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Das Rätsel der Trollhätta-Insel

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 75:

 

Das Rätsel der Trollhätta-Insel

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1922.

 

1. Kapitel.

Die kleine norwegische Industriestadt Odda am Ende des bekannten Hardanger-Fjords beherbergte seit fünf Tagen eine internationale Berühmtheit: den Liebhaberdetektiv Harald Harst, jenen genialen Mann, dessen Taten und Abenteuer ich, sein Freund und Privatsekretär, hier schildern darf.

„Zwei Wochen lang faulenze ich jetzt nach Herzenslust, mein Alter,“ hatte Harald erklärt. „Mag kommen, was da will: ich übernehme erst nach Ablauf von zwei Wochen einen neuen Fall! Hier in Odda werden wir ja wohl auch vor Aufträgen sicher sein; hierher wird sich kein Mandant verirren. Die Reise ist zu umständlich.“ –

Harald vergaß zweierlei, als er diese Sätze aussprach. Erstens: daß die norwegischen Zeitungen über unsere Erlebnisse auf dem Gletscher bereits am folgenden Tage ganz eingehend berichtet hatten. Und zweitens: daß ein Mandant auch schreiben konnte und gar nicht persönlich in Odda zu erscheinen brauchte! –

Am sechsten Urlaubstage erhielt Harald dann den Brief des Herrn Ingenieurs Holger Sondbör aus Trollhätta.

Das Schreiben wurde ihm von dem Hoteldiener ausgehändigt, als wir gerade morgens um acht Uhr eine Fußtour unternehmen wollten.

„Vorgestern in Göteborg aufgegeben,“ sagte er wie zu sich selbst. „Auf der Rückseite steht als Absender „Holger Sondbör, Ingenieur, Trollhätta“. Hm – Herr Sondbör hat den Brief also mit nach Göteborg genommen und dort in den Kasten gewor–“

Das „geworfen“ wurde nicht beendet, sondern die letzte Silbe durch ein lautes „Ah! Geöffnet, wieder verklebt und mit einem heißen Bügeleisen geglättet!“ ersetzt.

Dann reichte er mir den Brief.

„Da, sieh Dir mal die Briefklappe an!“

Ich tat es, nickte und bestätigte: „Geöffnet, wieder zugeklebt und gebügelt, damit das unerlaubte Öffnen nicht auffällt!“

„Ganz recht. Mithin hat nicht Holger Sondbör den Brief nachher wieder geöffnet, sondern jemand anders. Sondbör hätte sich die Mühe des Bügelns erspart.“

Dann las er vor:

Trollhätta, den 3. August 19…

Sehr geehrter Herr Harst! Aus den Zeitungen ersah ich, daß Sie sich zur Zeit in Odda im Hotel Hardanger mit Ihrem Freunde, Herrn Schraut, aufhalten.

Gestatten Sie, daß ein Mann, der seit langem Ihr glühender Bewunderer ist, Ihnen einige Tatsachen mitteilt, die vielleicht etwas Besonderes verbergen.

Seit zehn Tagen wohnt hier in Trollhätta ein Franzose namens Jacques Dalcroix. Ich bin sein Stubennachbar bei der Witwe Svendsen, die von ihrer im ersten Stock eines hübschen Blockhauses gelegenen Wohnung drei Zimmer möbliert vermietet. Zwei davon hat Dalcroix inne, das dritte ich selbst.

Ich wohne bei Mutter Svendsen bereits zwei Jahre. Ich bin hier Ingenieur beim Trollhätta-Kraftwerk. Sie wissen ja, daß die berühmten Trollhätta-Fälle jetzt zur Kraftstromerzeugung ausgenutzt werden.

Am zweiten Abend nach Monsieur D’s Einzug stellte ich gegen 11 Uhr zufällig fest, daß D. trotz des starken Regens das Haus auf dem etwas ungewöhnlichen Wege durch das Fenster mit Hilfe einer Strickleiter verließ.

Er kehrte erst gegen drei Uhr heim – auf demselben Wege. Die Strickleiter hatte er hängen lassen.

Meine Aufmerksamkeit war erregt, – mehr noch: mein Argwohn! Ich habe seitdem allnächtlich mehrere Stunden den Schlaf geopfert und bin so in der Lage, behaupten zu dürfen, daß Monsieur Jacques Dalcroix eine anrüchige Persönlichkeit sein muß, denn – er hat sich jede Nacht bisher aus dem Hause durch das Fenster für längere Zeit entfernt.

Heute nacht geschah nun etwas neues. Ich möchte diese Nacht eingehender schildern.

Zunächst noch einige Einzelheiten über Dalcroix selbst.

Er ist mittelgroß, kräftig, bartlos, hat etwas stechende Augen, stellt jedoch im übrigen ganz den Typ des liebenswürdigen, vielseitig gebildeten Franzosen mit dem dieser Nation nie fehlenden Selbstbewußtsein dar. Wir sind miteinander bekannt geworden. Eine Unterhaltung zwischen uns stößt leider auf Schwierigkeiten, da Dalcroix meine Muttersprache nur mühselig radebrecht und ich wieder das Französische nicht beherrsche, wenigstens nicht fließend. – Jacques Dalcroix behauptet, Maler zu sein. Er läuft denn auch den Tag über mit einer Staffelei und einem Malkasten umher. Ob er tatsächlich etwas malt, weiß ich nicht. Mutter Svendsen will bei ihm einige Ölskizzen der Fälle gesehen haben. Er selbst erklärte mir, er zeige seine unfertigen Bilder niemals Fremden: es sei das eine Marotte von ihm. –

Nun zu der soeben vergangenen Nacht, denn ich schreibe diesen Brief am frühen Morgen.

Ich hatte mir vorgenommen, Dalcroix einmal heimlich zu folgen. Abends sagte ich ihm, ich hätte Nachtdienst im Kraftwerk. Ich wollte meine Abwesenheit von Hause nur irgendwie begründen.

Mutter Svendsens Häuschen liegt etwas außerhalb des Ortes nach dem Bahnhof zu. Es ist von einem Garten umgehen. Mithin war es mir leicht, mich in der Nähe zu verbergen.

Gegen Mitternacht bemerkte ich Dalcroix, dessen Zimmerfenster nach vorn hinausliegen, mit seiner Strickleiter am linken Eckfenster. Die Nacht war hell und sternenklar. Er kletterte wie immer sehr gewandt nach unten, verbarg die Strickleiter in dem wilden Wein, der die Vorderfront recht dicht umrankt, und schlich durch den Vorgarten der Straße zu.

Trollhätta ist nur ein kleines Städtchen. Nachts sind die Straßen wie ausgestorben.

Bei solcher Stille und in unseren hellen, nordischen Sommernächten jemandem unbemerkt zu folgen, ist nicht einfach, besonders wenn man hierin so gar keine Erfahrungen besitzt.

Ich mußte daher auch ein gutes Stück hinter Dalcroix bleiben, sonst hätte er mich erkannt, wenn er vielleicht argwöhnisch geworden wäre und sich umgedreht hätte.

Immerhin gelang es mir, festzustellen, wohin er seine Schritte lenkte. Er wanderte wie in den vorhergehenden Nächten den Fällen zu. Ich hatte von meinem Fenster aus ihn ja stets eine Strecke weit beobachten können.

Dann bog er jedoch dicht an der alten Schneidemühle nach links ab und betrat eine Baracke von Häuschen, in der ein buckliger Mensch namens Olaf Aarström wohnt, der sich nicht gerade des besten Rufes erfreut.

Diesen Aarström, einen Tagedieb und heimlichen Trunkenbold, hatte Dalcroix schon am zweiten Tage nach seiner Ankunft als Träger für seine Staffelei gemietet. Außerdem mußte der Bucklige auch den Rucksack schleppen, den der Maler stets mitnimmt, da er sein Mittagessen immer in Gestalt kalter Speisen im Freien verzehrt. –

Ich war recht überrascht, daß Dalcroix’ nächtliche Gänge gerade Olaf Aarström galten. Mehr noch: ich war zuerst enttäuscht!

Aber dann sagte ich mir, es müßten doch wohl zwischen den beiden Beziehungen bestehen, die das Licht des Tages zu scheuen hätten.

Ich möchte bemerken, sehr geehrter Herr Harst, daß ich keineswegs eine abenteuerliche Natur bin. Nein – ich hätte mich niemals auf diese Beobachtung des Malers eingelassen, wenn nicht seine merkwürdigen nächtlichen Ausflüge jene Neugier in mir geweckt haben würden, der wir alle wohl unter bestimmten Umständen unterliegen.

Dieses Interesse verführte mich nun auch dazu, mich nach einer geraumen Weile an Aarströms Häuschen heranzupirschen. Es ist für einen Laien in solchen Dingen recht schwer, lautlos und unter Ausnutzung aller Vorteile der Örtlichkeit bis zu einem erhellten Fenster zu gelangen. Ich brauchte deshalb auch eine Viertelstunde, bis ich mich unter dem an der Rückseite der Baracke liegenden Fenster, dem einzigen erleuchteten, aufrichten und durch die erblindeten Scheiben einen Blick in die armselige Stube werfen konnte.

In der Mitte sah ich einen Tisch mit einer hellen Wachstuchdecke. An dem Tisch saßen Dalcroix und Aarström sich gegenüber. Links stand auf der Tischplatte eine Petroleumlampe ohne Glocke. Ihr rötliches Licht bestrahlte die erregten Gesichter – zweier Kartenspieler! –

Sie werden es verstehen, Herr Harst, daß dieser Anblick mich noch mehr überraschte. Ich traute meinen Augen kaum! Dalcroix und Aarström beim Glücksspiel! Jeder mit einem Häufchen Geld neben sich! Nein – das hätte ich niemals vermutet!

Ich blieb noch eine halbe Stunde auf meinem Lauscherposten. Dann kehrte ich heim.

In meinem Zimmer überlegte ich mir alles nochmals ganz genau.

Und – da stieg denn in mir ganz allmählich der Argwohn auf, daß dieser Olaf Aarström, der erst vor drei Monaten hier zugezogen ist und doch bereits einen so schlechten Ruf genießt, vielleicht irgend ein Verbrecher wäre, der sich in dem stillen Trollhätta unter falschem Namen und mit Hilfe falscher Papiere vor der Polizei verbergen will und daß der – angebliche? – Franzose und Maler Dalcroix sehr gut sein Spießgeselle von früher her sein könnte.

Dieser Verdacht verstärkte sich schließlich derart, daß ich mich, nachdem ich Dalcroix noch bei seiner Rückkehr beobachtet hatte, an den Schreibtisch setzte und bei aufgehender Sonne diesen Brief begann. –

Ich habe das Schreiben soeben nochmals überflogen. Ich muß nachholen, daß die Witwe Svendsen das Blockhaus allein bewohnt und daß sie im Erdgeschoß nach hinten heraus schläft. Vor dem Hause stehen vier Walnußbäume und viele Fliedersträucher. Das nächste Haus liegt nach der Stadt zu über hundert Meter entfernt. –

Sollten Sie, sehr verehrter Herr Harst, die oben geschilderten Tatsachen ähnlich einschätzen, wie ich es tue, so könnte man der Menschheit vielleicht einen guten Dienst erweisen, wenn man sich mit den beiden fragwürdigen Persönlichkeiten näher beschäftigen würde.

Die hiesige Polizei zu benachrichtigen, ist zwecklos. Trollhätta ist keine Weltstadt, und unsere Polizeiorgane dürften kaum dazu genügen, zwei abgefeimte Verbrecher zu entlarven.

Da ich heute vormittag dienstlich in Malmö zu tun habe, werde ich den Brief dort aufgeben.

Falls Sie mir antworten, tun Sie es bitte hauptpostlagernd nach Malmö. Ich werde am 8. August dort auf der Post nach einem Briefe fragen.

Mit aller Hochachtung

Ihr ergebener Holger Sondbör.

 

2. Kapitel.

Harald legte den Brief auf den Tisch und blickte mich fragend an.

„Nun, mein Alter?“ meinte er. „Ob es lohnt –?“

Das hieß: sollen wir nach Trollhätta fahren oder nicht? – Nun – mir erschien dieser „Fall“ denn doch zu wenig aussichtsvoll.

„Hm – die Geschichte hat so wenig Eigenartiges,“ erwiderte ich daher.

„Du vergißt eins, lieber Alter,“ sagte er leise. „Der Brief ist geöffnet worden. Das kann Dalcroix getan haben.“

„Ein etwas sehr in der Luft hängender Verdacht!“ meinte ich zweifelnd.

„Vielleicht doch nicht so ganz! – Bedenke folgendes: Der Franzose ist Nacht für Nacht aus dem Fenster geklettert. Tat er dies wirklich nur, um den Buckligen zu besuchen und um mit ihm Karten zu spielen?! Hätten die beiden nicht weit weniger auffällig ihrer angeblichen Spielleidenschaft am Tage irgendwo frönen können?!“

Ich nickte jetzt eifrig. Ich verstand Harald vollkommen.

„Du glaubst also, Dalcroix und Aarström haben nur zum Schein Karten gespielt?“ fragte ich hastig.

„Ja – ich vermute es. Und zwar deswegen, weil der Brief des Ingenieurs heimlich geöffnet worden ist. – Ich will Dir meinen Gedankengang kurz entwickeln. Dalcroix mag gemerkt haben, daß Sondbör ihm gefolgt war. Er suchte nun diesen nächtlichen Ausflügen das harmlose Mäntelchen einer verborgenen Spielleidenschaft umzuhängen, ging zu Aarström, einigte sich mit diesem (falls die beiden nicht wirklich alte Komplicen sind) und ließ sich durch das Fenster, das nicht einmal einen Vorhang hatte, von Sondbör beobachten. Der fehlende Vorhang stützt meine Theorie nicht schlecht, mein Alter. Zwei Spieler, die nur nachts dem Jeu zu huldigen wagen, werden doch nicht bei unverhängtem Fenster sich an den Spieltisch setzen!“

„Allerdings!“ rief ich. „Allerdings! Das ist verdächtig.“

„Auch für Dich gewinnt die Angelegenheit schon ein anderes Aussehen! – Nun weiter. Dalcroix kommt nach Hause, weiß, daß der Ingenieur, sein Zimmernachbar, ihm nachspioniert hat, kehrt den Spieß um und beobachtet jetzt Sondbör, sieht ihn den Brief schreiben, nach dessen Fertigstellung der Ingenieur sich doch wahrscheinlich noch zum Schlafe niedergelegt hat. Dalcroix dringt lautlos bei ihm ein, holt den Brief, öffnet ihn in seinem Zimmer, liest ihn, verschließt ihn wieder und bringt ihn zurück.“

Harald lächelte jetzt etwas und fügte hinzu:

„Diese meine Schilderung der Vorgänge dürfte nicht nur durch die Tatsache des heimlichen Öffnens des Briefes, sondern auch durch des Ingenieurs Bitte, ihm die Antwort hauptpostlagernd nach Malmö zu senden, sehr an Wahrscheinlichkeit gewinnen. Aus dieser Bitte geht nämlich meines Erachtens hervor, daß Sondbör den Franzosen nicht nur für einen Verbrecher hält, sondern auch seinen Stubennachbar insofern fürchtet, als er ihm zutraut, Briefe, die für ihn, den Ingenieur, eintreffen, zu überwachen. Wenn – so mag Sondbörs Gedankengang gewesen sein – wenn Dalcroix dann den Poststempel Odda auf einem Briefumschlag sehen würde, könnte er argwöhnen, der Ingenieur habe sich an den in Odda anwesenden „Oberschnüffler“ Harst gewandt, könnte den Brief verschwinden lassen und Sondbör auf diese Weise verhindern, mit uns in Verbindung zu treten. – Diese kleinen Beweise, daß meine Beurteilung der Vorgänge in Trollhätta vor und nach der Fertigstellung des Briefes richtig sein dürfte, ließen sich noch durch andere Kombinationen ergänzen –“

„Danke. Mir genügen sie,“ meinte ich. „Auch ich bin überzeugt, daß Dalcroix mit dem nächtlichen Kartenspiel nur Sondbörs Argwohn hat zerstreuen wollen und daß er durch den Brief jetzt weiß, ein gewisser Harald Harst dürfte sich vielleicht sehr bald mit seiner Person näher beschäftigen.“

„Was uns wieder zwingt, recht vorsichtig zu sein,“ ergänzte mein Freund mit ernster Miene. „So, jetzt miete uns bitte ein Auto nach Dahlen. Von dort werden wir per Dampfer nach Göteborg reisen. Das Auto soll um zehn Uhr bereitstehen. Ich selbst will zur Post und eine Depesche an Sondbör aufgeben – nach Trollhätta, des Inhalts, daß wir leider heute bereits nach London müssen und erst in zehn Tagen ihn besuchen können.“

Ich lächelte verständnisinnig.

„Die Depesche ist für die Augen des Monsieur Dalcroix bestimmt! Die „Londoner“ Reise führt uns über Göteborg nach dem Städtchen an den berühmten Wasserfällen –“ –

Anderthalb Stunden später fuhren wir durch die wundervolle Gebirgslandschaft Telemarkens nach dem Dorfe Dahlen.

Unterwegs geschah nichts. Am nächsten Mittag trafen wir in Skien am Skien-Fjord ein. Da wir keinen passenden Dampferanschluß nach Göteborg hatten, mietete Harald eine kleine Motorjacht, die einem Kaufmann Nörgaard gehörte. Sie hatte nur zwei Mann Besatzung. Es waren Norweger und seit Jahren im Dienst des Großkaufmanns.

Nachmittags vier Uhr machte die Jacht vom Bollwerk in Skien los und fuhr den Fjord hinunter.

Wir hatten es uns in der geräumigen Kajüte rasch bequem gemacht. Der Matrose Sörensen, zugleich Koch, brachte uns dann den Nachmittagskaffee auf das kleine Achterdeck, wo Platz für zwei Korbsessel und ein Tischchen war.

Sörensen stellte das Tablett auf das Tischchen und sagte in seinem Seemannsenglisch[1], denn das Deutsche beherrschte er nicht, und ich verstand nicht norwegisch:

„Das da drüben am Westufer ist die zweitälteste Kirche des Landes, die Kirche von Lunbar –“

Ich blickte hin und erkannte einen düsteren Granitbau, der auf einer Terrasse des steilen Fjordufers inmitten winziger Spielzeughäuschen sich erhob.

Dann Haralds leise Stimme, und sofort drehte ich den Kopf nach ihm hin:

„Sörensen, holen Sie mir mal meine Reisetasche aus der Kajüte herauf, – die mit dem doppelten Schloß –“

Es war etwas in Harsts Art zu sprechen, das mich stutzig gemacht hatte. – Sörensen verschwand lautlos auf seinen Segeltuchschuhen die kurze Treppe hinab.

„Was gibt’s“ fragte ich flüsternd.

Haralds Blicke ruhten auf der weißen Porzellankaffeekanne.

„Es hätte leicht ein Unglück geben können, mein Alter. Zwei Leichen – wir beide!“

Da kehrte Sörensen schon mit der Reisetasche zurück und reichte sie Harst.

Ich war so verblüfft über Haralds Bemerkung, daß ich ihn wie entgeistert anstarrte. Er öffnete die Tasche und nahm den flachen Lederkarton heraus, die Reiseapotheke, klappte den Deckel auf, holte ein Fläschchen mit Glasstöpsel hervor, der in ein Röhrchen auslief, und tupfte einen Tropfen der Säure, die das Fläschchen enthielt, auf einen Fleck auf der Kaffeekanne, der wie ein stumpfer Strich schimmerte.

Kaum hatte die Säure diesen stumpfen Strich, offenbar einen angetrockneten Spritzer, berührt, als die farblose Säure leuchtend blau sich verfärbte.

Harald steckte den Stöpsel wieder in das Fläschchen und schaute den Matrosen Sörensen scharf an – so scharf und durchdringend, daß das blondbärtige, tiefgebräunte Gesicht unseres Kochs langsam einen hilflosen, verlegenen Ausdruck bekam.

Harst hatte schon in die Schlüsseltasche seiner Beinkleider gegriffen und – schob die Sicherung der kleinen Clementpistole zurück.

Ich sah, wie Sörensen quittengelb an den Wangen wurde. Seine Augen stierten wie gebannt auf den schwarzen Mehrlader.

„Wer hat Sie bestochen?“ fragte Harst kurz.

Sörensen leckte sich die Lippen. Sein Unterkiefer zitterte. – Dann stieß er heiser hervor:

„Haben Sie’s wirklich bemerkt, Sir?! Ich wußte gleich, daß die Geschichte schief gehen würde. Aber Gunlöv (das war der Maschinist) meinte, wir sollten uns den Nebenverdienst nicht entgehen lassen. – Sir – haben Sie Mitleid mit uns beiden! Verraten Sie nichts unserem Herrn! Wir wollen doch unsere Stellen nicht gern verlieren. Wir sind verheiratet, und Gunlöv hat fünf Kin–“

Das Wort „Kinder“ wurde nicht vollendet.

Harald war aus dem Korbsessel hochgesprungen und – zielte auf einen Mann, der soeben aus der Mittelluke aufgetaucht war und sich über Bord schwingen wollte.

Nein – nicht wollte.

Der Kerl war überaus fix. Der Sprung gelang, noch bevor Harst abgedrückt hatte.

Das Wasser platschte auf. Ich lief an die Reling, schaute nach dem Menschen aus, der wie ein Matrose gekleidet war und einen rötlichen Schifferbart am Kinn hatte.

Die Jacht fuhr gerade an einer Holztraft vorüber. Das endlos lange, gut fünfzehn Meter breite Floß aus ungeschälten Baumstämmen wurde von einem Schlepper gezogen und war von der Jacht auf Backbord nur etwa zwanzig Meter entfernt.

Gunlöv, der auch das Steuer mittschiffs bediente, hatte es durchaus nicht eilig, zu wenden und den Flüchtling zu verfolgen.

Sörensen fluchte und brüllte:

„Gunlöv, – verdammt – ran an den Kerl! Der Lump hat uns betrogen!“

Doch – der Flüchtling war bereits, offenbar ein vorzüglicher Schwimmer, untergetaucht und kam nicht wieder zum Vorschein.

Wir warteten drei – vier Minuten.

Die Jacht fuhr langsam an der Holztraft auf und ab. Wir hätten den Kerl bemerken müssen. Aber – wohl zehn Minuten ließen wir zwecklos die Augen hierhin und dorthin wandern.

Zwei der Flößer waren über die Stämme aus ihrer Strohhütte herbeigeeilt und fragten, was geschehen sei.

Sörensen wollte antworten. Harst rief schnell:

„Einer von uns ist über Bord gefallen. Er war betrunken –“

Dann gab er Gunlöv einen Wink, mit voller Kraft weiter zu fahren.

Die Flößer schimpften hinter uns drein. Sie glaubten, wir wären abgebrüht genug, uns nicht mehr um den Verunglückten zu kümmern.

Wir beide und Sörensen standen jetzt neben dem Mittelaufbau, wo Gunlöv das Steuerrad bediente.

„Der Fremde ist nicht ertrunken,“ sagte Harald. „Er ist unter die Stämme geschwommen, wo er zwischen den Hölzern Raum genug findet, den halben Kopf über Wasser zu bringen und zu atmen. – Gunlöv, erzählen Sie! Wie kam’s, daß Sie den Mann mitnahmen? Ich denke, er wird Ihnen vorgelogen haben, er wolle ebenfalls nach Göteborg. Er bot Ihnen beiden Geld, wenn Sie ihn heimlich die Fahrt mitmachen ließen.“

„So ist’s, Sir,“ nickte Gunlöv ängstlich. „Der Kerl erzählte uns, daß er –“

Harst winkte ab. „Das interessiert mich nicht. – Sörensen, Ihnen ist inzwischen wohl ein Licht aufgegangen, was der Mensch hier beabsichtigte.“

Der Matrose atmete wie erleichtert auf. „Gott sei Dank, daß Sie’s noch rechtzeitig erkannten, Sir! Vergiften wollte er Sie! Ich sah ja, wie das Zeug aus dem Fläschchen die Farbe veränderte, als Sie’s auf den Spritzer wischten –“

„Konnte der Fremde leicht an die bereits gefüllte Kaffeekanne heran?“ fragte Harst.

„Ja. Ich hatte ihn ja vorn versteckt, wo Gunlöv und ich schlafen. Er muß den Augenblick benutzt haben, als ich aus der Vorratskammer die Zwiebackbüchse holte.“

„Und – für uns zum Glück war er etwas hastig, als er das Gift in die Kaffeekanne goß. Ein Tröpfchen davon floß an der Kanne außen entlang. Der Tropfen trocknete infolge der Wärme des Porzellans sehr schnell und ließ die milchige Bahn zurück, die leicht als Rückstand einer besonderen Flüssigkeit zu erkennen war, da es in diesem matten Strich hie und da wie von winzigen Kristallteilchen schimmerte. – Sörensen, tun Sie alles an Speisen und Getränken weg, was sich in der Küche befand. Der Kerl kann womöglich noch anderes vergiftet haben. – Euch beiden soll weiter nichts geschehen. Ihr konntet nicht ahnen, daß es Leute gibt, die uns nach dem Leben trachten. Die Sache ist damit erledigt. Brühen Sie frischen Kaffee auf, Sörensen.“

Die beiden bedankten sich wortreich.

Dann saßen wir wieder in unseren Korbsesseln und warteten auf den Kaffee.

Harst rauchte sinnend. Nach einer Weile meinte er:

„Du siehst, man hat uns in Skien aufgelauert. Man wird auch in Bergen einen Attentäter bereit gehabt haben. Monsieur Dalcroix dürfte über mehrere Komplicen verfügen, und die ganze Angelegenheit ist ein Kapitalfall, ist etwas Großes, Lohnendes – lohnend für Verbrecher! Der Ingenieur Sondbör hat schon recht: auch der bucklige Aarström gehört mit dazu!“

Er blies den hellen Rauch der Mirakulum stoßweise von sich und fuhr fort: „Zwei Wege führen von Odda nach Göteborg-Trollhätta. Der eine über Bergen, die Heringsstadt, der andere, den wir wählten, über Skien. Auch in Göteborg wird jemand auf uns lauern. Die Bande muß scheußliche Angst vor uns haben. Wir werden trotzdem unerkannt nach Trollhätta gelangen!“ –

Zwei Tage später verließen wir um Mitternacht unweit Göteborg bei einem Fischerdorfe die Jacht und schickten sie nach Skien zurück.

In dem Dorfe mieteten wir einen Fischkutter, der einen Aushilfsmotor hatte. Mit diesem Kutter, der niemandem auffallen konnte, trafen wir morgens im Hafen von Göteborg ein. –

Geld macht die Leute nicht nur gesprächig, sondern auch stumm, wenn es sein muß. Wir konnten uns darauf verlassen, daß die Fischer nichts ausplaudern würden, obwohl sie genug hätten erzählen können, so zum Beispiel, daß ein älteres Ehepaar ihren Kutter zuletzt benutzt hatte, das gar kein Ehepaar war.

Mit unseren Koffern fuhren wir vor dem Hotel Skandinavia vor, genau zu derselben Zeit, als ein Zug von Stockholm angelangt war.

Am anderen Morgen begab sich Mr. Thomas Strapp alias Harald Harst zu einem Autoverleiher und besorgte einen großen Tourenwagen für vier Tage.

Mittags verließen wir Göteborg. Der Chauffeur, ein geborener Deutscher, wurde zunächst auf Herz und Nieren geprüft. Er schien zuverlässig zu sein, und so zog Harald ihn denn ins Vertrauen.

Kein Wunder, daß Gottlieb Brunning den Mund gehörig aufriß, als er vernahm, was wir vorhätten und wer wir seien. Er lebte schon fünfzehn Jahre in Göteborg und kannte Westschweden sehr genau. So konnte er uns denn recht wertvolle Winke geben, wo wir vorläufig Quartier beziehen sollten.

Nachmittags sechs Uhr trafen wir in einem Dorfe ein, das nördlich von den berühmten Fällen liegt, die der Götaelf bald nach seinem Austritt aus dem Wenersee bildet.

Das Dorf hatte einen sauberen Gasthof mit hübschen Fremdenzimmern. Hier stiegen wir ab. Wir wählten zwei Zimmer im Seitenflügel im Erdgeschoß.

Mit Brunning war alles für die Nacht genau vereinbart worden. Gegen elf Uhr stiegen wir, jetzt zwei Leute in Arbeitskitteln, zum Fenster hinaus und begannen unter Brunnings Führung den Marsch gen Trollhätta.

Um ein halb eins waren wir im Dienstraum des Ingenieurs vom Nachtdienst im Kraftwerk Trollhätta und erklärten dem liebenswürdigen Herrn, wer wir seien und was wir wünschten.

„Oh – den Kollegen Sondbör kann ich leider nicht herbeiholen lassen,“ erwiderte er ernst. „Sondbör ist gestern verunglückt. Er wurde gestern morgen tot auf der kleinen Felseninsel aufgefunden, die mitten in den Fällen liegt und vom Südufer nur mit Hilfe eines stets nassen Plankensteges zu erreichen ist.“

Wir schauten uns fassungslos an.

Sondbör tot?! Verunglückt?! Wirklich verunglückt?!

„Wie fand er denn den Tod?“ fragte Harald.

„Er muß von einem der Felsen, die auf der Insel hie und da aus dem Gestrüpp hervorragen, abgestürzt sein. Er lag mit dem Kopf in den Dornen und hatte sich den Schädel eingeschlagen. – Weshalb wollten Sie Sondbör sprechen, Herr Harst? Ich bin sein bester Freund gewesen, und so habe ich auch Ihre Depesche aus Odda gelesen. Sondbör hatte mir nie erzählt, daß er mit Ihnen irgendwie in Verbindung stand.“

„Auch nichts von Monsieur Dalcroix?“

„Nein! Was ist’s denn mit dem Maler?“

„Dalcroix dürfte Sondbörs Mörder sein, Herr Sigurdsen.“

Der Ingenieur verfärbte sich.

„Mörder – Mörder –! Ja – weshalb sollte der liebenswürdige Franzose –“

Harald unterbrach ihn. „Kennen Sie Dalcroix persönlich? – Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen ins Wort fiel. Wir haben wenig Zeit!“

„O bitte. – Ja, ich kenne Dalcroix.“

„Er ist noch in Trollhätta?“

„Ja. Er wohnt bei der Witwe Svendsen.“

„Wann sahen Sie ihn zum letzten Mal?“

„Heute abend gegen zehn Uhr, als ich hier nach dem Kraftwerk ging. Dalcroix sprach mich an, und wir redeten eine Weile über Sondbörs Tod.“

Harald blickte jetzt nachdenklich vor sich hin. Dann sagte er zu Sigurdsen:

„Kann man vom steilen Nordufer der Fälle die Insel überschauen?“

„Sehr bequem, Herr Harst.“

„Könnten Sie uns jemand mitgeben, der uns an jene Stelle führt? Es muß ein verschwiegener Mann sein.“

„Ich will es selbst tun, Herr Harst. Für eine halbe Stunde bin ich hier abkömmlich.“

„Bitte, wollen dann sofort aufbrechen,“ meinte Harald hastig. „Vielleicht haben wir Glück –“

 

3. Kapitel.

Die Trollhätta-Fälle[2] bestehen aus vier einzelnen Fällen. Das Nordufer ist sehr steil und gegen achtzig Meter hoch. Am Südufer liegt das Städtchen.

Wir passierten den Götaelf[3] unterhalb der Fälle. Hier führt eine eiserne Brücke über den Fluß, die wir schon vorhin benutzt hatten.

Das Nordufer bildet kleine Terrassen, die zu Bergpfaden umgewandelt und durch Treppen miteinander verbunden sind. – Sigurdsen war von Harald gebeten worden, möglichst gedeckt die Pfade entlangzuschreiten. Dies war nicht schwer, weil überall genug Büsche standen.

So kamen wir an einen für die Touristen hergerichteten Aussichtspunkt, der genau über der Insel lag. Jeder, der Trollhätta einmal besucht hat, kennt ihn.

Die Nacht war hell und der Himmel völlig wolkenlos. Harst zog sein Fernglas unter dem schäbigen Kittel hervor und kroch bis zum Rande des Abhangs vor. Wir anderen hielten uns im Schatten der Sträucher.

Nach einer Weile rief Harald mir zu:

„Schraut – bitte!“

Er durfte getrost rufen, denn das Donnern und Toben der stürzenden Wassermassen verschlang jedes Geräusch.

Ich schob mich neben ihn. Er drückte mir das Fernglas in die Hand.

Ich stellte es ein und schaute auf die etwa siebzig Meter entfernte Insel hinab.

Nach einigem Suchen entdeckte ich zwei Männer, die am Nordufer standen und sich dauernd bewegten. Das Ufer war dort ziemlich steil, und die Strömung schoß mit unheimlicher Schnelligkeit vorbei.

Dann nahm Harst mir das Glas wieder weg.

„Genug für heute,“ rief er. „Wir können nach unserem Dorf zurückkehren.“ –

Sigurdsen versprach nochmals, nichts zu verraten. Dann begannen wir den Heimweg. Um halb vier Uhr morgens waren wir in unserem Wohnzimmer. Brunning schlief in einem Stübchen neben der Garage.

Wir zogen uns im Dunkeln um und verwandelten uns wieder in das Ehepaar Strapp aus Neuyork. Nur um uns zurechtzuschminken, brauchten wir Licht.

Bisher hatte Harald sich recht schweigsam verhalten. Er schien noch nicht recht mit sich einig, was wir weiter tun sollten. Dann erklärte er:

„Wir werden nach Göteborg zurückfahren. Ich muß die Redaktion der Göteborg-Post besuchen. Wir steigen wieder im Skandinavia-Hotel ab.“ –

Mittags saßen wir im Zimmer des Chefredakteurs. Harald weihte den bejahrten Herrn in alles ein und bat um die Zeitungen vom März und April dieses Jahres.

Die dicken Bände der eingebundenen Nummern der Göteborg-Post wurden gebracht.

Während ich als Mistreß Strapp neben meinem „Gatten“ auf dem Sofa saß und mich langweilte, durchblätterte dieser Gatte die Zeitungen.

Was er darin zu finden hoffte, wußte ich nicht. Harst hat es nun einmal an sich, mich stets nur mit Andeutungen abzuspeisen. So hatte er auf dem Wege zur Redaktion lediglich gesagt:

„Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft müssen hier mit in Betracht gezogen werden.“

Das war alles. Und als ich ihn dann nochmals bat, mir doch wenigstens zu erklären, was die beiden Männer auf der Trollhätta-Insel getan hätten, erwiderte er:

„Daß es Dalcroix und Aarström waren, weißt Du. Du kannst Dir auch leicht zusammenreimen, daß sie Sondbör ermordet haben, als er sie auf der Insel belauschen wollte. Mithin ist sehr wahrscheinlich die Insel das Ziel der nächtlichen Ausflüge Dalcroix’ gewesen. Mehr kann auch ich Dir nicht sagen. Alles weitere bleibt graue Theorie, bis – bis ich die Zeitungen durchgesehen habe.“ –

Jetzt schien er einen Artikel gefunden zu haben, der ihn interessierte. Ich beugte mich näher und wollte mitlesen. Da klappte er den Band schon zu, erhob sich und dankte dem Chefredakteur.

„Wir haben leider nichts erreicht,“ sagte er noch. Dann gingen wir.

Und unten aus der Straße rief er eine Droschke herbei und befahl:

„Kungsgatan 16!“ (Königstraße).

„Also hast Du doch etwas erreicht,“ meinte ich fragend.

„Nein, nur eine Fährte gefunden. Sie kann falsch sein – kann! Aber ich glaube es nicht.“

Der Wagen hielt. Wir stiegen aus, zahlten und gingen die Geschäftsstraße weiter hinab bis zu einem Juwelierladen. –

Oskar Bantjör,
Juwelier,

war auf dem Firmenschild zu lesen.

Herr Bantjör war ein Mann von etwa sechzig Jahren, ganz in Schwarz gekleidet.

Als Harald ihn um eine Rücksprache bat, führte er uns in sein Privatkontor. Er hielt uns noch immer für Amerikaner.

Dann ließ Harst die Maske fallen.

„Herr Bantjör,“ sagte er, „Sie hatten im April des Jahres an mich nach Berlin-Schmargendorf geschrieben. Ich heiße Harald Harst, nicht Thomas Strapp. Sie baten mich damals, Ihren Sohn zu suchen, der während der Überfahrt von Saßnitz nach Trelleborg auf dem Fährschiff Preußen verschwunden war. Ich konnte Ihnen leider nicht zu Diensten sein, da ich gerade einen anderen Fall zu erledigen hatte. Ich habe auch in deutschen Zeitungen nichts mehr über diese Angelegenheit gelesen.“

Der alte, weißbärtige Herr, dessen gramdurchfurchte Züge sich bei der Erwähnung seines Sohnes noch mehr verdüstert hatten, schaute Harald traurig an.

„Mein Sohn ist – ist damals nicht verschwunden, Herr Harst,“ sagte er leise. „Er ist – entflohen. Ich – ich habe keinen Sohn mehr! Er hat mich bestohlen, hat mich fast ruiniert! Und alles natürlich eines Weibes wegen!“

Der letzte Satz wurde mit einem Haß herausgestoßen, der das vergrämte Greisenantlitz zur häßlichen Fratze verzerrte.

„Wer war dieses Weib?“ fragte Harald nach einer Weile.

„Die Tochter meines Hausdieners,“ erwiderte der alte Herr ziemlich ablehnenden Tones. Er sprach offenbar ungern über diese Dinge.

„Verzeihen Sie, Herr Bantjör,“ meinte Harald darauf. „Es ist lediglich Berufsinteresse bei mir, das mich dieses Thema berühren läßt!“

„Das Interesse ist zwecklos, Herr Harst. Gunnar befindet sich drüben in Amerika. Ich habe ihn nicht verfolgen lassen. Er war mein einziges Kind. Meine Frau ist vor acht Wochen aus Gram gestorben.“

„Noch eine letzte Frage,“ bat Harald, indem er sich erhob. „Hat Ihr Sohn nochmals an Sie geschrieben?“

„Nein. Nur aus Christiania erhielt ich am 15. April einen Brief, in dem Gunnar seine Verfehlungen eingestand und mich anflehte, die Polizei nicht gegen ihn aufzubieten. Am 15. April abends hat er, wie er mir ferner mitteilte, Christiania mit einem Dampfer verlassen.“

„Danke, Herr Bantjör. Wir wollen dann nicht weiter stören.“

Der Juwelier schaute Harald jetzt unsicher an.

„Weshalb sind Sie eigentlich zu mir gekommen, Herr Harst?“ forschte er zögernd.

„Weil ich in der Göteborg-Post einen Artikel über Ihren Sohn und die schöne Sigrid Arbang gefunden hatte. Da besann ich mich auf Ihren damaligen Brief. – Gestatten Sie, daß wir uns jetzt verabschieden, Herr Bantjör –“

Wir verließen das Haus und wanderten die Kungsgatan hinab.

„Was stand in dem Artikel?“ fragte ich Harald, da er von selbst kein Wort sprach.

Er erwiderte nichts, sondern schritt nur mit schweren Bewegungen, ganz den Jahren des Master Thomas Strapp angemessen, neben mir her und zündete sich eine Mirakulum an.

Erst kurz vor unserem Hotel sagte er unvermittelt:

„Wir werden um fünf Uhr wieder nach jenem Dorfe nördlich der Fälle fahren. Ich will dem Autoverleiher Bescheid sagen. Geh’ auf unsere Zimmer und bestelle die Rechnung.“

Ich bestellte die Rechnung, bat den Kellner aber gleichzeitig, im Bureau nachzufragen, ob dort vielleicht noch die Aprilnummern der Göteborg-Post vorhanden seien.

„Das glaube ich wohl,“ erklärte der Kellner. „Wir sammeln sie der Fremdenlisten wegen.“

Gleich darauf durchsuchte ich einen Stoß Zeitungen nach jenem Artikel, der sich mit Gunnar Bantjör und der schönen Sigrid beschäftigen sollte.

Ich fand ihn auch in der Abendnummer vom 21. April. Ich will ihn hier nur im Auszug wiedergeben:

„Das zuerst so rätselhafte Verschwinden eines in unserer Stadt als Lebemann recht bekannten jüngeren Herrn hat jetzt eine romantische Aufklärung gefunden. Herr Gunnar B. ist mit der schönen Sigrid, einem Mädchen von makellosem Rufe, nach Amerika ausgewandert. Beide sind in Christiania gesehen worden, wo sie Plätze auf einem Dampfer nach Neuyork belegt hatten und am 15. d. M. abgereist sind. Auch der Vater der schönen Sigrid soll das Paar begleitet haben. Ob die hier in Göteborg umlaufenden Gerüchte, daß der bucklige Olaf Arbang –“

Als ich so weit gelesen hatte, stutzte ich.

Der bucklige Olaf Arbang?! – Bucklig?! Und – der Vorname!

Olaf Arbang – Olaf Aarström!

Ja – hier hatte ich die Brücke zwischen den Vorfällen in Trollhätta und der Flucht Gunnar Bantjörs gefunden.

Begierig las ich weiter:

„– bucklige Olaf Arbang seinem Chef Juwelen im Werte von 200 000 Kronen gestohlen hat, der Wahrheit entsprechen, läßt sich schwer feststellen, obwohl unseres Erachtens nur eine Anfrage durch die Polizei (und diese Anfrage dürfte im öffentlichen Interesse liegen!) nötig wäre, um eine Angelegenheit zu klären, die zum Teil vor den Strafrichter gehört. Wohin würden wir wohl mit unserer Rechtspflege geraten, wenn aus Angst vor einem Familienskandal jeder, der an seinem Eigentum durch unredliche Angestellte geschädigt wird, von einer Strafanzeige absieht?! – Im allgemeinen vermeiden wir es, uns in Privatangelegenheiten einzumischen. Sobald diese aber auf das Gebiet öffentlicher Interessen hinüberspielen –“

– und so weiter –

Ich suchte dann nochmals die Zeitungen durch und entdeckte so auch den ersten Artikel, der sich mit Gunnar Bantjörs Verschwinden beschäftigte. Ich brauche diesen Artikel hier nicht mit anzuführen. Er enthielt nichts, was für den Fall „Rätsel der Trollhätta-Insel“ von Interesse wäre.

Kaum hatte der Kellner den Zeitungsstoß wieder weggebracht, als Harald schon zurückkehrte.

Ich freute mich nicht wenig, jetzt auch meinerseits ihn einmal überraschen zu können.

Doch – er kam mir zuvor.

„Der Kellner begegnete mir auf der Treppe,“ sagte er fast unfreundlich. „Es war sehr leichtsinnig von Dir, die Zeitungen hier durchzulesen. Wenn einer von der Bande hier im Hotel steckt und nur etwas gewitzt ist, kann er unschwer auf den Gedanken kommen, wir seien alles andere nur nicht das Ehepaar Strapp aus Neuyork.“

Diese Möglichkeit, daß jemand auf diese Weise gegen uns Verdacht schöpfen könnte, erschien mir denn doch recht gering.

„Du übertreibst die Vorsicht,“ meinte ich kleinlaut, denn ich wollte Harald nicht durch einen allzu selbstbewußten Ton noch mehr reizen. „Es kann doch nicht in jedem Hotel Göteborgs ein Aufpasser sitzen und –“

„Bitte!“ unterbrach er mich. „Unten in der Vorhalle sitzt einer!“

Das war kein Scherz. Ich sah es seinem Gesicht an.

Dann lächelte er plötzlich und kniff das linke Auge zu.

„Es schadet jedoch nichts, daß er da sitzt!“ meinte er in ganz anderem Tone. „Nein – jetzt schadet’s nichts mehr, denn mir ist da soeben ein leidlich guter Gedanke gekommen. Wir werden diesen Herrn mit dem schönen, blonden, vorgeklebten Spitzbart, der für mich ein so fabelhaftes Interesse hatte, daß er mich durch einen in seiner Hand verborgenen Spiegel beobachtete, als ich den Kellner ansprach, für unsere Zwecke benutzen. Begleite mich mal nach unten –“

Harst war jetzt wie ausgewechselt. Seine grauen Augen strahlten vor Kampflust.

Aber als wir dann nebeneinander die Treppe hinabstiegen, hatte er bereits wieder ganz die überlegene, beinahe schläfrige Ruhe des Masters Thomas Strapp angenommen.

Unten in der Vorhalle fanden wir nur den Oberkellner vor.

Harald fragte ihn leise:

„Dort auf dem Ecksofa saß vorhin ein blondbärtiger Herr und las Zeitung. Ich glaube, es war ein Kaufmann aus Neuyork, mit dem die Firma Strapp schon mal Geschäfte gemacht hat.“

Der Oberkellner dienerte. Das Ehepaar Strapp galt hier im Skandinavia bereits für millionenschwer.

„Der Herr wohnt seit heute mittag hier,“ erklärte der Ober. „Es ist ein Amerikaner namens Longfife aus Chikago.“

„Aha – Longfife! Natürlich – Longfife!“ nickte Harald. „Ist er auf seinem Zimmer?“

„Ja. Er wartet auf telephonischen Anschluß nach Trollhätta. Er hat ein Ferngespräch angemeldet.“

„Gut. Meine Frau und ich werden Longfife begrüßen gehen. Welche Zimmernummer?“

„18 – bitte –“ –

Nummer 18 lag unseren Zimmern gerade gegenüber. Und – dieser Master Longfife wollte mit jemandem in Trollhätta telephonieren und war erst heute mittag im Skandinavia abgestiegen! Also vor drei Stunden! Zugleich mit uns etwa!

„Ja, ja,“ sagte Harald leise im Lift zu mir. „So ein Handspiegel verrät viel – sehr viel! Ich wäre nie auf den Freund in Chikago – Longfife aufmerksam geworden, wenn er nicht die Dummheit gemacht hätte! – Wie der Mensch nur herausgebracht haben mag, daß wir hier wohnen und daß das Ehepaar Strapp für gewöhnlich kein Ehepaar ist –?!“

Wir verließen den Fahrstuhl und – sahen gerade noch, den Flur entlangblickend, Master Longfife in Nr. 18 verschwinden.

„Du, der Kerl hat vielleicht gehorcht!“ meinte Harald. „Gehen wir erst mal in unser Zimmer!“

 

4. Kapitel.

Wir blieben dort nur ein paar Minuten. Harst steckte seine entsicherte Clement in die rechte Jackentasche.

„Man kann nie wissen!“ sagte er dabei.

Ich fühlte mich daher veranlaßt, meine Clement in meinen Alte Damen-Pompadour zu versenken.

Dann klopfte Harald drüben bei Freund Longfife an.

Eine Weile nichts. Dann eine Stimme:

„Wer ist dort?“

„Ferngespräch Trollhätta, Master Longfife,“ rief Harst in tiefem Baß.

Die Tür ging auf, nachdem der Nachtriegel hörbar zurückgeschoben worden war.

Bei unserem Anblick prallte der angebliche Longfife zurück.

Harst trat schnell ein. Ich folgte, drückte die Tür ins Schloß und lehnte mich dagegen.

Master Longfife hatte sich rasch gefaßt.

„Sie wünschen?“ fragte er in mäßigem Englisch. Schon diese Frage bewies der Aussprache nach, daß er kein Amerikaner war.

„Setzen Sie sich dorthin!“ befahl Harald kurz. „Ich rate Ihnen, keine Komödie zu spielen. Wir wissen Bescheid!“

Er war plötzlich dicht vor Longfife, hatte ihm ebenso plötzlich den falschen Bart und eine tadellose Perücke abgerissen.

Der auf diese Weise demaskierte Kopf mit der dicken Knollennase und den farblosen Fischaugen wirkte recht unsympathisch.

Der Kerl war merklich erblaßt. Er machte noch einen schüchternen Versuch, den Beleidigten zu spielen. Aber Harsts Drohung, die Polizei zu holen, ließ ihn einsehen, daß das Spiel für ihn verloren war. Er setzte sich also ganz gehorsam in den Plüschsessel und legte die Hände ebenso gehorsam vor sich auf die Tischplatte.

Dann sagte er, eine andere Art der Verteidigung wählend:

„Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, weiß nicht mal, wer Sie sind. Ich gebe zu, daß ich unter falschem Namen hier aufgetreten bin. Das ist nicht weiter strafbar.“

Harald lächelte ihn geringschätzig an. „Sie müssen Ihre Mätzchen endlich ganz aufgeben!“ meinte er. „Sie sind derselbe Mensch, der uns auf der Motorjacht vergiften wollte. Ich habe einen Blick für Gesichter. Mich täuscht man nicht. Mit wem wollten Sie in Trollhätta sprechen?“

Der Kerl senkte den Kopf und schwieg.

„Vielleicht mit Charles Dalcroix?“ fragte Harst. „Ich erfahre ja doch, wer sich drüben in Trollhätta melden sollte –“

Wieder keine Antwort. Aber in dem Bulldoggengesicht des angeblichen Longfife brannte jetzt die Röte verbissener Wut.

„So, Sie wollen also nicht,“ sagte Harald dann achselzuckend. „Schraut, fahre zur Polizei und verständige den Kriminalinspektor Dronting. Er kennt mich von früher her. Dieser Mensch muß ohne jedes Aufsehen verhaftet und abgeführt werden. Nicht einmal das Hotelpersonal darf etwas merken. Dronting soll in einer Verkleidung kommen. Dem Oberkellner erkläre im Namen Longfifes, daß das Telephongespräch nach Trollhätta vorläufig abbestellt werden soll.“

Longfife war jetzt blaurot vor Wut geworden.

Ich verließ das Zimmer. – Nach zehn Minuten saß ich dem dicken Dronting gegenüber.

„Himmel – Sie sind Herr Schraut?!“ meinte er. „Und Harst in Göteborg?! – Erzählen Sie –“

Das war bald erledigt. Und ebenso schnell hatte Dronting sich in einen recht echt wirkenden Dienstmann verwandelt, der dann hinter mir die Hoteltreppe emporstieg.

Ohne anzuklopfen öffnete ich die Tür von Nr. 18.

Und – prallte zurück, wie vor einer halben Stunde Longfife es bei unserem Anblick getan hatte.

Denn – ich traute meinen Augen nicht! – in dem Sessel saß Longfife und hielt Harsts Clement in der Rechten, zielte auf Dronting und mich und winkte kurz.

„Oho!“ meinte der Inspektor da. „Bürschchen, so spielen wir nicht!“

Er trat rasch ein, packte den nächsten Stuhl mit Riesenkraft und schwang ihn hoch.

Da – aus dem Sessel ein vergnügtes Lachen.

„Strengen Sie sich nicht unnötig an, Dronting!“ sagte Longfife mit Harsts Stimme. „Ich habe mir nur einen Scherz erlaubt. – Schraut – die Tür zu! – So, Tag, Dronting!“ Er reichte dem Beamten die Hand.

„Wo haben Sie denn den anderen gelassen?“ fragte der Inspektor kopfschüttelnd.

„Dort!“ Und Harst deutete auf den großen Rohrplattenkoffer Longfifes. „Es waren nur Ziegelsteine und leere Pappschachteln darin. – So –“ Er hob den Deckel auf.

Und in dem Koffer kauerte wirklich der an Händen und Füßen gefesselte Longfife und schielte uns tückisch an.

Harst klappte den Deckel wieder zu.

„Es paßt sehr gut, Dronting, daß Sie als Dienstmann kamen. Ich war schon unten in der Vorhalle – als Longfife, und habe erklärt, daß ich, Longfife, abreise. Dieses Gespräch mit dem Oberkellner war die Probe auf die Güte meiner Maske.“

„Die ist vorzüglich!“ bestätigte ich. „Selbst die Knollennase wirkt echt. Natürlich Wattepfropfen!!“

„Sie werden den Koffer jetzt mitnehmen, Dronting,“ ordnete Harst weiter an. „Wir beide fahren mit einer Droschke davon. Schraut, Du folgst uns nach der Polizeidirektion mit unseren Koffern. Die Rechnung hier im Hotel ist ja bereits bezahlt. Das Auto, das ich bestellt habe, werde ich telephonisch anderswohin beordern.“ –

Der Koffer wurde verschlossen. Dronting schleppte ihn davon.

Alles ging nach Wunsch. Als ich gegen halb fünf Drontings Dienstzimmer betrat, standen Harst und der Inspektor über das Verbrecheralbum gebeugt an dem großen Schreibtisch. Longfife saß mit Handschellen am Fenster neben einem Kriminalbeamten.

„Also der Stockholmer viermal vorbestrafte Einbrecher Sven Hargarsen,“ sagte Dronting jetzt und nickte mir zu. Dann wandte er sich an den Gefesselten.

„Na, Hargarsen, wie wär’s nun, wenn Sie mit der Wahrheit herausrückten? Bedenken Sie: es geht um Mord! Der Ingenieur Holger Sondbör ist von Euch auf der Trollhätta-Insel kaltgemacht worden!“

„Ich war mein Lebtag nicht in Trollhätta,“ brummte Hargarsen. „Ich will alles zu Protokoll geben –“

„Das ist verständig, Hargarsen,“ lobte der Inspektor. „Nur – lügen Sie nicht zu viel! Sie wissen ja: Harst kontrolliert Ihre Angaben!“

„Habe keinen Grund zum Lügen,“ erklärte der Verbrecher finster. „Habe mich nur einwickeln lassen! Das verdammte Weib ist daran schuld, die Sigrid Arbang. Kannte ihren Vater von früher her –“

Hier unterbrach Harald den Stockholmer.

„Olaf Arbang ist vorbestraft?“

„Vielleicht, Herr Harst. Wenn ja, dann unter anderem Namen natürlich. Sonst hätte Herr Juwelier Bantjör den Buckel-Olaf wohl kaum vor fünf Jahren als Hausdiener eingestellt. – Also – ich kam zufällig vor vier Monaten nach Göteborg. Da traf ich Arbang auf dem Bahnhof. Das war am 2. April etwa. Es kann auch der 3. April gewesen sein. Wir hatten uns jahrelang nicht gesehen. Er nahm mich mit in seine Wohnung. So lernte ich Sigrid kennen. – Ach – sie war ja ein Bild von Weib! Aber dabei so zurückhaltend, so – so stolz! Ich verliebte mich sofort in sie. – Ich blieb eine Woche bei Arbang. Dann sagte er mir, er könne mich nicht länger beherbergen. Ich mußte also in einen Gasthof übersiedeln. Bald darauf waren Vater und Tochter verschwunden. Erst aus der Zeitung ersah ich, daß sie mit Gunnar Bantjör nach Amerika verduftet waren. Ich habe mir dann hier in Göteborg Arbeit gesucht und wurde Statist im National-Theater. Ich hörte nichts mehr von den Arbangs. Aber am 4. August kam Arbang ganz überraschend spät abends in meine Dachstube und bestellte mir Grüße von Sigrid. Er erzählte folgendes: Er und Sigrid seien heimlich wieder nach Schweden zurückgekehrt. Gunnar Bantjör sei in Neuyork geblieben. Sie hätte sich mit ihm überworfen. Er – Arbang – wohne jetzt als Olaf Aarström in Trollhätta, während Sigrid sich in Christiania unter dem Namen Sigrid Aarström als Verkäuferin redlich ihr Brot verdiene. Er hätte mich schon vor drei Wochen abends auf der Straße gesehen, jedoch nicht ansprechen wollen, sei mir aber bis zu meiner Wohnung heimlich gefolgt. – Dann rückte er mit seinem Anliegen heraus. Er hätte doch damals dem Juwelier Bantjör mit Hilfe des Tresorschlüssels, den Gunnar ihm gegeben, für 200 000 Kronen lose Edelsteine gestohlen, und dieser Geschichte wegen sei nun der bekannte Harst hinter ihm her. Ich solle versuchen, Harst und Schraut stumm zu machen. – Er gab mir 3000 Kronen und ein Fläschchen Gift und schickte mich nach Skien. Er meinte, die beiden würden von Odda über Skien nach Göteborg reisen. Das ginge noch am schnellsten. – Ich will noch erwähnen, daß ich mich anfänglich sträubte, zwei Menschen zu beseitigen, die mir selbst gleichgültig waren. Da zerstreute er meine Bedenken durch einen Hinweis auf Sigrid, die mich nicht vergessen hätte. Na – auch ich hatte sie nicht vergessen – leider! So kam denn die Sache zustande. In Skien schmuggelten mich die beiden Leute der Motorjacht an Bord, und –“

„Das wissen wir,“ meinte Harst. „Sie entflohen und verbargen sich unter dem Floß. Was geschah nachher?“

„Ich kam unbemerkt an Land und fuhr von Skien nach Christiania mit der Bahn, weiter nach Göteborg. Von hier rief ich Aarström telephonisch an. Er hatte mir schon vorher die Nummer 136 genannt. Ich solle dem, der sich als Charles Dalcroix in Trollhätta melde, volles Vertrauen schenken. – Es meldete sich dann auch wirklich Dalcroix, den ich im übrigen nicht kenne. In versteckter Form teilte ich ihm mit, daß der Anschlag mißglückt sei. Er gab mir nun die Anweisung, hier in Göteborg die Hotels zu überwachen, ebenso die Privatpensionen, und sagte noch, Harst und Schraut wählten gern die Maske als älteres Ehepaar. – Heute bummelte ich gerade hier vor dem Skandinavia mittags auf und ab, als ein Auto vorfuhr. Darin saß ein älteres Ehepaar. Eine Kleinigkeit verriet mir, daß es kein Ehepaar war –“

„Welche Kleinigkeit?“ fragte Harald gespannt.

„Herr Schraut half als Dame den einen Koffer herausheben. So viel Kraft hat keine Dame mit grauen Haaren! Und als erst mal der Argwohn erwacht war –“

„Schon gut!!“ winkte Harald ab. „Ihr Geständnis scheint der Wahrheit zu entsprechen. Sie haben jetzt einen doppelten Giftmordversuch auf dem Kerbholz, Sven Hargarsen! Das kostet Zuchthaus!!“

„Es war ja gar kein Gift, was ich da an Bord in die Porzellankanne goß,“ erklärte der Statist eifrig. „Wirklich, es war nur ein Betäubungsmittel, Herr Harst!!“

„Gut – es soll ein Betäubungsmittel gewesen sein, wenn Sie jetzt ganz ehrlich sind, Hargarsen! – Also: weshalb besuchten Aarström und Dalcroix nachts die Trollhätta-Insel?“

Der Verbrecher blickte Harald erstaunt an.

„Keine Ahnung, Herr Harst! Wahrhaftig: keine Ahnung! Ich weiß nicht mal, daß es in den Wasserfällen eine Insel gibt! Ich lüge nicht!“

„Scheint so. – Wann erfuhren Sie von dem Tode des Ingenieurs Sondbör etwas?“

„Gestern – durch die Zeitung.“

„Kam Ihnen da nicht der Verdacht, daß Sondbör ermordet sein könnte?“

„Nein – tatsächlich nicht! Wie sollte in mir auch wohl der Gedanke aufgestiegen sein?! In der Zeitung stand ja lediglich, es sei ein Unfall.“

„Kennen Sie jenen Dalcroix tatsächlich nicht?“

„Nein, Herr Harst. Olaf Arbang sagte mir, als er mich in der Dachstube aufsuchte, Dalcroix sei gleichfalls ein schwerer Junge, ein Däne, und hätte dort in Trollhätta ’ne große Sache vor. Mehr weiß ich nicht!“

„Gut. Mag sein. Sie werden jetzt sofort von hier Trollhätta 136 anrufen. Der Inspektor wird dafür sorgen, daß das Amt das Ferngespräch sogleich erledigen läßt. – Dronting, bitte – geben Sie dem Amt Bescheid.“

Dronting tat es.

„Sie, Hargarsen, werden nun Dalcroix folgendes mitteilen,“ ordnete Harst weiter an. „Sollte Dalcroix nicht daheim sein, so sagen Sie seiner Wirtin, der Witwe Svendsen, daß Dalcroix heute abend um elf Uhr „einen Freund vom Theater“ bei Aarström erwarten soll, der wichtige Nachrichten brächte. Meldet sich Dalcroix, so erklären Sie ihm, Sie könnten ihm und Aarström nur persönlich Bericht erstatten und würden im Auto um elf Uhr in Trollhätta eintreffen. Er solle Sie am Bahnhof erwarten.“

Inzwischen hatte Dronting bereits die Verbindung herstellen lassen.

Hargarsen nahm den Hörer, nachdem ihm die Handschellen gelöst worden waren. Es meldete sich Frau Svendsen.

Hargarsen gab ihr für Dalcroix die Bestellung genau so auf, wie Harald es verlangt hatte. –

Harst war zufrieden. Der Verbrecher wurde dann abgeführt.

„Ich möchte mit nach Trollhätta,“ meinte der Inspektor zu Harst, als wir allein waren.

„Sollen Sie auch, Dronting. Sie fahren mit Schraut voraus, steigen vor dem Orte aus und bleiben bis zehn Uhr im Bahnhofshotel. Um halb elf gehen Sie mit Schraut bis zur Schneidemühle, neben der der Weg zur Insel abzweigt. Schraut sucht dann das Häuschen Aarströms auf, wo ich inzwischen als Hargarsen eingedrungen sein werde. Ich will die beiden Kerle so lange schon in Schach halten. Wir beide bringen Aarström und Dalcroix dann nach der Insel, wo Sie uns erwarten.“

„Hm – und dann?“ meinte Dronting zweifelnd.

„Dann wird sich herausstellen, welcher Art die Anziehungskraft war, die die Insel auf diese Leute ausübte.“

„Da bin ich neugierig, bester Harst! – Herausstellen?! Die Kerle werden sich hüten, es uns zu sagen.“

„Doch wohl nicht, lieber Dronting! Warten wir ab!“

 

5. Kapitel.

Ein gutes Tourenauto fährt von Göteborg bis Trollhätta etwa zwei Stunden.

Der Inspektor und ich – jetzt als Schraut ohne Verkleidung, nur mit Autobrille – verließen Göteborg um sieben Uhr abends. Harst wollte in einem zweiten Auto eine Viertelstunde später nachkommen.

Als wir, Dronting und ich, uns von Harald vorläufig verabschiedet hatten, drückte mir dieser noch schnell einen Zettel in die Hand.

Ich konnte den Zettel dann erst im Gastzimmer des Bahnhofshotels in Trollhätta heimlich lesen. – Da stand mit Bleistift gekritzelt:

„Laß Dronting um zehn unter Vorwand allein und frage Dich bis zu Aarströms Häuschen durch. Ich erwarte Dich dort.“

Dieser Inhalt bewies mir, daß Harald sich die Lösung des Rätsels der Trollhätta-Insel doch wohl anders dachte, als er es Dronting gegenüber angegeben hatte.

Kurz vor zehn – wir saßen bei einem Glase Wein im Gastzimmer – erklärte ich dem Inspektor, daß ich einen kurzen Rekognoszierungsgang durch den Ort machen wolle. Ich würde bald zurück sein.

So konnte ich denn allein bei leichtem Regen durch die stillen Straßen dem Donnern der Fälle zuwandern. Bald stand ich vor dem kleinen Hotel auf dem freien Platze, das jeder Tourist besucht, da man von der hinteren Glasveranda einen freien Ausblick auf den einen Fall hat.

Vor dem Hotel stand der Hoteldiener, der mir den Weg zu Aarströms Häuschen beschrieb und mich prüfend musterte, weil er sich wohl wunderte, was ich bei Aarström zu tun hätte. – Ich fand mich auch gut zurecht. Die enge Gasse war schlecht beleuchtet. Dann trat aus dem Schatten einer Toreinfahrt Harald heraus.

„Sie sind auf der Insel,“ flüsterte er. „Ich rechnete damit. Sie glauben sicherlich dem Inhalt von Hargarsens telefonischer Mitteilung nach, daß Gefahr droht. Das wollte ich auch. Nun arbeiten sie mit verzweifeltem Eifer auf der Insel mit ihren Tauen, an die sie die zweischaufeligen Anker festgebunden haben. Daß sie mit Ankern dort herumhantieren, erkannte ich schon gestern nacht. Sie wollen nochmals versuchen, das wieder herauszuholen, was sie dort in der Strömung versenkt haben –“

„Was denn?“ fragte ich atemlos.

„Das weiß ich nicht. Vielleicht einen Toten –“

Ich sann nach. – Einen Toten –?! Wen – wen wohl?

„Vielleicht Gunnar Bantjör,“ fügte Harald dann hinzu. „Obwohl das nur eine Vermutung ist, die sich auf recht geringe Anhaltspunkte stützt. – Vielleicht auch – die Diamanten! Vielleicht auch – beide! Doch komm’ jetzt! Ich möchte mich schnell noch in Aarströms Häuschen umsehen.“

Wir huschten über die Straße. Die Pforte des morschen Holzzaunes des Vorgartens hing schief in den Angeln. Kastanien, eine Buche und dichte Fliederbüsche umgaben die baufällige Baracke.

Von den Blättern der Bäume fielen schwere Tropfen herab. Es stäubte nur noch mit Regen. Es war wie ein Nebel, der alles ringsum noch unfreundlicher machte.

Ich fühlte mich durchaus nicht behaglich. Jeden Augenblick konnten Aarström und Dalcroix zurückkehren. Dann kam es fraglos zu einem Zusammenstoß zwischen uns, falls wir schon im Hause steckten. Die Kerle würden uns sicherlich nicht schonen. – Weshalb mußten wir überhaupt in die Baracke hinein? Welchen Zweck sollte das haben?! –

Da – Haralds Stimme. Wir standen dicht an dem einen Hinterfenster.

„Ich werde die Tür öffnen. Geh’ nach vorn und beobachte die Straße. Die Tür wird ein Patentschloß haben. Leute wie Aarström sind vorsichtig. Das merkst Du schon an den neuen Fensterladen!“

Er kratzte mit dem Fingernagel über das ungestrichene Holz. „Eiche!“ sagte er. „Von den Fensterladen erwähnte der arme Sondbör nichts. Sie müssen erst kürzlich angebracht werden sein.“

Ich wollte gerade davonschlüpfen, als ich trotz des Rauschens der Bäume und trotz des wie Brandungsgeräusch klingenden Donnerns der Fälle einen anderen Ton hörte, – nein, mehrere Töne.

Ich blieb stehen. „Was war das, Harald?“ fragte ich leise.

„Still! – Warte!“

Er preßte das Ohr an die Tür, flüstere nach einer Weile:

„Es kam aus dem Hause. Ah – wieder diese Töne! Was hat das zu bedeuten?! Es klingt wie gedämpfte Schreie! – Da – hörtest Du?! – Das ist tatsächlich ein Mensch! Sollte etwa wirklich meine flüchtige Vermutung, daß die Schurken weit mehr auf dem Kerbholz haben, als man denkt, zutreffen?! Sollte –“

Er hatte inzwischen den Patentdietrich schon in das Schlüsselloch eingeführt. Ich vernahm das Knacken eines Riegels – nochmals dasselbe Knacken.

„Offen!“ sagte Harald hastig.

Seine Taschenlampe blitzte auf.

„Es war leichter, als man annehmen konnte,“ fügte er hinzu. „Bleib’! Wir wollen beide hinein! In dieser Banditenhöhle sind zwei besser als einer!“

Wir traten ein. Harst schloß die schwere Tür wieder ab. – Der Lichtkegel seiner Lampe zeigte uns einen schmalen, mit Ziegelsteinen ausgelegten Flur, der sich bis zur Vordertür hinzog.

In der Mitte des Flurs lagen zwei Türen sich gegenüber. Die Wände waren einst getüncht gewesen. Jetzt starrten sie vor Schmutz.

Abermals das undeutliche kreischen einer Menschenstimme – irgendwoher. – Mir schien’s, als ob die Töne jetzt schwächer waren als vorhin. Auch Harald war offenbar stutzig geworden.

„Es ist doch außerhalb des Hauses!“ flüsterte er. „Ich begreife das nicht. – Noch ein paar Schritt weiter! Vielleicht täuscht uns der Schall.“

Wir schlichen über den schmierigen Fliesenboden bis an die beiden Türen, standen hier still.

Haralds Rechte drückte langsam den plumpen Türdrücker der linken Tür herab. Sie war unverschlossen. Aber sie ließ sich nur zwei Finger breit öffnen. Es schien von innen etwas gegen die Tür gelehnt worden zu sein.

Harst versuchte das Hindernis durch einen Ruck zu beseitigen.

Ich stand dicht hinter ihm. Und – dann bewies uns diese alte Baracke, daß sie wirklich eine Banditenhöhle war, daß Aarström und Dalcroix alles für unseren Empfang auch hier vorbereitet hatten, daß das „Hindernis“ hinter der Tür ein Hebel war, der – den Schlund öffnete.

Der Boden wich.

Wir stürzten hinab – hinab in die Finsternis. Ich schlug irgendwo hart auf, fühlte noch, daß Harald mir auf die Beine fiel.

Meine Bewußtlosigkeit währte nur Sekunden, war mehr eine Schrecklähmung gewesen. –

Ich muß hier zur Erklärung des Folgenden einfügen, daß der Ort Trollhätta zum Teil auf Felsen steht. Diese Felspartien befinden sich dicht unter einer kaum meterhohen Schicht Erde; zwischen ihnen gibt es verschieden breite Flächen, wo der fruchtbare, weiche Boden weit in die Tiefe geht und so den Bäumen für ihr Wurzelwerk die nötige Ausdehnung gestattet. –

Ich kam wieder zu mir. Harst half mir. Ich stand auf den Füßen, und Haralds Taschenlampe enthüllte mir dicht vor uns ein Loch von gähnender Tiefe.

Wir hatten Glück gehabt. Die Schurken waren beim Ausheben dieses Schlundes auf einen Felsen gestoßen, hatten den Schacht seitwärts vertiefen müssen. Auf diesen Fels waren wir gestürzt – übereinander, ein seltener Zufall.

Harst leuchtete jetzt in den Schlund hinein.

Unten schimmerte es, als träfe der Lichtschein einen Spiegel. Es war – Wasser! Das Loch war unten mit Grundwasser gefüllt! Wären wir auch nur fünfzehn Zentimeter mehr nach rechts gefallen, dann hätten wir elend ersaufen müssen.

„Bestien!“ knirschte Harst. „Bestien! Also deshalb bliebt Ihr ruhig hier in Trollhätta trotz des Ingenieurs Brief! Ihr hofftet, Harst hier verschwinden zu lassen! Ihr rechnetet damit, daß wir hier eindringen würden.“

Dann hob er den rechten Arm, und der Lichtkegel traf die wieder geschlossene, etwa drei Meter über uns liegende Falltür mit ihren Eisenhebeln, Ketten und Gewichten.

Er kletterte mir auf die Schultern; er fand in dem Gestein genug Risse und Spalten, arbeitete sich höher.

Bald war die Falltür wieder offen; bald senkte sich eine der Ketten herab. Ich kletterte empor.

Wir drückten die quadratische Falltür wieder zu, verließen das Haus.

„Nach der Insel!“ sagte Harald kurz. „Was die Hilferufe bedeuten, stellen wir später fest. Ich will die Schurken erst festnehmen –“ –

Der Weg nach dem Inselchen führt zwischen hohen Bretterzäunen entlang. – Der Regen hatte aufgehört. Die Hälfte des Himmels war jetzt wolkenfrei. Die Dunkelheit wich zusehends. – Wir hatten die entsicherten Pistolen in den Außentaschen; wir liefen, bogen um eine Ecke, prallten fast mit dem Inspektor zusammen – „Sie müssen dicht vor dem Brettersteg wachen, bester Dronting!“ stieß Harald hervor. „Fragen Sie nichts – nachher erst!“ – Wir eilten weiter. Das Toben der Fälle tat fast den Ohren weh. Wir kamen an den von Wassertropfen stets schlüpfrigen Steg, tasteten uns vorsichtig hinüber.

Die Trollhätta-Insel ist keine dreißig Meter breit. Wir brauchten sie nur zu überqueren. An der Nordseite würden wir die beiden finden. – Durch nasses Gestrüpp, über Felsen, Steine ging’s hinweg.

Dann – dann fiel das Ufer schräg ab. Dann – sahen wir sie – und sie uns.

Der bucklige, bärtige Aarström riß einen Revolver heraus.

Ich hatte die Clement schon bereit – drückte früher ab.

Er taumelte, sank in die Strömung – wurde blitzschnell mit fortgerissen – hinein in die Fälle – in den sicheren Tod.

Dalcroix in seinem Touristenanzug war durch Aarströms rasches Ende wie erstarrt. Wir sprangen zu, packten ihn.

Die Stahlfesseln schnappten zu.

Hier ein Wort zu wechseln, war unmöglich. Man hätte brüllen müssen. Wir führten Dalcroix über die Brücke. Der Inspektor trat auf uns zu, rief:

„Ah – also Sie sind’s, Torsten Ragnar, – also Sie! Da haben wir ja einen vielgesuchten Vogel erwischt!“

Der Verbrecher war frech genug, Dronting ins Gesicht zu lachen. „Mir können Sie nichts anhaben!“ meinte er. „Sondbör ist tatsächlich abgestürzt. Und – das andere hat Aarström auf dem Gewissen!!“

„Der nie in Amerika war,“ fügte Harst rasch hinzu. „Der Gunnar Bantjör ermordete und die durch Steine beschwerte Leiche dort am Nordufer versenkte, der seine Tochter irgendwo auf seinem Grundstück gefangen hält, die Gunnar liebte! – Und Sie beide wollten jetzt Gunnars Leiche wieder herausholen, weil Aarström die Diamanten nicht bei ihm gefunden hatte und nun vermutete, Gunnar habe sie irgendwo in seine Kleider eingenäht! Denn – Gunnar stahl die Juwelen, nicht Aarström! Deshalb unterließ auch der alte Herr Bantjör die Anzeige! – Es muß so sein!“

Torsten Ragnar nickte. „Das stimmt alles, Herr Harst! Sigrid wird bezeugen, daß ich bei alledem nicht beteiligt war. Sie steckt in dem Keller des kleinen Stalles. Aarström hat den Keller erweitert. Sie werden sie ja finden –“ –

Wir fanden sie – fanden eine halb Wahnsinnige, ein halb totes, krankes, blasses, verblühtes Weib.

Was sie uns dann berichtete, bringe ich in dem folgenden Abenteuer, das mit dem Rätsel der Trollhätta-Insel eng zusammenhängt.

 

 

Das Gespenst des Skien-Museum.

 

1. Kapitel.

Sigrid Arbang war sofort zu einem Arzt gebracht worden, der das arme Mädchen zunächst seelisch und körperlich etwas gesund pflegen wollte, bevor sie von der Polizei vernommen wurde.

Als der Morgen graute, ließ Inspektor Dronting dann nach den beiden Leichen suchen: der Gunnar Bantjörs und der des Mörders Olaf Arbang alias Aarström.

Die erstere wurde nach stundenlangen Bemühungen wirklich herausgeholt. In den Fußnähten der Beinkleider fanden wir denn auch im ganzen 52 Edelsteine.

Olaf Arbang aber, den ich mit meiner Kugel bestimmt getroffen zu haben meinte, blieb verschwunden. Da die Fälle mit eisernen Wehren versehen sind, hätte die Leiche am nächsten Wehr liegen müssen.

Hätte –! – Sie war jedoch bis zum Abend nicht entdeckt worden und wurde auch später nicht gefunden.

Harald sagte schon mittags zu Dronting:

„Arbang ist entflohen. Es mag dies sehr unwahrscheinlich sein, weil die reißende Strömung jeden Schwimmer an dem eisernen Wehr zermalmen müßte. Und doch muß man annehmen, daß Arbang die Tollkühnheit besessen und den Versuch gemacht hat, auf diese Weise zu entkommen.“

Dieses Gespräch fand beim Mittagessen im Trollhätta-Gasthof in der Glasveranda statt.

Nach Tisch begab Dronting sich wieder auf die Insel.

„Schraut und ich werden eine Stunde spazieren gehen,“ hatte Harald Dronting erklärt. „Nachher sehen wir uns auf der Insel wieder.“ –

Wir hatten die eiserne Brücke bald hinter uns.

Harald erklomm neben mir am Nordufer einen der steilen Pfade. Bisher hatte er geschwiegen. Dann sagte er plötzlich:

„Du hast Arbang nicht getroffen. Ich bemerkte es sofort, als er sich hintenüber in die Strömung warf. Er tat es einen Moment zu früh. Er ist entflohen. Wir werden vielleicht hier am Nordufer an der Stelle, wo das Wehr in die Uferfelsen eingelassen ist, Spuren finden, die uns Arbangs Flucht bestätigen. Er kann sich ja nur oben auf dem Wehr entlanggearbeitet haben.“

Nach einer mühseligen, nicht ganz ungefährlichen Kletterpartie hatten wir die betreffende Stelle erreicht.

Dronting erblickte uns und winkte von der Insel hinüber.

„Bleib’ stehen!“ meinte Harald. „Ich will allein suchen!“

Nach einer Weile rief er mir zu:

„Arbang ist hier an Land gestiegen. Er hat sich verletzt gehabt. Wahrscheinlich die linke Hand. Sie hat stark geblutet. Hier sind verschiedene blutige, bereits angetrocknete Tropfen auf dem Gestein zu erkennen.“

Es gelang Harst dann, diese Fährte bis auf den nächsten Pfad zu verfolgen.

Ich blieb stets dicht hinter ihm. Dort, wo die Spur auf den Pfad mündete, lag unter einem Stein ein Streifen Papier. Der Stein zeigte Blutspuren; das Papier ebenfalls.

„Eine Mitteilung Arbangs,“ meinte Harald und hob den flachen, handgroßen Stein auf, nahm den Zettel mit der Linken und gab ihn mir.

Die flüchtigen Bleistiftzeilen lauteten:

„Sie ahnen nicht, mit wem Sie sich in einen Kampf eingelassen haben. Ich kenne alle Einzelheiten jenes erbitterten Ringens, das Sie einst mit Warbatty-Doogston[4] ausgefochten haben. Was ist Warbatty-Doogston im Vergleich mit mir! Ein elender Stümper. Nichts weiter. Sie werden das sehr bald merken. Ich vergesse nie und verzeihe nie! Ich bin stets da, wo man mich nicht vermutet! Ich bin allgegenwärtig und allmächtig. Ich spotte Ihrer Detektivkünste! – Auf Wiedersehen! Und – sehen wir uns wieder, werde ich Sie vernichten!“

Ich hatte diese großsprecherischen Drohungen beim Vorlesen belächelt, sagte jetzt:

„Olaf Arbang ist der Hund, der bellt und nicht beißt!“

„Ich möchte mir über Arbang noch kein Urteil erlauben. Er ist jedenfalls kein zu verachtender Gegner. Wer es mit der Strömung der Trollhätta-Fälle aufnimmt, bellt vielleicht doch nicht nur!“

Dann steckte er den Zettel zu sich, und wir gingen über die Brücke nach der Insel zurück, wo der Inspektor sofort fragte:

„Na – Spuren gefunden?“

„Ja – Blutspuren!“ erwiderte Harald. „Arbang ist entwischt.“

Dronting lächelte nachsichtig. „Sie beharren bei Ihrer Annahme; ich bleibe bei der meinen: Arbang ist tot! – Die Blutspuren können von jemand anders herrühren.“

Harald schwieg. Von dem Zettel erwähnte er nichts.

Nachmittags gegen fünf saßen Harst und ich in der Veranda des Trollhätta-Gasthofs, wo wir bereits zwei Zimmer für uns belegt hatten.

Harst hatte den Zettel Arbangs neben seine Kaffeetasse gelegt und studierte mit der Lupe die blutigen Fingerabdrücke.

„Arbang hat einen sehr breiten Daumen,“ sagte er. „Ist Dir übrigens an dieser Mitteilung gar nichts aufgefallen? – So – nichts?! – Nun, Arbang schreibt ein fehlerfreies Englisch. Für einen Hausdiener und früheren Verbrecher anscheinend schwedischer Abkunft immerhin eine Seltenheit.“

Ich nickte nur.

„Vielleicht haben wir es hier mit einer ganz interessanten Persönlichkeit zu tun, mein Alter,“ fuhr Harst fort, nachdem er einen Schluck Kaffee getrunken hatte. „Wie wär’s, wenn wir sein Häuschen mal gründlich auf unsere Weise durchsuchten?“

Gleich darauf öffnete uns Harsts Patentdietrich die Vordertür der elenden Baracke.

Wir hatten sie nachts nach der Gefangennahme Dalcroix-Ragnars bereits flüchtig in Drontings Gegenwart in Augenschein genommen. Als wir jetzt durch den Flur schritten – die Falltür war mit Brettern bedeckt worden, schaltete Harst seine Taschenlampe ein und stieß die Tür auf, die in Arbangs Wohnstube führte. Die Fensterladen waren noch geschlossen. Wir waren also auf künstliche Beleuchtung angewiesen.

Wir traten ein. Der Lichtkegel glitt durch den ärmlich möblierten Raum.

„Zünde die Hängelampe an,“ meinte Harald und wandte sich dem Schreibtisch zu, der einen hohen Aufsatz hatte.

Die Petroleumlampe war in Ordnung. Vor dem Sofa stand ein Tisch, und auf diesem eine zweite Lampe mit einem Zinnfuß. Ich zündete auch diese Lampe an und stellte sie auf den Schreibtisch.

Harald hatte sich in den wackligen Schreibsessel gesetzt und das Mittelschränkchen des Aufsatzes geöffnet, hatte die darin liegenden Schachteln und Papiere herausgenommen und beklopfte jetzt die Wände des Schränkchens.

Die linke Seitenwand klapperte.

„Ein Geheimfach!!“ sagte Harald und tastete das Brett mit den Fingern ab.

„Ah – siehst Du!“ rief er dann.

Das Brett ließ sich jetzt hochklappen. In dem schmalen Fach lagen zwei Briefe mit Umschlägen. Die Umschläge waren sauber aufgeschnitten, hatten abgestempelte Briefmarken und trugen die gleichlautende Anschrift:

Herrn

Ottmar Orstra

Stockholm. Schweden.

Drottninggatan 16,

bei Halging.

Harald schob sie in die Tasche und klappte das Brett wieder hoch. Ich hörte eine Feder einschnappen.

Aber – ich hörte noch mehr.

Wir beide hörten’s – und fuhren herum.

Hinter uns hatte sich die Tür mit mißtönendem Knarren geöffnet. Und fast gleichzeitig sagte eine fast angenehme Stimme – weich und wohllautend:

„Guten Tag, meine Herren!“

Leider war das, was wir in der rechten Hand des Eintretenden sahen, weniger angenehm. Es war ein Revolver, ein kurzer, schwarzer Cold-Revolver. Die Mündung blieb auf uns gerichtet, während der gutgekleidete, blondbärtige Herr, hinter dessen Brillengläsern zwei lebhafte Augen uns betrachteten, hinzufügte:

„Das Wiedersehen erfolgt früher, als wir es ahnten, jetzt können wir unsere Rechnung ja sofort glatt machen –“

Er setzte sich auf einen Stuhl an den Sofatisch.

„Es war wirklich sehr leichtsinnig von Ihnen, Herr Harst, mit mir anzubinden. Allerdings – Sie wußten nicht, wer Olaf Arbang-Aarström ist. Sie werden es auch nie erfahren. Oder besser: Sie beide werden keine Gelegenheit haben, dies anderen auszuplaudern.“

Allmählich erholte ich mich von dem ersten Schreck.

War der Mann da wirklich der bucklige Arbang?! Wo war der Buckel geblieben?! –

Er lächelte jetzt nachsichtig.

„Herr Schraut prüft meinen Oberkörper,“ meinte er. „Ja – der Buckel war nur künstlich, meine Herren. Er half mir, die Polizeimeute von meiner Spur abzulenken. Vor fünf Jahren mußte ich unbedingt für längere Zeit spurlos verschwinden. Da nahm ich eben als Olaf Arbang die Stelle als Hausdiener bei dem Juwelier an. Bei Herrn Bantjör fühlte ich mich ganz sicher. In den fünf Jahren hielt ich mich von allem fern, was mich hätte in Ungelegenheiten verwickeln können –“

Harald, der noch im Schreibsessel saß, fragte jetzt:

„Sie heißen also auch nicht Arbang?“

„Nein, Herr Harst –“

„Sie sind auch kein Schwede?“ fragte Harald weiter.

„Nein. Ein Landsmann von Ihnen –“

„Ah – dann weiß ich wer Sie sind!“ rief Harst und lachte überlegen auf.

Arbang hatte die Revolvermündung etwas sinken lassen Er war durch dieses Lachen stutzig geworden.

Und ich – ich merkte, daß Harst jetzt die Füße auf die Erde gestützt hatte, daß er nicht mehr auf dem Schreibsessel saß, sondern nur noch schwebte.

Ich ahnte: er wollte Arbang irgendwie überrumpeln!

„So?!“ meinte Arbang gedehnt. „Da bin ich neugierig. Wer bin ich denn?“

„Ottmar Orstra, der Bankräuber!“ antwortete Harst mit demselben Lachen.

„Wieder hatte sich die Revolvermündung gesenkt. Und Arbang starrte Harald ganz verdutzt an. Dann aber – dann kam das gewagte Spiel, das Sieg oder Tod verhieß.

Harst hatte plötzlich den Schreibsessel unter sich weggezogen, hielt den gepolsterten Sitz als Schild vor Kopf und Brust, sprang vorwärts.

„Zwei – drei Schüsse.

Mein Herzschlag stockte.

Dann – hatte Arbang mit einem Satz die Tür gewonnen, schlug sie hinter sich zu.

Er hatte für diesmal das Spiel verloren gegeben.

Harald schleuderte den schweren Stuhl zur Seite, packte die Türklinke.

„Vorsicht!“ rief er mir zu. „Erst die Lampen aus. Er knallt uns sonst –“

Da – draußen im Flur zwei Schüsse.

Aber die Tür war zu dick. Die Kugeln hatten die Füllung nicht durchschlagen.

Ich löschte die Lampen aus.

Dunkelheit – Stille jetzt.

Dann stieß Harst die Tür auf.

Nichts – kein Laut.

Wir sahen jedoch, daß die Hintertür des Häuschens geöffnet war. Das Tageslicht schien in den Flur hinein.

Und Harst nickte mir ernst zu.

„Lieber Alter – noch nie war der Tod uns so nahe wie hier in diesem Häuschen!“ Er holte tief Atem. „Den Schreibsessel werde ich kaufen. Die drei Kugeln in der Sitzpolsterung sollen mich ständig daran erinnern, daß wir heute überaus leichtfertig mit unserem Leben umgegangen sind. Wir hätten uns hier einschließen sollen. Na – nun wissen wir immerhin, mit wem wir es zu tun haben. Ottmar Orstra ist jener Verbrecher, der vor fünf und ein Viertel Jahren in Berlin am hellen Tage zwei Bankbeamte im Paketraum der Hauptpost niederschoß und mit einem Leinwandsack, der eine Million enthielt, zu entkommen suchte. Er mußte die Beute jedoch wegwerfen und floh über die Dächer, verschwand. – Orstra war damals – höre und staune! – Privatlehrer der beiden Söhne eines Großkaufmanns. Erst nach diesem mißglückten Anschlag ward offenbar, daß der harmlose Hauslehrer, Doktor der Philosophie Ottmar Orstra ein Doppelleben geführt und eine ganze[5] Menge Einbrüche auf dem Kerbholz hatte. Seitdem hat man von ihm nie wieder etwas gehört. Damals war ich noch Gerichtsassessor. Der Fall Orstra hat sich jedoch meinem Gedächtnis gut eingeprägt.“

 

2. Kapitel.

Harsts überlegene Schlauheit und kaltblütige Ausnutzung aller Vorteile hatte uns diesmal vor den Kugeln dieses Menschen bewahrt.

Als wir das Häuschen jetzt verließen, als wir auf die Straße traten, fanden wir hier eine Menge Neugieriger vor, die auf die Schüsse hin zusammengelaufen waren. Einige der Leute kannten uns schon von Ansehen. Auch der Apotheker des Ortes war darunter, ein sehr freundlicher Herr, den Dronting uns vorgestellt hatte.

Harald fragte ihn, ob nicht vor etwa fünf Minuten ein Mann im Touristenanzug mit blondem Spitzbart das Häuschen verlassen habe.

Die Menge umdrängte uns drei. Ein Arbeiter rief an Stelle des Apothekers:

„Ne – nur die alte Fliepsen, die Aufwärterin von dem Halunken Aarström, kam vorhin herausgehinkt. Ich stehe hier schon zehn Minuten; ich muß es wissen –“

Harst wandte sich dem Manne zu.

„Sahen Sie die Fliepsen auch das Häuschen betreten?“

„Und ob! Sie hatte wie immer ihren Marktkorb am Arm.“

„Wo wohnt diese Frau?“

Der Arbeiter kratzte sich den Hinterkopf. „Hm – das weiß ich nicht, Herr Harst. – Weiß es einer von Euch?“ Diese an die Allgemeinheit gerichtete Frage wurde von einem kleinen Bengel beantwortet.

„Das kann ich sagen! Sie wohnt bei der Witwe Marnö – links vom Bahnhof –“ –

Der Apotheker schloß sich uns an. Er wollte uns zur Witwe Marnö führen.

Harald wollte Auskunft über die Witwe haben.

„Oh – es ist das der schlimmste Geizkragen des Ortes,“ erklärte der freundliche Herr. „Sie haust da mit einem nicht ganz zurechnungsfähigen Sohn zusammen. Es ist ein großes Gartengrundstück.“

„Über die alte Fliepsen wissen Sie nichts?“

„Nein. Nur daß sie erst kurze Zeit hier wohnt. Ich glaube, sie kam zusammen mit der Witwe Marnö hierher.“

„Vor einem Vierteljahr?“

„Ja, das kann wohl stimmen, Herr Harst. Die Marnö kaufte das Grundstück von den Erben des Arztes Baalker.“

Der Leser wird bereits selbst auf den Gedanken gekommen sein, daß „die alte Fliepsen“ überhaupt nicht existierte und daß Ottmar Orstra alias Arbang die Rolle der Aufwärterin gespielt hatte.

Als wir uns nun durch den Gemüsegarten dem Hause der Witwe näherten, sagte Harald leise zu mir:

„Halte die Clement bereit!“

Doch – diese Vorsicht erwies sich als überflüssig.

Frau Marnö, ein hageres Weib mit tückischen Augen und dem unterwürfigen Grinsen einer gemeinen Seele, kam uns entgegen.

„Wie?!“ rief sie dann. „Die Fliepsen soll bei mir gewohnt haben?! Wer hat den Herren das aufgebunden?! Nein – die Fliepsen kaufte hier nur Gemüse und Kartoffeln ein. Sie wohnte doch bei dem alten Säufer, dem Aarström!“

„Das trifft nicht zu, Frau Marnö,“ meinte der Apotheker. „Bei Aarström wohnte sie nicht.“

Harald sagte nun, Frau Marnö hätte doch wohl bereits von den Vorfällen auf der Insel gehört; ob ihr wohl an der Fliepsen etwas aufgefallen sei?

„Ja – das schon, Herr. – Sie sind wohl der berühmte Detektiv Harst? – Na, gut, Herr Harst, – also mir fiel auf, daß die Fliepsen stets nach Schnaps roch und eine so tiefe Stimme hatte.“

„Danke, Frau Marnö. – Sie haben hier ein recht hübsches Grundstück. Wann haben Sie die Besitzung erworben? Der Herr Apotheker meinte vor drei Monaten.“

„Ganz recht. Wir – mein Sohn und ich – wohnten früher bei Göteborg in dem Badeort Langedroog.“

„Ah – in Langedroog. Ich kenne es. Sehr romantisch dort, viel Felsen. So – nun wollen wir nicht länger stören. Besten Dank, Frau Marnö –“ –

Wir kehrten durch die Bahnhofstraße nach dem Gasthof an den Fällen zurück.

„Die alte Fliepsen interessiert mich nicht mehr,“ sagte Harald nun. „Sie entschuldigen, Herr Apotheker. Wir müssen uns verabschieden. Ich möchte mal zu Doktor Tribroog gehen und fragen, wie es mit Sigrid Arbangs Befinden bestellt ist. Auf Wiedersehen –“

Der Arzt wohnte schräg gegenüber dem Gasthof. Es waren nur wenige Schritte bis dorthin.

„Komisch, daß der Apotheker nichts gemerkt hat,“ meinte Harald.

„Allerdings! Aber Du mußt berücksichtigen, daß die harmlosen Leute hier sich gar nicht denken können, ein Mann würde die Rolle seiner eigenen Aufwärterin mimen.“

„Das stimmt, mein Alter. Ottmar Orstra wird uns eine böse Nuß zu knacken geben!“

Wir betraten das Haus des Arztes.

Doktor Tribroog empfing uns mit der Nachricht, daß es Sigrid Arbang bereits besser ginge. Sie hätte sogar schon nach Harst gefragt.

„Anscheinend will sie Ihnen allein etwas mitteilen,“ fügte der Arzt hinzu. „Wenn Sie zu ihr wollen, Herr Harst, – ich habe nichts dagegen.“ –

Wir waren mit dem armen Weibe dann im Krankenzimmer allein.

Harst hatte ihr noch zwei Kissen unter den Kopf geschoben. Sie saß nun halb aufrecht. Ihre Finger glitten unruhig über die Bettdecke hin. Ihre Augen suchten Harsts Gesicht, irrten dann wieder im Zimmer umher.

„Wenn unser Besuch Sie aufregt,“ meinte Harald gütig, „dann gehen wir wieder, Fräulein Arbang –“

„Nein – nein! Bleiben Sie! Es fällt mir nur so sehr schwer, Ihnen die Wahrheit zu gestehen –“

„Ich will Ihnen helfen. Sie sind nicht Arbangs Tochter, der auch gar nicht Arbang heißt, sondern –“

Er machte eine kleine Pause.

Sigrid schaute ihn angstvoll an und hauchte: „Wissen Sie es denn?“

„– sondern Doktor Ottmar Orstra,“ vollendete Harst.

Sie nickte, seufzte schwer und stieß dann hervor:

„Er – er hat mich geraubt!“

Wir hoben unwillkürlich die Köpfe.

„Geraubt?“ fragte Harald ungläubig.

„Ja, Herr Harst, geraubt! Sie können mir schon Glauben schenken. Ich lüge nicht. Es ist das eine ebenso traurige wie seltsame Geschichte. Haben Sie schon einmal davon gehört, daß man nach einer schweren Scharlacherkrankung das Gedächtnis verliert?“

„Gewiß, Fräulein –“

„Nun – ich hatte Scharlach. Das ist das einzige, worauf ich mich besinne. Das heißt – seitdem ich bei Arbang oder besser bei Orstra bin, ist mein Gedächtnis wieder normal.“

„Wann raubte er Sie denn?“

„Vor fünf Jahren, bevor er nach Göteborg kam.“

„Und wo?“

„Das kann ich nicht sagen. Ich will Ihnen nun alles im einzelnen erzählen, nur Ihnen beiden.“

Was sie nun, teilweise durch eingestreute Fragen Harsts auf Einzelheiten gebracht, uns erzählte, will ich hier mit meinen eigenen Worten wiedergeben. –

Sigrid kam sozusagen in Kopenhagen im Zimmer eines Hotels zum Bewußtsein. Sie saß in einem Sessel am Fenster, war in Decken gehüllt und sah neben sich einen älteren, ihr völlig fremden Herrn sitzen, der sie dann mit Sigrid anredete und sie ganz wie seine Tochter behandelte. Sehr bald erschien ein anderer Herr, ein Arzt, der dem damals vierzehnjährigen Mädchen schonend beibrachte, daß sie infolge ihrer Krankheit die Erinnerung verloren hätte, die jedoch eines Tages ganz von selbst sich wiederfinden würde.

Klein-Sigrid wurde von Arbang mit größter Zärtlichkeit behandelt und gewöhnte sich an den Gedanken, daß er tatsächlich ihr Vater sei, daß ihre Mutter bereits jahrelang tot und ihr Name Sigrid Arbang sei, sehr schnell.

Nach einer Woche reiste Arbang mit ihr nach Göteborg und bemühte sich hier um eine Anstellung. Er wurde dann von dem Juwelier Oskar Bantjör auf Grund der vorzüglichen Zeugnisse, die er aufweisen konnte (und die natürlich gefälscht waren) als Hausdiener und Portier engagiert und erhielt auf dem Hofe des Bantjörschen Grundstücks eine Zwei-Zimmer-Wohnung zugewiesen.

Sigrid besuchte nun in Göteborg eine Privatschule und lebte drei Jahre zufrieden und glücklich mit diesem Manne zusammen, der stets gleich zärtlich und fürsorglich blieb und dem sie es ohne weiteres geglaubt hatte, daß er sie kurz vor ihrer Erkrankung damals zu Verwandten nach Dänemark geschickt hätte, bei denen sie dann infolge einer Scharlachepidemie schwer erkrankte und das Gedächtnis einbüßte, worauf er sie nach ihrer Genesung von den Verwandten abgeholt und nach Kopenhagen zu einem Spezialarzt gebracht hätte.

Als sie dann achtzehn Jahre alt war, begann ihr an der Lebensführung ihres Vaters doch so allerlei aufzufallen, besonders das eine, daß er sehr viele Nächte außer dem Hause zubrachte und Sonnabends stets eine Fußtour bis Montag früh unternahm.

Dann fand sie einmal seinen Schreibtisch unverschlossen und durchsuchte ihn, da sich in ihrer Seele bereits ein unbestimmter Argwohn gegen ihren Vater festgesetzt hatte.

Zu ihrem Erstaunen und ihrem Schreck entdeckte sie so einen Kasten, der Schminken, falsche Bärte und Perücken enthielt, ferner allerhand Stahlwerkzeuge, die nur verbrecherischen Zwecken dienen konnten. – Durch diesen Fund wurde ihre Neugier noch mehr angestachelt. Sie wollte sich Gewißheit darüber verschaffen, ob ihr Vater, vor dem sie eine unerklärliche Scheu hatte, wirklich insgeheim noch ein zweites Leben als Einbrecher führe. So öffnete sie denn eines Sonntags während seiner Abwesenheit einen Koffer, dessen Patentschlüssel ihr Vater sorgfältig zu verstecken pflegte. Sie hatte dieses Versteck jedoch ermittelt und fand nun in dem Koffer nicht nur allerhand Männeranzüge und Hüte, sondern auch Frauenkleider. – Wieder an einem anderen Sonntag paßte sie dann auf, als Arbang gegen Mitternacht von einem „Ausflug“ heimkehrte. Sie beobachtete durch ein Loch, das sie in die Türfüllung gebohrt hatte, wie er sich als ältere Frau verkleidete und dann die Wohnung wieder verließ. Erst kurz vor Tagesanbruch hörte sie ihn zurückkommen. Er hatte eine Reisetasche bei sich. Diese Tasche war nachher, wie sie feststellte, im Küchenherd verbrannt worden.

Sigrid vermochte jetzt nicht länger zu heucheln. Es kam zwischen ihr und Arbang zu einer Aussprache, bei der er zunächst alles ableugnen wollte. Dann flehte er sie an, sie solle ihm ihre Liebe nicht entziehen; er sei ein Unglücklicher, der an einem krankhaften Trieb zum Verbrechen leide. – Er versprach ihr, sein Leben zu ändern. Er blieb denn auch monatelang nachts daheim, und Sigrid hoffte schon, ihn völlig geheilt zu haben.

Inzwischen hatte Gunnar Bantjör sich ihr genähert, hatte sich auch heimlich mit ihr verlobt. Sein Vater, der seinen Sohn nur als leichtsinnigen Lebemann kannte, merkte, daß Sigrid die Aufmerksamkeiten Gunnars nicht zurückwies und warnte sie vor ihm.

Dann, am 10. April dieses Jahres, mußte Gunnar geschäftlich nach Deutschland reisen. Vorher hatte er Sigrid überredet, mit ihm und ihrem Vater nach Amerika für immer auszuwandern.

Am 12. April, nachts ein halb zwölf Uhr, verließen Sigrid und Arbang in aller Stille das Haus des Juweliers und trafen vor der Stadt mit Gunnar zusammen. Sie waren beide durch Autobrillen unkenntlich gemacht, bestiegen den Kraftwagen, den Gunnar besorgt hatte, und fuhren nach Trollhätta, stiegen vor dem Orte aus und schickten das Auto zurück. Mit ihren Koffern begaben sie sich dann nach dem Häuschen, das Arbang schon vorher gekauft hatte, wie Sigrid später feststellte.

In dem armseligen Hause blieb Sigrid zwei Stunden allein. Gunnar und Arbang hatten ihr erklärt, sie wollten noch auf dem Bahnhof Fahrkarten nach Christiania besorgen. Arbang kehrte allein zurück und sagte ihr, Gunnar habe sich plötzlich anders besonnen und sei bereits nach Göteborg unterwegs; er habe die Verlobung aufgehoben und wollte Sigrid nicht wiedersehen.

Sigrid durchschaute Arbang.

„Du lügst!“ rief sie. „Sage mir die Wahrheit! Oder ich verlasse Dich sofort! Was ist mit Gunnar geschehen?“

Da erst ließ Arbang die Maske fallen.

„Nun denn – so wisse, daß Gunnar auf meine Veranlassung seines Vaters Tresor ausgeräumt hat!“ erwiderte er mit eisigem Hohn. „Er ist uns voraus nach Christiania gereist. Deinetwegen stahl er die Edelsteine! Wovon sollten wir in Amerika leben?!“

Sigrid zweifelte nicht, daß Arbang Gunnar wirklich zu dieser Schandtat verführt hatte. Gunnar war ja gegen seinen Vater seit Wochen derart aufgebracht, daß ihm alles zuzutrauen war, zumal wenn ihn noch jemand aufstachelte, was hier doch offenbar der Fall gewesen.

Wimmernd war sie in der Sofaecke zusammengesunken.

Da hatte Arbang ihr aus der Reiseflasche einen Becher mit Rotwein gefüllt, hatte ihr zugeredet, zu trinken.

Und – sie hatte getrunken, war eingeschlafen, war dann – in ihrem Kerker, in dem eisigen Keller des Stalles, erwacht, – war eine Gefangene!

Arbang behandelte sie jetzt völlig als gefährliche Feindin, machte gar kein Hehl daraus, daß sie nicht sein Kind sei und daß er sie ihren Eltern geraubt hätte –

zu einem bestimmten Zweck!

betonte er mit brutaler Offenheit. –

Sigrids Hilferufe hörte niemand. Arbang ließ ja keinen Menschen in den Garten, und die nächsten Gebäude lagen hundert Meter entfernt. Außerdem übertönte auch das Geräusch der Wasserfälle die schwachen Laute, die aus dem erweiterten Keller nach oben drangen.

Woche um Woche verstrich. Sigrid ahnte, daß Arbang Gunnar ermordet hatte. Eines Tages schleuderte sie ihm diese Anklage ins Gesicht. Er blieb stumm.

Sigrid besann sich jetzt auch, daß sie in jenem Kleiderkoffer zwei Briefe gefunden hatte, die an Ottmar Orstra, Stockholm adressiert gewesen waren. Die Briefe waren jedoch in einer Geheimschrift geschrieben. Sie hatte den Inhalt nicht entziffern können.

Und wieder eines Tages rief sie dann Arbang zu, als er ihr das Essen gebracht hatte:

„Ich weiß, wer Du bist! Du bist Ottmar Orstra!“

Die Wirkung dieser Worte war stärker, als Sigrid erwartet hatte. Arbang erbleichte, prallte zurück, rief dann:

„Was weißt Du von Orstra?! Er ist tot – für immer! – Woher kennst Du den Namen?“

Sie schwieg beharrlich. Da ließ er sie hungern.

Und – dann fanden wir sie, wir, Harst, Dronting und ich.

 

3. Kapitel.

Ich habe Sigrids Erzählung hier nur im Auszug wiedergegeben. Ebenso will ich auch die folgenden Ereignisse nur streifen.

Harald gab dem armen Weibe den Rat, der Polizei vorläufig zu verschweigen, daß sie nicht Arbangs Tochter sei und daß Arbang in Wahrheit Orstra heiße. Ebenso solle sie als Grund ihrer Einkerkerung zunächst nur folgendes aussagen: Arbang habe sie eingesperrt, weil sie ihn beschuldigt hätte, Gunnar beseitigt zu haben.

Sigrid versprach, ganz nach Harsts Wunsch zu handeln.

„Ich will versuchen,“ erklärte Harald ihr dann, „das Geheimnis Ihrer Herkunft zu lüften, Fräulein Sigrid. Dies kann ich nur, wenn Orstra über meine Absichten zunächst im unklaren bleibt. Mithin darf auch die Öffentlichkeit nichts von Ihren trüben Schicksalen erfahren, bis – ich Erfolg gehabt habe.“ –

Wir begaben uns hierauf in den Trollhätta-Gasthof und auf unser Zimmer, wo Harald nun bei verschlossener Tür und verhängtem Schlüsselloch sich an den Tisch setzte und die beiden Briefe nochmals zunächst von außen sehr genau betrachtete.

Ich saß neben ihm.

Die beiden Briefmarken auf den Umschlägen waren in Skien, der norwegischen Industriestadt, abgestempelt worden und zeigten die Daten des 8. und 10. Juni jenes Jahres, in dem Sigrid in dem Hotel in Kopenhagen „erwacht“ war. Die Briefe waren also über fünf Jahre alt.

Dann zog Harald den Brief vom 8. Juni aus dem Umschlag hervor.

Der Briefbogen war nur auf einer Seite beschrieben und zwar mit schwedischen Worten. – Ich setze dafür die entsprechenden deutschen:

Nicht zögern machen Geschäft ein Sie uns einigen alles gefallen den sei auftaucht das daß schon ich zerstört es Fall auf verpackt muß das Koffer einen bringen Bahnhof abends 24. werde sofort kommen wollen Sache also sollten verzögert die gesorgt Gespenst habe reparaturbedürftig Zeit ist das Schwierigkeiten auf Ausführung zahlen Kronen Ihnen ich wollen Auftrag Sie.

Harald und ich lasen diesen Brief, bei dem die Worte offenbar umgestellt worden waren, gemeinsam.

„Hm,“ meinte Harst und langte nach einer Zigarette, „hm – ein reparaturbedürftiges Gespenst?! Merkwürdig! – Du kannst nun mal in diesen ersten Brief Sinn hineinzubringen versuchen, derweil ich den zweiten vornehme.“

Auch ich zündete mir erst mal eine Zigarre an und dachte dabei, daß es mir wohl kaum gelingen würde, diesen „Sinn“ herauszuklügeln, dachte auch an das „reparaturbedürftige Gespenst“ und fand, daß Harald sich diesen Witz unter diesen Umständen hätte sparen können.

Meine Zigarre brannte.

Und – da sagte Harst plötzlich ganz laut:

„Wie dumm!“

Ich schaute ihn an. „Gestatte – meinst Du mich?“

„Nein, lieber Alter, – den Briefschreiber!“

„Weshalb?“

„Weil ich den „Sinn“ schon feststellen kann!“

„Der Briefe etwa?“

„Ja. – Bitte lies mal hier den zweiten Brief!“

Ich tat es. Auch dieser Brief hatte weder Anrede, Ort, Datum noch Unterschrift.

Sie also dabei gutes sollen mündlich wir weitere über Fjord in es Gerücht nachher dafür sorge werden gänzlich darf keinen werden sorgfältig Objekt mit großen Sie sein am Juni am ich Sie so erledigen die Sie wird Reparatur daß dafür als ich stark zur Objekt stoßen keine dürfte die zu 25 000 bereit bin übernehmen den wenn.

„Na, mein Alter, was fällt Dir auf?“ fragte Harald nun und lächelte dabei so seltsam. „Schwer – nicht wahr? Wenigstens scheint es so!“

„Allerdings!“

„Ich will barmherzig sein. – Nimm mal beide Briefe und lege sie nebeneinander. – So – jetzt prüfe bei beiden die letzten Zeilen, denn diese haben mir die Erleuchtung gebracht. – Hm – Du schweigst?! – Da steht doch bei Nummer 1:

zahlen Kronen Ihnen ich

und bei Nummer 2:

zu 25 000 bereit bin.

Ich sagte mir nun: Vielleicht gehört die „25 000“ zu „Kronen“, zumal doch vor „Kronen“ „zahlen“ steht und dahinter „Ihnen ich“. – Wir haben hier je vier Worte der beiden Briefe herausgegriffen. Beginne mit „bin“ zu lesen, füge „ich“ an, nimm dann die vorletzten Worte „bereit“ und „Ihnen“, füge die drittletzten „25 000“ und „Kronen“ hinzu und schließlich „zu“ und „zahlen“, dann ergibt sich:

bin ich bereit Ihnen 25 000 Kronen zu zahlen.

Das hat Sinn! Das ist ohne Zweifel richtig. – Jetzt mache es genau so mit den vier letzten Worten beider Briefe:

ich wollen Auftrag Sie
bin übernehmen den wenn.

und Du erhältst:

wenn Sie den Auftrag übernehmen wollen bin ich,

was zusammen mit dem soeben sinngemäß Geordneten ergibt:

Wenn Sie den Auftrag übernehmen wollen, bin ich bereit, Ihnen 25 000 Kronen zu zahlen.

Na – einfach?!“

Ich hatte begriffen. „Ja – sehr einfach! Die beiden Briefe sind ein Brief und müssen gleichzeitig von hinten gelesen werden, immer je ein Wort aus jedem Brief.“

„Ganz recht. – Der Gesamtinhalt lautet also:

– zu zahlen. Die Ausführung dürfte auf keine Schwierigkeiten stoßen. Das Objekt ist zur Zeit stark reparaturbedürftig. Ich habe als Gespenst dafür gesorgt, daß die Reparatur verzögert wird. Sollten Sie also die Sache erledigen wollen, so kommen Sie sofort. Ich werde am 24. Juni abends am Bahnhof sein. Bringen Sie einen großen Koffer mit. Das Objekt muß sorgfältig verpackt werden. Auf keinen Fall darf es gänzlich zerstört werden. Ich sorge schon dafür, daß nachher das Gerücht auftaucht, es sei in den Fjord gefallen. Über alles weitere einigen wir uns mündlich. Sie sollen ein gutes Geschäft dabei machen. Also zögern Sie nicht.“

– Ich hatte nach Harsts Diktat den Text mit Bleistift auf ein Stück Papier geschrieben.

„Der Inhalt hat für uns wenig Interesse,“ meinte ich nun. „Hier liegt ja offenbar die Anwerbung eines Diebes vor, der etwas stehlen sollte. Der Dieb kann Ottmar Orstra gewesen sein. Seitdem sind aber über fünf Jahre verstrichen, und deshalb –“

Unter dem Zwange von Haralds eigentümlichem Lächeln schwieg ich, fragte dann:

„Denkst Du anders darüber?“

„Ja, mein Alter, ganz anders! Ich wundere mich, daß Du durch das „Gespenst“ nicht auf den tieferen Sinn kommst.“

Ich überflog den Satz:

Ich habe als Gespenst dafür gesorgt, daß die Reparatur verzögert wird

nochmals, zuckte die Achseln und erklärte: „Bedauere wirklich! – Was ist denn der tiefere Sinn?“

Harst nahm eine neue Mirakulum-Zigarette und sagte:

„Verbrenne jetzt den Zettel mit dem Text. Ich lege die beiden Briefe in das Futter meiner Sportmütze. – Noch eine Frage: wenn Orstra der „Dieb“ war, wenn er also damals vor fünf Jahren auf dieses Angebot einging, weshalb mag er wohl die Briefe, die doch immerhin bei ihrem seltsamen Inhalt recht belastend sind, so lange aufbewahrt haben?“

„Keine Ahnung –“

„Und doch unschwer herauszufinden. – Ich behaupte, Orstra hat diesen Auftrag, das reparaturbedürftige Objekt zu stehlen, damals ausgeführt. Die beiden Briefe hob er für alle Fälle auf, damit er, falls nötig, beweisen könne, daß er bei dieser Sache der Verführte war. – Die zeitliche Folge der damaligen Ereignisse muß folgende gewesen sein: Doktor Orstra hatte als Hauslehrer im Juni Urlaub genommen und war in Stockholm, wo er die beiden Briefe erhielt. Er kehrte nach Berlin zurück und versuchte den Bankraub, floh in einer Verkleidung und stahl „das Objekt“. Dann begab er sich nach Kopenhagen und später nach Göteborg.“

„Inzwischen also raubte er das Mädchen –“

„Ja – natürlich! So, jetzt wollen wir hier im Gasthof unsere Rechnung begleichen und abreisen.“

„Wohin?“

„Nach Berlin. Wohin sonst?!“ Aber ganz leise fügte er hinzu. „Nach Skien! Von dort gingen die Briefe ab!“

 

4. Kapitel.

Abends bereits waren wir in Göteborg. Wir stiegen nicht wieder im Hotel Skandinavia, sondern in einem deutschen Fremdenheim ab, dessen Besitzerin Harald von früher her kannte.

Er zog diese Frau Merten ins Vertrauen, so daß wir nachts zwölf Uhr ihr Haus durch einen Seitenausgang verlassen konnten. Wir nahmen nur unsere Reisetaschen mit.

Die beiden Herren in englischer Aufmachung, die dann den Nachtzug nach Christiania um ein Uhr bestiegen, hatten mit Harst und Schraut nicht die geringste Ähnlichkeit und gehörten auch scheinbar gar nicht zusammen.

Ich saß in einem Abteil zweiter Klasse im dritten Wagen des D-Zuges; Harst im vierten in einem Abteil erster Klasse.

Die Strecke Göteborg–Christiania führt an Trollhätta vorüber. Auch die D-Züge halten hier. Ich hatte die eine Stunde bis Trollhätta in einer Art Halbschlaf zugebracht. Als die Station ausgerufen wurde, trat ich an das Gangfenster und blickte auf den Bahnsteig hinaus. Es stiegen hier ein paar Reisende aus und drei ein, darunter zwei Damen.

Dann gewahrte ich auf der Chaussee, die an den Bahnhofsgebäuden vorüberführt, die Scheinwerfer eines Autos, das sich in rasendem Tempo näherte.

Es hielt plötzlich. Ich sah, wie eine Dame mit wehendem Schleier heraussprang und mit einer Reisetasche auf die Sperre zulief.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Ich ließ das Fenster herab und beugte mich hinaus, wollte feststellen, ob die Dame noch aufspringen würde.

Ein Beamter hielt sie jedoch zurück. Sie suchte sich loszureißen. Es war umsonst.

Dann geschah noch etwas.

Niemandem konnte dieser Vorgang auffallen, der nicht wie Harald und ich mit einer Verfolgung durch Ottmar Orstra rechnete.

Die Dame rannte dem Auto wieder zu, und gleichzeitig sprang aus dem vorletzten Wagen eine andere Dame ab, schlug lang hin, raffte sich wieder auf und lief zur Sperre.

Das war alles. Es war nichts von Bedeutung – für andere! Für uns ja!

Ich war überzeugt, daß die Dame mit dem wehenden Schleier Orstra gewesen sei, der uns in Göteborg beobachtet und dann mit dem Auto verfolgt hatte. Aber – wer war die andere, die hastig abgesprungen war?!

Ich schloß das Fenster.

Und – da sagte jemand leise hinter mir:

„Also ist doch alle Vorsicht zwecklos gewesen!“

Es war Harst – Harst als Engländer mit rotblondem Bart und Hornbrille.

„Wir können uns jetzt getrost zusammen in ein Abteil setzen,“ fuhr er fort. „Hier im Zuge sind wir sicher. Wenigstens bis Christiania. – Es fehlte nicht viel, und Orstra hätte den Zug noch erreicht.“

„Und die andere Frau?“ fragte ich.

„Kennst Du ebenfalls –“

Ich dachte nach. – „Etwa die Witwe Marnö?“

„Ja – ich denke, sie wird es sein. – Hole jetzt deine Reisetasche und komm’ in mein Abteil. Ich bin allein.“ –

Wir machten es uns jeder auf einer Bank bequem. Die Vorhänge hatten wir zugezogen und die Stoffhalbkugeln über die Lampe geklappt.

Harald gähnte und sagte dann: „Nun fährt Orstra mit der Marnö uns voraus nach Christiania. – Weshalb die Marnö wohl verreisen wollte?“ Der letzte Satz klang sehr nachdenklich.

„Hältst Du sie für eine Verbündete Orstras?“ meinte ich, schon halb im Schlaf, denn ich war hundemüde.

„Komische Frage, mein Alter! Sie hat ihr Grundstück in Trollhätta zu derselben Zeit erworben, als Olaf Aarström seine Baracke kaufte. Und Aarström und Orstra sind ein und dieselbe Person, – was Dir trotz Deiner Müdigkeit noch gegenwärtig sein dürfte, falls Du nicht –“

Er schwieg plötzlich, fragte dann, sich zu mir hinüberbeugend:

„Hörtest Du? Was war das?! Das klang wie – wie –“

Er vollendete den Satz nicht, stand auf und schlug die Stoffhalbkugeln der Lampe hoch.

Ich hatte mich aufgerichtet. „Was hörtest Du denn?“

Er blickte sich mißtrauisch um. „Ja – wenn ich das Geräusch genau beschreiben könnte!“

Er schwieg abermals. „Ich will doch lieber auf das Wagendach klettern,“ flüsterte er. „Sicher ist sicher! Das Geräusch war wie das Arbeiten eines Bohrers – eines großen Zentrumbohrers in hartem Holz.“

Er ließ das Fenster herunter und schwang sich mit jener Gewandtheit, die den trainierten Körper verriet, hinaus. Als letztes sah ich seine braunen Schuhe und die dunkelgrünen Sportstrümpfe nach oben verschwinden.

Ich beugte mich dann gleichfalls hinaus, drehte den Kopf und konnte so den Rand des Wagendaches beobachten.

Von Harald war nichts mehr zu sehen.

Aber – jetzt ein Schrei – ein gellender Schrei.

Der Zug donnerte gerade über eine Brücke. Unten glänzte silbern im Sternenschein des hellen nordischen Nachthimmels ein Fluß.

Und – dann flog ein Körper von oben herab, flog über das Geländer.

Ich schrie vor Entsetzen auf.

Es war Harst – Harst, den jemand in die Tiefe gestoßen hatte.

Bevor ich noch recht zur Besinnung kam – über mir ein Schuß.

Ganz dicht über mir.

Ein Zufall war’s, daß ich im selben Moment den Kopf zurückgebogen hatte. So pfiff denn die Kugel dicht an meinem rechten Ohr vorüber. – Dann ein Griff – ein Ruck. Die Notbremse löste sich.

Ein Kreischen – mißtönend, schrill. Die Bremsklötze preßten sich gegen die Räder.

Ich hatte schon die Clement gezogen, entsicherte sie, rannte den Gang entlang zur Wagentür, drückte mich seitlich an der Wand hin, faßte die Sprossen der kurzen Eisenleiter, die auf das Dach führte, klomm empor.

Der furchtbare Zugwind fegte über mein Gesicht hin. Ich schaute mich um. Die Wagendächer waren leer.

Da hielt der Zug schon – weit jenseits der eisernen Bogenbrücke; da kamen schon Beamte auf dem Bahndamm entlanggelaufen.

Ich rief ihnen zu, was geschehen, blieb oben, paßte auf, daß niemand den Zug verließ.

Der Name Harst wirkte auch hier Wunder. Der Lokomotivführer, ein besonders energischer Mann, befahl den Schaffnern, auf jeder Seite des Zuges die Wagentüren zu verschließen.

Bald erschienen dann zwei Herren, die sich als Kriminalbeamte aus Christiania auswiesen und uns helfen wollten, die Abteile zu durchsuchen. Zwei Schaffner und ein höherer Eisenbahnbeamter, der im Nebenabteil gesessen hatte, liefen nach der Brücke zurück.

Ich wußte von vornherein, daß die Durchsuchung des Zuges ergebnislos bleiben würde. Sämtliche Reisende konnten sich ausweisen. Verdacht hegte ich lediglich gegen zwei Insassen einzelner Schlafwagenabteile. Aber auch diese beiden, ein Herr und eine Dame, hatten Papiere bei sich und durften deshalb nicht weiter belästigt werden.

Inzwischen hatte einer der Schaffner auf dem Wagendach über unserem Abteil tatsächlich einen Zentrumsbohrer und auch ein rundes Bohrloch gefunden, das jedoch erst etwa ein Zentimeter tief war.

Die Aufregung der Reisenden und des Zugpersonals legte sich allmählich. Dann kehrten auch der Beamte und die beiden Schaffner von der Brücke zurück. Sie hatten nichts von Harst entdecken können.

Da der Zug nicht länger auf offener Strecke stehen bleiben konnte und bereits zwanzig Minuten Verspätung hatte, nahm ich Harsts und meine Reisetasche, Ulster und Schirme und erklärte, ich würde das nächste Dorf am Fluß aufsuchen und mit Booten und Netzen nach Harald fischen lassen. Der Zug fuhr weiter. Die beiden Kriminalbeamten versprachen mir noch, die Reisenden abermals auf die Echtheit ihrer Legitimationspapiere zu prüfen.

So setzte ich mich denn allein nach der Brücke in Marsch. Ich mußte ein kleines Buchenwäldchen dabei passieren. Und hier nun wurden all meine Sorgen um Harald plötzlich zerstreut.

Da war ein dornenumwucherter Graben am Südrande des Wäldchens und aus diesem Gestrüpp jetzt eine wohlbekannte Stimme:

„Recht so, mein Alter! Dein Gesicht paßt zu den Umständen vortrefflich! Markiere weiter den Leidtragenden. Laß nach mir suchen. Auf Wiedersehen in Skien – übermorgen! Und – gib auf die nahe Chaussee acht! Dort hält das Auto!“

Ich hatte meine Schritte nur kaum merklich verkürzt, hatte nur ein einziges Mal nach dem Gestrüpp hingeschaut.

Harst lebte! Das war die Hauptsache! – Oh – ich wollte die Rolle des untröstlichen Freundes schon vortrefflich spielen!

Der Bahnsteig stieg vor der Brücke beträchtlich an. Rechts von mir im Tale schlängelte sich eine Chaussee entlang. Unweit der Brücke näherte sie sich dem Bahnkörper bis auf zweihundert Meter.

Da hielt wirklich ein Auto.

Aber – jetzt saßen ein Herr und eine Dame darin. Von dem Chauffeur war nichts zu sehen.

Sollte es tatsächlich dasselbe Auto sein?! Jenes Auto, das ich in Trollhätta beobachtet hatte?!

Ich hütete mich, allzu auffällig hinüberzublicken. Es war jetzt heller Tag geworden. Es mochte gegen fünf Uhr morgens sein. Die Sonne mußte jeden Augenblick über den Höhen im Osten auftauchen.

Dann stutzte ich.

Auf der Eisenbahnbrücke stand ein Mann – ein Mensch in Chauffeurtracht.

Ich dachte sofort an Harsts Warnung. Um unbemerkt meine Clement in die Hand zu bekommen, tat ich, als ob ich stolperte und hinfiel. Ich ließ dabei die Reisetaschen den Bahndamm hinabkollern, kletterte hinterdrein, legte mir dann die beiden Ulster so über den rechten Arm, daß sie auch die rechte Hand bedeckten, in der ich nun die entsicherte Clement hielt. So betrat ich die Brücke.

Der Chauffeur kam mir langsam entgegen. Er hatte die Autobrille vor den Augen. Sein schwarzer Vollbart war offenbar falsch. Die stumpfe Farbe der Haare verriet dies.

Der Mann hatte die linke Hand zwanglos in der Tasche seiner Manchesterjoppe. Aber – in dieser Tasche konnte sich eine Waffe befinden. Ich war auf der Hut – ich traute dem Menschen nicht!

„Entschuldigen Sie,“ sagte er nun, „ist hier etwas passiert? Wir sahen vom Auto aus den Zug halten –“

„Ja – ein Reisender ist von einem andern in den Fluß geworfen worden.“ – Ich merkte, wie der Chauffeur mich von oben bis unten musterte – so, als ob er meine Gestalt mit irgend jemand vergliche, der ihm beschrieben worden war.

Mein Herz begann rascher zu schlagen. Ich ahnte: hier stand ich entweder Ottmar Orstra oder doch einem seiner Helfershelfer gegenüber.

„Wer war der Reisende, der in den Fluß geworfen wurde?“ fragte er nun, indem er eine übermäßige Neugier heuchelte.

„Der Detektiv Harst – mein Freund!“ erwiderte ich kurz. – Ich wollte diese Szene hier abkürzen. Wenn der Chauffeur etwas gegen mich im Schilde führte, mußte die Entscheidung jetzt kommen.

Er lächelte plötzlich.

Ein fatales, grausames Lächeln.

Dann – zog er die linke Hand aus der Tasche – mit einem Revolver, sagte drohend:

„Rühren Sie sich nicht! Ich drücke sofort ab! – Sie werden mir eine Frage beantworten: Hat Sigrid Arbang Herrn Harst gestern nachmittag im Hause des Arztes Doktor Tribroog etwas über Ottmar Orstra erzählt?“

Ich war mir über das, was ich zu erwidern hätte, schon im klaren, bevor mein Gegner noch das letzte Wort ausgesprochen hatte.

„Leider nein! Sie war noch zu schwach! Nur eins teilte sie Harst mit: daß Orstra schon in Göteborg verbrecherische Handlungen begangen habe!“

„Wohin wollten Sie beide jetzt reisen?“

„Nach Christiania, um festzustellen, ob Orstra dort jenen Brief, den der Juwelier Bantjör von seinem Sohne vor der angeblichen Einschiffung nach Amerika erhielt, zur Post –“

„Schon gut!“ unterbrach er mich. – Es war nicht Orstra. Das erkannte ich an der Stimme. „Schon gut! Was werden Sie jetzt tun, Herr Schraut?“

„Haralds Leiche suchen lassen und sie nach Berlin bringen –“

Er hatte den Revolver etwas gesenkt – etwas. Er schien unschlüssig zu sein.

Dann – von der Chaussee her ein besonderer Pfiff – der einer Trillerpfeife – ein Signal!

Der linke Arm des Chauffeurs hob sich wieder.

„Ich muß!“ sagte er finster. „Ich bin zu blindem Gehorsam verpflichtet wie viele andere!“

Er wollte abdrücken – wollte –

Es war Notwehr von mir –! Noch nie hatte ich auf zwei Schritt Entfernung unter Mänteln hervor auf einen Menschen geschossen.

Notwehr – Selbsterhaltungstrieb, – und daher berührte mein Finger früher den Abzug.

Der Mann taumelte zurück. Sein Schuß ging in die Luft; meine Kugel war ihm durch die rechte Schulter gegangen.

Ich hatte die beiden Ulster schnell zur Erde gleiten lassen, sprang zu, – schlug zu – und der Revolver flog durch das Geländer in den Fluß.

Der Chauffeur lehnte jetzt an einem der Brückenbogen.

„Schonen Sie mich!“ stammelte er. „Ich – ich will es Ihnen danken!“

Von der Chaussee jetzt das Knattern des davonjagenden Autos.

Der Verwundete schwankte plötzlich, sank bewußtlos um. Ich trug ihn rasch in das nächste Gebüsch, hoffte, daß Harald sich zeigen würde. Als ich dann den Bahndamm erkletterte und Ausschau hielt, sah ich in der Ferne einen Menschen laufen. Es war Harst. –

Die nächsten Stunden will ich hier nur ganz kurz schildern. Ein Dorf lag nach Südwest zu am Flusse. Ich meldete dort, daß ich in der Notwehr den Chauffeur verwundet hätte, und bat, mit Netzen den Fluß abzusuchen. Der Gemeindevorsteher begleitete mich zur Brücke. Zwei Männer mit einer Tragbahre folgten uns. Als wir das Gebüsch erreichten, war der Chauffeur nicht mehr da. Aber die Fußspuren im Grase verrieten uns, daß zwei Leute den verwundeten nach der Chaussee getragen hatten. Es konnten nur die Insassen des Autos gewesen sein. – Bis gegen zwei Uhr nachmittag wohnte ich dem Abfischen des Flusses bei. Dann kehrte ich von der nächsten Bahnstation nach Göteborg ins Fremdenheim Merten zurück. Am anderen Morgen meldeten die Göteborger Zeitungen Harsts Tod. Zu derselben Zeit war ich bereits in Begleitung Inspektor Drontings, den ich jetzt ins Vertrauen gezogen hatte, mit einem Polizeidampfer unterwegs nach Skien. Unsere Abfahrt aus Göteborg hatten wir so schlau in undurchdringliche Schleier gehüllt, daß selbst ein Ottmar Orstra nicht wissen konnte, wohin ich mich gewandt hatte.

 

5. Kapitel.

Der Polizeidampfer traf am folgenden Nachmittag im Skien-Fjord ein. Aber erst nach Dunkelwerden landeten wir beide in einem Boot in der Nähe der Stadt und begaben uns sofort nach dem Polizeigebäude.

Dronting kannte den Polizeidirektor von Skien persönlich.

Herr Jöns Torstensen war über unser Erscheinen nur wenig überrascht. Er führte uns in sein Dienstzimmer und sagte, als ich ihn in die Sachlage einweihen wollte:

„Herr Schraut, das ist nicht mehr nötig. Herr Harst hat mir bereits alles mitgeteilt. Er wird sich wohl sehr bald einfinden. Er wollte gegen zehn Uhr hier sein.“

„Tolle Geschichte, Torstensen – wie?“ meinte Dronting und nahm nickend die dargebotene Zigarre an. „Harst jagt dem „Gespenst“ nach, das ein reparaturbedürftiges Objekt ist –“

Er schwieg. – Es hatte geklopft, und sofort hatte sich auch die Tür geöffnet. Ein alter buckliger Herr trat ein – der richtige Witzblatt-Professor mit Botanisiertrommel, Schmetterlingsnetz und goldener Brille vor den zugekniffen Augen.

„Ah – Sie auch da, Dronting!“ sagte er zu dem Inspektor und reichte uns nacheinander die Hand.

Wer Harst in dieser Maske erkannt hätte, verdiente eine Prämie. Selbst ich war bei seinem Eintritt einen Moment im Zweifel, ob er’s wirklich wäre.

Er nahm sein Zigarettenetui aus der Tasche und qualmte erst ein paar Züge, bevor er begann:

„Ich komme direkt aus dem berühmten Skien-Museum, das oberhalb der Stadt liegt. Es ist ein Naturmuseum, ein riesiger Park mit einem Hauptgebäude und zahlreichen Blockhäusern mit echten uralten Möbeln und Geräten. Der Verwalter, Herr Lingnörg, wohnt im Hauptgebäude – Erdgeschoß. Man kann durch die Vorhänge in die erleuchteten Zimmer hineinsehen.“

Wieder blies er ein paar Rauchringe.

„Sie wissen, Herr Torstensen,“ fuhr er fort, „daß ich für den Museumsverwalter seit gestern einiges Interesse habe, nachdem Sie mir auf meine Frage, ob hier in Skien vor fünf Jahren ein Mädchen verschwunden sei, geantwortet hatten, Herrn Lingnörgs einziges Kind mit Namen Sigrid käme dann allein in Betracht –“

Ich hörte mit atemloser Spannung zu. Auch Dronting ließ kein Auge von Harst.

„Sigrid Lingnörg war an Scharlach erkrankt,“ sprach Harald weiter. „Eines Morgens fand man ihr Bett leer und das Fenster offen. Seitdem hat niemand mehr etwas von dem Kinde gehört.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es Dronting. „Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, Sigrid Arbang könnte hier aus Skien geraubt worden sein?!“

In demselben Moment ging mir ein Licht auf. Aber ich schwieg.

„Das will ich Ihnen anderswo auseinandersetzen, lieber Dronting,“ erwiderte Harst. „Brechen wir auf. Lingnörg hat gerade Besuch – eine Verwandte! Und noch jemand dürfte in der Nähe sein. – Vorwärts – sonst geschieht ein Unglück, bevor wir an Ort und Stelle sind!“ –

Wir schritten zu zweien durch die stillen Straßen. Harald ging mit mir voraus.

„Ich weiß jetzt Bescheid,“ sagte ich leise. „Das reparaturbedürftige Objekt war die kranke Sigrid.“

„Das stimmt. Du hättest auch sofort darauf kommen können. Es war wirklich nach dem ganzen Inhalt des Briefes nicht schwer.“

„Und – wer ließ das Kind rauben? Wer zahlte Orstra die 25 000 Kronen?“

„Das Gespenst! Dasselbe Gespenst, das jetzt mit Orstra im Auto hergeeilt ist, um sich die Beute auf jeden Fall zu sichern. – Frage jetzt nichts! Du wirst sehen!“ –

Harst führte uns an eine Seitenpforte der Parkmauer des Museums. Sein Patentdietrich öffnete das Schloß. Dann befahl er: „Nun bitte kein lautes Wort, kein Geräusch! Einer hinter dem andern!“

Über schattige Wege, Rasenflächen und Holzbrückchen ging es dem linken Flügel des Hauptgebäudes zu.

Wer als Tourist Skien besucht, kennt auch das Skien-Museum, kennt das weiße Hauptgebäude mit den beiden Flügeln, den vielen blanken Fenstern und den weiten Sälen.

Buchen, Eichen und Kastanien umgeben das Haus. Wir vier huschten von Baum zu Baum. Dann ein Zeichen – wir blieben stehen.

Vor uns vier erleuchtete Fenster. Bei zweien waren die unteren Flügel geöffnet. Auf den weißen Vorhängen zeichnete sich dann und wann der Schatten eines in dem Zimmer hin und her gehenden Mannes ab.

Aber – draußen vor einem der offenen Fenster gab es noch etwas zu sehen. Dort stand ein anderer Mann – kaum zwanzig Schritt von uns entfernt.

Er schien zu horchen; er regte sich nicht. –

Harald flüsterte uns zu:

„Näher heran – ganz leise – bis an den letzten Baum –“

Jetzt war der Mann nur noch acht Schritt vor uns; jetzt vernahmen wir Stimmen.

Und – dann erschien auf den Vorhängen ein anderer Schatten, der eines hageren Weibes.

„Es wird Zeit!“ sagte eine Frauenstimme sehr laut.

Im gleichen Augenblick griff der Mann in das Fenster hinein, zog den Vorhang bei Seite, streckte den rechten Arm aus.

„Halt –!“ brüllte Harst da so plötzlich, daß ich vor Schreck zusammenfuhr.

Den Bruchteil einer Sekunde später ein Schuß – ein Schrei.

Der Mann hatte geschossen – hatte sich (und damit rechnete Harst nicht!) in das Fenster hineingeschwungen.

Harald jagte auf das Fenster zu. Ich hinterdrein.

Dann war er im Zimmer. Ich ebenfalls.

Auf dem Teppich dicht am Fenster lag ein Weib; neben ihr kniete ein graubärtiger Herr, stierte uns an, rief:

„Was – was bedeutet das alles?!“

Harst lief auf die Tür gegenüber den Fenstern zu, rüttelte am Drücker. Die Tür war von außen verschlossen.

Er drehte sich um und näherte sich langsam der Frau und dem alten Herrn, sagte leise:

„Herr Lingnörg, es ist anders gekommen, als ich annehmen konnte. Mein Name ist Harst. Ihre Schwester hat die Kugel des Mannes, der einst Ihr Kind raubte, in die Stirn erhalten, wie ich sehe –“

Lingnörg erhob sich und setzte sich schwerfällig in den nächsten Stuhl. Er schaute Harst verständnislos an, schaute dann zu Torstensen und Dronting hinüber, die nun auch durch das Fenster in das Zimmer gestiegen waren.

„Herr Lingnörg,“ fuhr Harald fort, „ich muß nochmals auf die Ereignisse vor fünf Jahren zu sprechen kommen. Damals war Sigrid schwer krank. Ihre Schwester, Frau Marnö, pflegte das Kind. Aber – sie pflegte sie nicht gesund. Nein – sie hintertrieb die Genesung Sigrids, indem sie das Kind nachts als Gespenst in wilde Angst versetzte. Sie wissen ja, daß Sigrid in steter Angst vor Gespenstern sich befand. Daran war Frau Marnö schuld. Sigrid sollte sterben –“

Lingnörg wischte sich den Schweiß von der Stirn, stammelte ungläubig:

„Das – das kann nicht sein! Meine Schwester soll so – so heimtückisch – Nein – nein! Weshalb sollte sie wohl mein sterbenskrankes Mädchen noch so geängstigt haben?!“

„Sie sind reich, Herr Lingnörg, sehr reich. Ihre Gattin ist seit langem tot. Starb Sigrid, so beerbte die Frau Sie, die jetzt hier vor uns als Leiche liegt, erschossen von demselben Manne, der Sigrid auf Ihrer Schwester Betreiben stahl und in einem Koffer wegschaffte. Frau Marnö war es, die nachher das Gerücht aufbrachte, Sigrid sei in ihren Fieberdelirien hinab zum Fjord gelaufen und dort ertrunken. Ich habe hier zwei Briefe Ihrer Schwester, gerichtet an einen gewissen Ottmar Orstra, einen Verbrecher, der vor nichts zurückscheut. Diese Briefe sind der Beweis, daß Frau Marnö Sigrid erst durch das „Gespenst“ umzubringen suchte – durch die Todesangst vor der nächtlichen Erscheinung! Als dies nicht glückte, wandte sie sich an jenen Orstra, versprach ihm 25 000 Kronen. – Hier sind die Briefe. Ist es Ihrer Schwester Handschrift?“

Lingnörg nickte verstört.

„Ja – ja! – Aber – aber – nun dieser Mord?!“ Und er deutete erschauernd auf die Tote.

„Ottmar Orstra ist derselbe Aarström oder Arbang, der in Trollhätta mir vor drei Tagen entging,“ erklärte Harald. „Orstra wollte mich beseitigen lassen – im Zuge nach Christiania. Er hat gute Freunde, die ihm helfen; er ist vielleicht das Haupt einer Verbrecherbande, die in Göteborg ihren Sitz hat. Ich wurde in einen Fluß gestürzt – vom Dache eines Eisenbahnwagens herab. Ich wollte als tot gelten. Aber Orstra ahnte wohl, daß ich noch lebte, wußte, daß ich gegen Frau Marnö Verdacht schöpfen würde, fürchtete, daß diese, erst verhaftet, zuviel ausplaudern könnte. Deshalb kam er mit ihr hierher, ging scheinbar auf ihren Vorschlag ein, Sie zu ermorden, Herr Lingnörg, damit Ihr Geld den Verbrechern nötigenfalls die Flucht erleichterte. Ich habe die Marnö und Orstra heute abend belauscht – dort im dritten Zimmer, dem Fremdenzimmer, – durch das Fenster! Ich hörte nicht alles. Nur das eine ganz deutlich: daß die Marnö „Es wird Zeit!“ sagen sollte, wenn Orstra von draußen Sie erschießen sollte. Doch – die Kugel suchte ein anderes Ziel, bevor noch mein Zuruf den Mord verhindern konnte. Daß Orstra so schlau sein würde, durch dieses Zimmer zu entfliehen, ahnte ich nicht. Er ist mir entwischt.“

Lingnörg hatte die Hände vor das Gesicht gepreßt und – weinte.

„Herr Lingnörg,“ sagte Harald herzlich und legte ihm die Hand auf die Schulter, „vergessen Sie nicht, das Ihr Kind lebt!“

Der grauhaarige Herr schluchzte noch stärker.

„Ich – ich weine ja vor Freude!“ meinte er kaum verständlich. „Wie soll ich Ihnen nur danken, Herr Harst! Mein Kind – meine Sigrid! Oh – ich bin nicht mehr allein! Ich werde wieder froh werden! Wie soll ich Ihnen nur danken!“ –

Sigrid Lingnörg ist heute ein blühendes, junges Weib und hat all das Furchtbare, was sie durchlebt, längst vergessen. Das Gedächtnis für ihre Kindheitsjahre kehrte ihr in demselben Augenblick zurück, als ihr Vater sie jubelnd an seine Brust zog.

Die Verfolgung Orstras, die Torstensen und Dronting damals sofort aufnahmen, blieb ergebnislos. Harst hatte dies vorausgesehen, hatte zu mir gesagt:

„Einen Orstra fängt man nicht mit den landläufigen Mitteln! Mein Alter – jetzt haben wir wieder mal ein großes Ziel vor Augen: Ottmar Orstra! Wir werden ihn finden, denn – er wird unseren Weg kreuzen, wird uns beide austilgen wollen! Es wird ein Kampf werden, der mehr Nerven und Geist beanspruchen dürfte wie damals unser Ringen gegen Warbatty-Doogston!“ –

Harald behielt recht.

Der Kampf kostete Nerven und Geist!

Der Leser wird dies bestätigen, wenn er erst „Lord Plemborns Verbrechen“ und „Die Leiche im Gletschertunnel“ kennt.

 

Nächster Band:

Lord Plemborns Verbrechen.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

 

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Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































40:
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49:
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56:
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61:
62:
63:
64:
65:
66:
67:
68:
69:
70:
71:
72:
73:

Die Gespenster-Rikscha.
Eine Löwenjagd im Sinai.
Der Afghan-Teppich.
Der Acht-Grad-Kanal.
Der leere Koffer.
Acht Stunden Frist.
Der Klub der Zwölf.
Die Bajadere Mola Pur.
Der goldene Gonggong.
Die Kugel aus dem Nichts.
Der Piratenschoner.
Die Büchse der Pandora.
Der Tintenlöscher des Sahdi Ahmed.
Auf des Messers Schneide.
Strandkorb Nr. 121.
Das Lichtbild ohne Kopf.
Das Haus in der Wildnis.
Das Geheimnis des Brasilianers.
Die Spielhölle in Hongkong.
Das Rätsel von Paragwana.
Ein amerikanisches Duell.
Die Ganges-Piraten.
Eine Wettfahrt ums Leben.
Die Bärenjagd in Kaschmir.
Das Licht in der Lehmhütte.
Der chinesische Messerwerfer.
Die leere Tonne.
Die Gauklergesellschaft Shingra Mao.
Der Klub der Zuchthäusler.
Lord Ralleys Schreckensnächte.
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Die Höllenmaschine Doktor Blucks.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Seemansenglisch“.
  2. Siehe auch Wikipedia: Trollhättan-Fälle.
  3. Siehe auch Wikipedia: Göta älv.
  4. In der Vorlage steht: „Warbatty-Dogston“ – Drei Vorkommen geändert.
  5. In der Vorlage sind hier zwei Zeilen miteinander vertauscht.

 

Trollhättan-Fälle mit der eisernen Brücke und dem Kraftwerk von der Insel aus fotografiert um ca. 1900.
Foto: Alex Lindahl (1841–1906).