Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 77:
Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1922.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin
Harald Harsts Kampf gegen den seit vielen Jahren von der Polizei aller Länder eifrigst gesuchten Bankräuber und Mörder Ottmar Orstra hatte, wie ich in den vorhergehenden Bänden geschildert habe, bei den berühmten Trollhätta-Wasserfällen in Schweden begonnen und war nun nach aufregenden, wechselvollen Ereignissen in dem Bergdorfe Dahlen in Norwegen scheinbar zu einem vorläufigen Abschluß gelangt.
Orstras Schwester Agna und sein Helfershelfer, den wir nur unter dem Namen Baptiste kannten, hatten hier in Dahlen ihr Leben eingebüßt.
Wir wußten aber, daß Orstra das Haupt einer weitverzweigten Verbrechergesellschaft war und daß wir jeden Tag, jede Stunde damit rechnen mußten, recht gefährliche Beweise der erfindungsreichen Rachgier dieses vielseitig gebildeten und dabei äußerst verwegenen Menschen zu erhalten. –
Vier Tage nach dem Brande des Hotels Dahlen (vergl. Nr. 76 „Lord Plemborns Verbrechen“) saßen wir beide mit dem Detektiv Asbörn Prang aus Christiania auf dem Achterdeck der Jacht Miramare beim Morgenkaffee.
Die Jacht hatte Lord Plemborn uns zur Verfügung gestellt. Sie lag jetzt am Nordufer des Dahlen-Sees vertäut, also inmitten einer der großartigsten Berglandschaften, die meine naturfreudigen Augen je geschaut haben.
Man stelle sich einen kilometerlangen, ovalen See mit steilen, himmelhohen Felsufern vor, die sich nur nach Norden zu öffnen und einen Ausblick auf die schneebedeckten Berghäupter Telemarkens gewähren. Vor diesen Bergriesen im langgestreckten Tale die Häuschen des Dorfes Dahlen, eingebettet in das Grün von Bäumen und Sträuchern. Und als einziges größeres Gebäude das Hotel Dahlen, ein Holzbau mit zahllosen blinkenden Fenstern.
Über alledem die Morgensonne eines klaren Augusttages; ringsum Frieden und Ruhe; nur das feine Klingen der Glocken des auf den grünen Bergmatten weidenden Viehs.
Es lag eine wunderbar feine Stimmung über diesem Bilde, eine Stimmung, die uns drei fast andächtig schweigen ließ.
Wie störend wirkte jetzt das schnell näherkommende Rattern eines Autos, das auf der Bergstraße von Odda her im Eiltempo nahte.
Wir konnten es nicht sehen. Aber wir hörten es.
Mit einem Male sagte Harald:
„Es muß ein Privatauto sein, also keiner der den Verkehr nach Odda vermittelnden Kraftwagen. Die halten stets vor dem Hotel Dahlen, und dieses Auto kommt die Dorfstraße entlang hier zum See hinab –“
Asbörn Prang nickte und schaute Harst fragend an.
„Sie denken an einen Klienten, Harst?“ meinte er leise und lauschte dem Geräusch des Autos.
„Ich denke, daß Vergnügungsreisende nicht so rasen würden. Das Auto hat mindestens siebzig Kilometer Geschwindigkeit.“
„Also vermutest Du, daß wirklich jemand zu Dir will,“ sagte ich und stand auf, trat an die Reling und blickte nach der Dampferanlegestelle hinüber, wo die Dorfstraße endete.
Dann tauchte das Auto auch schon auf, hielt und ließ zwei Damen mit Autobrillen erkennen, die sich jetzt hastig erhoben, nach der Jacht hinblickten und ausstiegen.
Der Chauffeur nahm ihnen die gelblichen Staubmäntel ab und half ihnen beim Abbinden der Autobrillen. Dann kamen die beiden rasch am Seeufer entlang.
Sie waren noch jung, hatten regelmäßige Gesichter und machten auf den ersten Blick einen vornehmen Eindruck.
Auch Harald und Prang waren aufgestanden.
„Es sind Klienten!“ sagte Prang. „Sie sind beide erregt. Es müssen Schwestern sein. Amerikanerinnen, taxiere ich.“
Harst ging bis an die Laufplanke, die zum Ufer hinüberführte.
Die dunkelhaarige der Damen war ein paar Schritt voraus, grüßte und fragte auf englisch:
„Master Harst?“
„Harald Harst, Miß Colding –“ Er verneigte sich.
Sie stutzte.
„Sie kennen uns, Master Harst?“
„Von den Illustrationen der Christiania Bunten Zeitung her. In der letzten Nummer waren Ihr Herr Vater, Sie und Ihre Schwester dreimal abgebildet.“
„Colding ist der Eisenbahnmagnat aus St. Louis, vierfacher Milliardär,“ flüsterte Prang.
Dann stellte Harst uns den Schwestern vor, und wir fünf nahmen am Frühstückstisch wieder Platz.
„Darf ich den Damen eine Tasse Tee anbieten?“ meinte Harald liebenswürdig.
Die Dunkelhaarige dankte. „Mary und ich sind Pa’s wegen viel zu sehr in Unruhe,“ erklärte sie. „Master Harst, wir hörten von Touristen, die gestern in der Haukeli-Sennhütte eintrafen, daß Sie sich hier befänden. Da sind wir denn sofort hierher geeilt. Pa ist nämlich seit vorgestern verschwunden.“
„Sie wohnten in der Haukeli-Hütte, Miß Colding?“
„Ja, seit vier Tagen. Wir hatten dort Station gemacht. Pa gefiel es dort.“
„Und am Tage nach Ihrer Ankunft verschwand Ihr Vater?“
„Er war morgens gegen acht Uhr zu einem längeren Spaziergang aufgebrochen, hatte sich Proviant mitgenommen und wollte nachmittags gegen vier zurück sein. Er hatte unseren Wolfshund Hasso mit, denn –“ – sie zögerte etwas – „denn Pa hat viele Feinde und muß vorsichtig sein.“
„Er kehrte von dieser Fußtour also nicht zurück?“
„Nein, Master Harst. Nur Hasso erschien gestern früh. An seinem Halsband war dieser Brief befestigt.“
Sie reichte Harald einen zerknitterten, schmutzigen weißen Umschlag.
„Eine Erpressung also,“ meinte Harst und zog den Briefbogen aus dem Umschlag, las folgendes vor, das ich aus dem Englischen ins Deutsche übertrage:
An die Schwestern Colding,
Haukeli-Sennhütte.
Ihr Vater befindet sich in unserer Gewalt. Wir fordern drei Millionen Lösegeld in Tausendkronenscheinen. Das Geld ist uns bis zum 25. August in der Weise auszuhändigen, daß Jane Colding es am 25. morgens acht Uhr nach dem Haukeli-Kegel bringt und dort auf der Spitze niederlegt.
Sollten Sie es wagen, die Hilfe der Polizei anzurufen, so werden Sie Ihren Vater nicht wiedersehen.
Die Brüder der grünen Maske.
Harst legte Briefbogen und Umschlag vor sich auf den Tisch.
„Miß Jane, sind bereits ähnliche Erpressungsversuche unternommen worden?“ fragte er.
„Ja. In den letzten drei Jahren hat Pa sechs Drohbriefe erhalten, stets von den „Brüdern der grünen Maske.“ Viermal wurde auf ihn geschossen. Er kam jedoch stets unverletzt davon.“
„Ihr Vater sollte also Geld an diese „Brüder“ zahlen, andernfalls sie ihn umbringen wollten?“
„So ist es, Master Harst. Im letzten halben Jahr hatten „die Brüder“ sich nicht mehr gemeldet. Pa hoffte schon, sie hätten endlich eingesehen, daß er sich nicht einschüchtern ließ.“
„Ich glaube hierüber etwas in den Zeitungen gelesen zu haben –“
„Ganz recht, Master Harst. Die Sensationspresse drüben bei uns greift ja begierig all solche Vorfälle auf.“
„Was gedenken Sie zu tun, Miß?“
„Ich habe nach Bergen an den amerikanischen Konsul telegraphiert und ihn gebeten, mir drei Millionen in Tausendkronenscheinen nach der Haukeli-Sennhütte zu schicken. Der Konsul kennt uns persönlich. Er depeschierte zurück, daß das Geld rechtzeitig über Odda eintreffen würde. Er will es von Odda durch ein Auto senden.“
Harald hatte sein Zigarettenetui geöffnet. „Sie gestatten, daß ich rauche. – Sie waren also zuerst bereit, die drei Millionen zu opfern, Miß Jane, ohne fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen?“
„Ja. Dann aber riet uns Professor Lörax, der ebenfalls auf der Haukeli-Hütte wohnt, Ihnen den Fall vorzutragen. Er hatte von Touristen erfahren, daß –“
„Danke, Miß. – Wer ist Professor Lörax?“
„Ein Landsmann von uns, Dozent an der Universität in Chikago. Stuart Lörax genießt als Chemiker Weltruf. Er traf in der Haukeli-Hütte vorgestern abend ein, in Begleitung seiner Gattin.“
„Ah – dann handelt es sich also um den berühmten Lörax, Miß, – berühmt und schrullenhaft.“
„Er wirkt allerdings ein wenig eigenartig. Unseren Witzblättern bietet er dauernd Stoff.“
Harald rauchte nachdenklich ein paar Züge. Dann erklärte er:
„Sie hätten besser an mich telegraphiert, Miß Jane. Ihre Autofahrt ist fraglos beobachtet worden. Sie werden sicherlich deshalb von den Erpressern, die Ihnen von Amerika gefolgt sein dürften, einen neuen Drohbrief erhalten.“
Miß Jane schüttelte leicht den Kopf.
„Wir sind vorsichtig gewesen. Niemand ahnt, daß wir den Haukeli verlassen haben. Unser Chauffeur fuhr mit dem Auto bereits gestern abend ab. Angeblich sollte er hier in Dahlen postlagernde Briefe für uns abholen. Dies erzählten wir an der Abendtafel. Um zwei Uhr morgens verließen Mary und ich dann die Sennhütte und wanderten zu Fuß die Bergstraße entlang, bis wir das Auto trafen. Wenn wir jetzt zurückkehren, werden wir uns in der Nähe von Haukeli auf den Boden des Autos setzen, und Palwer, unser Chauffeur, wird uns mit der Schutzleinwand bedecken. So fahren wir in den Autoschuppen hinein. Es kann niemand merken, daß wir Haukeli verlassen hatten.“
„Hm!“ meinte Harst gedehnt. „Ich befürchte das Gegenteil! – Doch – darauf kommt es jetzt nicht mehr an! Schraut und ich werden morgen früh in der Sennhütte eintreffen.“
Die blonde Mary, die bisher schweigend zugehört hatte, sagte jetzt:
„Nicht wahr, Master Harst, – vielleicht haben wir Pa dadurch, daß wir Sie aufsuchten, nur in Gefahr gebracht! Ich habe das Jane gleich vorgehalten, als Professor Lörax uns den Rat gab, Sie um Hilfe zu bitten. Es kommt doch auf drei Millionen nicht an!“
Jane, offenbar die ältere, warf der Schwester einen unfreundlichen Blick zu.
„Mary vergißt,“ meinte sie spitzen Tones, „daß die Erpresser, worauf auch Lörax hinwies, die drei Millionen sich holen und doch Pa nicht freilassen könnten!“
Die Blonde wurde rot. Auch ihre Augen verrieten wenig Liebe für die Ältere, als sie scharf erklärte:
„Dann wäre noch immer Zeit gewesen, Master Harst zu bemühen! Wer weiß, was jetzt geschieht! Denn auch ich fürchte, die Brüder der grünen Maske wissen längst, daß wir hier sind.“
Es folgte eine peinliche Pause. Die Schwestern fühlten wohl, daß sie hier vor uns die zwischen ihnen bestehende Abneigung allzu offen enthüllt hatten. Beide blickten vor sich hin.
Dann fragte Harald ablenkend: „Die Brüder der grünen Maske haben im Westen der Vereinigten Staaten, soweit ich mich besinne, seit Jahren zahllose Erpressungen verübt. Ist man ihnen nie auf die Spur gekommen?“
„Nie!“ erwiderte Jane Colding. „Unsere besten Detektive haben alles Mögliche versucht, diese Geheimorganisation zu sprengen.“ –
Gleich darauf verabschiedeten die Schwestern sich. Harst begleitete sie noch bis zum Auto.
„Was halten Sie von dieser Sache, Schraut?“ fragte Asbörn Prang und blickte ihnen ernst nach. „Man merkt, daß es mit dem Frieden in dieser Familie schlecht bestellt ist. Die Schwestern – hassen sich, behaupte ich!“
„Scheint so, Prang. – Drei Millionen sind ein Batzen Geld. Ich fürchte, wir werden gegen diese Bande nichts ausrichten. Natürlich sind diese „Masken-Brüder“ zu mehreren hier, und die Fahrt der Schwestern dürfte ihnen nicht verborgen geblieben sein.“ –
Das Auto fuhr davon. Harald kehrte zurück, ging in die Kajüte hinab und kam mit der illustrierten Zeitschrift „Christiania-Bladet“ wieder an Deck, setzte sich und suchte in dem Blatt eine bestimmte Stelle, las dann vor:
„Master John Colding ist der reichste Mann Amerikas. Unsere Bilder zeigen ihn mit seinen beiden Töchtern Jane und Mary an Deck der im Hafen ankernden Jacht „Kolumbus“, im Auto und beim Tennisspiel. Master Colding ist seit acht Jahren Witwer. Die ältere Tochter Jane, verlobt mit dem Herzog von Bressex, gehört im Dollarlande mit zu den eifrigsten Frauenrechtlerinnen. – Mary Colding machte vor einem Jahr viel von sich reden, als sie ihren Vater durch einen Prozeß zwingen wollte, einer Heirat mit einem Unterbeamten der St. Louis-San Franzisco-Eisenbahn seine Zustimmung und Miß Mary eine entsprechende Aussteuer nebst Nadelgeld zu geben. Dieser Liebesroman der Milliardärstochter endete sehr prosaisch: sie sah ein, daß der Unterbeamte Austin Parkner doch wohl nicht der rechte Gatte für sie sei, und verzichtete auf die Weiterführung des im übrigen für sie aussichtslosen Prozesses.“
Harald klappte das Heft zu.
„Nun wissen wir auch, weshalb die Schwestern sich nicht lieben,“ meinte er. „Dieser Prozeß hat damals viel Staub aufgewirbelt. Miß Jane, angeblich Frauenrechtlerin, soll alles in allem eine Egoistin von echt amerikanischer Großzügigkeit sein und gegen die romantische blonde Mary intrigiert haben, um zu erreichen, daß Colding Mary enterbe. Ich habe für derartiges ein gutes Gedächtnis.“
„Allerdings,“ lächelte Asbörn Prang. „Ein fabelhaftes Gedächtnis! Jetzt besinne ich mich ebenfalls auf diese Skandalgeschichten. – Wollen Sie mich mit nach Haukeli nehmen, Harst?“
„Nein, lieber Prang. Ich will – Sie vorausschicken. Wir wollen in folgender Weise die Rollen verteilen. Sie, Prang, reisen heute mittag zum Schein nach Skien mit dem Dampfer ab, steigen aber schon drüben am Südufer wieder aus, verkleiden sich und kehren hierher zurück, mieten, ohne uns zu beachten, einen der zweiräderigen Wagen und fahren als harmloser Tourist nach Haukeli. Schraut und ich aber nehmen abends ein Auto und werden so kurz vor Mitternacht unweit Haukeli eintreffen, schicken das Auto zurück und beziehen Nachtquartier bei Mutter Grün. Wie und wo wir Sie dann sprechen, bleibt dem Zufall überlassen. Beobachten Sie jedenfalls die Gäste in der Sennhütte aufs genaueste. Ich bin überzeugt, daß sich ein „Masken-Bruder“ darunter befindet.“
Mittags verließ uns Prang. Wir gaben ihm bis zum Dampfer das Geleit. Dann blieben wir an Bord der Miramare, bis das Mietauto vorfuhr, das uns nach Haukeli bringen sollte. Wir nahmen nur einen kleinen Koffer und zwei Rucksäcke mit, außerdem vier wollene Decken und einen Spirituskocher für Hartspiritus. –
Der Mond stand als runde Scheibe am sternenklaren Himmel. Vielfache Echos warfen das Rattern des Motors zwischen den Bergwänden verstärkt zurück. Harsts stete Wachsamkeit machte mich nervös.
So vergingen drei Stunden. Immer höher war der Kraftwagen auf den Serpentinenwegen geklettert; immer kälter wurde es. In Dahlen hatten wir noch gegen Abend 21 Grad Wärme gehabt; hier waren’s kaum sechs. Man konnte die Wolldecken brauchen.
Der Chauffeur wandte sich um.
„Noch vier Kilometer, Herr!“ rief er Harald zu, indem er den Wagen langsamer laufen ließ. „Hier zweigt sofort eine Seitenstraße ab. Die Haukeli-Hochebene ist nahe.“
„Abbiegen!“ befahl Harst.
In demselben Moment tauchten im Lichte der Scheinwerfer zwei Männer auf. Der eine war Asbörn Prang; der andere Professor Lörax.
Prang stellte uns dem dicken Gelehrten, dessen graue Künstlermähne und grauer Vollbart an einen Musiker erinnerten, kurz vor und erklärte hastig:
„Wir haben für Sie beide schon Quartier besorgt, Harst. Schicken Sie das Auto zurück.“
Wir stiegen aus. Das Auto wendete und fuhr davon.
Lörax hatte nicht einmal an den Hut gefaßt, als wir höflich die Mützen lüfteten. Er ist ja wegen seiner Unhöflichkeit berüchtigt.
Prang nahm unseren Koffer und ging voran.
Lörax stampfte zwischen Harst und mir schnaufend her.
„Ist etwas neues passiert, Herr Professor?“ fragte Harald.
„Würde ich sonst nachts hier herumrennen! Natürlich ist was passiert! Jane Colding hat abends um acht Uhr einen Brief in ihrem Zimmer gefunden – einen neuen Drohbrief, aus dem hervorgeht, daß die Banditen wissen, wer hier eintrifft. Ich habe den Brief mit.“
Die Bergstraße mündete jetzt auf die Haukeli-Hochebene. Prang schritt nach rechts hinüber. Nach einer Viertelstunde hatten wir eine kleine, leere Steinhütte erreicht.
Prang zog 3 dicke Kerzen aus der Tasche, zündete sie an und stellte sie auf den gestampften Lehmboden.
„Hier sind Sie sicher, Harst,“ meinte er. „Bis zur Sennhütte sind es nur zehn Minuten.“
Wir breiteten die Decken aus und setzten uns nach Türkenart nieder. Lörax reichte Harst den neuen Drohbrief, sagte dazu:
„Es ist eine ganz andere Handschrift wie der erste Brief, den der Hund brachte.“
Harald las leise vor:
„Falls Sie Harst nicht verbieten sich einzumischen, wird Ihr Vater den 25. nicht erleben. Es war sehr leichtsinnig von Ihnen, nach Dahlen zu fahren, noch leichtsinniger, Harst den ersten Brief zu überlassen. Sie werden ihm diesen Brief wieder abfordern und ihn zusammen mit dem Gelde auf dem Haukeli-Kegel niederlegen. Sollten wir etwas von Verrat merken, trifft Sie die Schuld für die Zwangsmaßnahmen, die wir anwenden müssen.
Die Brüder der grünen Maske.“
„Was bestimmt Miß Jane?“ fragte Harald dann.
Lörax fluchte. „Sie hat Angst bekommen und wünscht, daß Sie morgen zurückkehren – am Tage, damit die Bande sieht, daß Sie sich nicht einmengen wollen.“
Und Prang meinte kleinlaut:
„Es war nichts anderes bei den Damen zu erreichen, besonders da Miß Mary ja von vornherein nicht gewünscht hatte, daß Sie um Hilfe gebeten würden, Harst. – Wie denken Sie selbst über die Sachlage?“
„Ich denke, daß ich mich niemandem aufdränge. Wir werden morgen also mit der Autopost nach Dahlen zurückfahren. Dabei bleibt es.“
Lörax kaute an einer Zigarre und brummte:
„Vielleicht ist’s am besten so! Sonst wird Colding möglicherweise von den Schurken umgebracht.“
Harald begann zu gähnen und sagte gleichmütig zu Prang und Lörax:
„Wir wollen Sie dann nicht länger Ihrer Nachtruhe berauben. Auch wir sind müde. – Prang, haben Sie in der Haukeli-Hütte oder in den beiden Unterkunftshäusern verdächtige Gäste feststellen können?“
„Es sind nur acht Gäste da. Meiner Ansicht nach ganz harmlose Leute,“ erwiderte der Detektiv schlecht gelaunt. „Mir gefällt es übrigens gar nicht, daß Sie die Sache hier aufgeben, Harst!“
„Ich kann doch nicht Coldings Leben gefährden, lieber Prang! Mit den Masken-Brüdern ist nicht zu spaßen! In Amerika haben sie ein Dutzend Morde verübt, und doch hat man nicht einen der Täter fassen können.“
„Das stimmt!“ nickte der Professor. „Unsere Polizei ist für die Katz’!“
Prang erhob sich. „Dann kehre auch ich nach Dahlen morgen zurück,“ erklärte er. „Gute Nacht!“ Er gab uns die Hand.
Auch Lörax krabbelte schwerfällig hoch. Er brummte irgend etwas, das ein Gute Nacht-Gruß sein konnte, und folgte Prang.
Wir hörten, wie das Geräusch ihrer Schritte leiser und leiser wurde.
Dann faßte Harst unter die Wolldecke und holte den zweiten Drohbrief hervor, den er sehr geschickt dort hatte verschwinden lassen, nahm den anderen Brief aus der Brusttasche und sagte:
„Brühe uns Tee auf, mein Alter. Ich habe Hunger.“
Er legte sich lang auf den Bauch und verglich die beiden Briefe. Dann flüsterte Harald plötzlich:
„Achtung –!“
und fügte laut hinzu:
„Der Grobian von Professor hat den Brief hier gelassen, nein, beide Briefe! Ich werde ihm nachlaufen. Er und Prang können noch nicht weit sein!“
Er eilte hinaus. Die Steinhütte hatte weder Tür noch Fenster, nur zwei Maueröffnungen. Es war wohl eine frühere Schäferhütte.
Ich stellte die Aluminiumbecher auf die Erde und die Eßwaren daneben. Aber – meine Gedanken waren draußen, und meine Ohren achteten auf das geringste Geräusch. Doch – nur der Wind umsäuselte die kleine Hütte.
Was hatte das geflüsterte „Achtung!“ zu bedeuten gehabt?! Befand sich wirklich ein Lauscher in der Nähe?!
Und – wenn es so war, dann konnte es nur einer der Masken-Brüder sein!
Ich gebe zu: ich fühlte mich gar nicht behaglich! Die Fensteröffnung lag kaum anderthalb Meter über dem Boden, und auch durch das Türloch konnte man mir bequem einen Stein an den Kopf werfen, konnte mich so geräuschlos stumm machen!
Ich war froh, als ich dann Harsts Stimme vernahm:
„Hallo – erledigt! Ich habe die beiden noch eingeholt!“
Er trat ein und setzte sich.
„Her mit dem Tee!“ meinte er. „Schade, daß das Zeug so heiß ist. Man kann sich nur zu leicht den Mund verbrennen!“
Die beiden letzten Worte wurden unmerklich betont.
Ich verstand: Ich sollte mit Äußerungen vorsichtig sein! Es war also doch ein Lauscher draußen!
Wir begannen zu essen.
„Eigentlich ein Unsinn, daß wir hier so ungemütlich nächtigen,“ sagte Harald nach einer Weile. „Weshalb sollen wir nicht in der Haukeli-Hütte in einem anständigen Bett schlafen, wo wir doch als Gegner der Masken-Brüder ausgeschieden sind!“
„Du hast ganz recht!“ erklärte ich.
„Ja, Prang hätte uns ruhig bis zur Haukeli-Hütte fahren lassen sollen –“
„Er glaubte wohl, Du würdest Dich anders entscheiden.“
„Anders?! Sollen wir gegen den Willen der Coldingschen Damen etwas unternehmen?! Nein – die Verantwortung wäre zu groß!“
„Allerdings!“
„Wenn wir jetzt im Haukeli ein Zimmer haben wollen, wird es wohl eine Stunde dauern, bis wir die Bedienung herausgetrommelt haben. Schließlich – man kann auch hier es sich behaglich machen! Decken haben wir ja. – Übrigens – was den zweiten Drohbrief betrifft – er war von einer Frau geschrieben und mit einer lila Tinte, die die Briefschreiberin sich selbst hergestellt hat –“
Meine Aufmerksamkeit für Harsts Worte, die jedoch nur für den Lauscher berechnet waren, blieb gering.
„Lila Tinte – aus einem Kopierstift und Wasser zubereitet,“ fuhr er fort. „Hm – ob nicht Mary Colding vielleicht diesen Brief geschrieben hat?“
Da schwand meine Interessenlosigkeit.
„Du schaust mich so überrascht an, mein Alter! Bedenke aber, daß die blonde Mary stets gegen unsere Mitwirkung war! Kann sie da nicht aus Angst um den Vater den Brief der Älteren ins Zimmer gelegt haben? Wer tat dies, wenn Mary nicht in Betracht käme?! Unter den Gästen ist kein Verdächtiger, und in die Baulichkeiten des Haukeli kann ein Fremder sich unbemerkt nicht einschleichen! Außerdem: nur Mary konnte wissen, daß ich den ersten Drohbrief behalten hatte!“
„Hm, nicht ganz von der Hand zu weisen,“ meinte ich.
„Ja, – und wenn Mary nun wirklich diesen zweiten Drohbrief fabriziert hat, dann – dann brauchten wir gar nicht auf eine weitere Arbeit hier zu verzichten! Dann könnten wir hier bleiben und den Masken-Brüdern einen dicken Strich durch die Rechnung machen!“
„Das stimmt! Aber – wie willst Du feststellen, ob Mary Colding sich diesen „Scherz“ geleistet hat?“
„Ich brauche nur Jane zu bitten, mir eine Schriftprobe ihrer jüngeren Schwester zu verschaffen. Und – das werde ich morgens tun, denn Mary ist zu ungeübt, ihre Handschrift so zu verstellen, daß ich nicht Ähnlichkeiten herausfinden sollte!“
„Das läßt sich hören!“
„Schade! Wenn mir dies alles schon vorher eingefallen wäre, als noch Prang und der Professor hier waren, dann hätte ich Lörax bitten können, Jane zu ersuchen, ihm irgend etwas Schriftliches von Marys Hand zu geben.“
„Freilich – dazu ist’s jetzt zu spät –“
„So. Ich bin satt. – Nun die Nachtlager! Die Rucksäcke werden als Kopfkissen genügen –“
Fünf Minuten drauf lagen wir nebeneinander in der dunklen Hütte – ganz dicht nebeneinander, der Türöffnung schräg gegenüber. Zwei Decken hatten wir als Matratzen benutzt, die beiden anderen über uns gebreitet.
Als ich die Kerzen ausgelöscht und mich ausgestreckt hatte, als nur noch Haralds glimmende Zigarette wie ein Glühwürmchen leuchtete, da hörte ich ein leises Knacken.
Ich kannte es.
Und auch ich legte die neunschüssige Clement entsichert und gespannt neben mich.
Das Knacken war das Geräusch des zurückgleitenden Sicherungsflügels gewesen.
Halb rechts lag die Türöffnung. Schaute man hinaus, so sah man die helle Haukeli-Hochebene, hell vom Mond- und Sternenschein.
Und jenseits des weiten Plateaus in den Randbergen überall weiße Tupfen: Schneefelder! Sogar auf der Ebene waren noch hie und da grau bestaubte Schneehalden sichtbar. –
Ich wartete, daß Harald mir nun flüsternd Aufschluß über den Lauscher geben würde.
Er rauchte und schwieg.
„Ist er noch da?“ fragte ich schließlich ganz leise.
„Er war gar nicht da. Sie war da!“
„Wer?“
„Das weiß ich nicht. Jedenfalls ein Weib.“
„Wie hast Du dies bemerkt?“
„Gesehen habe ich sie.“
„Durch die Tür?“
„Nein – durch die Löcher in der Wand. Die Steine sind nur durch Lehm verbunden. An einer Stelle gibt es da in der Seitenwand ein faustgroßes Loch, etwa vierzig Zentimeter über dem Boden. Ich saß so, daß ich hinausschauen konnte. Und so erspähte ich die Schnürstiefel und den Rocksaum eines Weibes, das lautlos an die Hütte heranschlich.“
„Ob es Mary Colding war?“
„Glaube ich nicht! Wer anders!“
„Jane etwa? – So rede doch!“
„Bitte – ich rede ja in einem fort!“ – Er nahm eine neue Mirakulum und zündete sie am Stummel der anderen an, fügte hinzu: „Jane war’s schon gar nicht, lieber Alter. Wenn Professor Lörax nach einer halben Stunde hier wieder erscheint, stimmt meine Theorie.“
„Welche?“
„Ich möchte Dir mal folgendes aus den amerikanischen Kriminalakten über Erpressergesellschaften erzählen. – In Neuyork hatte sich 1902 eine derartige Gesellschaft überaus eifrig betätigt und gegen fünf Millionen in kurzer Zeit „verdient“. Als man die Bande schließlich abfaßte, stellte sich heraus, daß ihr Oberhaupt einer der angesehensten Ärzte Neuyorks war, der seine Kenntnis intimer Familienverhältnisse dazu benutzt hatte, den Erpresserbriefen auch allerlei Tatsachen einzufügen, die den Opfern höchst peinlich sein mußten.“
Ich überlegte. Was sollte diese Geschichte? Weshalb erwähnte Harald sie jetzt gerade?! – Dann die Erleuchtung – blitzartig –!
„Du argwöhnst, daß der dicke Lörax, die berühmte Witzblattfigur, vielleicht ebenfalls in ähnlicher Weise den Brüdern der grünen Maske nahesteht?“ fragte ich gespannt.
„Ja. Das vermute ich!“
„Weshalb? Was hat Deinen Verdacht erregt?“
„Oh, ich war ganz arglos, bis Lörax hier gleichfalls dafür war, wir sollten nach Dahlen zurückkehren.“
Ich dachte scharf nach.
„Gestatte eine Einwendung,“ flüsterte ich dann. „Lörax war es doch, der den Schwestern riet, sie sollten Dich um Hilfe bitten.“
„Gewiß. Das tat er, weil er dann als Vertrauter der Schwestern in der Lage war, unsere Schritte zu überwachen. Er mag so kalkuliert haben: es wird in Dahlen doch in kurzem bekannt, daß Colding entführt worden ist. Harst ist in Dahlen und kommt dann vielleicht von selbst in einer Verkleidung her und kann Dir dann lästig werden. Wenn Du aber die Schwestern hinschickst und ihn herbitten läßt, kannst Du es schon so einrichten, daß er wieder das Feld räumen muß. – So mag er sich’s zurechtgelegt haben. Und – deshalb kann er es gewesen sein, der Mary Colding riet, den zweiten Drohbrief zu schreiben und ihn Jane ins Zimmer zu legen, wobei er so getan haben wird, als ob er sich nun zu Marys Ansicht bekehrt hätte, uns beide nicht hinzu zu ziehen.“
„Hm – das leuchtet zwar ein, ist mir aber zu kompliziert.“
„Warte ab. Wenn Lörax jetzt hier sich wieder einstellt und irgendwie uns zu beweisen sucht, daß der zweite Drohbrief nicht etwa eine Fälschung ist, dann –“
„Gestatte! Wie soll Lörax wissen, daß Du den Brief für Marys Fabrikat ansiehst?“
„Die Frau wird’s ihm sagen, die uns belauscht hat!“
„Ah – verstehe: es ist Frau Lörax gewesen!“
„Sehr wahrscheinlich!“
„Lörax wird also unter einem Vorwand herkommen und Deinen Verdacht, der Brief sei gefälscht, zu entkräften suchen.“
„Ja, vielleicht tut er das. Geschieht es, dann ist meine Theorie richtig.“
„Du glaubst also wirklich, Lörax hat bei Coldings Entführung mitgewirkt?“
„Das vermute ich mit ziemlicher Bestimmtheit. Lörax traf hier in Haukeli am Tage nach Coldings Verschwinden ein. Es mag dies ein Zufall sein, aber es ist immerhin auffallend.“
„Wohin mag man Colding verschleppt haben?“
„Hier im Gebirge gibt es zahllose Verstecke. Möglich auch, daß Colding gar nicht weit weggeführt worden ist. Mir ist da vorhin, als ich Prang und Lörax nachgelaufen war und nochmals mit ihnen sprach, ein besonderer Gedanke gekommen. Prang erwähnte nämlich, daß Lörax nebst Gattin allein in dem einen Unterkunftshause wohnt und alle drei Zimmer belegt hat. Du kennst ja die Gebäude des Haukeli. Die sogenannte Sennhütte, richtiger der große Gasthof, liegt nebst zwei Ställen auf der einen Seite der Straße; auf der anderen befinden sich die beiden Unterkunftshäuser und zwei Wohnhäuser von Kleinbauern. Wenn nun –“
Harst schwieg plötzlich.
Auch ich spürte den scharfen Dunst, der mit einem Male über uns hinwehte.
Ich sah noch undeutlich, daß Harald sich aufzurichten versuchte.
Dann – schwanden mir schon die Sinne.
Mein letzter Gedanke war:
„Ottmar Orstra –!“
Und mein erster, als ich gefesselt und geknebelt wieder zu mir kam:
„Wenn’s Ottmar Orstra war, seid Ihr verloren!“
Denn – wo wir uns befanden, konnte ich nicht erkennen.
Ringsum tiefste Dunkelheit.
Aber neben mir atmete jemand schwer und keuchend. Das mußte Harald sein.
Dem einen Gedanken, der alle Befürchtungen in sich vereinte, folgten andere, wachgerufen durch das, was ich spürte, was mein Gefühl wahrnahm.
Erstens: es war hier eisig kalt! So kalt wie in einem Eiskeller.
Und die Luft war dumpf und feucht, stank wie fauliges Wasser.
Zweitens: ich lag auf kahlem Fels lang ausgestreckt. Die Hände waren mir über der Brust zusammen geschnürt.
Drittens: ich konnte mich nicht aufrichten, kein Glied rühren! Ich war an den Felsboden irgendwie festgeschnürt, – selbst um den Hals lief ein dünner, straff gespannter Strick. Und der Knebel im Munde wurde durch einen Bindfaden, der um das Genick herumging, festgehalten. –
Wie lange wir uns hier bereits befanden, wie lange unsere Betäubung gewährt hatte, dafür fehlte mir jede Schätzung.
Nur – ich fror derart, daß ich bereits Stunden in dieser Eisluft liegen mußte; ich merkte, daß meine Füße und Arme wie Eisklumpen waren, fast gefühllos –!
Stunden mußten vergangen sein, seitdem man uns dort in der Hütte durch irgend ein höllisches Gas plötzlich betäubt hatte.
Durch Gas! Auch das sprach eigentlich dafür, daß Lörax, der berühmte Chemiker, der Täter war, und nicht Ottmar Orstra!
Seltsam – wie war ich nur mit einem Male auf Orstra gekommen, der vor vier – nein, vor fünf Tagen aus Dahlen mit den Juwelen der Frau Flamborg entkommen war. –
Mein Kopf wurde immer klarer. Ich fühlte nur eins: daß ich entsetzlich fror!
Dann – ein Hüsteln neben mir.
Harald regte sich –!
Dann ein Röcheln, als ich mich ebenfalls durch Hüsteln als bei Bewußtsein gemeldet hatte.
Ein Röcheln – so, wie jemand röchelt, der all seine Kräfte gleichzeitig mit äußerster Energie anspannt.
Das Röcheln verstummte.
Harst atmete schnell und pfeifend. Das, was er durch diese Kraftentfaltung versucht hatte, schien nicht geglückt zu sein.
Wieder Stille ringsum – Totenstille.
Nein – doch nicht völlige Stille.
Da waren leise klingende Geräusche – bald nah, bald fern; da war ein regelmäßiges Tak – tak – tak –
Wassertropfen – fallende Wassertropfen!
Und – plötzlich dachte ich an den Gletschertunnel nördlich von Haukeli.
Die Kälte – die fallenden Tropfen! Ja – es mußte einer der Gletschertunnel sein oder doch eine Aushöhlung in einem der Gletscher! –
Dann wieder das krampfhafte Röcheln neben mir.
Harald versuchte sich zu befreien.
Und – wieder mißlang es!
Nun verhielt er sich ruhig. –
Die Sekunden, die Minuten wurden in dieser Kälte zu Ewigkeiten.
Selbst die immer aufs neue erwachende Todesangst trieb das Blut nicht schneller durch die erstarrten Glieder.
Müdigkeit kam – jene bleierne Müdigkeit völliger geistiger und körperlicher Erschöpfung, die uns in jeder Lage einschlafen läßt.
Ich schlief ein.
Und – erwachte, starrte in das grelle, weiße Licht einer Taschenlampe – war im Nu völlig munter.
Der weiße Lichtkegel glitt nach links.
Meine Augen erkannten Einzelheiten. Ringsum glitzerndes Eis. Und – die Gestalt eines Mannes, der die Taschenlampe in der Linken hielt. In der halb erhobenen Rechten glänzte es metallisch: ein Revolver!
Der Mann war schlank und mittelgroß, hatte vor dem Gesicht eine grüne Maske, zündete jetzt eine Petroleumlaterne an und stellte sie auf einen Vorsprung der Eiswand.
Die Verteilung von Licht und Schatten in dieser Eishöhle, die bei ganz unregelmäßiger Gestalt eine größte Breite und Länge von sechs Meter haben mochte und deren zahllose, weit vorragende Ecken den Zugang verbargen, wurde jetzt gleichmäßiger, so daß ich den Mann eingehender mustern konnte.
Professor Lörax konnte es nicht sein. Lörax war dick und breitschultrig, sah plump aus. Und dieser Schlanke da bewegte sich schnell und gewandt, verriet in allem die durch Training aufs höchste gesteigerte Kraft eines frischen Körpers.
Schweigend hatte er jetzt Harst von den in die Risse des Felsbodens getriebenen Eisenhaken losgebunden, hatte den Gefesselten spielend leicht emporgehoben und auf eine bankartige Ausbuchtung des Gesteins gesetzt.
Nun kam ich heran. Auch ich wurde neben Harald gesetzt.
Dann nahm der Schweigsame einen langen Strick und band uns mit dem Rücken an die Eiswand fest.
Noch immer kein Wort.
Ich stellte fest, daß der Mann derbe braune Bergstiefel, einen dunkelgrauen Lodenanzug und eine dunkle Sportmütze trug. Und – ich sah seine Hände – seine Fingernägel!
Wie unser Feind Ottmar Orstra ohne Verkleidung aussah, wußten wir nicht. Nur eins wußten wir: daß Orstra lange, schmale Hände und stark gewölbte Fingernägel hatte!
Solche Hände und Fingernägel aber hatte der Maskierte.
Es war Ottmar Orstra!
Orstra verschwand hinter einer der Ecken, kehrte mit einem Blechgefäß zurück, schraubte den Deckel ab, holte ein paar Zeitungen hervor, zerknüllte sie und legte sie um das Gefäß herum. Dann nahm er drei andere Zeitungen, drehte sie strickartig zusammen und tauchte sie in das Gefäß ein.
Ich spürte Petroleumgeruch.
Was beabsichtigte Orstra? Wollte er uns hier ersticken? Fast schien es so! –
Und noch immer kein Wort.
Mit einer fast behaglichen Langsamkeit traf Orstra seine Vorbereitungen.
Nun verschwand er abermals.
Ich benutzte die Gelegenheit, den Kopf zu wenden und Harald anzuschaun.
Seinerseits ein besonderer Blick aus den stahlgrauen Augen.
Ein Blick, der mehr Triumph ausdrückte als Sorge um unser Leben.
Und Ottmar Orstra kehrte zurück – mit den beiden Ölbildern, die wir bereits kannten, – mit jenen Bildern, die er hatte verschwinden lassen, als die Flammen des brennenden Hotels die Züge einer Sterbenden, seiner Schwester, beleuchteten.
Er stellte sich vor uns hin, begann mit der großen Klinge seines Taschenmessers die dicken Farbenkleckse loszubrechen, schälte so unter der Farbe all die Edelsteine heraus, die jeder einzeln in dünnes Fettpapier eingehüllt waren.
Dann schnitt er die Bilder in Streifen, warf sie auf das Zeitungspapier, hob die Steine auf und steckte sie in die Tasche.
Er blickte Harald an, – und jetzt begann er zu sprechen.
Kalt, leidenschaftslos, fast ohne Klang war seine Stimme.
„Ich werde Ihnen beiden die Knebel abnehmen. Hier hört Sie niemand!“
Er tat es, trat wieder zurück.
„Es tut mir leid, daß es nun so weit gekommen ist,“ fuhr er fort. „Der Kampf mit Ihnen, Herr Harst, war für einen Mann von meiner Veranlagung ein Genuß. Ich hätte gern noch bei ein paar anderen Gelegenheiten die Klingen mit Ihnen gekreuzt – die geistigen Klingen! Ich bin ein Verächter der rohen Kraft. Intelligenz ist alles. Der, dem wir die Erfindung der Dampfmaschine verdanken, ersparte menschliche und tierische Muskelkraft. Das ist der eine Fall, wo die Intelligenz die Kraft besiegte, einer jener Fälle, an dem die ganze Menschheit teilnahm, von dem sie ihre Vorteile hatte. – Sie müssen zugeben, daß Sie mir unterlegen sind, Herr Harst. Sie hätten damit rechnen müssen, daß ich es war, der hier die Brüder der grünen Maske in – deutscher Aufmachung aufleben ließ. Ich bin Deutscher wie Sie, ein Sohn des Volkes der Intelligenz! Das sind wir Deutschen!“
Eine kleine Pause.
„Der Milliardär wird von meinen Leuten gut bewacht. Die Angst vor den Brüdern der grünen Maske ist so groß, daß die Schwestern Colding die drei Millionen jetzt widerstandslos opfern werden. Professor Lörax hat mir einen großen Dienst erwiesen, als er Jane Colding überredete, Sie herzubitten.“
Wieder eine Pause.
„Daß dieses Geschäft seit langem vorbereitet war, ahnen Sie wohl –“
„Ja,“ erklärte Harst. „Ihre sterbende Schwester machte eine Andeutung, die ich jetzt erst voll verstanden habe.“
„Agna hätte vorsichtiger sein müssen. Sie vergaß, daß sie es mit einem Harst zu tun hatte. – Sehr sorgsam vorbereitet war dieser Streich. Unter dem Personal des Haukeli habe ich einen Verbündeten. – Glauben Sie wirklich, daß Mary Colding den zweiten Drohbrief geschrieben hat?“
„Ja!“
„Sie irren. Sie tat es nicht. Ich ließ den Brief durch den Mann schreiben, den ich in die Haukeli-Hütte eingeschmuggelt hatte.“
„Dann habe ich mich eben geirrt!“
Orstra deutete jetzt auf das Blechgefäß, hob dann die Hand zur Decke der Eishöhle.
„Die Wärme wird genügen, die nur noch schwachen Eisstützen der zermürbten Decke wegzuschmelzen, Herr Harst. Solche Eishöhlen bilden sich in wandernden Gletschern sehr oft. Ich habe die Decke genau untersucht. Sie ist sechs Meter dick, ist wie ein Pfropfen, der nur noch lose in dem Halse einer Flasche sitzt. Niemand wird Ihr kaltes Grab finden, Herr Harst –“
Er faßte in die Tasche, rieb ein Streichholz an, hielt es an das Papier.
Das Papier lohte auf. Die getränkten Papierstricke brannten im Nu, trugen die Flammen in den weiten Hals des Gefäßes.
Puffend fing das Petroleum Feuer.
„Es ist nicht reines Petroleum,“ sagte Orstra ebenso leidenschaftlos. „Es ist ein Gemenge von Benzin, Petroleum und reinem Alkohol –“
Die Flamme aus dem Gefäß war fast farblos, leckte höher und höher. Das Papier erhitzte das Gefäß und förderte die Verbrennung.
Von der Decke begann es zu tropfen.
Ich spürte die Hitze der farblosen Flamme im Gesicht. Orstra log nicht: es war nicht Petroleum allein!
Er schaute uns nochmals an. Dann ging er, ließ die Petroleumlaterne brennen.
Ich saß und rührte mich nicht; ich wagte nicht, Harald anzusehen. Ich fürchtete, unser Todesurteil aus seinem Gesicht abzulesen. Denn – so, wie Orstra uns gefesselt hatte, war ja ein Entkommen ausgeschlossen!
Da – ganz leise Harsts Stimme:
„Bluff –!“
Nur das eine Wort – Bluff!
Mein Kopf fuhr herum. Und – Harald lächelte, flüsterte:
„Die Hände – die Hände! Er will den Triumph ganz auskosten! Er weiß, daß wir – gerade wir beide! – in einer halben Stunde spätestens frei sein werden!“
„Er weiß –?“ stammelte ich.
„Er weiß es und er will es! Die Geschichte mit der Eisdecke, die herabfallen soll, ist natürlich Unsinn! Orstra wollte nur den Anschein erwecken, als wäre es ihm ernst mit seiner Absicht, uns zu töten!“
Ich begriff noch immer nicht vollständig.
„Wie – und wir sollen fliehen?! Das – das ist aber doch ausgeschlossen!“
„Nachher – nachher! – So – paß mal auf!“ Und er beugte den Kopf, wand sich hin und her, erreichte mit den Zähnen die Knoten der Stricke, die meine Arme auf der Brust gekreuzt hielten.
Es dauerte keine fünf Minuten, und ich hatte die Hände frei.
Dann – dann reckten und streckten wir uns, brachten das Blut in Bewegung.
Harst lachte – lachte und zog seine Clement aus der Tasche.
„Sogar die Waffen hat er uns gelassen! Muß er seiner Sache sicher sein –!“
Er nahm den Patronenrahmen heraus, prüfte die Patronen. „Man kann nie wissen. Er könnte auch das Pulver ausgeschüttet haben!“
Der Rahmen glitt in den Kolben zurück. Harst spannte die Clement, griff nach der Laterne.
„Vorwärts! Jetzt nach dem Haukeli!“
Er ging voran. Es war eine mühselige Kletterpartie durch einen schrägen Eiskamin.
Sternenlicht über uns. Und Harst warf die Laterne in den Kamin zurück, sagte: „Es ist der erste Gletscher von Haukeli aus gerechnet. Da – drüben liegt der zweite mehr nach Odda zu!“
Wir standen auf dem Gletscher hoch über der Bergstraße. Wie ein breiter, weißer Strich zog der Gletscher sich über die berühmte Kunststraße hinweg.
Wir kletterten seitlich hinab, erreichten die Straße, setzten uns in Trab. Der Dauerlauf tat uns gut. Dann die Haukeli-Hochebene, eine Schneehalde, dicht dabei weidende Ziegen mit leise tönenden Glöckchen.
Harst fiel in Schritt, bog nach links ab.
„Wir wollen immerhin vorsichtig sein,“ meinte er.
„Und nun?“ fragte ich gespannt.
Er schwieg, sagte dann unvermittelt:
„Ich gebe zu, es ist schwer, Orstras Spiel zu durchschauen. Er ist ohne Frage intelligent. Nur – er macht Fehler. Er wußte, daß es einen sehr originellen Professor Lörax gibt. Er spielte den Lörax in allem ausgezeichnet. Die Maske war tadellos. Nur – nur hätte er an seine Hände denken sollen!“
„Ah – Lörax war Orstra?!“
„Er war es! Ich merkte es sehr bald in der Steinhütte – sehr bald. Die drei Kerzen gaben genügend Licht. Ich führte Dich nachher halb und halb aufs Glatteis, mein Alter, als ich Dir sagte, Lörax könne als Professor sehr wohl mit zu den Masken-Brüdern gehören. Ich glaubte, Du würdest dadurch auf Orstra kommen –“
„Aber – weshalb ließ er uns frei – weshalb machte er uns die Flucht so leicht?!“
„Verbrechereitelkeit, – das betonte ich ja bereits! Er will mir imponieren! Aber – er hat sich selbst mir in die Hände gegeben. Ich durchschaue alles. – Überlege Dir mal: ist es nicht ein übergroßes Risiko, daß die drei Millionen auf dem Haukeli-Kegel niedergelegt werden sollen?! Wäre es nicht Leichtsinn von ihm, wollte er sie von dort holen oder dort in Empfang nehmen?! Kann dort nicht noch ein Hinterhalt für ihn vorbereitet werden?! – Sieh’, dies stieß mir in dem ersten Drohbrief sofort auf – dieser Befehl, daß die drei Millionen auf der Bergkuppe deponiert werden sollten. Und als ich dann Lörax als Orstra erkannt hatte, als ich davon ganz laut in der Hütte sprach, daß Lörax Mary Colding geraten haben könne, den zweiten Drohbrief zu fabrizieren, als der Lauscher draußen, besser die Lauscherin, dies schleunigst Lörax-Orstra meldete, als ich dann auf sein Erscheinen wartete und als wir betäubt wurden und Orstra-Lörax später in der Eishöhle behauptete, sein Helfershelfer hätte den zweiten Brief geschrieben, da, mein Alter, da war mir Orstra wirklich ins Garn gegangen, da hatte er mir den Beweis geliefert, daß er um jeden Preis jede Spur eines gegen Lörax auftauchenden Verdachts zerstreuen wollte, daß also – Lörax es sein würde, Orstra in Lörax’ Maske, der die drei Millionen als Vertrauter der Schwestern Colding sich aneignen wollte!“
Nun verstand ich.
„Orstra-Lörax wird das Geld den Schwestern stehlen, sobald es hier in Haukeli eingetroffen ist,“ sagte ich rasch.
„Ja – und es wird in dieser Nacht eintreffen! Der Dampfer von Bergen aus erreicht Odda um neun Uhr abends. Wenn der Abgesandte des amerikanischen Konsuls in Bergen dann ein Auto besteigt, kann er gegen Mitternacht hier sein. Dies werden sich auch die Schwestern Colding berechnet haben. Sie werden auf das Geld und den Abgesandten warten; sie werden die drei Millionen vielleicht nicht für den Rest der Nacht bei sich behalten wollen. Lörax-Orstra wird es ihnen schon nahelegen, das Geld ihm anzuvertrauen. Und – hat er es, dann wird er mit seiner „Frau“ sofort flüchten – in die Berge – irgendwohin! Auch diese Flucht dürfte er vorbereitet haben. Von uns nimmt er an, daß wir uns irgendwo in der Nähe des Haukeli-Kegels verbergen werden. Und dann – hofft er – dann haben wir das Nachsehen! Dann sind wir die Blamierten!“
„Ein feines Plänchen!“ – Ich lächelte ironisch.
Wir näherten uns von Westen den Stallgebäuden der Haukeli-Hütte; wir begannen zu kriechen. So erreichten wir den Vorplatz. Hier standen ein paar zweiräderige Wagen und ein Auto. Wir schlüpften in das Auto hinein, spähten über den Türrand hinweg.
Zwei Fenster im Seitenanbau der Hütte waren erleuchtet. Auf den Vorhängen zeichneten sich hin und wieder die Schatten von Frauengestalten ab.
„Die Schwestern! Sie warten!“ flüsterte Harald.
Wir blickten nach der anderen Seite, nach den Unterkunftshäusern. Dort alles dunkel.
Die Zeit verstrich.
Die Eingangstür des Anbaus öffnete sich leise. Jane Colding trat in den Mondschein hinaus, ging ein Stück nach Norden den Weg entlang. Von dort mußte das Geldauto kommen.
Es kam nicht. –
Jane näherte sich unserem Versteck.
Harst rief sie leise an.
„Oh – Sie!“ entfuhr es Jane. Und fügte überstürzt hinzu: „Der Konsul schickte heute ein zweites Telegramm. Ein Herr aus Odda bringt das Geld im eigenen Auto her. Das Auto sollte um Mitternacht hier sein. Jetzt ist es bereits ein halb eins –“
Harst hatte sich aufgerichtet, griff sich an die Stirn, stand wie eine Bildsäule.
Dann – ein Satz – hinaus aus dem Kraftwagen, eine hastige Frage an Jane.
„Dort wohnt der Professor!“ erwiderte sie.
Wir stürmten dem Holzhause zu.
Harst drückte die Tür auf. Sie war unverschlossen.
Unsere Taschenlampen warfen grelle Lichtstreifen in die Zimmer – über leere Betten – über die blinkenden Küchengeräte – über die Falltür, die aus der Küche in den Keller führte.
Die Falltür flog auf.
Eine steile Treppe; unten drei Verschläge; und in dem letzten auf Stroh und Säcken – der reichste Mann Amerikas: Colding! Gebunden, geknebelt –!
Harsts Messer fuhr durch die Stricke.
Jane Colding war uns gefolgt. – „Sorgen Sie für Ihren Vater!“ rief Harald.
Wir jagten hinaus dem Auto zu – auf den Vorplatz.
Harald kurbelte den Motor an. Das Auto war fahrbereit. Wer sollte hier Kraftwagen stehlen?!
Wir sausten davon, den Weg entlang – gen Odda – über die Hochebene.
Kamen auf die Bergstraße, mußten langsamer fahren. Unsere Laternen brannten nicht, kein Scheinwerfer beleuchtete den schmalen Weg, die drohenden Abgründe.
Dann eine gerade Strecke – hell vom Monde beschienen.
In der Ferne der erste Gletscher, der erste Gletschertunnel.
Hinein in die Finsternis des Tunnels. Beide Taschenlampen hielt ich hoch.
Das war unsere Beleuchtung.
Der Tunnel lag hinter uns; links ein Abgrund jetzt, rechts sanft ansteigende Felswände, und vor uns der zweite Tunnel.
Dann bremste Harst – bremste, stellte den Motor ab. Das Auto stand im Schatten.
Aus dem zweiten Tunnel war soeben ein Motorrad hervorgeschossen. Hell blinkte die Laterne, laut knatterte und knallte der Motor.
Wir duckten uns hinter dem Auto zusammen.
„Er kann es sein!“ flüsterte Harald. „Wir werden ihm den Weg versperren!“
Er hob einen langen, flachen Stein auf.
Das Motorrad kam näher.
Dann hatte der Fahrer das Auto bemerkt. Das Knattern verstummte.
Harald war schon mit langen Sätzen vorgestürmt. Ich folgte.
Der Radler war abgesprungen, drehte das Rad um, wollte sich in den Sattel schwingen.
Der flache Stein flog im Bogen, senkte sich, traf – traf den Kopf des Mannes.
Taumelnd, in die Luft greifend, halb betäubt torkelte der Radler dem Abgrund zu.
Ich schrie vor Schreck auf. Der Mann mußte abstürzen – schwebte schon über der Tiefe.
Harsts Rechte bekam nur noch den Rucksack zu packen. Das Gewicht des Mannes drohte ihn mit hinabzureißen. Er warf sich nach hinten, sank in die Knie, sank schwer nach vorn, lag mit der Brust über dem Abhang.
Ein Sprung, und ich lag quer über Harsts Beinen.
Seine Hand ließ den Rucksack nicht los; seine Linke packte gleichfalls zu.
Der Mann, der so über der Tiefe schwebte, drehte den Kopf. Es war ein Gesicht, das wir nicht kannten, blondbärtig, Brille, dicke Nase.
Und doch war es Ottmar Orstra.
„Lebend bekommt Ihr mich nicht!“ keuchte er. „Ich werde doch siegen!“
In seiner Hand blinkte ein Messer.
Er langte nach hinten, schnitt den Rucksack auf.
Und – wie Wassertropfen, glitzernd und funkelnd, fielen die Edelsteine heraus, verschwanden im Dunkel der Schlucht.
Dann – dann hatte er den einen Riemen ebenfalls durchschnitten, hing nur noch an dem andern, der ihm unter der rechten Achselhöhle lag.
„Sie haben gesiegt!“ – Der letzte Schrei, und er streckte den Arm lang, ließ den Riemen darüber gleiten, ließ sich hinabfallen.
Abermals schrie ich auf.
Wir lauschten dann.
Ob wir den Aufschlag des Körpers hören würden? Ob der furchtbare Ton bis zu uns empordringen würde?
Dann schon ein Krachen und Splittern.
Dann Haralds Stimme:
„Er ist in die Krone einer Tanne gestürzt. Vielleicht ist er noch am Leben! – Vorwärts – dort weiter nach Norden scheint der Abhang weniger steil zu sein!“
Wir liefen – wir kamen atemlos bei dem zweiten Tunnel an.
„Hier hat er ihm aufgelauert!“ keuchte Harst. „Hier werden wir das Opfer finden –“
Unsere Taschenlampen ließen die gleißenden Wände flimmern. Noch eine Biegung. Nun der grelle Schein zweier Autolaternen. Nun beugten wir uns über den schwarzbärtigen Mann, der hier auf dem Boden lag – mit einer Kugel in der Stirn.
Regungslos saß auf dem Chauffeursitz der Herr aus Odda – regungslos –!
Wir traten näher.
Aber – in den Augen war Leben.
„Gott sei Dank!“ sagte Harald und atmete erleichtert auf.
Wir hoben den durch zwei Schüsse schwer Verwundeten herab, betteten ihn im Auto.
„Das Geld!“ hauchte er angstvoll. „Das Geld! Den einen – schoß – ich – nieder. Der andere – entkam!“
„Beunruhigen Sie sich nicht!“ erklärte Harst und hob den Rucksack empor. „Hier sind die Banknotenpakete! Auch Herr Colding ist bereits befreit.“
Dann brachten wir den Verwundeten – es war der Kaufmann Siverdsen aus Odda – nach der Haukeli-Hütte, wo Harald ihn verband. Die Kugeln hatten zum Glück beide die Lunge nur gestreift. Herr Siverdsen war denn auch vier Wochen später völlig wiederhergestellt.
Erst gegen drei Uhr morgens konnten wir Asbörn Prang und den beiden Hotelgästen folgen, die, mit Tauen und Leitern ausgerüstet, in die Schlucht vorausgeeilt waren, um nach Orstra zu suchen.
Wir mußten wieder die beiden Tunnel passieren, mußten also nochmals an der Stelle vorüber, wo Orstras Helfershelfer lag.
Wieder flammten unsere Taschenlampen auf, als wir nun in den zweiten Tunnel einbogen. Wir hatten vorher vom Rande der Bergstraße in die Schlucht hinabgeschaut, hatten dort unten jedoch nichts von Laternenschein wahrgenommen, der uns die Anwesenheit Prangs und der beiden Herren verraten hätte.
„Vorsicht!“ meinte Harald jetzt. „Vorsicht, mein Alter. Prang muß die Schlucht doch längst abgesucht haben. Ich glaube fast, Orstra hat Glück gehabt und ist entwischt. Wenn er aber entwischt ist, tun wir gut, nicht so sorglos diesen Tunnel zu passieren.“
Er schaltete seine Lampe aus, sagte leiser: „Bedecke die Linse Deiner Lampe mit den Fingern und laß nur einen schmalen Strahl durch die Finger gleiten. Halte die Hand weit zur Seite gestreckt!“
Freilich – wenn Orstra jetzt wirklich uns mit Revolverkugeln bedenken wollte, würde ihm das Zielen sehr schwer fallen. Bei diesem schwachen Licht konnte er uns nicht einmal als dunklere Schatten erkennen.
Wir bewegten uns möglichst leise vorwärts, kamen um die Biegung herum, blieben stehen.
Vor uns ein schwacher Lichtschein und ganz undeutlich eine kniende Gestalt.
Jetzt seltsame Laute – Weinen, Schluchzen.
Das war ein Weib, die da neben dem Toten kniete, ein Weib, ohne jedes Interesse für die Umgebung, ganz aufgelöst in Trauer und Schmerz.
„Die andere Seite des Dramas!“ flüsterte Harald, der mit seiner Hand schnell meine Taschenlampe bedeckt hatte.
Ich starrte hinüber. – Die andere Seite des Dramas?! Was hieß das –?
„Mary Colding!“ sagte Harst dann ganz leise mit merkwürdiger Betonung. „Nur sie kann es sein – sie und der Mann, den sie nicht heiraten sollte!“
„Der Tote – Austin Parkner?! Und – Parkner ein Genosse Orstras?!“ meinte ich zweifelnd.
„Das glaube ich nicht. Ich nehme etwas anderes an. Denke an Marys merkwürdiges Benehmen, als sie mit Jane auf der Jacht war. Sie sprach kein Wort. Die Blicke, die mich streiften, verrieten Feindseligkeit und – Angst! Erst zum Schluß betonte sie, daß sie dagegen gewesen sei, mich um Hilfe zu bitten. Und nachher schrieb sie den zweiten Drohbrief. Sie hat es getan, denn Orstra log, als er behauptete, er hätte unter dem Personal des Haukeli einen Helfershelfer. Sie schrieb den Brief und legte ihn Jane ins Zimmer; sie wollte um jeden Preis mich ausschalten. Und Jane Colding war ja auch bereits ängstlich geworden. – Begreifst Du jetzt? Mary tat all das für Austin Parkner, wollte ihm den Streich erleichtern, wollte ihm jede Gefahr beseitigen. Sie war eingeweiht in das, was er vorhatte. – Komm’, diese Nacht hat mir einen bösen Fehlschlag gebracht; ich habe fünf Minuten zu spät Orstras wahre Absichten erkannt. Gewiß – die Millionen sind gerettet. Aber – ein Toter und ein Verwundeter stehen auf dem Konto meiner Denkfehler. Da will ich nicht, daß auch noch diese verirrte – durch Liebe verirrte Mädchenseele in dieser Nacht Vater und Schwester ganz verliert.“
Wir näherten uns der Knienden leise. Erst als wir neben ihr standen, bemerkte sie uns.
Sie erhob sich langsam.
„Miß Mary,“ sagte Harald gütig, „kehren Sie nach der Haukeli-Hütte zurück. Es wird niemand erfahren, daß Austin Parkner Sie heimlich begleitet hat und daß Ihre Abneigung gegen Ihren Vater Sie ein verwerfliches Mittel billigen ließ, um ein Vermögen zu erringen! – Gehen Sie, Miß! Schraut und ich werden schweigen!“
„Ich – ich danke Ihnen!“ hauchte sie.
Dann warf sie sich über den Toten, küßte die erkalteten Lippen, richtete sich auf, nahm ihre Taschenlampe und sagte mit einem Male völlig gefaßt:
„Ich werde Ihnen Orstra suchen helfen, Herr Harst. Deshalb verließ ich nur die Haukeli-Hütte.“ –
Orstra wurde nicht gefunden. Auch die Edelsteine waren nicht wieder herbeizuschaffen. Sie mußten in eine schmale Felsspalte hineingerollt sein.
Da Austin Parkner keinerlei Papiere bei sich hatte, konnte nicht festgestellt werden, wer der Mann war, den Herr Siverdsen aus Odda für einen Komplicen Orstras gehalten hatte und von dem Harald behauptete – nur mir gegenüber! –, daß Mary und Parkner nach Coldings Verschwinden den Entschluß gefaßt hätten, sich die drei Millionen Kronen anzueignen. Zwei Männer lauerten daher dem Geldauto im Gletschertunnel auf: Orstra und Parkner, – jeder für sich! – Daß dies so gewesen, ergab sich aus Siverdsens Aussage: der Schwarzbärtige hatte das Auto von hinten erklettert, Siverdsen hatte ihn heruntergestoßen und sofort gefeuert; dann war der zweite Mann von vorn erschienen und hatte seinerseits zweimal abgedrückt. –
So blieben denn die Ereignisse dieser Nacht nur in einem Punkte ungeklärt – wenigstens vorläufig: wo war die Person geblieben, die hier die Gattin des Professors gespielt hatte? Wer war diese Person gewesen? Wirklich ein Weib? –
Diese Fragen kann ich erst in der folgenden Erzählung beantworten …
Asbörn Prangs Bericht über die Spuren, die er unten in der Schlucht neben der Autostraße gefunden hatte, bewies zur Genüge, daß die uralte Tanne, in deren Äste Ottmar Orstra gestürzt war, dem Verbrecher das Leben gerettet und ihm das Entweichen ermöglicht hatte.
Haralds unverwüstliche Natur kannte auch nach den Anstrengungen der letzten Tage keine Ermüdung. Nachdem wir in der Haukeli-Hütte gefrühstückt und uns von dem Milliardär John Colding hatten erzählen lassen, auf welche heimtückische Weise der angebliche Professor Lörax ihn auf dem Spaziergang durch einen Schluck Kognak betäubt und in der folgenden Nacht nach dem Unterkunftshause gebracht hatte, versuchte Harst mit Hilfe des Wolfshundes Hasso Orstras Fährte weiter zu verfolgen.
Der Hund hatte eine tadellose Dressur, nahm auch die Spur auf und führte uns vier Herren – Colding, Prang und uns beide, nach einem größeren Bauernhof nach Süden zu, wo wir von dem Besitzer erfuhren, daß zwei englische Touristen morgens sechs Uhr von ihm einen Wagen gemietet hätten, um sich nach Dahlen zu begeben. –
Prang, Harst und ich waren nachmittags vier Uhr in Dahlen. Unterwegs hatten wir durch Befragen von Telegraphenarbeitern, die die Leitung neben der Bergstraße ausbesserten und in kleineren Trupps arbeiteten, festgestellt, daß die Engländer, also Orstra und seine „Frau“, tatsächlich die Richtung nach Dahlen beibehalten hatten.
Aber – der zweirädrige Wagen und der Kutscher waren in Dahlen mit den beiden Fahrgästen nicht eingetroffen.
Wir verloren fünf kostbare Stunden, bevor wir ermittelt hatten, daß der Wagen vor Dahlen nach Osten in einen Seitenweg abgebogen war. Und erst gegen zehn Uhr abends fanden wir Pferd, Wagen und den gefesselten Kutscher in einem öden Tale auf. Der Kutscher war von den Verbrechern überwältigt worden, da er sich geweigert hatte, noch tiefer ins Gebirge hineinzufahren. Er erklärte, die beiden Engländer seien ohne Zweifel Männer gewesen. Davon, daß einer etwa ein verkleidetes Weib hätte sein können, wollte er durchaus nichts wissen.
Die Spuren der beiden waren uns so verloren gegangen. Wir mußten es daher dem Zufall überlassen, irgendwo abermals mit Orstra zusammenzutreffen. Daß dies geschehen würde, daran zweifelten wir nicht.
Als wir gegen zwölf Uhr nachts ins Hotel Dahlen nach der Auffindung des Wagens zurückgekehrt waren, war es bereits zu spät, um noch zu Fuß bis zu jener südlichen Bucht zu wandern, wo die Motorjacht Miramare noch immer in ihrem Versteck vor Anker lag – oder doch vor Anker liegen mußte, wie wir bestimmt annahmen. Wir wollten die Nacht also im Hotel zubringen.
Der Hotelbesitzer hatte uns noch schnell höchst eigenhändig ein warmes Gericht zubereitet, und gegen halb eins saßen Prang und wir beide im öden Speisesaal an einer Ecke der langen Tafel und aßen mit gutem Appetit das saftige Schnitzel und tranken dazu eine Flasche Rotwein.
Herr Blörne, der Wirt, brachte uns jetzt als Nachtisch noch einen Pudding und wurde von Harald gebeten, ebenfalls am Tische Platz zu nehmen.
Diese Bitte Harsts hatte ohne Zweifel eine besondere Bedeutung.
Und wirklich: Harald begann Herrn Blörne jetzt nach neu eingetroffenen Gästen auszufragen.
Blörne erklärte, nachmittags seien mit dem Dampfer von Skien zehn Gäste und abends gegen acht von Odda mit den Personenautos weitere sieben Reisende angekommen, außerdem noch vier Touristen zu Fuß, und zwar zwei Ehepaare.
Für diese Ehepaare hatte Harst ein besonderes, leicht begreifliches Interesse.
Er ließ Blörne das Fremdenbuch holen. Als der Wirt den Speisesaal verlassen hatte, sagte Harald zu Prang und mir:
„Wir müssen damit rechnen, daß Orstra und der andere die Keckheit gehabt haben und hier abgestiegen sind. Zuzutrauen ist ihnen das schon.“ –
Ich muß hier einfügen, daß das Hotel Dahlen eigene Karbidbeleuchtung hat. Über unserem Platze brannten drei Flammen einer Krone.
Harald hatte kaum das letzte Wort ausgesprochen, als er plötzlich mit einem wahren Akrobatensatz auf den Tisch sprang, dabei einen Teller und ein Glas herabwarf und – die drei Hähne der Krone blitzschnell zudrehte.
Ebenso rasch war er dann im Dunkeln wieder vom Tische herabgesprungen und in den Hotelflur geeilt.
„Ihm nach!“ meinte Prang. „Auch ich habe das Gesicht am mittleren Fenster bemerkt!“
Harald war schon draußen im Hotelgarten. Wir trafen ihn auf dem Hauptwege, wo er, die Clement in der Rechten, argwöhnisch die Büsche musterte.
„Es war jemand hier draußen am Fenster,“ flüsterte er, „ein Mann mit hellem Vollbart und blanker Glatze. Er schien eine Brille oder einen Kneifer zu tragen. Die Hoteltür zum Garten war nicht verschlossen. Es kann ein Hotelgast gewesen sein.“
Prang erklärte, der Mann habe eine Hornbrille mit runden Gläsern aufgehabt. „Als ich hinschaute, hielt er sich schnell die Hand vor das Gesicht und verschwand. Dann sprangen Sie schon auf den Tisch, Harst –“
Herr Blörne kam jetzt gleichfalls in den Garten. Die mondhelle Nacht ließ sein bestürztes Gesicht deutlich erkennen.
„Was ist denn geschehen?“ meinte er.
„Gehen wir in Ihr Büro, Herr Blörne,“ sagte Harald kurz. „Es hat Fensterladen. Dort können wir nicht durch eine Revolverkugel gestört werden.“
Blörne blickte scheu umher. Wir betraten das Hotel und setzten uns in das Büro um den mit Papieren bedeckten Sofatisch.
Harst beschrieb Blörne nun das Gesicht am Fenster.
Der Wirt dachte nach. Dann erklärte er sehr bestimmt:
„Das kann nur einer der beiden Herren sein, die gegen halb acht Uhr mit ihren Frauen zu Fuß eintrafen.“
Er nahm das Fremdenbuch, schlug es auf und zeigte auf eine Eintragung, eine der letzten.
„Dies ist er: Samuel Goldner, Bankier, Kopenhagen, nebst Frau –“
Harald prüfte die Schrift.
„Habe ich noch nie gesehen,“ meinte er. „Welches Zimmer hat Herr Goldner?“
„Nummer 18 im Erdgeschoß.“
„So – 18! Das liegt dicht am Gartenausgang.“
„Ja – ganz dicht – das zweite rechts.“
„Wir werden Herrn Goldner fragen, was er draußen am Fenster des Speisesaales jetzt um ein Uhr nachts wollte! – Prang, Sie können mit Herrn Blörne vor den Fenstern von Nr. 18 aufpassen. Gehen wir!“ Und Harald schaltete die Taschenlampe ein, gab sie mir und entsicherte die Clement.
„Die Vögel werden bereits ausgeflogen sein,“ sagte Prang achselzuckend.
Harald stand noch regungslos da und starrte auf das aufgeschlagene Fremdenbuch.
„Ich glaube, die Sache ist anders!“ flüsterte er. „Goldner – Goldner –! Ich habe den Namen letztens irgendwo gelesen. Orstra wäre wohl kaum so unvorsichtig gewesen, auf diese Weise zu spionieren. Außerdem ist die Schrift dort sehr charakteristisch. Es ist die eines Mannes, der außerordentlich pedantisch, selbstsüchtig, berechnend, aber doch harmlos ist. Die Schriftzüge lassen jedes Merkmal verbrecherischer Veranlagung vermissen.“
Dann trat er in die dunkle Vorhalle hinaus, hob die Clementpistole mit jäher Bewegung und rief:
„Halt! – Heben Sie die Arme lieber hoch, Herr Goldner!“
Der breite Lichtschein, der durch die offene Bürotür in die Vorhalle drang, umspielte die korpulente Gestalt eines mittelgroßen Mannes, der vor dem runden Mittelsofa der Vorhalle stand und jetzt angstvoll in gutem Englisch rief:
„Master Harst – ich wollte Sie ja nur unauffällig sprechen!“
Mit einem Ruck hatte er auch beide Arme sofort hochgereckt.
Harald lachte. „Unauffällig nennen Sie das, Mr. Goldner?! – Gut – treten Sie hier ein!“
Goldner gehorchte zögernd.
„Setzen Sie sich, Mr. Goldner!“ Harald drückte die Tür zu und schloß ab.
Der Dicke mit dem rotblonden kurzen Vollbart und der Hornbrille nahm behutsam Platz, indem er den Schoß seiner Touristenjoppe etwas hochhob.
Seine halb zugekniffenen Schweinsäuglein irrten von Blörne zu Prang, dann zu mir und blieben nun auf Harald haften, der sich an die Tür gelehnt hatte.
„Mr. Harst,“ sagte er unsicher, „dies – dies lag nicht in meiner Absicht!“
„Das glaube ich, Mr. Goldner. Unauffällig war das nicht!“
„Leider nein!“ Abermals schaute der dicke Herr auf Prang und Blörne und fügte hinzu: „Ich möchte nur Ihnen, Mr. Harst, und Ihrem Freunde Schraut eine kurze Mitteilung machen.“
„Also sollen Blörne und ich verschwinden,“ sagte Prang keineswegs empfindlich. „Gehen wir, Herr Blörne.“
„Nein!“ entschied Harald. „Sie und Herr Blörne werden genau so diskret sein wie wir, lieber Prang. – Mr. Goldner, erleichtern Sie also Ihr Herz. – Einen Augenblick noch!“ –
Er ging zum Zeitungsständer und nahm die Zeitungen der letzten vier Tage heraus, legte sie auf den Tisch und schien darin einen bestimmten Artikel zu suchen, rief dann:
„Hier haben wir’s ja! Die Abendpost aus Christiania meldet vom 18. August des Jahres:
Dem Bankier Samuel Goldner aus Kopenhagen, einem der bekanntesten Großfinanziers Dänemarks ist am 16. des Monats seine Motorjacht „Kattegatt“ aus unserem Hafen offenbar gestohlen worden. Herr Goldner befindet sich zur Zeit auf einer Fußtour mit seiner Gattin in Telemarken und hatte dem Kapitän seiner Jacht, mit der er am 14. d. M. hier eingetroffen war, Befehl gegeben, ihn am 22. von Skien abzuholen. Am 16. morgens war die Jacht jedoch aus dem Hafen verschwunden. Besondere Umstände deuten darauf hin, daß die Kattegatt gewaltsam entführt worden ist. Den Kapitän und die drei Jachtmatrosen sowie den Koch und die Zofe Frau Goldners entdeckte man am 16. mittags auf einer kleinen Fjordinsel. Die sechs Personen konnten nur angeben, daß sie nach dem am 15. an Bord eingenommenen Abendessen von einer unerklärlichen Schlafsucht befallen worden waren und sich daher in ihre Kabinen zurückgezogen hatten, wo sie auch sogleich einschliefen. Als sie erwachten, lagen sie in den Büschen der kleinen Fjordinsel, fühlten sich aber so elend, daß sie sich nicht aufzuraffen vermochten. Ein Fischer, der zufällig nach der Insel kam, brachte sie dann mit seinem Kutter nach Christiania, wo man die Leute sofort im Krankenhaus in ärztliche Behandlung nehmen mußte. – Herr Goldner hatte befohlen, ihm die Briefe nach dem Hotel Dahlen in Dahlen nachzusenden, so daß, da sein Aufenthalt zur Zeit unbekannt ist, ihm die Nachricht von dem Vorgefallenen erst in Dahlen zugehen kann. Die Ermittlungen unserer Polizei haben bisher diesen Streich moderner Piraten, der uns in die Zeiten von vor hundertfünfzig[2] Jahren zurückversetzt, nur insofern aufklären können, als drei Zeugen gefunden sind, die beobachtet haben, wie die elegante weiße Jacht, nebenbei eines der luxuriösesten Privatfahrzeuge Europas, den Hafen genau um Mitternacht verließ.
Diese Zeugen sind drei Matrosen von drei verschiedenen hier ihre Ladung löschenden Dampfern. Sie haben übereinstimmend betont, daß die Jacht sich in demselben Moment in Bewegung gesetzt habe, als die große Hafenuhr zwölf zu schlagen begann. Weit wichtiger ist die Bekundung, daß zur selben Zeit ein von fünf Männern bemanntes Boot auf die Jacht sehr eilig zugerudert sei, dann aber habe umkehren müssen, weil es die Kattegatt nicht mehr einholen konnte. Die fünf Männer seien keine Matrosen gewesen, sondern hätten ganz den Eindruck von Touristen oder von Zugehörigen der wohlhabenden Stände gemacht. Ihr Boot sei dann wieder in der Richtung auf die Festung Akersbus verschwunden.
Unsere Polizei ist der Meinung, daß es sich hier nicht um einen Schiffsraub als solchen handelt, sondern daß die Piraten, die sehr wohl wissen, daß die Jacht unverkäuflich ist, das elegante Lustfahrzeug ausplündern und dann versenken werden. Die Motoren allein sind 250 000 Kronen wert; die Lichtanlage, die Möbel, die Spiegelscheiben, Messingteile und Tauwerk mindestens ebenso viel.
Es wäre Herrn Goldner vielleicht anzuraten, sich an Harald Harst zu wenden, der sich in Dahlen zuletzt aufgehalten hat, und ihn zu bitten, diesen Schiffsdiebstahl zu untersuchen, der fraglos einen sorgfältig vorbereiteten Streich darstellt.“
Harald legte die Zeitung weg.
„So, nun wissen wir ja, was vorgefallen ist, Mr. Goldner,“ meinte er. „Wann erfuhren Sie von dem Diebstahl?“
„Am vergangenen Abend gegen acht Uhr. Ich holte mir die Briefsachen hier von der Postagentur ab, und darunter befanden sich auch zwei Depeschen und ein Brief Kapitän Bolkings, der mir den Raub der Kattegatt meldete und um Verhaltungsmaßregeln bat.“
Harald hatte sich halb auf die Seitenlehne des Sofas gesetzt und spielte mit seiner goldenen Zigarettendose.
„Dann kleideten Sie sich völlig an, Mr. Goldner, und spähten durch das Fenster in den Speisesaal?“ meinte Harst und nahm eine Mirakulum aus dem Etui.
„Ja, Mr. Harst. – Wir können auch Deutsch sprechen, falls Herr Blörne und Herr Prang das Deutsche beherrschen –“
Harald rieb ein Zündholz an.
„Sie wünschen also, Herr Goldner, daß ich mich mit diesem Fall beschäftige –“
„Wünschen?! Ich könnte nur darum bitten, Herr Harst –“
„Gut. Ich will es tun. Wir werden morgen nach Christiania fahren. Lord Plemborn hat mir seine kleine Motorjacht Miramare zur Verfügung gestellt, die in der Südecke des Dahlen-Sees vor Anker liegt. Ich lade Sie und Ihre Gattin ein, uns zu begleiten.“
„Vielen Dank. Wann soll die Abfahrt erfolgen, Herr Harst?“
„Um zehn Uhr vormittags. – Jetzt wollen wir zur Ruhe gehen, meine Herren. Ich bin sehr müde und abgespannt.“
Daß dies nicht ganz stimmte, merkte ich in unserem gemeinsamen Wohnsalon.
Kaum waren wir hier allein, als Harald mir beide Hände auf die Schultern legte und flüsterte:
„Du – das wird eine große Sache! Der brave Goldner mag ein schlauer Börsenjobber sein; für andere Dinge reicht es weniger – nämlich das Hirn!“
Ich blickte ihn fragend an. Da lächelte er fein, setzte sich in die Sofaecke, winkte mich neben sich und fragte leise, denn hier im Hotel Dahlen waren die Wände sehr dünn und nur aus Holz:
„Goldner hat am 14. mit seiner Frau zu Fuß von Christiania seine Tour nach Telemarken begonnen. Heute ist der 24. Also hat er, da er sich erst gestern abend hier seine Postsachen abholte, neun Tage ohne jede Nachricht zugebracht. – Wer tut das?! Jeder Mensch läßt sich auf der Reise seine Post so nachschicken, daß er doch mindestens jeden dritten Tag in der Lage ist, festzustellen, ob nicht daheim sich Wichtiges ereignet hat. Goldner ist nun sogar Bankier, Börsenmann!“
„Ich verstehe. Du meinst, er hat absichtlich keinerlei Nachrichten erhalten wollen!“
„Ja. Das behaupte ich. – Dann zweitens: Das Stubenmädchen meldet ihm, daß wir im Speisesaal sitzen. Was tut er?! Anstatt in den Speisesaal zu kommen, schleicht er draußen herum und späht durch das Fenster, hält sich den Arm vors Gesicht, als Prang hinblickt, und – versucht uns dann zu belauschen, – denn das wollte er! Er hat sicher an der Bürotür gehorcht. Nachher gebraucht er eine oberfaule Ausrede, – „er habe mich unauffällig sprechen wollen!“ – Natürlich Schwindel! Er wollte ganz etwas anderes, glaube ich, nämlich durch Horchen feststellen, ob ich vielleicht über den Diebstahl der Jacht mich äußern würde, ob ich also davon bereits Kenntnis hätte und wie ich darüber dächte.“
„Mag sein. Und inwiefern spricht das gegen Goldner?“
„Neun Tage wandert er, der dicke, behäbige Herr, durch das Gebirge, so daß er erst sechs Tage nach dem Diebstahl der Jacht hiervon benachrichtigt werden kann. Das sieht doch gerade so aus, als ob er den Dieben Zeit lassen wollte, ihre Beute in Sicherheit zu bringen, bevor er notwendigerweise den gefürchteten menschlichen Spürhund, den seit Wochen in Norwegen anwesenden Harald Harst, auf die Fährte der Piraten hetzen mußte, – insofern „mußte“, als er damit rechnete, daß man ihm dazu dringend raten würde. – Wenn Du Goldners Verhalten kritisch prüfst und die Möglichkeit in Betracht ziehst, daß er aus irgend einem Grunde diesen Schiffsraub selbst in Szene gesetzt hat, dann wirst Du zugeben müssen, daß mein Verdacht gegen den Bankier nicht ganz unbegründet ist.“
„Nicht ganz unbegründet – aber schwach begründet,“ sagte ich zögernd.
„Nun gut. – Wenn wir Goldner an Bord der Miramare haben, wird sich der Verdacht verstärken, denn dann wird er Fragen beantworten müssen, die ihm sehr unbequem sind. – Etwas anderes, mein Alter. Was hältst Du von dem Boot mit den fünf „Nichtseeleuten“, das die Jacht nicht mehr einholte?“
Ich schwieg. Was sollte ich darauf antworten?!
„Und weiter, mein Alter. War es ein Zufall, daß die Jacht Kattegatt mit dem Glockenschlage zwölf davonfuhr?!“
„Wie soll man beweisen, daß es kein Zufall war?!“
„Durch das Boot mit den fünf Herren, – ich betone „Herren“, denn die Zeugen hoben hervor, daß sie wie Touristen gekleidet waren. Das Boot oder besser die Insassen mögen gewußt haben, daß die Kattegatt um zwölf Uhr den Hafen verlassen würde. Sie wollten an Bord, aber – man nahm sie absichtlich nicht mit. Sie waren also vielleicht in den Plan eingeweiht.“
„Was Du alles heraustüftelst!“
„Ich werde jetzt nichts mehr heraustüfteln, sondern zu Bett gehen. Und vielleicht träume ich davon, daß Herr Goldner die Jacht sehr hoch versichert hatte und die Versicherungssumme brauchen kann! Das ist meine vorläufige Theorie! – Gute Nacht!“ –
Morgens um sieben klopfte uns Herr Blörne heraus.
„Ein Brief, Herr Harst, – von Herrn Goldner!“
Der Brief lautete:
Mein sehr verehrter Herr Harst!
Die Sorge um das Schicksal meiner Jacht, die zwei Millionen Kronen wert ist, hat mir keine Ruhe gelassen. Ich bin daher im Auto mit meiner Frau bereits nach Christiania unterwegs, wo ich Sie wiederzusehen hoffe, falls Sie nicht gerade Dringenderes vorhaben. Jedenfalls bitte ich Sie, nicht etwa dieses an sich so uninteressanten Schiffsraubes wegen sich irgendwie zu bemühen, es sei denn, daß Sie die Verfolgung Ottmar Orstras vorläufig aufgeben wollen und Zeit für dieses belanglose Verbrechen haben.
Ich bin Ihr sehr ergebener
Samuel Goldner.
„Wann ist Herr Goldner abgereist?“ fragte Harald den Hotelbesitzer.
„Um sechs Uhr –“
„Dann bitte in zehn Minuten das Frühstück und die Rechnung, Herr Blörne.“
Der Wirt verschwand.
„Na – wie gefällt Dir der Brief?“ meinte er.
„Als Beweis für die Richtigkeit Deines Verdachts gegen Goldner muß er mir gefallen!“
„Nicht wahr?! Goldner stößt mich mit der Nase auf meine Pflicht, lieber Orstra zu verfolgen und mich nicht um die Kattegatt zu kümmern! – Sie irren, Herr Goldner[3]! Jetzt gerade nicht!“ –
Um ein halb zehn näherten wir beide und Prang uns der Bucht, wo wir unsere Miramare zu finden hofften.
Aber – die Stelle war leer! –
Harald hielt sich nicht lange in der einsamen Bucht auf. Nachdem er die Uferstelle gegenüber dem Ankerplatz der Miramare besichtigt hatte, wobei er uns stehen zu bleiben bat, sagte er nur: „Am unangenehmsten ist mir dieser Zwischenfall Lord Plemborn gegenüber!“
Prang fragte darauf: „Zwischenfall?! Wie meinen Sie das, Harst? Die Jacht wird eben den Ankerplatz gewechselt haben. Es gibt hier genug ähnliche Buchten.“
Harald blickte Prang erstaunt an. „Steuermann Sönnquist, der auf der Miramare den Kapitän spielt, hätte ohne Zwang diese Bucht nie verlassen,“ erklärte er. „Die Miramare ist eben die zweite Jacht, die in den letzten Tagen geraubt wurde. Begreifen Sie denn nicht, Prang, daß es für Ottmar Orstra und dessen Gefährten kein schnelleres und sichereres Beförderungsmittel gab als die Miramare?! Orstra wußte, daß sie sich hier befand. Und –“ – er hielt uns die rechte Hand offen hin – „hier ist der Beweis, daß die Jacht entführt worden ist –“
Wir beugten uns tiefer; wir sahen in Haralds Hand nichts als zwei Büschelchen Haare!
„Falsche Haare – von einem falschen Backenbart,“ sagte er dann. „Hier erkennt man noch den Klebstoff. Und der Klebstoff ist noch nicht einmal unter dem Einfluß der Sonnenstrahlen körnig geworden, ist erst vor etwa zwölf Stunden benutzt worden. – Was aber sollen diese Fragmente falscher Bärte an dieser Uferstelle, wo kaum je ein Eingeborener hinkommt?! Ich denke, dort, wo ich die beiden Haarbüschelchen auf den Steinen fand, dürfte es zwischen den Dieben der Miramare und einem der Leute der Jacht zu einigen Handgreiflichkeiten gekommen sein. – Nun – das alles sind spätere Sorgen! Wenn die Miramare gestern abend gegen zehn Uhr gestohlen wurde, kann sie bei ihrer Schnelligkeit jetzt schon die offene See erreicht haben. Immerhin will ich die Polizei in Skien telephonisch benachrichtigen.“
Wir kehrten nach Dahlen zurück. Ich mußte ein Auto besorgen; Prang sollte etwas Proviant einkaufen; Harst ging zur Post.
Als wir um ein Uhr mittags im Hotel Dahlen wieder zusammentrafen, stand das Auto schon abfahrtbereit da. – Um neun Uhr abends waren wir in Skien. Wir fuhren vor dem Polizeigebäude vor. Harald wollte sich erkundigen, ob die Polizei etwas über den Verbleib der Miramare festgestellt hätte.
Zu unserer Überraschung hörten wir, daß die Jacht im Hafen liege und daß die beiden Männer, die sie gewaltsam entführt hatten, schon früher von Bord gegangen und verschwunden seien.
Das Auto brachte uns zum Hafen.
Der alte Sönnquist, der Maschinist Gromsö und der Koch Brown waren noch auf Deck und würfelten.
Sönnquists Freude war rührend. Aber sehr bald redete er sich bei der Schilderung des Überfalles auf die Miramare in Wut.
„Ich hatte die Wache an Deck von acht bis zwölf übernommen,“ erzählte er. „So gegen zehn Uhr wurde ich vom Nordufer der Bucht angerufen. – „Hier Detektiv Prang im Auftrage Harsts!“ meldete sich der bärtige Kerl. „Kommen Sie im Beiboot herüber! Es eilt!“ – Ich also ahnungslos ins Boot. Na – und am Ufer wollten mich dann die beiden Halunken durch ihre Revolver einschüchtern. Mit einem Male waren’s nämlich zwei. Ich nicht faul – springe dem einen an die Kehle. Aber der andere sitzt mir schon an der Gurgel! Da half kein Wehren! Sie fesselten mich, steckten mir einen Lappen ins Maul und ruderten zur Miramare, wo sie Gromsö und Brown ebenfalls überwältigten, uns drei vorn in der Segelkammer einsperrten und davonfuhren. Erst dicht vor Skien machten sie uns frei und – verdufteten an Land. Das ist alles, Herr Harst. Oh – eine Wut hab’ ich auf die Kerle, eine Wut –! Ja, denken Sie sich, Herr Harst, – der eine rief mir von Land aus noch zu: „Grüßen Sie Harst von Professor Lörax oder auch von Ottmar Orstra!“ – Also Orstra war der eine! Hätte ich nur einen Revolver zur Hand gehabt! Dem Halunken hätte ich ein Loch in sein Kadaverfell geknallt!“
„Lieber Sönnquist, seien Sie froh, daß er’s nicht umgekehrt gemacht hat!“ sagte Harald ernst. „Dieser Orstra spielt mit Menschenleben wie mit Billardbällen. – Wir werden jetzt sofort abfahren, Ziel Christiania. – He, Brown, beweisen Sie, daß Sie inzwischen das Kochen nicht verlernt haben. Wir sind hungrig!“
Bereits um zehn Uhr begannen die Motoren der Miramare zu arbeiten. Um elf Uhr waren wir drei mit dem Abendbrot fertig. Brown, der Koch, hatte noch schnell in Skien die neuesten Zeitungen aus Christiania kaufen müssen.
Nun hatten wir es uns in der eleganten Kajüte behaglich gemacht.
„Hier läßt es sich leben!“ sagte Prang lächelnd. „So ein Lord hat es doch gut!“
„Damit Sie nicht ganz zum Faulenzer werden, lieber Prang, – lesen Sie mal diesen Brief,“ meinte Harst, der in den Zeitungen blätterte. „Schraut kann Ihnen helfen. Es ist kein ganz alltäglicher Brief. Im Gegenteil – es ist der seltsamste, den ich je zu Gesicht bekommen habe.“
Er legte den Umschlag vor uns hin.
Da stand als Anschrift:
Monsieur
Charles Delboste
Dahlen, Norwegen
postlagernd.
Ich muß hier für Leser, die den vorigen Band nicht kennen, einfügen, daß Orstra im Hotel Dahlen einige Tage als Charles Delboste[4] nach seiner Flucht aus Göteborg in Schweden gewohnt hatte.
Ohne Zweifel hatte Harald, als er mittags die Postagentur in Dahlen besucht hatte, mit der Möglichkeit gerechnet, daß für Orstra-Delboste inzwischen Briefe eingetroffen sein könnten. Und – er hatte richtig vermutet. Hier war ein solcher Brief. Die Briefmarke war in Kragerö am 17. mittags zwischen 11 und 12 abgestempelt worden.
Der Siebzehnte war nun derjenige Tag, der uns beide bereits auf der Reise nach Dahlen gesehen hatte. Am 19. aber hatte Delboste vor uns aus Dahlen flüchten müssen. Er war mithin nicht mehr in der Lage gewesen, diesen Brief abzuholen.
Dies teilte ich Prang flüsternd mit. Harsts scharfen Ohren war kein Wort entgangen.
„Das stimmt alles, mein Alter,“ sagte er, ohne von der Zeitung aufzusehen.
Dann zog Prang den Briefbogen heraus.
Es war nur ein in der Mitte einmal gefaltetes Blatt.
Nicht ein einziges Wort stand darauf. Der Bogen sah aus, als hätte ihn ein Kind mit einer Stecknadel mit unzähligen Löchern willkürlich versehen.
„Feine Geheimschrift,“ meinte Harald wieder ohne aufzuschaun.
Prang schüttelte den Kopf. „Das kann doch keine Geheimschrift sein!“
Harald blickte mich an.
„Vielleicht findet Schraut den Trick heraus!“
„Nein,“ sagte ich. „Schraut paßt!“
„Bitte – haltet das Blatt doch mal gegen das Licht!“ erklärte Harst. „Ihr macht Euch die Sache zu bequem!“
Und – als Prang das Blatt jetzt hochhielt, drehte und die richtige Stellung herausgefunden hatte, sahen wir, daß eine Menge der Löchlein etwas größer als die anderen waren. Und die größeren Löchlein bildeten Buchstaben und Worte, die man ohne große Schwierigkeit ablesen konnte.
Ins Deutsche übertragen lauteten sie:
Mißglückt Andere dasselbe Bleiben hinterdrein Kurs In östl Kragerö.
„Die westlich von Christiania gelegene Hafenstadt Kragerö ist von Christiania aus in zwölf Stunden mit einem schnellen Fahrzeug bequem zu erreichen,“ sagte Harald jetzt, indem er seine Zeitungen weglegte und nach einer Zigarette griff. „Sie wissen doch, lieber Prang, wie man diese Geheimschrift ergänzen muß?“
„Allerdings. Das ist nicht gerade schwierig, lieber Harst. – Ich würde der Ergänzung folgende Form geben:
Der Anschlag auf die Goldnersche Jacht Kattegatt ist mißglückt. Andere planten dasselbe und kamen uns zuvor. Wir bleiben hinterdrein auf demselben Kurs –“
Dann zauderte er, fügte hinzu:
„Hm – mit dem „In östl Kragerö“ werde ich nicht recht fertig!“
Harald deutete auf eine an der Wand hängende Schiffskarte des Skagerrak genannten Meeresteiles zwischen Norddänemark, Südnorwegen und Westschweden, stand auf und trat vor die Karte hin. Wir erhoben uns gleichfalls und stellten uns neben ihn.
Es begann nun eine jener Erklärungen Haralds, die so recht bewies, wie scharf und richtig sein Geist alle Einzelheiten richtig zu erfassen und zu ordnen wußte.
„Vergegenwärtigen wir uns die Vorgänge in Christiania in der Nacht vom 16. zum 17. August,“ begann er, indem er starr auf den Christianiafjord blickte, in dessen Nordwinkel die norwegische Hauptstadt liegt. „Um 12 Uhr nachts verläßt die Kattegatt ihren Ankerplatz. Ein Boot mit fünf Nichtseeleuten will die Jacht noch erreichen, muß aber kehrt machen. Daß diese fünf Leute nachher diesen Brief an Orstra-Delboste schickten, unterliegt keinem Zweifel. Dieser Brief ist in Kragerö am 17. zwischen 11 und 12 Uhr mittags aufgegeben oder besser abgestempelt worden. Mithin muß man annehmen, daß den fünf Leuten ein Fahrzeug zur Verfügung stand, welches der Kattegatt sofort folgte – „wir bleiben hinterdrein“ – und am 17. etwa gegen 10 Uhr vormittags einen Mann in Kragerö landen konnte, der den Brief in den Kasten warf. Hieraus geht hervor, daß die Jacht Goldners, ein sehr schnelles Schiff, gleichfalls Kurs auf Kragerö genommen haben muß. – Nun zu den letzten vier Worten der Geheimschrift, die bei der geringen Verschiedenheit der Größe der Löchlein nicht ganz schlecht ausgedacht war.
Kurs In östl Kragerö
stellt meiner Ansicht nach einen Wink für Orstra-Delboste dar, wo er seine fünf Helfershelfer treffen kann. Wir wissen ja, daß Orstra schon in Göteborg das Haupt einer Verbrecherbande war. Die fünf Leute gehören fraglos zu dieser Bande. Östlich von Kragerö sehen wir hier auf der Karte eine Unmenge kleinerer und größerer Inseln dicht an der Küste, alles Felseneilande, nur zum geringsten Teil bewohnt, weil unfruchtbar. Das „In“ wird daher „Inseln“ bedeuten, und die vier Worte sind zu ergänzen:
Kurs auf die Inseln östlich von Kragerö.
Ich behaupte weiter, daß die Entführer der Kattegatt diese Inseln angelaufen und die Jacht irgendwo zwischen den Eilanden versteckt haben, was nicht schwer ist, wenn sie die Masten kappten, denn dann dürfte die Jacht dort niemandem auffallen. Nur die Masten hätten ihren Liegeplatz verraten können. – Daß die Kattegatt dort verborgen wurde und daß alle Anzeichen dafür sprachen, die Diebe würden sie vorläufig dort belassen, beweist die Tatsache, daß die fünf Leute, nachdem sie die Jacht so weit verfolgt hatten, weiter nach Kragerö fuhren und den Brief aufgaben. – Ich betonte schon, daß das Fahrzeug der fünf ebenso schnell wie die Jacht gewesen sein muß. Es muß aber auch klein und unauffällig gewesen sein, sonst hätten die Entführer der Kattegatt dieses Fahrzeug hinter sich bemerken und Argwohn schöpfen müssen. Ich denke, dieses Fahrzeug der fünf Helfershelfer Orstras wird ein Motorkutter sein, der sich als harmloser Fischkutter herausstaffieren ließ. Der Kutter wird dann, nachdem er Kragerö angelaufen hatte, bis zum Abend gewartet und erst bei Dunkelheit sich wieder jenem Teil der Kragerö-Inseln genähert haben, wo die Kattegatt liegt, wird einen Teil seiner Besatzung, die fraglos mehr als fünf Mann beträgt, gelandet haben, worauf die Verbrecher auf die Kattegatt einen Handstreich versucht haben werden. Ob dieser glückte, kann man noch nicht sagen. Es ist ja alles blasse Theorie, was wir hier entwickeln. Es kann alles so sein; es kann aber auch alles –“
„Nein,“ meinte Asbörn Prang da. „Es wird schon so sein, lieber Harst! Ihre blasse Theorie gewinnt in Ihrer Darstellung so viel Farbe, daß sie überzeugend wirkt.“
Wir setzten uns wieder. Harald rauchte eine Weile schweigend seine Mirakulum. Dann erklärte er:
„Wir werden nicht nach Christiania fahren. Nein, sobald wir den Skien-Fjord hinter uns haben, geht es nach Westen die Küste entlang. Wir können gegen halb zwei Uhr morgens die Inseln in Sicht bekommen. Ich verzichte meinerseits auf den Nachtschlaf.“
Prang nickte. „Ich auch! – Noch eine Frage, Harst. Halten Sie Ihren Verdacht gegen Samuel Goldner aufrecht? Glauben Sie noch, daß er die Kattegatt verschwinden lassen will, um die Versicherungssumme einzustreichen?“
„Nein, Prang, diese Annahme habe ich korrigieren müssen, – auch ohne den Zeitungsklatsch, den ich da in zwei Christianiaer Blättern vorhin fand. Hätte Goldner die Jacht versenken wollen, hätte er also Leute bestochen, die dies besorgen wollten, dann wäre die Kattegatt jetzt nicht bei den Kragerö-Inseln zu suchen, denn – daß sie sich dort befindet, bezweifle ich nicht.“
„Ganz meine Ansicht,“ mischte ich mich ein. „Was ist’s mit dem Zeitungsklatsch?“
„Oh – er ist vielsagend, mein Alter. Es werden da aus Goldners Familienleben und Geschäftspraxis Dinge ans Licht gezerrt, die man nur mit „schmutzig“ bezeichnen kann.“
Er langte nach einer der Zeitungen und las vor:
„Durch die Entführung der Jacht Kattegatt ist der Name des Bankiers Samuel Goldner jetzt abermals in aller Munde. Vor einem halben Jahr berichteten wir kurz über die Untersuchung, die in Kopenhagen gegen Goldner wegen dunkler Geldgeschäfte eröffnet worden war. Bekanntlich hatte sein eigener Stiefsohn – Goldner ist in zweiter Ehe mit der Baronin von Karlsström verheiratet, die ihm einen jetzt sechsundzwanzigjährigen Sohn mit in die Ehe brachte – ihn bei den Behörden wegen angeblicher ungeheurer Steuerhinterziehungen denunziert. Dieser Stiefsohn, Baron Oskar Karlsström, hatte sich seit langem in der Kopenhagener Gesellschaft unmöglich gemacht und war „Chefredakteur“ eines Revolverblättchens schlimmster Sorte, lebt jetzt als Schriftsteller in Göteborg und findet für seine Kriminalromane und Seegeschichten, die ebenso eigenartig wie spannend sind, stets Abnehmer. Die Untersuchung gegen Goldner mußte damals übrigens eingestellt werden. Es konnte dem Bankier nicht nachgewiesen werden, daß er große Summen – es sollten gegen vier Millionen Kronen sein – ins Ausland verschoben und nicht versteuert hatte.“
„So – das wären die Hauptsachen,“ meinte Harald und legte die Zeitung weg.
Das konnte heißen: „Es steht hier noch mehr über Goldner, aber das ist belanglos,“ oder Harst hatte mit dem Wort „Hauptsachen“, das er etwas betont hatte, auf etwas besonderes hinweisen wollen.
Diese Frage in Gedanken näher zu prüfen, ward mir keine Gelegenheit gegeben, denn mit schweren Schritten kam jetzt Steuermann Sönnquist die Kajüttreppe herab und meldete dann brummig:
„Nebel gibt’s, meine Herren, verdammt dicken Nebel. Wir müssen daher langsamer fahren. Auch muß der Vorschrift gemäß dauernd die Glocke geläutet werden.“
„Sönnquist – hier eine Zigarre! – So – wir werden nicht nach Christiania gehen, sondern die Kragerö-Inseln anlaufen.“
Der alte Seebär machte große Augen. „Was sollen wir denn dort, Herr Harst? Da gibt’s man bloß zwanzig Menschen und fünfzig Stück Vieh! Das ist die ganze Herrlichkeit!“
„Die Schafe auf den Inseln sollen zu einer besonderen Art gehören,“ sagte Harald völlig ernst. „Ich möchte mir sie ansehen.“
Sönnquist grinste. „Herr Harst, diese Sorte Schafe wird wohl zwei Beine haben! Na – von mir aus nur zu! Ich finde die Inseln im dicksten Nebel –“
Da begann vorn die Glocke auch schon zu läuten. Wir zogen unsere Mäntel über und folgten Sönnquist an Deck. Harald befahl, daß der Alte, Brown und der Maschinist zur Koje gingen, sich schlafen legten. „Wir drei werden die Jacht schon allein bedienen. Wir sind keine Neulinge!“ meinte er.
So mußte ich denn die Schiffsglocke bedienen, Prang steuern und Harst die Motoren versehen.
Ich stand vorn. Der Nebel war wirklich unangenehm dicht. Bald zeigte uns der Seegang an, daß wir den Fjord hinter uns hatten. Wir waren im Skagerrak, fuhren aber vorläufig nach Süden, um die gefährliche Nähe des Landes zu vermeiden.
Wer einmal während starken Seenebels nachts auf den Planken eines Schiffes die große Wasserwüste irgend eines Meeresteiles durchkreuzt hat, wird jenes scheußliche Gefühl steter Nervenanspannung kennen, das durch das Bewußtsein der dauernden Gefahr eines Zusammenstoßes mit einem anderen Fahrzeug hervorgerufen wird.
Wenn ich den Klöppel der Glocke für kurze Zeit ruhen ließ, bohrte ich meine Augen desto schärfer in die graue Nebelmauer vor uns ein.
Fischkutter glitten zuweilen lautlos wie Gespensterschiffe, undeutlich zu erkennen und scheinbar riesengroß, an uns vorüber. Dampfersirenen heulten bald hier, bald dort.
Wenn ich mich umdrehte und über das Verdeck schaute, konnte ich gerade noch den Mittelaufbau und daneben die Positionslaternen wahrnehmen. Die Laternen sahen aus wie ein trüber rötlicher und grüner Fleck.
So schlich die Miramare mit halber Motorenkraft dahin.
Harald kam bald nach vorn.
„Scheußliche Nacht!“ meinte er. „Wir werden nun wenden und eine Stunde nach Westen steuern, dann nach Norden. Es ist halb zwei Uhr –“
„Schon halb zwei?!“
„Ja. – Aha – Prang steuert schon den neuen Kurs. Nun kriegen wir die Dünung von Backbord. Die Miramare rollt recht nett! Für Leute mit Neigung zur Seekrankheit wäre das –“
Er schwieg.
Von vorn aus dem Nebel kam ein helles, taktmäßiges Kling – kling – kling – kling –
Wir hatten es gleichzeitig gehört.
Harst rannte wieder nach der Luke zum Maschinenraum zurück. Die Motoren arbeiteten noch langsamer.
Ich rührte den Klöppel mit aller Kraft. Da mußte dicht vor uns ein anderes Fahrzeug sein.
Dann verstummte unsere Glocke. Ich lauschte.
Wieder das taktmäßige, schwache Kling-kling – kling-kling – kling-kling.
Unsere Miramare hatte kaum noch Fahrt. Das seltsame kraftlose Anschlagen der anderen Schiffsglocke entfernte sich nicht, blieb in unserer Nähe.
Dann hörte ich, wie Harald Asbörn Prang zurief:
„Steuern Sie mal mehr nördlichen Kurs! Herum mit dem Steuer!“
Gleich darauf erschien er neben mir.
„Warte – nicht läuten!“ sagte er hastig. „Dieses Anschlagen der anderen Glocke erfolgt nicht durch Menschenhand. Der Klöppel schwingt beim Schlingern des Schiffes von selbst hin und her. Daher die schwachen Töne.“
Er hatte das trichterförmige Sprachrohr mitgebracht, setzte es an den Mund, brüllte in den Nebel hinein:
„Schiff ahoi –! Welches Schiff dort?“
Keine Antwort.
Nur wieder das leise Tönen der Glocke – irgendwoher – jetzt scheinbar auf Steuerbordseite.
Nochmals rief Harald – dann noch ein drittes Mal.
Wieder nichts!
„Dort drüben ist ein Fahrzeug ohne Besatzung,“ erklärte er jetzt. „Wir wollen im Kreise fahren. Dann müssen wir es finden! Geh’ und sage Prang Bescheid!“
Die Miramare beschrieb einen Bogen.
Ich horchte. All meine Sinne waren gespannt.
Harst kam mit einem Bootshaken.
Und – kaum stand er neben mir, als das geisterhafte leise Tönen der Glocke dicht vor uns erscholl.
„Prang – rückwärts!“ brüllte Harald und hob den Bootshaken.
Da wuchs auch schon vor uns aus den Nebelschleiern eine Schiffswand empor.
Der Bootshaken krachte gegen die Planken. Ich packte mit zu.
So glitt unsere Miramare denn an dem fremden Fahrzeug entlang.
„Stopp, Prang, – stoppen!“ befahl Harst.
Der Bootshaken erwischte noch gerade die Heckreling des Fremden.
Nun lagen wir Bord an Bord; nun reckte Harst sich hoch, kletterte hinüber, verschwand.
„Teufel, was mag das für ein Kahn sein?“ flüsterte Prang.
Und die Antwort gab Harst. Wir sahen ihn nicht; wir hörten nur seine Stimme.
„Es ist die Kattegatt Goldners! Die beiden Masten sind gekappt. Ich werfe Euch ein Tau zu –“
So wurden die beiden Jachten, die große und die kleine, nebeneinander vertäut.
Dann kletterten auch Prang und ich auf die Kattegatt hinüber, nahmen Laternen mit, fanden Harald in der großen Heckkajüte, wo er soeben die Pendellampen anzündete.
Wir durchsuchten alle Räume. Es war keine lebende Seele an Bord. Wir kehrten in die Kajüte zurück und besprachen das, was wir festgestellt hatten: von den Maschinen waren verschiedene Teile entfernt worden; in der Kombüse auf dem Patentherd stand noch ein halb gar gekochter Topf Reis; im Mannschaftslogis vorn war der Fußboden an drei Stellen mit Blut besudelt – verwischte Blutflecken.
„Was bedeutet das nun?“ sagte Prang leise.
Harald blickte starr auf den mit einer kostbaren Decke belegten Tisch.
Wir folgten der Richtung seines Blickes. Auf dem Tische lagen zwei rote Papierstreifen.
Harst ging, hob sie auf.
Es waren Papierringe gewesen. Man hatte sie durchgerissen.
„Nun – und?!“ fragte Asbörn Prang.
Im selben Augenblick schlug die Tür nach dem Mittelgang, die wir offen gelassen hatten, krachend zu.
Harald war schon mit zwei Sätzen an der Tür.
Zu spät. Sie war vom Gange aus verriegelt worden. – Prang hatte ebenso schnell die Tür nach der Treppe erreicht.
Auch verschlossen! Wir waren eingesperrt!
Jetzt auch bereits eine Stimme durch eins der halb offenen Oberlichtfenster:
„Vielen Dank für die Miramare! Sie kommt uns sehr gelegen – sehr!“
Orstras Stimme – ohne Zweifel!
Stille jetzt.
Dann das Geräusch der Motoren unserer Jacht, unserer Miramare. Das Geräusch entfernte sich schnell.
„Banditen!“ schimpfte Prang. „Banditen! So waren die Kerle doch an Bord!“
„Ja,“ nickte Harald versonnen. „Wahrscheinlich hatten sie sich oben an Deck verborgen! – Wenn wir nicht durch einen blöden Zufall in den Grund gebohrt werden wollen, müssen wir auch hier die Glocke läuten. Außerdem liegen die beiden gekappten Masten ja an Deck. Es wird sich einer davon schon irgendwie aufrichten lassen. Wir werden Segel setzen, damit die Kattegatt in Fahrt kommt und dem Steuer gehorcht!“
So sorgte Harst, daß wir keine Zeit fanden, zwecklosen Grübeleien nachzuhängen. Wir erbrachen die Türen.
Als gegen halb fünf morgens eine frische Brise die Nebelmassen vertrieb, als die Sonne dann aufging und wir den Horizont musterten, kam uns ein großer Seedampfer entgegen, schickte sechs Matrosen herüber, die uns auch den anderen Mast in Ordnung bringen halfen, und fuhr weiter.
Die Brise frischte immer mehr auf. Wir segelten vor dem Winde östlichen Kurs, Richtung Christiania. Um acht Uhr signalisierten wir einen Fischkutter heran, der einen Motor hatte. Über den Schlepplohn waren wir mit den Leuten bald einig. Der Kutter spannte sich vor die Kattegatt, und wir brauchten nicht mehr jede Minute zu fürchten, daß die notdürftig geflickten Masten samt den Segeln über Bord gingen.
Als wir abends im Christianiafjord der ersten Polizeibarkasse begegneten, wollten die Beamten mit uns ein langes Verhör anstellen. Doch Haralds Ausweis änderte die Sache. Wir konnten die Fahrt fortsetzen, und die Beamten versprachen auch, über die Ereignisse vorläufig Schweigen zu bewahren. Neues über die polizeilichen Ermittlungen konnten sie uns nicht mitteilen. Sie wußten nur, daß Herr Goldner mittags in Christiania eingetroffen war.
Um zehn Uhr abends machten wir am Bollwerk im Hafen fest. Harst ließ den Kriminalinspektor Doorsen herbeirufen, den wir von früher her kannten.
Wir vier saßen dann in der großen Heckkajüte, und nun endlich begann Harald – bisher hatte er sich völlig ausgeschwiegen – über die Vorgänge auf den Kragerö-Inseln, wie sie sich seiner Meinung nach abgespielt haben mußten, zu sprechen.
Der Leser wird zugeben, daß es nicht leicht war, aus den uns bekannten Tatsachen diese Vorgänge ohne innere Widersprüche zusammenzustellen.
Man bedenke, daß die Maschinen der Kattegatt absichtlich unbrauchbar gemacht worden waren, daß sich im Mannschaftslogis noch recht frische Blutflecken vorgefunden hatten und daß auch Orstra an Bord gewesen war. Allein die Frage, wie Orstra das Versteck der Kattegatt hatte finden können, schien kaum zu beantworten zu sein.
Und doch – wie zwanglos und einfach war dann Harsts Erklärung über die scheinbar so widerspruchsvollen Geschehnisse!
„Wenn diese Geschehnisse,“ sagte er, „logisch ineinandergreifen sollen, dann muß man berücksichtigen, daß es zwei Parteien waren, die unabhängig voneinander die Kattegatt entführen wollten. Orstras Leute kamen zu spät. Aber sie verfolgten die Jacht, taten dies so geschickt, daß die Diebe nichts merkten.“
„Eine Zwischenbemerkung,“ meldete Doorsen sich. „Hier aus dem Hafen ist in der Nacht vom 16. zum 17. noch ein großes Motorrennboot verschwunden, – aus einem verschlossenen Bootsschuppen. Der Diebstahl wurde erst vier Tage später entdeckt. Im leeren Bootsschuppen lag ein Zettel. – Hier ist er –“
Auf diesem Zettel stand:
„Nur zwangsweise geliehen. Wird zurückgebracht, falls keine Anzeige bei der Polizei erfolgt.“
„Harmlose Gemüter!“ lächelte Harst. „Diese „Entleiher“ waren Orstras Leute, waren die Verfolger der Kattegatt. – So – nun weiter! Die gestohlene Jacht wurde innerhalb der Kragerö-Inseln, sehr wahrscheinlich im südöstlichen, unbewohnten Teile des Archipels, versteckt. Die Diebe suchten dann an Bord der Jacht nach etwas ganz Bestimmtem.“
„Also nach Juwelen etwa,“ warf Prang ein.
„Nein, nicht nach Juwelen, lieber Prang. – Sie fanden auch das, was sie suchten. Ich könnte das beweisen. – Als sie dann abends die Kattegatt wieder aus den Inseln heraus ins offene Wasser gebracht und die Maschinen unbrauchbar gemacht hatten – sie wollten die Jacht der Strömung auf gut Glück überlassen und in einem der Rettungsboote an Land gehen –, wurden sie von den Verfolgern auf der Kattegatt überfallen. Es kam zum Kampf. Die Diebe waren schlau genug, die Jacht zu räumen und auf das andere Fahrzeug, das Motorrennboot, überzusteigen, mit dem sie davonfuhren. Bei dem Kampf gab es Verwundete, wahrscheinlich auch Tote. Beweis: die verwischten Blutflecken! In diese Blutlachen ist jemand hineingetreten und ausgerutscht, ist hingefallen und hat sich die Kleider beschmutzt.“
„Dasselbe ersah ich aus den Blutflecken,“ nickte Prang.
„Die Verfolger waren nun also auf einem wracken Fahrzeug, das mit der Strömung davontrieb, sozusagen eingesperrt.“
„Sehr gut!“ sagte Inspektor Doorsen. „All das leuchtet ein. Aber – wie kam Ottmar Orstra auf die Inseln? Wie hatte er erfahren, wo er seine Leute suchen mußte?“
„Durch seinen Begleiter muß er es erfahren haben, durch den Mann, der in Haukeli die Frau Professor Lörax gespielt hatte.“
„Das verstehe ich nicht,“ meinte nun auch Prang kopfschüttelnd. „Durch seinen Begleiter?! Der war doch stets bei ihm und konnte daher ebensowenig wissen, was die Diebe mit der Kattegatt vorhätten, wie Orstra selbst!“
Harst lächelte fein. „Lieber Prang, der Begleiter kann es vielleicht doch gewußt haben, – nämlich dann, wenn er zu den Entführern der Jacht in Beziehungen stand, wenn er also in den ganzen Plan eingeweiht war.“
„Auch das ist mir zu hoch!“ rief Doorsen.
„Dann werden Sie sich noch etwas gedulden müssen, lieber Doorsen. – So, jetzt werde ich mit Schraut Herrn Samuel Goldner einen Besuch abstatten, obwohl es bereits elf Uhr ist.“
Nun – wir waren bald zurück, denn im Hotel hörten wir, daß Goldner nebst Frau heute abend nach Kopenhagen abgereist war. Er hatte aber für Harald einen Brief zurückgelassen.
Dieser Brief war ebenso kurz wie vielsagend:
Sehr verehrter Herr Harst!
Dringende Geschäfte rufen mich nach Kopenhagen. Es hat auch keinen Zweck, länger hier in Christiania zu bleiben. Falls Sie die Güte haben wollen, sich um diesen Piratenstreich in Ihrer Weise zu bemühen, würde ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet sein, obwohl ich nicht glaube, daß Sie etwas ausrichten werden. Ich teile die Ansicht der hiesigen Polizei, die annimmt, daß man die Jacht in irgend einem Versteck abwracken und die Teile einzeln verkaufen wird.
Ich bin Ihr sehr ergebener
S. Goldner.
„Aha – er winkt abermals ab!“ sagte Harald und steckte den Brief in die Tasche. „Wir werden ihm nachreisen – mit dem Nachtzuge um halb eins!“ –
Wir hatten gerade noch Zeit, uns von Prang und Doorsen zu verabschieden. Ohne jedes Gepäck – unsere Sachen befanden sich ja auf der Miramare – begaben wir uns zum Bahnhof, wo Harald am Bahnschalter zwei Schlafwagenkarten 1. Klasse nach Göteborg forderte, also nach dem früheren Hauptquartier des Verbrechers Ottmar Orstra.
Harst zeigte sich dann auch im Eisenbahnzuge sehr mißtrauisch. Aber dieses Mißtrauen war überflüssig. Wir schliefen denn auch ungestört bis zehn Uhr vormittags. Um elf waren wir in Göteborg, um halb zwölf im Dienstzimmer unseres alten Freundes, des Detektivinspektors Dronting, der uns strahlenden Antlitzes willkommen hieß.
„Lieber Harst, ich kann Sie gut brauchen!“ erklärte er dann sofort. „Vor kaum fünf Minuten wurde mir aus Langedroog von der Lotsenstation gemeldet, daß man zwischen den Inseln vor Langedroog das gedeckte Motorrennboot Najade, das aus dem Hafen von Christiania gestohlen worden ist, und auch Plemborns Jacht Miramare in tadellosem Zustande dicht nebeneinander vertäut aufgefunden hat.“
„Ah – also doch!“ sagte Harald leise.
„Was heißt das, bester Harst?“
„Das heißt nichts anderes, als daß wir nun vielleicht Orstras ganze Gaunerbande mit einem Schlage unschädlich machen können!“
„Wahrhaftig?! – Schießen Sie los, Harst! Das wäre ja ein unerhörter Glückszufall!“
„Zu langen Erklärungen ist jetzt keine Zeit, lieber Dronting. Besorgen Sie für Schraut und mich schleunigst zwei Matrosenkostüme. Wir müssen vorher das Terrain sondieren. Die Sache kann sehr gefährlich werden oder total vorbeigelingen, wenn wir nicht vorsichtig zu Werke gehen.“
Dronting bat um Aufschluß über Haralds Absichten. Er hätte sich das sparen können. Selbst mir hatte Harst ja bisher auch nicht mit einer Silbe verraten, was er eigentlich vorhätte.
„Eine Sache wie diese muß mit größter Behutsamkeit angepackt werden,“ erklärte er nur. „Ich werde Sie und Ihre Leute schon noch brauchen, Dronting. Halten Sie sich mit zehn Mann bereit.“
Wir maskierten uns dann. Selten hatte Harald so viel Sorgfalt darauf verwandt, uns völlig unkenntlich zu machen. Erst mittags gegen ein Uhr verließen wir das Polizeigebäude durch einen Seitenausgang. In einem größeren Papiergeschäft kaufte Harst einen Stadtplan von Göteborg und sah gleichzeitig das Adreßbuch ein. Wen er darin suchte, wußte ich nicht.
Am Hafen mieteten wir ein Boot, hinterlegten 200 Kronen Pfand bei dem Bootsverleiher und ruderten in einen breiten Kanal hinein, von dem eine Menge schmälerer Kanäle abzweigten. Wir gelangten dann in einen Kanal, der zum Teil zwischen Gemüsegärten, Schneidemühlen und von Unkraut umwucherten Müllplätzen sich hinzog. Einzelne bescheidene Häuser standen auch hier inmitten von Buchen- und Erlengehölzen. Es war eine Gegend, die man nachts besser gemieden hätte.
Wir legten jetzt am Südufer an einem Schuttplatz an, zogen das Boot über eine weggefaulte Stelle des Bollwerks an Land und ketteten es fest. Der Platz war völlig mit Gestrüpp umgeben.
„Dort wohnt – Baron Oskar Karlsström, Goldners Stiefsohn,“ sagte Harald jetzt. – Und diese Worte waren wie eine Offenbarung für mich.
Ein Teil des Dunkels lichtete sich. Karlsström, dieser anrüchige Mensch, konnte ganz gut ein Mitglied von Orstras Bande sein. Vielleicht war er[5] es gewesen, der den Plan entworfen hatte, die Jacht seines Stiefvaters zu stehlen.
Harst hatte durch die Büsche auf ein verfallenes Gebäude gezeigt, das wie die ausgebrannte Ruine einer Fabrik aussah. Sie lag auf einem Hügel, war wirklich nur noch ein großer Trümmerhaufen mit leeren Fensteröffnungen und mußte schon viele Jahre in diesem Zustande der Witterung getrotzt haben, da[6] sich auf den Mauerrändern oben ganze Büschel Gras und einzelne Sträucher angesiedelt hatten. Nach Westen zu klebte an dieser Ruine ein kleineres Häuschen, mit den Fenstern nach dem Kanal hin. Es war einstöckig, hatte ein schräges, vielfach geflicktes Pappdach und zu jeder Seite der kleinen Tür zwei Fenster.
Weit und breit war kein Mensch zu sehen.
„Diese Speicherruine eignet sich vorzüglich für dunkle Zwecke,“ flüsterte Harst. „Im Adreßbuch stand als Wohnung Karlsströms angegeben: Pförtnerhaus des ehemaligen Transitspeichers, Ploorke-Kanal, Südufer. – Ich denke, wir sind an Ort und Stelle. Und wir werden Goldner nebst Frau, verwitwete Baronin Karlsström, hier finden. Goldner ist natürlich nicht nach Kopenhagen gereist, sondern hier zu seinem Stiefsohn. Kriechen wir jetzt mal näher heran. Der Zaun ist ja längst vermodert, und das Unkraut reicht bis dicht an die Ruine heran.“
Wir beide bärtigen Matrosen hatten in fünf Minuten die Mauer des Speichers mit Hilfe eines Schuttberges bis zu einer der Fensteröffnungen erklettert und uns in den mit Schutt, Bretterstücken und fahlen Unkrautstauden am Boden dicht bedeckten Raum hineingeschwungen.
Schritt für Schritt bewegten wir uns weiter – ohne jedes Geräusch, kamen durch zwei kleinere Räume an eine abwärtsführende Steintreppe, die noch leidlich erhalten war. Wir standen nun im finsteren Treppenhause des Speichers. Neben der Treppe war noch das Eisengerüst eines Lastenaufzugs zu erkennen.
Harald ließ für ein paar Sekunden seine Taschenlampe aufblitzen. Unten rechts von der Treppe lag eine eiserne, feuersichere Flügeltür, noch weiter rechts eine ganz schmale, ebenfalls aus Eisen.
„Die zweite dürfte in das Pförtnerhäuschen führen,“ flüsterte Harst und huschte die Stufen abwärts.
Hier war alles merkwürdigerweise sauber gefegt. In dem Ziegelboden des Flurs zeichnete sich etwa in der Mitte eine zweiflügelige Falltür, auch aus Eisen, ab. Durch den Ring des einen Flügels lief eine Kette zu einem Flaschenzug empor, der an einem Haken des oberen Treppenabsatzes befestigt war. Wir umgingen diese Falltür. Harst beleuchtete jetzt das Schlüsselloch der schmalen Tür, zog schon den Patentdietrich aus der Tasche.
Da – der Drücker der Tür bewegte sich.
Harald riß mich rasch zur Seite.
Lautlos ging die Tür auf, immer weiter.
Wir standen eng an die Mauer gepreßt, standen jetzt hinter der geöffneten Tür, durch die ein schwacher Lichtschein in den Flur fiel.
„Clement!“ hauchte Harst mir ins Ohr.
Und ich faßte in die Beinkleidtasche, schob sacht die Sicherung des Mehrladers herum.
Ich hörte leise Schritte, Flüstern.
Die Tür drehte sich – drehte sich und wir standen sechs gutgekleideten Leuten gegenüber, von denen einer einen Handkoffer trug.
Haralds Arm flog schon hoch – beide Arme – rechts die Clement, links die eingeschaltete Lampe.
„Hände hoch!“ sagte er kalt. „Ich bin Harst! Ich weiß, wen ich vor mir habe!“
Auch mein Mehrlader äugte mit der kleinen Mündung die sechs drohend an.
Fünf gehorchten.
Der mit dem Koffer in der Hand aber lachte schneidend auf, hatte sich blitzschnell hinter zwei anderen zusammengeduckt, gab den beiden einen Stoß.
Harst mußte zur Seite springen.
Auch ich wich nach rechts aus. Nur Sekunden waren wir fast wehrlos, hätten überrannt werden können.
Die beiden Leute flogen gegen die Mauer.
Und dann – dann schleuderte der, den ich sofort an dem schrillen Hohnlachen als Orstra erkannt hatte, den Koffer ebenso blitzschnell gegen Harst.
Harald drückte ab, duckte sich, bekam meinen Arm zu packen.
Ein Ruck – wir waren in der Türöffnung, – ein zweiter Griff Harsts, und der Koffer sauste die vier Stufen hinab in den Flur des Pförtnerhäuschens.
Zum Glück hatte ich Haralds Absicht erkannt, zog die Tür zu.
Krachend flog sie ins Schloß. Der Schlüssel steckte von dieser Seite. Ich drehte ihn um – der Riegel schnappte vor. Und im selben Moment im Speicherflur drei – vier Schüsse. Kugeln klatschten gegen die eiserne Tür.
Und nun – nun eine Stimme, die jeden Lärm übertönt hätte: die Inspektor Drontings – des Riesen Dronting mächtiger Baß:
„Halt – niemand rührt sich –! Hier Kriminalpolizei!“
„Ah – Dronting ist uns wirklich mit seinen Leuten heimlich gefolgt!“ sagte Harald hastig. „Zum Glück gefolgt. Ich rechnete damit! Er war so wortkarg, bevor wir beide das Polizeigebäude verließen; er wollte nicht warten, sondern –“
Da hatte sich hier im Flur die eine der beiden braun gestrichenen Holztüren geöffnet.
Samuel Goldner, leichenblaß, verstört, schaute uns mit Augen an, die von Angst und Verzweiflung unnatürlich groß schienen.
Harst nahm den Koffer auf.
„Guten Tag, Herr Goldner,“ sagte er und schritt die vier Stufen hinab. „Sie erkennen mich nicht? – Ich bin Harst – und hier“ – er hob den Koffer etwas empor – „sind Ihre Millionen!“
Goldner wich in das Zimmer zurück.
Wir folgten. Dort saß auf einem alten Glanzledersofa eine stattliche, grauhaarige Dame, das Gesicht noch mit Tränenspuren benetzt. – Dort saß in einem Plüschsessel ein junger, bartloser, verlebt aussehender Mensch mit weibischen Zügen – saß da, blickte uns finster an, stierte nun auf den kleinen Koffer.
Harst drückte die Tür zu.
„Herr Goldner,“ begann er schlicht, „Sie wußten von vornherein, daß Ihr Stiefsohn die Jacht Kattegatt hatte entführen lassen oder selbst dabei mitgewirkt hatte. Sie wollten Karlsström schonen, wollten außerdem aber weiter verheimlichen, daß Sie auf der Kattegatt jene Millionen versteckt hatten, die schon einmal den Gegenstand eines Verfahrens wegen Steuerhinterziehung gebildet hatten. Deshalb wünschten Sie nicht, daß ich die Kattegatt und die Piraten suchte. – Ihr Stiefsohn gehörte mit zu der Bande eines gewissen Orstra. Er hatte Kenntnis von dem Versteck auf der Jacht erlangt – irgendwie! Er und Orstra ließen die Kattegatt entführen. Aber die damit betrauten Leute, oder besser ein Teil dieser Leute beschloß, den Raub nur unter sich zu teilen und beging den Streich früher als vereinbart. Fünf andere der Bande glaubten, daß Fremde die Jacht sich angeeignet hätten, folgten ihnen und trafen dann mit Orstra und Karlsström bei den Kragerö-Inseln zusammen. Karlsström, der als Frau Lörax in Telemarken mit Orstra ein anderes „Geschäft“ hatte erledigen wollen, vermutete nämlich, daß die „Piraten“ ungetreue Mitglieder der Bande gewesen und daß sie, wie ursprünglich beschlossen war, sich mit der Kattegatt nach den Kragerö-Inseln gewandt hätten. Auf der Jacht kam es zum Kampf zwischen den beiden Parteien. Die verräterischen Mitglieder werden hierbei wohl zum Teil ausgelöscht worden sein. Auf dem Tisch in der Kajüte fand ich zwei rote Papierstreifen: Bänder von Banknotenpäckchen! Diese Bänder bestätigten meine Vermutung, daß auf der Kattegatt Geld versteckt gewesen. Heute sollte hier nun die Beute geteilt werden. Da erschienen Sie, Herr Goldner, mit Ihrer Gattin. Orstra und die anderen fünf zogen sich mit dem Geldkoffer drüben in das andere Zimmer zurück, wollten dann Karlsström um seinen Anteil betrügen und wurden von uns, als sie durch den Speicher sich zu entfernen gedachten, überrascht. – Baron Karlsström, Sie sind ein betrogener Betrüger! Auch Orstra wollte Sie hintergehen! Er wollte die gute Gelegenheit, während Ihre Mutter Sie hier anflehte, das Geld herauszugeben, zur Flucht benutzen!“
Vor dem Häuschen jetzt Stimmen; im Flur schwere Schritte.
Dronting und zwei Beamte traten ein.
Frau Goldner war ohnmächtig geworden.
„Der Schuft ist uns entwischt!“ rief Dronting grollend. „Die anderen haben wir! Er ist durch die eiserne Falltür entkommen. Sie mündet in einen Kanal, der unterirdisch weiterläuft –“ –
Baron Karlsström mußte mit zur Polizei und sitzt heute noch im Zuchthaus.
Orstras Bande war jetzt bis auf den letzten Mann – mit Ausnahme des Anführers – unschädlich gemacht worden.
Harsts Kombinationen wurden durch das Geständnis der Verbrecher in allen Punkten bestätigt. Die vier Millionen beschlagnahmte die dänische Regierung. Goldner mußte noch weitere anderthalb Millionen Strafe zahlen. Er verarmte bald darauf und starb – im Irrenhause. Seine Gattin hat bei Verwandten ein Unterkommen gefunden.
Was aus Ottmar Orstra wurde, wie er endete, berichte ich im folgenden Band.
Nächster Band:
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Anmerkungen:
Das neue Gasthaus auf dem Haukeli. Fotografiert zwischen 1880 und 1887.
Foto: Martinius Skøien (1849-1916)
Die Siedlung Haukeli. In Hintergrund der Berg Kistenuten. Fotografiert zwischen 1880 und 1889.
Foto: Alex Lindahl (1841-1906)