalten, was vielleicht nach Ihrem Dafürhalten, Herr Balnör, mit der Sache selbst nichts zu tun hat. – Zunächst: Ihre Tochter hat die Scheidung ihrer Ehe mit Ruperti bereits beantragt, wie vorhin bei Tisch angedeutet wurde –“

„Ja. Die deutschen Gerichte machen uns jedoch viele Schwierigkeiten.“

„Und – wenn die Ehe geschieden ist, gnädige Frau,“ wandte er sich an Frau Lotte, „gedachten Sie dann eine neue Ehe einzugehen? – Verargen Sie mir diese delikate Frage nicht. Ein Detektiv ist wie ein Beichtvater: was ihm anvertraut wird, bleibt Geheimnis! – Ich glaube, Ihnen auch eine Antwort ersparen zu können. Nicht wahr: Doktor Olavsen bewirbt sich um Sie?“

Frau Lotte nickte nur.

Nach kurzer Pause fragte Harald dann:

„Haben Sie von Ruperti inzwischen irgend ein Lebenszeichen erhalten?“

„Wie kommen Sie darauf – gerade darauf?!“ rief sie verwirrt.

„Weil es nach dem, was ich weiß und was ich zu wissen glaube, sehr naheliegt.“

Herr Balnör hatte sich vorgebeugt und meinte nun völlig sprachlos: „Ein Lebenszeichen?! Aber Herr Harst, das ist doch wohl ausgeschlossen!“

Die blonde Frau Lotte war sehr rot geworden und hatte den Kopf tief gesenkt.

„Oh – ausgeschlossen ist das durchaus nicht, Herr Balnör,“ sagte Harald nun. „Ein Mann wie Ruperti traut es sich wohl zu, ein Weib durch Briefe nochmals zu umgarnen –“

Der Reeder sprang auf.

„Lotte, es scheint fast so, als hätte Herr Harst recht! Dein Gesicht ist –“

Sie begann plötzlich zu schluchzen.

„Ja – ich habe zwei Briefe von ihm bekommen,“ erklärte sie ängstlich. „Beide aus Kopenhagen, den einen am 29. April, den anderen am 2. Mai. Beide Briefe steckten in Umschlägen mit Firmenaufdruck und waren mit Maschine geschrieben, trugen weder Ort, Datum noch Unterschrift, konnten aber dem Inhalt nach nur von – von ihm herrühren, da er mich in dem ersten um Verzeihung anflehte und sich vor mir zu rechtfertigen suchte, während er in dem zweiten etwa dasselbe schrieb, nur noch leidenschaftlicher und mit Ausdrücken, die eine starke Sehnsucht nach unseren Kindern verrieten. Er beschwor mich, niemandem etwas von den Briefen zu verraten und betonte, daß ich als sein Weib verpflichtet sei, ihn vor den Gerichten zu schützen, damit unsere Kinder nicht einen Zuchthäusler oder einen durch Henkershand Gestorbenen zum Vater hätten. – In beiden Briefen beteuerte er auch seine Unschuld, was Thora Olavsens Tod anbetraf, und behauptete, Thora hätte sich selbst durch einen Sturz von einem Abhang bei Saßnitz getötet. – Ich schenkte diesen Beteuerungen keinen Glauben, verbrannte die Briefe und suchte sie aus meinem Gedächtnis zu streichen –“

„Sollten Sie ihm antworten?“ fragte Harald.

„Ja. Aber erst im August. Er wollte mir noch mitteilen, wohin ich schreiben sollte. Ich hätte es nie getan – nie! Er hat keine Gewalt mehr über mich! Nur – nur kann niemand von mir verlangen, daß ich mithelfe, ihn der Polizei irgendwie in die Hände zu spielen. Das – das widerstrebt mir – schon der Kinder wegen!“

Sie weinte stärker. Der Reeder hatte wieder Platz genommen und musterte seine Tochter mit traurigen Blicken. Als sie sich beruhigt hatte, sagte Harald liebenswürdig:

„Gnädige Frau, sprechen wir von anderen Dingen. Sie stehen doch mit Olavsen recht vertraut, sind gute Freunde. Hat er Ihnen vielleicht mitgeteilt, ob er jetzt nach Thoras Tod erfahren hat, wohin diese die Ausflüge mit ihrem Motorrad unternommen hatte. Sie war doch im vergangenen Sommer viermal längere Zeit von Hause abwesend –“

Lotte Balnör preßte für einen Moment die Lippen fest zusammen und atmete so hastig und schwer, als müßte sie gewaltsam eine starke Erregung unterdrücken. Dann rief sie klagend:

„Erinnern Sie mich nicht auch noch an diese Schlechtigkeiten meines Mannes, Herr Harst! Viermal war auch er in den Monaten Mai, Juni und Juli des Vorjahres angeblich aus Berufsgründen nach Kopenhagen gereist! In Wahrheit wird er sich mit Thora getroffen haben! – Was Ihre Frage angeht: ja – durch einen Zufall hat Doktor Olavsen im Januar dieses Jahres herausbekommen, daß Thora ihr Motorrad des öfteren von hier mit der Bahn nach Skien befördern ließ. Also wird diese Stadt wohl der Ort der Stelldicheins gewesen sein.“

„Möglich wäre das,“ meinte Harald gleichgültig. „Noch etwas, gnädige Frau. Hat Olavsen Sie in seine Vermögensverhältnisse beziehungsweise in die Art der Anlage seiner Kapitalien eingeweiht. Fischer Brodersen in Söndar erzählte mir heute mittag, daß der Herr Doktor die Absicht gehabt habe, ein kleines, hübsch gelegenes Landgut am Fjord zu erwerben, wo er später fern dem Treiben der Welt wohnen wollte –“

„Olavsen deutete so etwas Ähnliches an, Herr Harst,“ erklärte Frau Lotte und errötete leicht.

„Vielleicht wollte er mit seiner – Gattin sich auf dieses Gut zurückziehen,“ sagte Harald mit jenem gütigen Blick, aus dem seine mitfühlende, alles verstehende Seele so deutlich spricht. „Und sonst, gnädige Frau, – ob Olavsen wohl größere Summen Bargeld im Hause zu haben pflegte?“

Der Reeder mischte sich jetzt ein. „Ich weiß, worauf Sie es abgesehen haben, Herr Harst: Sie möchten feststellen, ob dieses Verschwinden Olavsens etwa mit einem Raube Hand in Hand geht – einem Diebstahl in seinem Hause. Nein, das ist nicht der Fall. Das hat Inspektor Booger bereits untersucht. Booger hat denselben Verdacht gehabt wie Sie: man könnte Olavsen in Söndar ermordet haben, um in derselben Nacht noch in seine Wohnung eindringen und dort stehlen zu können. Er hielt sich ja nur eine ältere Wirtschafterin. Dies scheidet aus, Herr Harst. Booger hat nachgeprüft, ob ein größerer Betrag von Olavsens Vermögen fehlt oder ob in jener Märznacht jemand gewaltsam in die Wohnung eingedrungen ist.“

„Hat Booger ermitteln können, von wo aus jemand angeblich als Fischer Börgersen den Doktor nach Söndar hinauslockte, also von wo damals telephoniert wurde?“

„Gewiß, Herr Harst, gewiß. Von der Villa des Kommerzienrats Schradler aus –“

„Also stimmt auch das!“ sagte Harald leise wie zu sich selbst.

Der Reeder legte plötzlich seine Zigarre auf die Aschenschale. „Herr Harst, wenn Sie soeben vor sich hinmurmelten, es stimme also auch dies, dann – dann stimmt eben noch anderes, dann haben Sie sich bereits eine Ansicht über Olavsens Verschwinden gebildet.“

„Das gebe ich zu, Herr Balnör –“

Frau Lotte rief scheu: „Glauben Sie, daß Olavsen tot ist – ermordet?“ – Aus ihren Augen leuchteten Angst und jene Spannung, die auf eine verneinende Antwort hofft.

„Ich glaube, das er lebt,“ erwiderte Harald bedächtig. „Der Lebende ist so, wie die Verhältnisse liegen, den Entführern wertvoller.“

„Ah – doch entführt!“ meinte Herr Balnör.

„Ja. Aber das bleibt unter uns,“ sagte Harst sehr ernst.

„Und – wer sind die Leute, die ihn gewaltsam weggeschleppt haben?“ fragte Frau Lotte hastig.

„Einer von ihnen ist der, an den Sie jetzt denken, gnädige Frau –“

„Ruperti!“ hauchte das arme Weib und stierte wie betäubt Harst an. „Wirklich Ruperti! Ich – ich habe diesen Verdacht sofort gehabt –“

„Ohne die Gründe für diese Entführung zu kennen,“ meinte Harald. „Nein – diese Gründe sind Ihnen bestimmt fremd – die wahren Gründe! Sie vermuten vielleicht, Ruperti wollte sich an Olavsen rächen, weil dieser damals mich zu Hilfe rief und weil er so die Entlarvung des Täters veranlaßte. Nein, das ist es nicht. Andere Gründe sind hier für Ruperti bestimmend gewesen, Gründe von feinerer psychologischer Beschaffenheit, zum Teil auch wohl – ganz grob materielle –“

„Sie werden Doktor Olavsen jetzt also suchen,“ sagte Balnör da in heftiger Erregung. „Suchen Sie ihn! Und – finden Sie gleichzeitig diesen Schurken, der meine Tochter einst zum Weibe begehrte und doch nur ihr Geld wollte! Eine Viertel Million Kronen hat dieser Lump vergeudet! Mag Lotte auch anders hierüber denken: ich wünsche Ihnen von Herzen vollen Erfolg! Bloßgestellt ist unser Name doch schon! Was tut es da, daß die Öffentlichkeit sich nochmals mit alledem beschäftigt! Soll etwa dieser Mörder straffrei ausgehen?! Niemals!“

Frau Lotte hatte sich erhoben und still das Zimmer verlassen.

Harald schaute ihr mitfühlend nach. „Ich freue mich, daß Ihre Tochter sich hier im Elternhause so gut erholt hat, Herr Balnör,“ meinte er dann. „In Harzburg machte sie den Eindruck einer Schwerkranken –“

„Nur Olavsens Verdienst!“ sagte der Reeder weich. „Er hat Lotte ja von Jugend an geliebt, der brave Mensch! Wäre damals nicht dieser aalglatte Schurke hier erschienen, dann – dann lebte auch Thora heute noch! – Gestatten Sie mir nun aber eine Frage, Herr Harst: wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, daß Ruperti diesen neuen Schurkenstreich verübt haben könnte?“

„Durch eine Dummheit dieses Menschen, eine Unüberlegtheit, durch einen Versuch, mich zu verhöhnen, mich als Detektiv. Schraut kann Ihnen das erklären, denn er hat diese Verhöhnung ermöglicht, weil er ja unsere Abenteuer sehr zu meinem Ärger stets veröffentlicht und dabei meine – „genialen“ Fähigkeiten häufig allzu dick unterstreicht –“

Ah – nun ging mir ein Licht auf: das Stück Druckseite aus Band 68!

Ich sagte daher: „Herr Balnör, in der Villa Schradler wurde in einem von ungebetenen Gästen benutzten Schlafzimmer ein Stück Papier gefunden, das den Anfang eines Kapitels eines unserer Probleme enthielt und darin auch einige Bemerkungen über meines Freundes seltenes Talent, selbst die schwierigsten Kriminalfälle zu enträtseln. Harald glaubt nun, Ruperti kann dieses Stück Druckseite dort zurückgelassen haben in der Überzeugung, daß Harst eben nie ermitteln würde, wer die Jacht Albatros gestohlen und in der Villa genächtigt hat –“

„Ja – das glaubte ich, das glaube ich noch. Und hier erhielt ich ja den Beweis, daß Ruperti in der Villa war: er hat von dort nach Christiania telephoniert! Er raubte die Jacht; er entführte mit der Jacht Sigurd Olavsen, verschleppte ihn irgendwohin, damit – Doch hierüber will ich mich erst später äußern. – Herr Balnör, noch eine Frage, bevor wir uns verabschieden: Ruperti lernte Ihre Tochter hier kennen. Hatte er hier Bekannte?“

„Nur einen, ebenfalls einen Rechtsanwalt von recht schlechtem Ruf. Er heißt Granjelm.“

„Lebt dieser Granjelm noch hier in Christiania?“

„Nein. Er ist im Februar nach Bergen übergesiedelt.“

„So – nach Bergen! Und in der Nähe dieser großen Hafenstadt wurde die herrenlose Motorjacht gefunden!“

„Ah – Sie meinen, daß Granjelm –“

„– der Spießgeselle Rupertis ist. – Das meine ich allerdings! – Ruperti allein konnte diese Entführung nicht bewerkstelligen. Es gehörten mindestens zwei dazu. – So, jetzt müssen wir Ihnen lebewohl sagen, da wir morgen früh weiterreisen wollen –“

„Nach Bergen – zu Granjelm?“

„Ich gehe stets sicher, Herr Balnör. Ob wir in Bergen bei Granjelm Rupertis Spur finden, ist ja nicht ausgeschlossen. Aber – ebenso gut finden wir sie vielleicht anderswo. – Auf Wiedersehen, Herr Balnör. Empfehlen Sie uns noch bitte Ihrer werten Familie –“ –

Die Hafenstadt Skien am Nordende des Skienfjordes hat viel Industrie, lebhaften Schiffsverkehr und auch einige Sehenswürdigkeiten.

Von Christiania aus erreicht man Skien in fünf Stunden. – Die Fahrt bot wenig Interessantes. Wir waren in einem Abteil 1. Klasse allein, hatten es uns recht behaglich gemacht und sorgten dafür, daß die Luft im Abteil stets mit Rauch geschwängert blieb. Harald verqualmte in den fünf Stunden mindestens vierzig seiner Mirakulum, las Zeitungen und war überraschend maulfaul.

Als ich zu ihm geäußert hatte, daß man aus der Tatsache der Reisen Thora Olavsens nach Skien doch kaum darauf schließen könne, Ruperti würde in Skien auch jetzt seinen Schlupfwinkel haben, hatte er mit seiner überlegenen Ruhe geantwortet:

„Lieber Alter, es steht fest, daß Ruperti und Thora viermal im vergangenen Sommer hier Stelldicheins in Norwegen hatten. Da sie beide vielen Leuten in Norwegen von Ansehen bekannt waren, mußten sie für diese Stelldicheins einen ganz entlegenen Ort wählen, irgend ein Dörfchen oder dergleichen, wo sie sich fraglos als Ehepaar ausgaben und wahrscheinlich stets dieselbe Wohnung wählten. Daß es stets derselbe Ort war, beweist ja schon der Umstand der viermaligen heimlichen Reise Thoras nach Skien. Also muß der Schlupfwinkel des Paares irgendwo in der Nähe von Skien sich befunden haben. – Versetze Dich nun einmal in die Lage eines verfolgten Verbrechers – in Rupertis Lage! Er weiß, daß er in diesem Schlupfwinkel dort in Norwegen, wo er natürlich einen anderen Namen getragen hatte, als harmloser Tourist oder dergleichen bekannt ist, daß man ihn außerdem, da er dort stets verkleidet auftrat, niemals für den steckbrieflich verfolgten Hans Ruperti halten oder erkennen wird. Würdest Du in seiner Lage nicht auch diesen Zufluchtsort wählen, wo Du den wenigen Leuten sagen könntest, Deine Frau sei Dir verstorben und Du wolltest nun hier in der Einsamkeit über diesen Verlust hinwegzukommen suchen; würden Dich die biederen Landbewohner dann nicht noch ehrlich bemitleiden; würdest Du Dich dort nicht ganz sicher fühlen können – sicherer als anderswo?! Könntest Du dann nicht dieses Standquartier getrost hin und wieder verlassen? Könntest Du in dem entlegenen Orte nicht ein Häuschen mieten und dort – Sigurd Olavsen bewachen, nachdem Du ihn dorthin geschafft hast – vielleicht mit einem eigenen Einspänner in einer Kiste oder sonstwie? – Ja – das könntest Du alles. Denn die Leute dort kennen Dich ja von früher her als harmlosen Menschen. – Sieh’, so mag auch Ruperti gedacht haben. Und – deswegen fahren wir nach Skien!“

Da hatte ich nur genickt. All das leuchtete mir ja ein.

 

3. Kapitel.

Am Gletscherbach.

In Skien kam dann die große Überraschung: wir stellten fest, daß Thora Olavsen ihr Motorrad viermal mit einem der Dampfer der Linie Skien–Dahlen bis Dahlen hatte bringen lassen und auch selbst diese Fahrt viermal hin und zurück gemacht hatte.

Was blieb uns übrig, als ebenfalls am folgenden Tage durch die Hochlandseen von Telemarken und die großartigen Schleusen uns bis ins Hochgebirge, bis nach Dahlen, einem mittleren Dorfe, zu begeben?! Sieben Stunden dauerte diese Dampferfahrt – übrigens eine der schönsten, die ich je genossen habe.[4]

Dahlen besitzt ein großes Touristenhotel, denn der Ort ist der eine Endpunkt der Autobergstraße Dahlen–Odda. – Hier in Dahlen eine neue Überraschung: Thora Olavsen hatte von hier mit ihrem Motorrad stets sofort nach Ankunft des Tourdampfers die Reise fortgesetzt. –

Da wir Dahlen später nochmals besuchen mußten und zwar aus einem ähnlichen Grunde, wie ich in einem der späteren Bände berichten werde, will ich mich mit einer Schilderung der Umgebung von Dahlen, der Bergstraße und so weiter nicht aufhalten.

Jedenfalls: wir nahmen am folgenden Morgen ein Auto und verfolgten Thoras Spur bis zu der am Südende des Hardangerfjordes gelegenen Stadt Odda[5], wo wir gegen fünf Uhr nachmittags eintrafen.

Das Hotel Hardanger, in dem wir abstiegen, hatte erst vor wenigen Tagen seine Pforten geöffnet. Es ist ein Touristenhotel wie tausend andere in Norwegen, ganz auf den Sommerverkehr eingestellt, dabei peinlich sauber und verhältnismäßig billig. Im Speisesaal waren außer uns nur noch vier Personen anwesend, als wir uns hier gegen sieben Uhr ein reichliches Abendessen servieren ließen. Es wurde an einzelnen Tischen gespeist. Die vier Personen waren ein jüngeres Ehepaar und zwei einzelne Herren, offenbar Touristen. So waren denn im ganzen mit dem unsern vier Tische besetzt.

Unwillkürlich hatte ich diese anderen Hotelgäste etwas schärfer gemustert, obwohl es an ihnen nichts Besonderes zu sehen gab. Harald zeigte nur Interesse für eine Spezialkarte des Hardangerfjords, die er neben seinem Teller ausgebreitet hatte, und für die Speisen.

Dann deutete er mit dem Zeigefinger auf die Karte und sagte in gewöhnlichem Tone:

„Hier – überall Gletscher und Schneefelder nördlich von Odda, die selbst im Hochsommer ihre kühlen Luftwellen bis in dieses tiefe Tal hinabsenden –“

Ich hatte mich nach links gebeugt und einen Blick auf die Karte geworfen.

Er sprach etwas leiser weiter: „Laß bitte dieses neugierige Anstarren unserer Nachbarn!“

„Weshalb?“ fragte ich überrascht.

Er antwortete nicht, sondern rief dem Mädchen, das hier bediente und das gerade durch die Tür verschwand, etwas nach. Sie hörte es nicht mehr. Er erhob sich ärgerlich, warf seine Serviette auf die Karte und eilte ihr nach. Als er nach drei bis vier Minuten zurückkehrte, kam das Mädchen mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern auf einem Tablett hinter ihm her. Er nahm Platz, füllte die Gläser und trank mir zu.

All das war an sich so harmlos. Niemandem konnte dabei etwas aufgefallen sein. Und doch war ich überzeugt, daß Harald draußen nicht nur den Wein bestellt hatte.

Abermals sprach er über die eigentümliche Lage der kleinen Industriestadt Odda in diesem von himmelhohen Wänden begrenzten Tale, dessen Ränder weißlich schimmerten von den nie wegschmelzenden Schneemassen. Und wieder dann ganz plötzlich eine Bemerkung, die mit einem Schlage diesem friedlichen Speisesaale ein anderes Aussehen zu geben schien.

„Der bucklige, graubärtige Herr mit der grauen Künstlermähne am zweiten Tische schräg gegenüber hat eins bei seiner Verkleidung vergessen: daß jeder echte Bucklige sehr lange Arme und einen ganz bestimmten Gang hat. Als er sich vorhin die Zeitung vom Ständer holte, wurde ich auf ihn aufmerksam –“ – Sein Zeigefinger fuhr dabei wieder über die Karte hin, und ich stierte auf diesen Finger wie hypnotisiert.

„Ich habe mich draußen dem Hotelbesitzer zu erkennen gegeben. Er sagte mir, der Herr sei ein deutscher Maler namens Heinrich Raupach, der oben auf dem Buarbrä-Gletscher[6] im vorigen Frühjahr eine Steinhütte gekauft und dort dann zuweilen gewohnt hätte. Im Herbst sei er dann ganz dorthin übergesiedelt, um eine Anzahl Gletschergemälde fertigzustellen. – Heinrich Raupach – H – R – Hans Ruperti! Was meinst Du: ob das stimmen kann?! Ich denke ja! – Dieser Raupach nimmt hier im Hotel regelmäßig seine Mahlzeiten ein. Im März war er vierzehn Tage verreist, vom 10. bis zum 24. Das stimmt also auch: am 15. wurde Olavsen entführt! – Wir werden jetzt unseren Wein austrinken, dabei kräftig gähnen und dann unsere Zimmer aufsuchen, das heißt – zum Schein! Raupach geht jeden Abend gegen neun Uhr heim. Bis zur Abzweigung des Fußpfades nach dem Buarbrä läßt er sich mit einem der üblichen zweirädrigen Wagen fahren. – Nun sprich Du irgend etwas und nimm dabei die Karte in die Hand –“ –

Um halb neun verließen wir das Hotel. Es war draußen sehr dunkel. Der Hotelwirt erwartete uns eine Strecke weiter mit zwei Rädern. Wir schwangen uns auf und fuhren nun dieselbe, hier noch ganz ebene Bergstraße entlang, auf der wir nachmittags von Dahlen mit dem Auto eingetroffen waren. Zur Linken hatten wir den Fluß, der hier das Tal durchströmt und sich dann in den Fjord ergießt.

Der Abend war sehr dunkel. Das Licht unserer Acetylenlaternen schwankte grell vor uns her. Nach zehn Minuten wurde die Straße steiler und steiniger. Wir mußten vorsichtiger fahren. Nach weiteren zehn Minuten hielten wir vor einer Brücke, unter der der Gletscherbach des Buarbrä schäumend und gurgelnd dahinschoß.

Wir stiegen ab und verbargen die Räder im Gebüsch neben dem Fußwege, der von hier steil in einem engen Tale am Gletscherbach entlang zum Buarbrä hinaufläuft. Die Laternen nahmen wir mit, denn ohne Licht hätte man sich nachts auf diesem Pfade Hals und Beine gebrochen.

Eine eisige Luft strich dieses Seitental entlang. Man spürte die Nähe des Gletschers immer mehr. Rechts von uns wieder himmelhohe Wände, alles dunkler Granit.

Stellenweise war der Pfad von Steinlawinen völlig bedeckt, die im Frühjahr bei der Schneeschmelze hervorgerufen wurden und dann ein Passieren dieses Weges zu einer steten Lebensgefahr machten.

Die Kletterei war ermüdend. Der Gletscherbach führte sehr viel Wasser. Wir mußten häufig nach rechts ausbiegen und ein Stück aufwärts klimmen.

Als wir gerade abermals einer überfluteten Stelle dieses jämmerlichen Weges, der diese Bezeichnung gar nicht verdiente, ausgewichen waren und zwischen Steinschutt mitten auf einem sanft ansteigenden Geröllfelde dahinschritten, blieb Harald plötzlich stehen. Er war mir stets ein paar Schritte voraus.

„Da ist es wieder!“ sagte er seltsam erregt und deutete nach oben, wo die Steilwände sich wie finstere Riesenmauern emporreckten.

Ich folgte mit den Augen der Richtung seiner Hand und gewahrte nun ein schwaches Licht, das sich etwa zweihundert Meter rechts in der Höhe hin und her bewegte.

„Wenn ich nicht wüßte, daß Raupach-Ruperti noch im Hotel Hardanger weilte, als wir es verließen,“ fügte Harst leise und grüblerisch hinzu, „dann könnte ich fast fürchten, wir –“

Ein schwacher Knall von rechts oben schnitt ihm das Wort ab.

Wir stierten aufwärts.

Das Licht war verschwunden.

Dann – dann dort oben ein Poltern und Krachen, das im Moment zu einem wahnwitzigen Getöse anschwoll.

„Eine Steinlawine!“ brüllte Harald. Und noch nie habe ich aus seiner Stimme ein solches Entsetzen herausgehört wie damals.

Er packte meinen Arm, riß mich mit sich, keuchte.

„Schnell – schnell. Da, zehn Schritt zurück. Die Felsspalte. Die einzige Rettung –“

Die ersten Steine sausten an uns vorüber – die Vorläufer der eigentlichen Lawine.

Sie kamen herab wie Kanonenkugeln, schlugen auf das Geröll auf, prallten ab, zerbarsten zum Teil.

Steinsplitter drangen mir in die Hand, die die Laterne hielt.

Und Harald riß mich weiter, riß mich zu Boden. Meine Laterne ging in Scherben.

Da war eine meterbreite Spalte, die sich schräg nach abwärts zog – mit zackigen Wänden.

Harst drängte mich hinein.

„Hinab – hinab, – so tief Du kannst!“

Wie ich damals dort hinabgeklettert bin, – ich weiß es nicht! Ich weiß nur so viel, daß Harst mir plötzlich ins Genick fiel, daß wir beide ein Stück abwärtsrutschten, uns die Gesichter blutig rissen an den Zacken und Vorsprüngen.

Und über uns raste nun wie ein Heer wilder Teufel die Steinlawine dem Gletscherbache zu – hüpfend, polternd, sausend, pfeifend – ein ohrenbetäubender Lärm. –

Nur wenige Steine fielen in die Spalte hinein, da ein paar riesige Blöcke diese oben sofort fast ganz verrammelt hatten.

Dann Stille – eine fast unheimliche Stille.

Harald hatte seine Laterne längst ausgelöscht, flüsterte nun, indem er tief Atem holte:

„Das war einmal ein Attentat besonderer Art, mein Alter! Die Schurken waren also auf alles vorbereitet, wußten, daß wir in Odda waren, wußten es, bevor noch Raupach-Ruperti uns im Speisesaale sah –“

„Der Rechtsanwalt Granjelm?“ fragte ich atemlos.

„Ja, natürlich! Granjelm muß schon in Christiania uns beobachtet haben. Als wir nach Skien fuhren, wählte er den Weg über Bergen nach Odda, den er in zwei Tagen schafft – Bahn und Dampfer. Und dann haben die beiden alles genau vereinbart. Granjelm lauerte uns hier auf, sah uns mit den Rädern kommen, eilte uns voraus, sprengte eine bröckelige Stelle der Steilwand ab, erzeugte künstlich eine Steinlawine. Nun werden sie sehr bald nach uns suchen, die beiden Schurken. Und wenn sie uns nicht finden, werden sie annehmen, wir lägen unter den am Bachrande aufgehäuften Steinen begraben, denn – daß wir uns gerettet haben könnten, das glauben sie niemals! Granjelm sah ja, daß der Lichtschein unserer Laternen mitten im Hagel der Steingeschosse sich befand und dann plötzlich erlosch! Einer Steinlawine entgeht niemand, der so wie wir auf einem langen Geröllfelde sich befindet –“

Mir tobte die wilde Aufregung der letzten Minuten noch in allen Nerven. Unsere Rettung erschien mir wie ein Wunder.

„Und doch sind die Schurken dumm gewesen,“ flüsterte Harald nach kurzer Pause weiter. „Das sich bewegende Licht dort oben hatte mich schon vorher argwöhnisch gemacht. Es blieb stets schräg vor uns. Daß ich dann an die Spalte dachte, war kein Gedanke des Augenblicks. Ich rechnete halb und halb mit etwas Ähnlichem –“

Er schwieg, drückte meinen Arm.

Draußen auf dem Geröllfeld Geräusche – Schritte – Stimmen.

„Drücke Dich ganz eng an die Wand,“ hauchte Harald.

Nun über uns eine Stimme, deutsche Worte:

„Die beiden sind erledigt! Laß doch das Suchen!“

Der, der dies rief, war kein Deutscher. Es mußte Granjelm sein.

Ein dünner Lichtstrahl glitt über die andere Wand der Spalte.

„Man muß vorsichtig sein,“ meinte eine andere Stimme. Und das war die Rupertis. „Dieser Harst ist schon ganz anderen Leuten entwischt als uns Dilettanten!“

Der Lichtstrahl verschwand zum Glück wieder. Die Schritte entfernten sich.

Mein Herzschlag beruhigte sich langsam. Hätte Ruperti uns hier entdeckt – hier in diesem schmalen Felsloche, wo wir uns nicht wehren konnten, dann – dann hätte man von Harst und Schraut wohl nie mehr eine Spur gefunden.

Wir standen noch immer regungslos.

Dann brachte Harald seinen Mund an mein Ohr.

„Ich hatte die Clement in der Hand, mein Alter. Der erste Lichtstrahl, der uns von Rupertis Laterne umspielt hätte, wäre von mir mit einer Kugel beantwortet worden.“

Wir warteten noch zwei Stunden. Dann zündete Harald seine Laterne an.

„Wir können es nun wagen,“ flüsterte er. „Es ist jetzt ein Uhr nachts –“

Er kletterte langsam empor. Die Spalte war gut sechs Meter tief. Ich folgte vorsichtig. Zwischen zwei Steinblöcken hindurch zwängten wir uns ins Freie. Harald löschte die Laterne sofort wieder aus. Schritt für Schritt tasteten wir uns weiter bis zu einem Gebüsch neben dem Fußpfade.

Hier setzten wir uns nieder. Der Gletscherbach brauste und tobte. Der weiße Gischt leuchtete gespenstisch durch die Nacht. Über uns der ausgestirnte Nachthimmel und die schmale Mondsichel.

Wir froren. Selbst das Fläschchen Kognak, das Harald vorsorglich eingesteckt hatte, half nicht viel.

Wir froren und hielten doch aus, bis der Morgen graute. Es wurde hell.

„So – nun vorwärts!“ meinte Harald. „Wir werden die beiden wohl in der Steinhütte überraschen –“

Wir kletterten den Pfad weiter bergan. Rechts tauchte ein kleiner Bauernhof auf; dann das Holzhäuschen, in dem die Besucher des Buarbrä-Gletschers Erfrischungen und natürlich – Ansichtskarten erhalten können.

Der Wirt dieses primitiven Restaurants war bereits munter und musterte uns wie Wundertiere. Morgens um sieben Uhr hatte er wohl noch nie Touristen bedient. Wir bestellten Kaffee, Setzeier und belegte Brote.

„Die Herren haben wohl im Hotel Frühstück nicht erhalten,“ meinte der Wirt lächelnd. „Sie sehen tüchtig durchgefroren aus. Übrigens haben Sie großes Glück gehabt. In der Nacht ging eine schwere Steinlawine zu Tal. Das Krachen war so gewaltig, daß ich dadurch geweckt wurde. Unseren Maler hätte die Lawine beinahe erschlagen. Er kam gerade nach Hause. Er wohnt dort dreihundert Meter weiter aufwärts jenseits des Felsgrates dicht am Gletscher –“

„Ein Maler?“ fragte Harald, erstaunt tuend.

„Ja – ein deutscher Maler. Raupach heißt er. Ein Sonderling, aber ein liebenswürdiger Herr –“

„So. Und der wäre beinahe unter die Lawine geraten?“

„So ist’s – beinahe! Er klopfte noch bei mir an und ließ sich eine halbe Flasche Wein geben. – Doch nun werde ich erst mal den Herren etwas zu essen besorgen –“

Wir waren in der kleinen Stube allein.

„Ruperti hat für eine Art Alibi hier sorgen wollen,“ meinte Harald leise. „Nun werden die beiden Spießgesellen auf ihren Lorbeeren ausruhen. Ihre schlimmsten Feinde sind ja tot – denken sie! – Wenn wir uns etwas gestärkt haben, werden wir ihnen unsere Morgenvisite machen, ohne vorher anzuklopfen. Es wird dort an der Hütte wohl kaum Fensterladen geben. Wir schlagen eine Scheibe ein und –“

Ich saß mit dem Gesicht nach dem Fenster hin. Das Fenster ging nach Nordwest hinaus. Und dort wohnte Ruperti; und von dort kam jetzt ein Mann den schmalen Pfad daher, der sich durch das Geröll und Gestrüpp auf das kleine Wirtshaus zuschlängelte.

Ich hatte Harald zugewinkt. Er schwieg, wandte den Kopf.

„Das muß Granjelm sein, mein Alter –“ – Und Harst faßte in die Schlüsseltasche und holte die Clement hervor, entsicherte sie und legte sie auf den Tisch unter eine Zeitung.

„Ja – er kommt hierher,“ meinte ich in wachsender Erregung.

„Wir hätten ihn auch kaum vorbeigelassen. – Schnell – ich habe mir’s anders überlegt. Wir werden den Wirt ins Vertrauen ziehen. Ich möchte wissen, was Granjelm hier will –“

Er nahm die Pistole und seine Sportmütze. Wir gingen rasch in die Küche hinüber. Der Wirt, der im Sommer hier ganz allein hauste, war zum Glück keiner von jener denkträgen Sorte Mensch, denen man alles ganz genau auseinandersetzen muß. Er begriff im Augenblick, was wir beabsichtigten, verließ die Küche und betrat das Gastzimmer, dessen Tür er hinter sich nur anlehnte.

Da erschien Granjelm auch schon, rief dem Wirt einen Guten Morgen zu und reichte ihm die Hand. Der Wirt kannte ihn ja bereits als häufigen Gast des Gletschermalers.

„Raupach ist soeben mit seinem Malgerät zu einem dreitägigen Ausflug in die Schneefelder aufgebrochen,“ sagte Granjelm dann. „Ich wollte mich nur wieder verabschieden. Ich fahre mit dem Mittagsschiff nach Bergen zurück. Ich habe von dieser verteufelten Gegend vorläufig genug. Raupach erzählte Ihnen ja, daß er beinahe erschlagen worden wäre. Ich lag derweil in seiner Steinhütte und schlief, ahnte nicht, wie dicht der Tod ihn gestreift hatte. Oh – er war noch ganz blaß, als er dort oben erschien. Er hat die halbe Flasche Rotwein fast auf einen Zug hinabgegossen. – Leben Sie wohl. Ich komme nach einer Woche wieder her, dann vielleicht für längere Zeit.“

Harald stieß die Tür auf.

Granjelm hatte sich tadellos in der Gewalt. Sein Zusammenschrecken war so unmerklich, daß es kaum auffiel.

„Sie werden vorläufig noch hier bleiben müssen, Herr Granjelm,“ sagte Harst und brachte die Clement zum Vorschein.

Granjelm blickt Harald prüfend an.

„Ich habe für solche Scherze kein Verständnis, mein Herr,“ erklärte er eisig. „Wer sind Sie und was wünschen Sie, wenn ich fragen darf –“

„Ich wünsche, daß Sie sofort beide Arme nach vorn strecken und sich von meinem Freunde fesseln lassen, falls Sie nicht gerade Lust haben, sich gewaltsam die Hände binden zu lassen. Wer ich bin, wissen Sie. Und der Wirt hier weiß es auch –“

„Mein Herr, ich sehe Sie zum ersten Male, und –“

„Arme hoch!“ rief Harald drohend. „Ich denke, Sie sollten genug von mir gehört haben, um auf derlei Winkelzüge zu verzichten!“

„Wie Sie wollen –“ – Und der blondbärtige Granjelm hob die Arme.

Ich hatte aus der Küche bereits ein Stück Waschleine mitgebracht. Der Anwalt war nun wehrlos.

„Setzen Sie sich dorthin!“ befahl Harald.

Granjelm lächelte. „Bitte! – Sie werden mir im übrigen nicht viel anhaben können, Herr Harst. Ich vermute, daß Sie Ruperti verfolgen. Ruperti ist mein alter Freund und hat mir versichert, er sei weder Thoras Mörder noch –“

„Schweigen Sie!“ sagte Harald scharfen Tones. „Wo ist Ruperti jetzt?“

„Nach Norden über die Schneefelder unterwegs –“

 

4. Kapitel.

Würdige Genossen.

Harald musterte Granjelm durchdringend.

„Was haben Sie dort unter Ihre blaue Jacke geknöpft, die rechts und links an den inneren Brusttaschen weit absteht?“ fragte er dann.

„Geld,“ erwiderte Granjelm ruhig. „Banknoten sind’s, 172 000 Kronen, die ich im Auftrage Rupertis anonym der Polizei in Christiania zusenden soll. Ruperti will dieses Geld, das er in Thora Olavsens Koffer fand, nicht länger bei sich aufbewahren. Er sagte mir heute früh, daß er sich außerdem nach seiner Rückkehr von dem Ausflug der Polizei selbst stellen wolle.“

„So – so! Sehr verständig von ihm! – Sie werden uns jetzt nach der Steinhütte begleiten –“

„Gern, Herr Harst –“

Dieser Mann mußte Nerven wie die Ankertaue haben: dieser Mann war mindestens ebenso gefährlich wie Ruperti. –

Wir nahmen ihn in die Mitte. Als wir die niedrige Hütte mit den vier kleinen Fenstern und der schweren Holztür dicht vor uns hatten, sagte Granjelm: „Den Schlüssel hat Ruperti mitgenommen –“

„Das macht nichts. – Schraut, schlage eine Scheibe ein!“

Ich hielt dies für reichlich unvorsichtig. Ich war ja überzeugt, daß Ruperti sich in der Hütte befand.

Auf meinen fragenden Blick fügte Harst hinzu:

„Ruperti ist nicht zu Hause! Sei unbesorgt. Er wollte weder die 172 000 Kronen der Polizei zusenden lassen, noch sich der Polizei stellen –“

„Das muß ich wohl besser wissen,“ meinte Granjelm fast hochfahrend. „Ich habe Ruperti noch ein Stück begleitet als er bei Morgengrauen aufbrach. Er –“

Harst war plötzlich ganz dicht an Granjelm herangetreten.

„Sie lügen! Sie haben ihn – ermordet! Sie wollten ihn für immer los sein, nachdem in der vergangenen Nacht wir beide, wie Sie hoffen, zwar stumm gemacht worden waren. Sie aber anderseits die Überzeugung gewonnen hatten, daß jede fernere Verbindung mit Ruperti für Sie gefährlich werden könnte, eben weil man Ruperti nun bereits auf den Fersen war. Der für immer stumme Ruperti konnte nicht mehr verraten, daß Sie um seine Verbrechen wußten und an dem letzten sogar teilgenommen hatten – an Doktor Olavsens Entführung!“

Granjelm blieb selbst durch diese Vorwürfe ungerührt.

„Herr Harst, vor der Polizei werde ich alles zu Protokoll geben,“ sagte er wieder in recht anmaßendem Tone. „Ihnen bin ich keine Erklärung schuldig. Ich verlange, daß Sie mich sofort nach Odda bringen.“

Harald wandte sich mir zu. „Bewache ihn hier!“

Dann schlug er eine Scheibe ein, öffnete die Fensterhaken, zog einen Flügel auf und kletterte hinein.

Erst nach einer Viertelstunde erschien er wieder am Fenster.

„Doktor Olavsen ist ebenfalls nicht hier,“ sagte er. „Und doch glaube ich nicht, daß er ermordet worden ist –“

Granjelm hatte sich nach links umgedreht und beobachtete scheinbar mit Genuß, wie die ersten Sonnenstrahlen nun den nahen Gletscher aufleuchten ließen.

Harald stieg aus dem Fenster. Er hatte zwei Bergstöcke und ein langes Seil mit.

„Gib weiter auf ihn acht,“ meinte er zu mir. „Hier hast Du einen Bergstock. Ihr folgt mir in einigen Schritten Entfernung!“

Auf den Steinen und Blöcken, den spärlichen Gräsern und den dürftigen Sträuchern lag noch der Nachttau.

Harald ging tief gebückt nach links auf den Gletscher zu, dessen breite Eismasse hier einen Bergeinschnitt völlig ausfüllte. Auch ich bemühte mich, eine Fährte zu entdecken. Und – ich fand sie: es waren kleine Steine, von denen der Tau weggewischt war, als der Fuß eines Menschen sie berührt hatte. Diese verwischten feuchten Stellen lagen gerade in Schrittweite auseinander.

Dieser Fährte folgte Harst. Sie war deutlich genug, wenn man erst einmal darauf aufmerksam geworden war.

Granjelm ging ruhig neben mir. Er tat so, als wäre ihm alles dies höchst gleichgültig. Fürwahr: der Mensch hatte keine Nerven, hatte sehr wahrscheinlich vor kurzem jemand kaltblütig hingemordet und zeigte doch eine fast imponierende Gelassenheit.

Wir näherten uns so dem Gletscher, dessen steiler Rand mit Steinchen, kleinen Felsstücken und Steingrus bedeckt war.

Harald bückte sich noch tiefer. Ja, – wer doch seine Augen hätte! Wer doch wie er jetzt Schritt für Schritt auch auf dem harten Eise die Spur weiter verfolgen könnte!

Ich mußte Granjelm stützen. Oben war der Gletscher stellenweise völlig glatt – blankes Eis eben.

Wir umgingen ein paar schmale Gletscherspalten. Die Fährte lief nun schräg nach oben, wo die Gletschermasse immer seltener jene Verunreinigung durch Steingrus zeigte, die den Füßen Halt gab.

Nun blieb Harald neben einer sehr breiten Spalte stehen, deren glatte Eiswände im Lichte der Sonne strahlten und funkelten.

„Die Spur hört hier auf,“ sagte er. „Granjelm, wollen Sie zugeben, daß Sie Ruperti in der Steinhütte hinterlistig mit Zyankali vergiftet und die Leiche dann hierher getragen haben?“

Granjelm hatte sich auf einen großen Stein gesetzt, schaute vor sich hin und schwieg.

„Sie haben das eine Rotweinglas ausgespült und ausgetrocknet,“ fügte Harst hinzu. „Aber Sie vergaßen, daß das Handtuch den Bittermandelölgeruch selbst nach dem Ausspülen des Glases noch annahm – den typischen Geruch der Blausäure!“

Er beugte sich, als Granjelm weiter schwieg, über die Gletscherspalte.

Da der Gefesselte uns hier kaum entfliehen konnte, trat auch ich an die Spalte heran und schaute in das wunderbar farbenprächtige grünblaue Dunkel hinab.

„Ich werde an dem Seil hinabklimmen,“ meinte Harst. „Oder nein!“ verbesserte er sich. „Ich werde meine eingeschaltete Taschenlampe an dem Seil hinablassen –“ –

Seil und Lampe glitten langsam durch Harsts Hände.

Der Lichtkegel verwandelte das grünblaue Dunkel der Gletscherspalte in eine milchige Dämmerung.

Acht Meter Seil waren abgerollt.

Dann – dann hatten wir Ruperti gefunden. Die Leiche hing über einer Eiszacke, Kopf und Füße nach unten.

Und – nun auch Granjelms Stimme: „Schade, daß Sie den Selbstmörder entdeckt haben. Im Interesse der Familie Balnör wollte ich den Anschein erwecken, als hätte er freiwillig die 172 000 Kronen herausgegeben. In Wahrheit –“

Harst unterbrach ihn: „Mit diesen Märchen werden Sie wenig Glück haben. All diese Lügen fallen in sich selbst zusammen, da Sie es waren, der durch einen Sprengschuß die Steinlawine hervorrief! Wir hatten uns in eine Felsspalte gerettet, und ich erkenne Ihre Stimme wieder, die oben an der Spalte Ruperti erklärte, wir seien erledigt, er solle nur das Suchen lassen! Sie hoffen, ich hätte den Sprengschuß nicht gehört. Sie hoffen weiter, wir seien vor der Lawine so weit geflüchtet, daß wir Sie beide nicht gewahr wurden! Sie sehen: Sie sind überführt!“

Da erst verlor auch dieser kaltblütige Verbrecher die Fassung; da erst erbleichte er.

„Wo befindet sich Doktor Olavsen?“ fragte Harst rasch. „Granjelm – sagen Sie die Wahrheit!“

Der Rechtsanwalt lächelte verzerrt. „Suchen Sie ihn doch! Ich weiß nichts von ihm!“

„Vielleicht in Bergen in Ihrer Wohnung, Granjelm,“ meinte Harald. „Glauben Sie denn wirklich, daß ich ihn nicht finde?! Mann, weshalb noch diese Ausflüchte! Sie sind ein Mörder, aber gewiß kein Feigling! Sprechen Sie!“

„Ja – in meiner Wohnung. Ruperti war eifersüchtig auf Olavsen. Deshalb ließen wir ihn verschwinden. – Er hat sein Ehrenwort gegeben, meine Wohnung nicht zu verlassen, bis – bis Ruperti im Auslande in Sicherheit wäre. Er gab sein Wort, damit Frau Lottes Gatte nicht auf dem Schafott stürbe, damit er nicht vorzeitig gezwungen würde, Ruperti und mich zu verraten. Wir wollten getrennt fliehen, weil – weil wir Sie als Verfolger fürchteten –“

Harald schüttelte den Kopf. „Granjelm, ich denke, etwas anders liegt die Sache doch! Auch jetzt lügen Sie wieder! Sie beide haben Olavsen aus einem ganz anderen Grunde entführt. Ruperti hat den Versuch gemacht, seine Frau wieder zu umgarnen, hat gehofft, sie verleiten zu können, entweder mit ihm zu fliehen oder ihm doch wenigstens noch irgendwie Geld zu verschaffen. Er wollte sie wieder in seine Gewalt bekommen, weil er dann von dem reichen Reeder Geld hätte erpressen können, weil Frau Lotte eben eine reiche Erbin war. Bei diesen Plänen war ihm Olavsen im Wege, der sich um Frau Lotte bewarb. So wurde der Doktor von Ihnen beiden denn im Dorfe Söndar überwältigt und mit dem Albatros nach Bergen geschafft. Wären diese Pläne nicht geglückt, eben eine Aussöhnung zwischen den Ehegatten, dann konnten Sie beide immer noch von Olavsen für seine Freilassung ebenfalls Geld erpressen. – Fliehen wollten Sie! Das glaube ich. Aber vor der Flucht sollte noch ein neues Geschäft erledigt werden! Frau Ruperti wird bezeugen, daß sie zwei Briefe von ihrem Manne erhielt, und Olavsens Entführung ist anders nicht zu erklären, als ich dies soeben getan habe.“

Granjelm senkte den Kopf und murmelte in verbissener Wut: „Mag sein!“ Dann stand er plötzlich auf, war mit zwei Sätzen an der Eisspalte.

Ich griff zu spät zu. Er hatte sich in die grünblaue Finsternis hinabgestürzt.

Noch ein heiserer Schrei aus der Tiefe. – Und – drei Stunden später wurden zwei Leichen nach Odda geschafft. –

Mittags fuhren wir nach Bergen, wo wir in Granjelms Wohnung in einem Hinterzimmer Doktor Sigurd Olavsen gesund, wenn auch sehr blaß von der langen halb freiwilligen Haft, vorfanden. Er hatte wirklich in Frau Lottes Interesse sein Ehrenwort gegeben, nicht zu entfliehen. –

Nachher sagte Harald zu mir: „Wie sehr muß Olavsen wohl Lotte Balnör lieben, daß er es ihr ersparen wollte, die Gattin eines Mannes gewesen zu sein, der wegen Mordes hingerichtet wurde! Hoffen wir, daß Frau Lotte ihn einst recht glücklich macht!“

 

Nächster Band:

Das Rätsel der Trollhätta-Insel.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hier wurde in den ersten Auflagen die zweite Geschichte als Hefttitel angegeben, in späteren Auflagen dagegen die Erste. Siehe dazu auch unter „Zusätzliche Informationen“. Weiterhin heißt die erste Geschichte in späteren Auflagen sowohl auf dem Titelbild als auch innen und weiterhin auch in der Verlagswerbung nur noch „Das Geheimnis der Kabine 24“ – also ohne „Nr.“.
  2. Von 1624 bis 1924 trug Oslo den Namen Christiania.
  3. Das Eisenbahnfährschiff Preußen gab es wirklich. Es fuhr die Route SaßnitzTrelleborg.
  4. Diese Dampferfahrt ging über den Telemarkkanal. Er verbindet die Orte Skien und Dalen.
  5. Siehe Odda auf Wikipedia.
  6. Näheres über den Gletscher auf Wikipedia unter Buarbreen.