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Lord Plemborns Verbrechen

 

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 76:

 

Lord Plemborns Verbrechen[1]

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1922.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

„Herr Harst, ich habe einen Menschen aus Versehen erschossen!“

Mit diesen Worten sank Lord Edward Plemborn, der soeben[2] unser Hotelzimmer betreten hatte, völlig verstört in einen Sessel.

Sein gelblich-graues Gesicht, seine leicht zitternden Hände, die tief umschatteten trüben Augen – all das sprach für schlaflose Nächte nach einer furchtbaren Aufregung. –

Harald hätte nun den Lord niemals so ohne weiteres unser Zimmer betreten lassen, wenn nicht Kriminalinspektor Dronting aus Göteborg gerade bei uns geweilt hätte, der sofort erklärte, der Lord sei ihm persönlich bekannt.

Lord Plemborn griff jetzt in die Tasche seines Gummimantels und holte ein Fläschchen mit aufgeschraubtem Aluminiumbecher hervor, füllte ihn und sagte, bevor er ihn leerte: „Entschuldigen Sie! Nur der Kognak hält mich noch aufrecht!“

„Sie sind mit einer Jacht hier nach Skien gekommen,“ meinte Harst, indem er auf des Lords Segeltuchschuhe mit Gummisohlen schaute. „Mit einer Motorjacht, vielleicht sogar einem Rennboot. Sie bringen einen leichten Benzingeruch mit und haben es doch fraglos sehr eilig gehabt, zu mir zu kommen. Der Mensch, den Sie erschossen haben, dürfte zu Ihnen in näheren Beziehungen stehen. Eines Fremden wegen hätten Sie sich wohl kaum so aufgeregt. Außerdem müssen bei dieser fahrlässigen Tötung wohl auch besondere Begleitumstände vorhanden sein, die gleichfalls Ihre Aufregung steigerten.“

Der Lord hatte Harst überrascht angeblickt. Dann sagte er:

„Ah – ich hätte fast vergessen, hier dem berühmtesten Liebhaberdetektiv unserer Zeit gegenüberzusitzen! – Das, was Sie zu meinem Erstaunen soeben auf Grund bloßer Schlußfolgerungen äußerten, Herr Harst, stimmt alles!“

Er holte tief Atem. Es klang wie ein Seufzer.

„Die – die Erschossene, mein Opfer, ist – die Schwester meiner Frau, Miß Evelyn Ronda, Tochter des Neuyorker Großindustriellen James Ronda.“

„Nicht möglich!“ entfuhr es Inspektor Dronting. „Die Tochter des Milliardärs, Ihre Schwägerin?!“

„Leider – leider!!“ Die fahlen Wangen des Lords bekamen jetzt etwas Farbe. „Meine Schwägerin, die erst vierzehn Tage bei uns in Göteborg zum Besuch weilte!“

Harald bot dem Lord eine Zigarette an. „Rauchen Sie! Es ist eine Ablenkung der Gedanken. Und die haben Sie nötig. – Bitte, hier ist Feuer. – So – wann passierte das Unglück?“

„Gestern vormittag gegen elf Uhr.“

„Wo und wie?“

Der Lord seufzte wieder. Sein junges, bartloses Gesicht paßte schlecht zu dem stark gelichteten Scheitel. Auf mich machte Plemborn den Eindruck eines Lebemannes mit etwas stürmischer Vergangenheit. Ich schätzte sein Alter auf dreißig Jahre.

„Der Vorfall selbst,“ begann er, indem er trübe vor sich hinstarrte, „ist bald erzählt. Ich wohne in der Villen-Vorstadt von Göteborg im eigenen Hause mit großem Park. Hinten im Park befindet sich ein Schießstand. Ich pflege häufig mit Gewehr und Pistole nach der Scheibe zu schießen. Die Scheibe steht vor einer schroffen Felswand, die den Park nach Westen begrenzt. Sie ist auf eine Balkenwand gespannt, die etwa zwei Meter von dem Felsen entfernt ist. Rechts und links habe ich Sandwälle aufschütten lassen –“

Er sprach immer leiser. Sein Gesicht wurde wieder gelblich und verlor jede Spannkraft. Wie er so zusammengesunken im Sessel saß, mußte man ihn tief bemitleiden. Und doch – ich hatte das Gefühl, daß seine Verstörtheit etwas übertrieben war, als ob er etwas – heuchelte.

„Gestern also gegen elf Uhr vormittags wollte ich eine neue Repetierbüchse ausprobieren, die um zehn Uhr mit der Post eingetroffen war. Ich verließ mit der Büchse im Arm meine Villa. Ich glaubte, meine Frau und Evelyn säßen noch vorn auf der Veranda. Mein Diener Baptiste begleitete mich. Die Pappscheibe, die Baptiste schon morgens auf die Plankenwand genagelt hatte, war ganz neu. Hundertfünfzig Meter vor der Scheibe machten wir halt. Ich legte an und feuerte nacheinander fünf Schüsse ab. Wie gesagt – es handelte sich um eine Selbstspannerbüchse. Ich brauchte nur abzudrücken. Ich gab die Schüsse in etwa acht Sekunden ab. Nach dem fünften Schuß hatte ich eine Ladehemmung. Die fünfte leere Hülse hatte sich festgeklemmt. Wir gingen den Schießstand hinunter. Baptiste eilte voraus, rief dann plötzlich – und den Schrei vergesse ich mein Lebenlang nicht: „Herr Gott – Miß Evelyn!“

Ich begann zu laufen. Und dann sah ich hinter der Balkenwand auf der Erde Evelyns blonden Kopf.

Sie – sie war tot! Eine Kugel war ihr durchs Herz gegangen. Ihr Spitzenmorgenkleid zeigte auf der Herzstelle geringe Blutspuren.

Ich sank ohnmächtig um. Als ich wieder zu mir kam, war schon ein Arzt und die Polizei da. Der Kriminalwachtmeister Lörnberg verhörte mich und Baptiste –“

Er schwieg und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, stöhnte qualvoll und flüsterte:

„Meine Frau hatte auch bereits Baptiste mit einer Kabeldepesche weggeschickt und ihren Eltern in Neuyork mitgeteilt, daß Evelyn verunglückt sei –“

„Weshalb erwähnen Sie dies besonders, Mylord?“ fragte Harald und nahm eine neue Mirakulum.

„Weil – weil ich nicht gut mit meinen Schwiegereltern stehe, Herr Harst. Jane, meine Frau, hat – hat –“

Er schwieg wieder, sprang auf und eilte ans Fenster, kehrte uns den Rücken zu und stieß hervor:

„Jane hatte ganz unbegründete Anwandlungen von Eifersucht. Sie glaubte, ich erwiese Evelyn zu viel Aufmerksamkeiten“

Harald beschaute seine Fingernägel und meinte:

„Sie haben in dieser Beziehung ein ganz reines Gewissen, Mylord?“

Plemborn drehte sich hastig um.

„Bei Gott – das habe ich!“

Er lehnte sich an das Fenster.

„Aber Jane behauptet, ich hätte Evelyn heimlich Liebesgedichte zugesteckt. Vor einer Woche hat sie ihren Eltern geschrieben, Evelyn wieder zurückzuholen, und hat in dem Briefe Andeutungen über ihre Eifersucht auf Evelyn gemacht.“

„So standen die Schwestern schlecht miteinander?“

„Ja – seit einer Woche war Jane sehr unfreundlich zu Evelyn, wenn sie ihr auch nicht direkt sagte, daß sie ihr mißtraue.“

„Wie lange sind Sie verheiratet, Mylord?“

„Zwei Jahre.“

„Was hat es nun mit den besonderen Begleitumständen auf sich?“

„Erstens sind es die Eifersüchteleien meiner Frau. Dann – dann etwas, das ich den Herren nur unter strengster Diskretion mitteile. Evelyn und ich waren gute Freunde. Ich – ich – spiele gern. Ich hatte letztens im Klub in Göteborg eine – eine Riesensumme verloren. Evelyn besitzt eigenes Vermögen von ihrer Großmutter her. Sie hat mir –“ er senkte den Kopf ganz tief – „zweihunderttausend Kronen geliehen.“

Hm – das war etwas eigenartig!

„Weiß Ihre Gattin von diesem Darlehn?“ fragte Harst scheinbar gleichgültig.

„Ja – sie erfuhr zufällig davon. Sie – sie hat Evelyn und mich belauscht.“

„Wo?“

Plemborn schoß das Blut ins Gesicht.

„Hinter – hinter der Plankenwand des Schießstandes. Sie stand dahinter, und Evelyn und ich kamen den Schießstand entlang.“

„Noch ein besonderer Begleitumstand, Mylord?“

„Ja – wie man’s nimmt. Jane behauptet nämlich, sie habe in Evelyns goldenem Handtäschchen zwei Gedichte gefunden – Gedichte, die ich geschrieben hätte. Gezeigt hat sie mir die Gedichte nicht, weil sie fürchtete, ich könnte sie vernichten –“

Er kam wieder langsam an den Tisch und setzte sich.

„Oh – es ist furchtbar!“ stöhnte er auf. „Jane tut mir bitter unrecht. Ich liebe sie aufrichtig. Es war keine Geldheirat – wirklich nicht, wenn ich auch arm war – und es noch bin, denn meiner Frau Vermögen kann ich nicht antasten. Mein Schwiegervater hat dies so bestimmt.“

Das war recht offenherzig von Plemborn. Aber auf mich wirkte dies wie schlaue Berechnung. Mir war da ein Verdacht gekommen, der mich nicht wieder losließ.

„Weshalb sind Sie hier nach Skien zu mir geeilt, Mylord?“ fragte Harald nach kurzer Pause.

„Weil – weil ich fühlte, daß Jane annimmt, es handele sich hier um keinen unglücklichen Zufall. Sie hat Andeutungen mir gegenüber gemacht, daß ich Evelyn –“

Er preßte einen Moment die Lippen zusammen.

„– Evelyn dort hinter die Plankenwand bestellt hätte und daß ich –“ Seine Stimme gehorchte nicht mehr. Nur stoßweise brachte er hervor:

„– Daß ich gewußt hätte, ich – ich würde Evelyn treffen!“

„Also – Mord?“ sagte Harald seltsam hart.

Plemborn nickte schwach.

„Und – weshalb, denken Sie, argwöhnt Ihre Gattin dies?“

„Weil – weil sie vermutet, ich hätte mir von Evelyn noch größere Summen geliehen –“

„Und – daß Sie Evelyn als Ihnen unbequem beseitigen wollten,“ fügte Harald hinzu.

„Ja – ja –!“ Er war hochgefahren, reckte die Arme empor, rief heiser:

„Bei Gott – mein Gewissen ist rein! Es war ein Zufall, Herr Harst! Beweisen Sie, daß es einer war! Denn – sonst verliere ich den Verstand über alledem!“

 

2. Kapitel.

Dies spielte sich in der norwegischen Industriestadt Skien gegen fünf Uhr nachmittags ab. Um sechs befanden wir uns bereits an Bord von Plemborns Jacht „Miramare“ und fuhren den Skien-Fjord hinab.

Abends acht Uhr kam uns ein Polizeiboot entgegen. Es hatte uns an der Fjordmündung aufgelauert. Inzwischen war aus Göteborg die telegraphische Anweisung an Dronting gekommen, Plemborn zu verhaften. Diese Depesche war von Skien nach der Zollstation an der Fjordmündung weitergegeben und wurde Dronting nun auf der Miramare überreicht.

Dem Inspektor war dies sichtlich unangenehm. Er glaubte nicht an eine Schuld des Lords. Trotzdem mußte er dem Befehl nachkommen, das heißt, er erklärte Plemborn, daß dieser sich jetzt als Gefangener betrachten müsse. Im übrigen betonte Dronting, daß er Plemborn für schuldlos hielte und daß wir während der Reise nach Göteborg wie bisher ganz freundschaftlich miteinander verkehren sollten.

Dies war nur ein schwacher Trost für Plemborn. Er brach denn auch völlig zusammen, weinte, schluchzte und zeigte so wenig Männlichkeit, daß meine geringe Sympathie für ihn noch mehr zusammenschrumpfte.

Plemborn wollte sich dann in seine Kabine zurückziehen. – „Ich muß allein sein!“ jammerte er.

Dronting erklärte, er hätte nichts dagegen. Nur müsse der Lord ihm das Ehrenwort geben, daß er nicht etwa Selbstmord begehen würde. Plemborn gab sein Ehrenwort. Trotzdem nahm ihm Dronting noch den Revolver und das Taschenmesser ab und schloß ihn dann in die Kabine ein.

Wir drei saßen nun in dem kleinen Salon der Jacht und aßen schweigend zu Abend.

Harald hatte sich bisher über diesen Fall Plemborn in keiner Weise geäußert. Erst als einer der Matrosen den Tisch abgeräumt und Zigarren, Zigaretten und Eispunsch zurechtgestellt hatte, als wir nun allein waren und die Spannung in unserem Innern dringend einen Meinungsaustausch forderte, platzte der Inspektor heraus:

„Was halten Sie von der Sache, Harst? Reden Sie! Es ist ja unerträglich, daß hier drei Leute vom Fach ihre Gedanken voreinander verbergen! Ich selbst kann an eine Schuld des Lords nicht glauben!“

„Und Du?“ wandte Harald sich mir zu.

Ich zögerte erst.

„Der von Lady Jane gehegte Verdacht ist auch in mir aufgestiegen – genau in derselben Form!“ erklärte ich dann. „Plemborn ist Spieler. Und Spieler sind zu allem fähig.“

Harst blickte den Wölkchen seiner Mirakulum nach und fragte erst nach einer geraumen Weile:

„Und die acht Sekunden?!“

Dronting und ich schauten ihn an.

„Was heißt das: Die acht Sekunden?!“ meinte der Inspektor dann. Und nachsinnend wiederholte er nochmals: „Acht – acht Sekunden?!“

Harald nahm einen Briefumschlag aus einem Fache des Wandsofas und einen Zettel und schrieb auf diesen rasch zwei Worte mit Bleistift, schob den Zettel in den Umschlag und klebte diesen zu, gab ihn Dronting und sagte:

„Da – verwahren Sie das gut, lieber Dronting. Öffnen Sie es erst, wenn ich es gestatte. Zwei Worte nur – und doch meine Ansicht über den Fall Plemborn.“

Der Inspektor brummte etwas wie „Überflüssige Mätzchen!“ steckte den Umschlag aber doch in die Innentasche seiner Weste und fragte gereizt:

„Also Sie verraten noch nichts, Harst?“

„Nein. Ich kann mich irren. Ich muß erst Lord Plemborn hören und mir den Scheibenstand ansehen.“

Damit war das Thema Plemborn erledigt. –

Am nächsten Abend näherten wir uns Göteborg. Der Lord hatte sich nicht mehr sehen lassen, hatte auch abgelehnt, Harald in seiner Kabine zu empfangen.

Neun Uhr war’s jetzt. Der Himmel hatte sich bewölkt. Ein Gewitter drohte. Die Jacht fuhr zwischen den Felseninseln von Langedroog dahin. Wir drei saßen auf dem Achterdeck.

Plötzlich unter Deck irgendwo ein lauter Knall.

Wir fuhren hoch.

„Was war das?“ rief Dronting. „Ein Schuß?“

„Nein – eine gewaltsam erbrochene Tür.“ erwiderte Harald.

Dann tauchte auch schon der Lord auf der Kajüttreppe auf.

Und – mit einem Satz war er über Bord.

„Er flieht!“ brüllte der Inspektor. „Wenden – ihm nach!“

Aber der Matrose am Steuer tat, als hörte er nichts.

Dronting rannte zu ihm hin.

„Wenden – wenden, – im Namen des Gesetzes!“ –

Plemborn war verschwunden. So viel die Jacht auch kreuzen mochte: er blieb verschwunden!

Der Inspektor, sonst so pomadig, tobte.

„Er muß noch in der Nähe sein – muß! Harst, haben Sie nicht gesehen, wo er blieb?“

„Bei der Dunkelheit!“ meinte Harald nur. Und fügte ganz leise für mich hinzu:

„Er ist noch in der Nähe – das stimmt!“ Dann ging er auf das Vorschiff, wo drei Matrosen und der alte Steuermann Sönnquist zusammenstanden.

Sönnquist war schon bei Lord Plemborns Vater Jachtmatrose gewesen und schien seinen Herrn über alles zu lieben. Als er gemerkt hatte, daß Plemborn in die Kabine eingeschlossen war, hatte es zwischen ihm und Dronting einen bösen Auftritt gegeben. –

Eine Polizeibarkasse nahte jetzt. Der Inspektor hatte mit seiner Trillerpfeife Signale gegeben.

Man suchte noch eifriger. Harst und ich spielten die Zuschauer vom Achterdeck aus. Erst gegen elf Uhr gab Dronting die Sache auf. Der gemütliche Mann spie förmlich Feuer vor Wut.

„Weshalb haben Sie eigentlich nicht geholfen, Harst!“ fauchte er Harald an. „Sonst drängen Sie sich doch überall vor! Sie hielten Plemborn doch von Anfang an für schuldig. Das hätten Sie mir klar und deutlich sagen müssen. Dann würde ich den Lord anders behandelt haben!“

Es war dunkel auf Deck. Harsts Gesichtszüge waren nur undeutlich zu erkennen.

„Herr Kriminalinspektor,“ sagte er eisig, „Sie vergreifen sich etwas im Ton! Ich dränge mich nie vor. – Bitte – lassen Sie uns sofort drüben in Langedroog an Land setzen –“

Dronting war so verärgert, daß er kurz kehrt machte und dem Steuermann zurief: „Legen Sie dort rechts am Bootssteg an! Zwei Herren wollen aussteigen.“

So schieden wir denn von Dronting ohne Gruß, ohne jedes weitere Wort. Er war in Plemborns Kabine gegangen und hatte sich nicht mehr sehen lassen.

Wir verließen die Jacht mit unseren Handtaschen, blieben aber unweit des Bootssteges hinter einem Bretterschuppen stehen. Die Jacht setzte ihre Fahrt nach Göteborg fort.

Dann tauchte vom Ufer her eine Gestalt auf: der Lord! Er trat an uns heran und sagte unsicher:

„Der alte Sönnquist erzählte mir, Herr Harst, daß Sie beobachtet hätten, wie er mir aus dem Wasser auf das Vorschiff half und wie ich in der Vorderluke verschwand. Ich danke Ihnen, daß Sie mich nicht verraten haben.“

„Nichts zu danken, Mylord. Ich habe mich Ihretwegen sogar mit Dronting entzweit. Damit die Jacht hier im Dunkeln an dem Bootssteg und nicht am erleuchteten Hafenkai in Göteborg anlegte, wo Sie nur schwer hätten von Bord entschlüpfen können, spielte ich den Gekränkten. Die Hauptsache: Ihnen bleibt die Untersuchungshaft erspart und Sie können insgeheim helfen, Ihre Schuldlosigkeit zu beweisen. Wo aber werden Sie jetzt ein sicheres Unterkommen finden?“

„Bei Sönnquist. Der Alte hat sich in Göteborg ein kleines Häuschen gepachtet. Seine Schwester führt ihm die Wirtschaft. Dort bin ich gut aufgehoben.“

„Hm – meinen Sie?! Die Polizei wird Sie auch dort suchen. Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag. Wir werden Sie sofort hier in dem leeren Bootsschuppen, dessen Tür halb offen steht, gründlich verändern. Perücken und Bärte haben wir mit. Wir beide haben auch dieselbe Größe. Sie ziehen meinen Anzug an, ich Ihren nassen. Dann steigen Sie nachher in Göteborg, ausgerüstet mit meiner Reisetasche und meinem Ulster, im Fremdenheim Merten, wo auch wir noch unsere Koffer stehen haben, als Kaufmann Watson aus London ab. Um Mitternacht trifft ja ein Zug von Malmö ein. Mit dem sind Sie eben angekommen. – Los denn – keine Widerrede! Ihr nasser Anzug wird mir nichts schaden. Ich ziehe Schrauts Ulster darüber –“ –

Alles ging nach Wunsch. Um zwölf Uhr trafen wir in Göteborg ein. Plemborn bekam ein Zimmer uns gegenüber. Als gegen halb zwei im Pensionat volle Ruhe eingetreten war, fand sich der Lord wie verabredet in unserem Wohnsalon ein. Wir setzten uns dicht nebeneinander an den Mitteltisch. Wir mußten ja vorsichtig sein und leise sprechen.

„Nur drei Fragen, Mylord,“ begann Harald. „Aber – die Antworten müssen der Wahrheit nicht ausweichen! Sie verstehen mich! Andernfalls lehne ich jede Tätigkeit in Ihrem Interesse ab. – Zuerst: Haben Sie Ihrer Schwägerin nie ein Gedicht zugesteckt?“

„Nein – auf mein Wort – nie!“

„Gut. – Dann zweitens: Hatte Evelyn Ihnen nur 200 000 Kronen geliehen?“

„Nein – mehr. Vierhunderttausend.“

„Das ahnte ich. Sie haben Evelyn einen Schuldschein gegeben?“

„Ja. Aufgezwungen habe ich ihr den Schuldschein. Sie wollte ihn nicht nehmen. Genauer gesagt: es sind zwei Schuldscheine, jeder über 200 000 Kronen. – Deshalb floh ich ja auch. Ich hatte mir überlegt, daß, wenn die beiden Schuldscheine von der Polizei gefunden würden, mir daraus –“

„Lassen Sie nur. Ich begreife alles. – Dann drittens: Hat irgend jemand ein Interesse an Evelyns Tod? Nützt Ihr Tod jemandem? Bringt er irgend einer Person Vorteile?“

„Nein – bestimmt nicht! Höchstens Jane, meiner Frau. Evelyn hat Jane als Erbin eingesetzt.“

„Danke, Mylord. Dann wollen wir jetzt zu Bett gehen. – Auf Wiedersehen –“

Plemborn drückte uns die Hand und schlüpfte in sein Zimmer hinüber.

Harald blieb auf dem Sofa sitzen und winkte mich neben sich.

„Bist Du sehr müde, Alterchen?“ fragte er.

„Nein. Durchaus nicht.“

„Dann werden wir uns schnell in Matrosenkostüme werfen und der Villa Plemborns einen Besuch abstatten.“

Unser Requisitenkoffer gab alles Nötige zur Verkleidung her. Wir nahmen auch unsere üblichen Instrumente mit.

Gegend zwei Uhr stiegen wir zum Fenster in den Garten hinaus. Wir wohnten im Hochparterre. Unbemerkt gelangten wir auf die Straße.

Die Oskarsgatan in der Villenvorstadt war leicht zu finden. Das Haus Plemborns lag hinter hohen Buchenhecken verborgen. Wir kletterten über das Gitter der Einfahrt und huschten in einen Seitenweg hinein.

Die Villa, ein weißer, zweistöckiger Bau, hatte vorn eine lange Glasveranda, zu der eine Freitreppe emporführte. Links neben dem Haupteingang waren im Erdgeschoß zwei Fenster erleuchtet.

Wir wagten uns keck in die Veranda hinein und bis dicht an diese beiden Fenster heran.

Die oberen Scheiben standen offen. Die Vorhänge waren dicht geschlossen.

Wir hörten sprechen. Es war jedoch nur selten ein Wort zu verstehen. Aber – daß in diesem Zimmer Freund Dronting mit Lady Jane sich unterhielt, hatten wir trotzdem sehr bald heraus.

Wir kletterten auf den Fenstervorsprung und hatten die Köpfe nun in einer Höhe mit den oberen offenen Scheiben, vernahmen nun alles, was dort drinnen verhandelt wurde.

Und das war folgendes:

Lady Jane: „– eine Kabeldepesche geschickt, daß ich einen tüchtigen Detektiv annehmen soll. Meine Eltern wünschen, daß dieser Unfall aufs genaueste untersucht wird. Baptiste hat daher auch bereits an den Londoner Detektiv Allan Brice depeschiert. Brices Sekretärin telegraphierte zurück, daß Brice sich in Kopenhagen befinde. So wird er denn schon heute vormittag hier eintreffen. – Ich hatte zuerst an Harald Harst gedacht, Master Dronting. Aber Baptiste riet mir ab, obwohl Harst in Skien leicht zu erreichen sei. Er meinte, wir als Engländer sollten einem Engländer den Vorzug geben.“

Dronting: „Hm – in diesem Falle, Mylady, hätte ich den Tüchtigsten gewählt. Und das ist doch wohl der Deutsche Harst. Aber – Harst wird sich auch ohnedies mit der Sache befassen, Mylady. Ich habe es Ihnen bisher verschwiegen: er und sein Intimus Schraut waren mit an Bord der Jacht. Ich mochte dies nicht erwähnen, da durch meine Schuld zwischen Harst und mir eine – sagen wir – eine Entfremdung eingetreten ist. Ich werde ihn jedoch schon wieder versöhnen.“

Lady Jane: „Ah – und wie denkt Harst über – über Edward, meinen Gatten?“

Dronting: „Er hält ihn für schuldig, Mylady. Es tut mir leid, daß ich Ihnen dies sagen muß –“

Lady Jane (aufschluchzend): „Mein Gott – auch Harst! Es – es kann ja nicht sein! Nein – nein, ich kann es nicht glauben! Meine Eifersucht hat mich zuerst dazu verleitet, Edward in gewisser Weise bloßzustellen. Nun hat Ihr Untergebener Lörnberg noch die beiden Schuldscheine in Evelyns Kofferversteck gefunden, und nun wird man –“ (Sie weinte laut und fassungslos).

Dronting: „Mylady, ich gebe zu: die Verdachtsmomente gegen Ihren Gatten sind erdrückend. Er ist Spieler; er hat in letzter Zeit hier im Klub Unsummen verloren. Vielleicht hat er Ihrer Schwester nur deshalb den Hof gemacht, um von ihr leichter Geld zu erhalten.“

Lady Jane: „Nein – nein, das – das wäre zu abscheulich! So schlecht ist Edward nicht. Er ist alles andere nur nicht raffiniert. Nein – Sie tun ihm unrecht.“

Dronting: „Mylady – und die Gedichte?! Sie haben doch Lörnberg erklärt, es sei bestimmt Ihres Gatten Handschrift! – Wo sind die Gedichte? Ich muß sie haben, Mylady! Sie haben sie Lörnberg verweigert. Ich bestehe darauf, daß sie mir ausgehändigt werden.“

Lady Jane: „Niemals! Ich gebe sie nicht heraus! Ich – ich habe sie auch schon verbrannt.“

Dronting: „Verbrannt?! Mylady – weshalb die Ausflüchte! Ich weiche nicht eher vom Platze, bis –“

Lady Jane (hastig): „Nun gut – ich werde sie Ihnen holen. Was liegt schließlich an den Gedichten?!“

Eine Tür klappte. Dann wurde das Nebenzimmer hell.

Harald war schon weitergehuscht – unter jene beiden Fenster. Hier waren die Vorhänge offen, ebenso die unteren Fensterflügel.

Dann – flog eine Papierkugel durch das eine Fenster in die Veranda.

Und gleichzeitig Drontings Baß:

„Mylady – entschuldigen Sie. Ich fürchte, Sie wollen die Gedichte vernichten!“

Er war in das Nebenzimmer eingetreten.

„Sie irren, Master Dronting. Ich hatte die beiden Blätter hier in der Schieblade dieses Schränkchens. Jetzt sind sie verschwunden. Da – überzeugen Sie sich selbst!“

Harald hatte die Papierkugel längst aufgehoben. Wir verließen schleunigst die Veranda und eilten tiefer in den Park hinein.

 

3. Kapitel.

„So etwas nennt man Glück haben!“ flüsterte Harald gut gelaunt. „Wir wissen jetzt, daß Kollege Allan Brice hier erscheinen wird, daß die beiden Schuldurkunden bereits in Händen der Polizei sind, und – wir konnten die beiden Gedichte erwischen! Außerdem noch etwas – etwas sehr Belastendes!“

„Was denn? Und – für wen belastend?“

Harald deutete gen Osten. „Da – es wird Tag!“ sagte er mit besonderer Betonung. „Und – das dort ist der Scheibenstand!“

Er schritt schneller aus. Bald hatten wir die Plankenwand erreicht.

Die Pappscheibe mit den fünf Kugellöchern war noch vorhanden. Plemborn mußte ein tadelloser Schütze sein. Die Kugeln saßen sämtlich eine Handbreit über dem Zentrum in der „Acht“ in einem Umkreis von vielleicht sechs Zentimeter.

„Glänzend!“ meinte Harald. „Die neue Büchse schießt großartig.“

Dann ging er zu einem nahen Strauch und schnitt fünf armlange Ruten ab, entfernte die Blätter, gab mir die Ruten und sagte:

„Ich werde jetzt hinter die Plankenwand treten. Stecke durch jedes der Kugellöcher eine der Ruten.“

Ich tat es. Es ging ganz leicht. Dann folgte ich Harst. Ich sah nun, daß die Planken gerade an dieser Stelle, wo die Ruten herausragten, durch frühere Kugeln völlig zerfetzt waren.

Harald starrte diesen vielfach durchlöcherten Balken mit halb zugekniffenen Augen an. Dann flüsterte er wie geistesabwesend:

„Fünf Schuß in acht Sekunden – also auf etwa ein und ein Viertel Sekunden je ein Schuß! Daß Lörnberg dies nicht beachtet hat!“

Ich hörte atemlos zu.

Nun schwieg er, stellte sich so, daß die fünf herausragenden Ruten seine Brust berührten – die Herzgegend.

Dann drehte er den Kopf nach mir hin.

„Angenommen, Evelyn Ronda stand so, wie ich jetzt stehe, mein Alter. Was ergibt sich dann aus der schnellen Aufeinanderfolge der fünf Schüsse?“

Ich dachte nach. Aber ich konnte nur erwidern: „Ich weiß es nicht!“

„Überlege Dir folgendes: Evelyn hat hier fraglos auf jemand gewartet – auf Edward Plemborn. Ob er sie herbestellt hatte, wollen wir jetzt unerörtert lassen. Jedenfalls: sie wartete hier! Sie kann nicht auf- und abgegangen sein. Dazu ist der Raum hinter der Plankenwand zu klein, und Evelyn wollte doch nicht gesehen werden. Sie wird also sehr wahrscheinlich dort an der Felswand gelehnt haben. Eine Sitzgelegenheit gibt es hier nicht. Dann wird sie die Stimmen Plemborns und Baptistes gehört haben. Daß Plemborn schießen würde, daran dachte sie nicht. Er hatte sie ja herbestellt – er, wie sie glaubte, – nicht persönlich, nicht mündlich zwar, aber doch durch einen Zettel, nehme ich an, einen Zettel, den sie irgendwo fand und der, vermute ich, eine Fälschung war –“

„Ah – eine dritte Person hat Plemborns Handschrift nachgeahmt!“

„Vielleicht. – Also: Evelyn hört Stimmen, verharrt regungslos. Dann – der erste Schuß. Traf er Evelyn?“

Wieder strengte ich mein Hirn an.

Dann erklärte ich:

„Er muß getroffen haben! Sonst hätte Evelyn, wäre sie unverletzt geblieben, aufgeschrien, um weitere Schüsse zu verhüten, um sich zu melden!“

„Ganz recht! Er muß getroffen haben – er traf das Herz! Und – bei Herzschüssen lehrt die Erfahrung, daß der Getroffene sekundenlang regungslos verharrt, falls er sich nicht gerade in Bewegung befunden hat. Evelyn stand still, behaupte ich. So ereilte sie die erste Kugel. Und – es folgte nach 1¼ Sekunden die zweite –“

Jetzt hatte ich begriffen, was Harald beweisen wollte, sagte hastig:

„So dicht wie die Kugeln beieinander sitzen, hätte auch die zweite Kugel Evelyns Brust treffen müssen! Evelyn konnte unmöglich in der kurzen Spanne Zeit schon umgesunken sein –“

„Nein – ausgeschlossen! – Weshalb also wurde sie nur einmal verwundet?“

„Weil – weil es gar nicht Lord Plemborns Büchse war, die den tödlichen Schuß abgefeuert hat!“

„Sehr richtig! Evelyn hätte mindestens zwei Kugeln erhalten, wenn Plemborn der Schütze gewesen wäre! Also –“

„Also – es hat ein dritter Evelyn erschossen!“

„Ja – einer, der mit dem Fälscher des Zettels entweder identisch oder doch dessen Genosse, Mitwisser oder Helfershelfer ist! Einer, der hier in der Nähe verborgen war, der wahrscheinlich gleichzeitig mit Plemborn abdrückte – auf Evelyn, die nicht so stand, daß Plemborns Kugeln sie erreichen konnten, also mehr seitwärts! Und – das sah der Mörder. Deshalb schoß er! All dies hatte ich mir schon im Hotelzimmer in Skien überlegt. Schon damals sagte ich mir: Hier ist ein Mord verübt worden – ein Mord, der als unglücklicher Zufall Plemborn aufgehalst werden sollte!“

„Ah – die beiden Worte auf dem Zettel, den jetzt Dronting hat – im verklebten Umschlag!“

„Zwei Worte,“ nickte Harst. „Sie lauten:

Ein anderer!

Nämlich: ein anderer als Plemborn ist der Mörder!“

Ich schwieg jetzt. Ich war ganz benommen von diesen glänzenden Schlußfolgerungen, die so eindringlich auf einen Unbekannten hinwiesen.

Dann sagte Harald nach kurzer Pause:

„Diesen Mörder werden wir jetzt suchen. Man könnte nun auch folgendermaßen kombinieren: Plemborn hatte bei Evelyn Schulden; er wollte sie beseitigen; er war es, der sie herbestellte; er warb den Mörder. – Was macht diese Theorie hinfällig?“

Ich zuckte nur die Achseln.

„Denke nach, mein Alter! – Was spricht dagegen? – Nun – Plemborns Fahrt nach Skien zu mir. Ein Mensch wie Plemborn ist nicht raffiniert genug – seine Frau betonte das ebenfalls –, etwa seine Schuldlosigkeit dadurch recht dick unterstreichen zu wollen, daß er gerade bei dem Manne Hilfe sucht, der nun mal den Ruf genießt, so ziemlich jedes Bubenstück aufklären zu können. Nein – so raffiniert ist Plemborn nicht! Er kam im Gefühl seiner Schuldlosigkeit zu uns! Und wenn seine Verstörtheit zuweilen den Eindruck des Übertriebenen machte, so muß man ihm zugute halten, daß er neben seinen seelischen Martern noch dauernd von der Furcht gefoltert wurde, die beiden Schuldscheine könnten ihn an den Galgen bringen. – Also – bei der Suche nach dem Mörder können wir Plemborn außer Betracht lassen. – So – jetzt entferne die Ruten, wirf sie in die Sträucher. Ich will mir mal dort die alte Buche ansehen. Aus ihrem Laubdach konnte jemand ganz gut auf Evelyn schräg nach abwärts feuern.“

Ich hatte die Ruten soeben in die Büsche geworfen, als ich – zum Glück! – den Schießstand hinabschaute.

Da – ein helles Kleid schimmerte durch die Büsche.

Eine Frau nahte – Lady Jane!

Im Moment war ich über den seitlichen Erdwall geklettert, rief Harald, der bereits oben in der Buche war, leise zu:

„Die Lady kommt!“

„Vorwärts – her zu mir –!“ – Er half mir. Dann hockten wir beide oben im Blätterdach des alten Baumes.

Lady Jane war nicht allein. Neben ihr ging ein Mann in der Tracht der schwedischen Briefträger, ein dicker Mann mit plumpen Stiefeln und einem fuchsigen Vollbart, einer Säufernase und über dieser Nase zusammengewachsenen, buschigen Augenbrauen.

Die beiden blieben vor der Scheibe stehen. Lady Plemborn war blaß wie der Tod.

„Master Brice,“ sagte sie mit klangloser Stimme, „Sie erhalten 100 Pfund Sterling, wenn Sie beweisen, daß mein Mann Evelyn nicht absichtlich tötete.“

Ah – also der Londoner Kollege, der berühmte Brice!

Seine Maske war glänzend – allerhand Achtung!

Brice stopfte sich schweigend seine kurze Holzpfeife und schaute dabei bald hierhin bald dorthin.

Dann brannte er die Pfeife an, trat hinter die Plankenwand, besichtigte die Hinterseite der durchlöcherten Balken, besichtigte auch die Felswand und kehrte zu Lady Jane zurück, die sich vorn an die Planken gelehnt hatte.

Sie blickte ihm angstvoll ins Gesicht.

Er nahm die Pfeife aus dem Munde, sagte sehr bestimmt:

„Die fünf Schüsse sitzen sämtlich dicht beieinander. Ich bedauere, Mylady, Ihnen erklären zu müssen, daß ich die Polizei kaum davon überzeugen kann, Ihr Gatte hätte Ihre Schwester zufällig getroffen.“

Bei der völligen Windstille konnten wir jedes Wort verstehen.

Ich war enttäuscht – über den Kollegen Brice! Was sollten diese Sätze?! Wo war darin auch nur eine Spur von Logik?! Wie konnte Brice jetzt schon der Lady jede Hoffnung nehmen, wo er doch kaum ein paar Minuten am Tatort weilte?!

Er sprach dann weiter:

„Sie sind ja selbst der Ansicht, Mylady, daß Ihr Gatte hier hinter der Holzwand sich mit Ihrer Schwester treffen wollte, daß Ihr Gatte Miß Evelyn also herbestellt hatte. Vielleicht hat er ihr morgens einen Zettel zugesteckt, der die Bitte enthielt, ihn hier zu erwarten. – Ah – Sie zucken zusammen, Mylady. Haben Sie etwa den Zettel gefunden? – Leugnen Sie nicht! Seien Sie aufrichtig mir gegenüber! Nur dann kann ich retten, was noch zu retten ist!“

Lady Plemborn senkte den Kopf. Was sie flüsterte, verstanden wir nicht. Aber Brice erwiderte:

„Dann geben Sie mir den Zettel! Tun Sie es! Vernichten dürfen wir ihn nicht. Das ist unmöglich. Das könnte alles nur noch verschlimmern!“

Sie nickte verzweifelt. Dann ging sie hinter die Plankenwand, zog den rechten zierlichen Lackschuh aus und hob eine Einlegesohle etwas auf. Unter dieser Sohle hatte sie den Zettel verborgen.

Brice war mit einem seltsamen Lächeln auf demselben Fleck stehen geblieben und rauchte dicke Wolken.

Als die Lady ihm nun den Zettel gab, faltete er ihn auseinander, las die Aufschrift des schmalen Papierstreifens und schob ihn dann in die Tasche.

Jane Plemborn starrte auf die Scheibe.

„Was beweisen die fünf Kugellöcher?“ fragte sie dann zaudernd.

„Sie befinden sich gerade da, Mylady, wo die Holzwand durch frühere Schüsse völlig zersplittert ist. Miß Evelyn konnte also durch die Scheibe, die sie mit einem kleinen Loch versehen hatte, hindurchblicken und den Scheibenstand hinabschauen. Ich nehme an, Ihr Gatte hat gewußt, daß Miß Evelyn auf diese Weise den Schießstand beobachtete. Er feuerte dann sehr rasch die fünf Kugeln nach derselben Stelle – dorthin, wo Ihre Schwester stand.“

„Oh mein Gott!“ schluchzte das arme Weib auf. „Also auch Sie – auch Sie! Jeder traut Edward nur das Allerschlechteste zu! Und – er hat doch nur einen Fehler: seine Spielleidenschaft! – Oh – hätte ich ihm doch diese vierhunderttausend Kronen gegeben!“

Sie weinte, lehnte sich gegen die Planken und drückte die Hände vor das Gesicht.

Kollege Brice schlenderte auf und ab und bückte sich des öfteren, schien ganz in seine Sucharbeit vertieft zu sein.

Dann – plötzlich in der Nähe ein überlauter Knall, – fast wie ein Kanonenschuß.

Lady Jane rief entsetzt:

„Diese Sprengschüsse drüben im Steinbruch – sie bringen mich um!“

Brice fragte gleichmütig:

„So – Sprengschüsse?“

Lady Plemborn hatte sich jetzt der Scheibe zugewandt.

„Ich sehe hier kein Loch, das Evelyn in die Pappe gebohrt haben könnte,“ meinte sie lebhaft. Sie hoffte, Brices Annahme durch das fehlende Guckloch widerlegen zu können.

„Das glaube ich,“ sagte er kurz. „Eine der Kugeln wird es zum Kugelloch vergrößert haben.“

„Idiot!“ flüsterte Harald mir ins Ohr.

Lady Jane ließ wieder mutlos den Kopf sinken.

Brice trat vor sie hin. „Mylady, Sie erwähnten vorhin Harald Harst. Ich würde sehr gern seine Ansicht über diesen Fall erfahren. Falls er zu Ihnen kommt, rufen Sie mich doch telephonisch herbei. Ich bin im Pensionat Merten als Ingenieur Triborg abgestiegen.“

Und wieder flüsterte Harald:

„Schau’ an – auch bei der Merten!“

„Gut, Master Brice, ich werde Sie benachrichtigen,“ erwiderte Lady Jane.

Dann schritten sie langsam den Scheibenstand hinab.

„Fort von hier – rasch!“ befahl Harst, als sie kaum außer Sicht waren. „An der Parkmauer entlang auf die Straße! Ich möchte Brice heimlich folgen.“

Wir erreichten die Straße denn auch vor Brice, faßten uns unter und spielten die leicht angetrunkenen Seeleute mit jener Echtheit, die einige Übung in diesen Dingen verlangt. Brice kam dann hinter uns her, überholte uns und ging dem Hafenviertel zu.

„Er muß noch ein zweites Quartier haben,“ sagte Harald, als wir durch das bereits recht belebte Viertel schlenderten.

Brice hatte sich nicht ein einziges Mal umgeschaut.

Jetzt blieb er stehen, steckte sich wieder seine Pfeife an und betrat ein Haus.

Als wir dasselbe Haus von der anderen Straßenseite besichtigten, sahen wir, daß es zwei Eingänge hatte. Durch die Toreinfahrt schaute man auf einen langen Hof, wo leere Möbelwagen, Frachtwagen und Haufen von Kisten standen. Dieser Hof zog sich bis zur anderen Straße hin.

„Aha – Brice ist doch vorsichtig!“ meinte Harald. „Er ist über den Hof in die Parallelstraße eingebogen. Wir werden ihn kaum noch erwischen.“

Auf dem Hofe arbeiteten zwei Männer. Als wir sie nach einem Briefträger fragten, der soeben den Hof überquert haben müsse, verneinten sie. – „Hier ist niemand vorbeigekommen,“ erklärte der eine dann nochmals.

„Hm – dann steckt er doch vorn im Hause!“ sagte Harald. „Also kehrt!“

Und – als wir nun den Hausflur betraten, als wir hier im Halbdunkel standen und erst einmal horchten, da stürmten plötzlich drei – vier Männer auf uns ein, packten uns, und ein fünfter, der ebenfalls von der Straße herbei kam, rief uns zu:

„Im Namen des Gesetzes – Sie sind verhaftet! Hier meine Legitimation. Ich bin der Kriminalwachtmeister Lörnberg –“

„Freut mich, Sie kennen zu lernen,“ sagte Harald höflich.

Dann fuhr er herum. Es hatte ihm jemand von hinten in die Beinkleidtasche gegriffen.

Und dieser Jemand war Brice – der triumphierend grinsende Brice!

„Herr Lörnberg – hier ist die Papierkugel!“ erklärte er. „Sehen Sie, der alte Brice hat mal wieder gezeigt, daß er doch nicht so ganz auf den Kopf gefallen ist!“

Die Papierkugel aber waren die beiden Gedichte, die Lady Plemborn auf die Veranda geworfen hatte.

Brice steckte sie schnell in seine eigene Tasche, noch bevor Harald sich losgerissen hatte und zugreifen konnte.

„Oho – keinen Widerstand!“ drohte Lörnberg, der als Arbeiter verkleidet war. Im Nu hatte er einen Revolver gezogen.

Harst lachte ärgerlich auf.

„Hier scheint eine kleine Verwechslung vorzuliegen,“ meinte er scharfen Tones. „Herr Lörnberg, ich bin Harald Harst! Und Sie, Herr Brice, werden mir gefälligst das zurückgeben, was Sie da soeben stahlen!“

Lörnberg blickte Brice unsicher an.

„Frechheit, sich für Harst auszugeben!“ meinte der englische Kollege. „Bringen Sie die Kerle zur Wache, Herr Lörnberg. Ich eile voraus –“

Er wollte den Hausflur verlassen. In demselben Moment erschien in der Tür Inspektor Drontings massige Gestalt. Brice wollte sich an ihm vorbeidrängen.

Harst rief jedoch:

„Dronting, Sie erkennen meine Stimme! Master Brice mag bleiben! Der Gang zur Wache ist überflüssig!“

Der Inspektor erwiderte prompt – halb enttäuscht, halb belustigt:

„Ob ich Sie erkenne, Harst! Das ist ja ein feiner Fang, Herr Brice! – Lörnberg, verschwinden Sie mit Ihren Leuten. Draußen sammeln sich schon Neugierige an.“

Er gab uns die Hand. „Lieber Harst!“ sagte er schnell, „nicht wahr, es ist alles vergeben und vergessen?“

„Gewiß, Dronting, gewiß!“ Harald war merkwürdig zerstreut.

Auch Brice begrüßte uns nun und meinte:

„Verdammt, da habe ich mich ja fein blamiert. Ich sah Sie beide über das Gitter der Villa Plemborn klettern und schlich Ihnen nach, sah auch, wie Sie, Herr Harst, die Papierkugel aufhoben. Da habe ich denn die Polizei geholt und die Straße bewachen lassen. Wo waren Sie beide aber nachher?“

„In der Buche neben dem Scheibenwall,“ sagte Harald so geistesabwesend, als ob seine Gedanken weit weg waren.

Brice stutzte. „In der Buche?“

„Gehen wir!“ drängte der Inspektor.

„Ja – Brice mag mit Schraut den Vortrab bilden,“ meinte Harald plötzlich lebhafter. „Vorwärts! Auf der nächsten Polizeiwache haben wir wohl Gelegenheit, ungestört miteinander zu reden!“ –

Brice und ich sprachen wenig. Der englische Kollege schien verstimmt zu sein. Das war ihm nicht zu verargen.

„Wen glaubten Sie eigentlich in den beiden Matrosen vor sich zu haben?“ fragte ich ihn nach einer Weile.

„Nun – Leute, die der flüchtige Lord angeworben hatte, um durch sie feststellen zu lassen, wie die Dinge in seiner Villa liegen,“ erklärte er kurz.

Dieser Brice war jetzt auch merkwürdig nervös. Alles, was auf der Straße geschah, beobachtete er mit jener zerstreuten Aufmerksamkeit, die nur sekundenlang einem Vorgang gilt und sofort wieder weitergleitet. Außerdem hatte er dauernd an seiner Kleidung zu korrigieren. Bald zog er den Rock glatt, bald nestelte er am Kragen herum, bald steckte er die eine, bald die andere Hand in die Beinkleidtaschen oder in die Außentaschen des Rockes, als ob er fühlte, ob das Taschenfutter auch noch ganz sei.

Hierbei passierte es ihm, daß er die Papierkugel, die beiden Gedichte mit herauszog. Sie rollte in einen Kehrichthaufen. Ich wollte mich danach bücken, als hinter mir Harst sich räusperte und dann auf irgend etwas, das Dronting ihn gefragt hatte, mit einem scharfen „Nein!“ antwortete.

Aber – das Räuspern und dieses „Nein!“ gehörten fraglos zusammen. Ersteres war für mich das Signal „Achtung!“ gewesen, und das „Nein!“ hieß: „Laß die Papierkugel liegen!“

So tat ich denn, als hätte ich gar nicht bemerkt, wie sie Brice aus der Tasche fiel. Ich konnte dies umso leichter, als auch Kollege Brice nichts von dem Verlust ahnte und mit einem Male fragte:

„So haben Sie beide also von der Buche aus mein Gespräch mit Lady Jane mit angehört?“

„Freilich. Das haben wir –“

„Und was sagt Harst zu meiner Theorie, daß Evelyn durch ein Loch in der Scheibe spähte und –“

Zum Glück rief Dronting da: „Bitte rechts abbiegen! Wir sind sofort da!“

Auf diese Weise kam ich um eine Antwort herum, denn auch Harald sprach mich jetzt an und meinte, ich solle ihm doch aus dem nächsten Zigarrenladen ein Päckchen Zigaretten holen. – „Da – hier hast Du meine Brieftasche,“ fügte er noch hinzu. „Wechsele bitte den Hundertkronenschein.“

Schon im dritten Hause befand sich ein Zigarrenladen. Ich entschuldigte mich bei Brice und trat ein. Hier im Hafenviertel waren einzelne Geschäfte bereits offen.

Daß „das Päckchen Zigaretten“ nur ein Vorwand für etwas anderes war, hatte ich sofort erkannt. Ich würde eben in Harsts Brieftasche wahrscheinlich etwas finden, das nur ich allein sehen und vielleicht lesen sollte.

Meine Vermutung traf zu. Während der Verkäufer mir Zigarettenpäckchen zur Auswahl vorlegte, öffnete ich die Brieftasche. Da lag eine Hotelrechnung, und auf die Rückseite hatte Harst gekritzelt:

„Frau mit rosa Schleier – Achtung! Aufpassen, ob vor Polizeiwache lauert!“

Ich bezahlte die Zigaretten und verließ den Laden. Ich hatte mir absichtlich bei der Auswahl Zeit gelassen.

Die Polizeiwache war schon von weitem durch das Schild und die Aufschrift an der Straßenlaterne kenntlich.

Harst, Dronting und Brice hatten das Haus bereits betreten. Ich schlenderte gemächlich darauf zu, öffnete das Zigarettenpäckchen und zündete mir eine Zigarette an, blieb dabei stehen und verbrauchte fünf Zündhölzer.

Ja – da kam eine schlanke Dame in dunklem Seidenmantel, mit schickem Filzhut und dichtem rosa Schleier auf der anderen Seite entlang, machte nun vor einem Buchladen halt und schaute sich ein paar im Fenster hängende Bilder an.

„Harmlose Seele!“ dachte ich. „Max Schraut merkt den Braten! Du bist die Richtige!“

Gleich darauf war ich im Zimmer des Vorstandes der Hafenwache.

Harst, Brice und der Inspektor hatten schon Platz genommen. Und Dronting sagte soeben:

„Dann geben Sie mal die beiden Gedichte und den Zettel her, durch den Plemborn Miß Evelyn nach dem Kugelfang bestellte –“

Brice erhob sich und durchsuchte seine Taschen.

„Verdammt – ich scheine die Wische verloren zu haben!“ murmelte er. Er wurde immer nervöser.

Harald blickte mich an und legte[3] unauffällig den Zeigefinger auf die Lippen.

Brice suchte weiter, fluchte weiter.

Auch Dronting begann ungemütlich zu werden.

„Brice, Sie hätten vorsichtiger mit den Wischen umgehen sollen!“ murrte er. „So wichtiges Material verwahrt man besser. Wenn Sie als Privatdetektiv für Lady Plemborn tätig sind, dann macht es einen etwas eigenartigen Eindruck, daß gerade aus Ihren Taschen dieses Belastungsmaterial verschwindet.“

Dieser Vorwurf brachte dem Kollegen Brice völlig aus dem Häuschen.

Blaurot vor Wut fauchte er Dronting an:

„Herr – das ist eine Beleidigung! Vergessen Sie nicht, daß mich in erster Linie Lady Janes Eltern beauftragt haben, den Fall nachzuprüfen! Und Master Ronda in Neuyork liebt den Lord wahrhaftig nicht! Nehmen Sie diese Beleidigung zurück! Ich gebe zu, ich bin überarbeitet, bin nervös, habe die Angewohnheit, in meinen Taschen mit den Händen zu kramen. Da mag ich die Wische mit herausgezogen und verloren haben.“

„Ja,“ meldete ich mich jetzt, „Brice hat allerdings die Hände viel in den Taschen gehabt.“

„Ich werde die Zettel suchen!“ rief der Kollege und griff nach seiner Mütze. „Sie werden noch auf der Straße liegen!“

„Das dürfte nicht der Fall sein,“ erklärte Harst. „Hinter uns kamen fünf Straßenreiniger her. Im übrigen ist der Verlust doch auch nicht so schlimm. Lord Plemborns Flucht besagt genug. Kein Mensch wird mehr an seine Schuldlosigkeit glauben. Ich jedenfalls nicht!“

 

4. Kapitel.

Brice riß die Mütze wieder vom Kopf.

„Ah – Sie halten ihn für schuldig, Herr Harst?“ fragte er gespannt.

„Natürlich. – Sie nicht?!“

„Gewiß, gewiß!“ Brice setzte sich, und Dronting bat ihn nun wirklich um Verzeihung. Der Frieden war wieder zusammengeleimt.

Harst gähnte mehrmals und meinte: „Könnten wir die Besprechung nicht bis zum Nachmittag verschieben? Ich bin hundemüde.“

Auch Brice war einverstanden. „Mir fehlen gleichfalls einige Stunden Schlaf,“ erklärte er. „Inspektor, um sechs Uhr sind wir wieder hier, wenn es Ihnen recht ist!“

Dronting sah sich überstimmt und meinte: „Gut – um fünf also! Auf Wiedersehen!“

Brice und wir beide traten auf die Straße. Die Dame mit dem rosa Schleier stand noch vor demselben Schaufenster.

Der Londoner Kollege verabschiedete sich. „Wir können nicht zusammen im Pensionat Merten erscheinen,“ sagte er. „Ich muß mich auch erst umziehen und den Briefträger in den Ingenieur Triborg verwandeln –“

Er wandte sich nach links, wir nach rechts. Als wir eine Strecke gegangen waren, blickte sich Harst blitzschnell um und sagte dann: „Die Rosa folgt Brice! Nun wird die Sache sehr bald ganz klar sein!“

Er faßte mich unter und fügte hinzu: „Ich weiß, daß Du jetzt mit Fragen über mich herfallen willst! Warten damit, bis wir die drei Zettel, die Gedichte und die Rendezvous-Bestellung, photographisch vergrößert haben, was sofort in unserem Schlafzimmer geschehen soll.“ –

Frau Merten, eine Deutschschwedin, kannte uns schon von früher und wunderte sich durchaus nicht, daß wir als Matrosen heimkehrten. Auf ihre Verschwiegenheit konnte man Häuser bauen. Sie brachte uns dann große Decken. Wir verhängten die Fenster des Schlafzimmers und packten unseren photographischen Apparat aus, schraubten die andere Linse und den Ansatzteil an und konnten ihn nun als Vergrößerungskamera benutzen.

Inzwischen hatte ich mit Hilfe eines angewärmten Bügeleisens die drei zerknitterten Zettel geglättet.

Die drei Zettel –! Denn Brice hatte auch „die Rendezvous-Bestellung“ – „verloren“, und Harst hatte auch diesen Papierstreifen, der zum Kügelchen zusammengeknittert war, aufgehoben, ohne daß Dronting merkte, daß Harst zweimal absichtlich sein Taschenmesser fallen ließ. Derartige kleine „Scherze“ gehörten mit zu unserer Kunst. – Als Harald mir dies erzählte – er nagelte gerade die letzte Wolldecke an – schmunzelte er und sagte noch: „Der gute Dronting wird sich wundern, welche Lösung der Fall Plemborn findet! Und – Du wirst Dich sofort noch mehr wundern, mein Alter!“ –

Auf dem Papierstreifen (er war 15 Zentimeter lang und 4 Zentimeter breit) standen nur folgende Sätze:

„Erwarte Dich 11 Uhr an der bekannten Stelle. Sei pünktlich. Ich sehne mich nach Dir unsäglich.“

Die Handschrift war genau wie die der beiden Gedichte (sie hatten je zwei Verse zu sechs Zeilen) unzweifelhaft die Lord Plemborns. Eine Fälschung der sehr charakteristischen, oft kaum lesbaren Buchstaben wäre Lady Janes von Eifersucht geschärften Augen kaum entgangen.

Dies betonte Harald, als er nun das erste Gedicht, das heißt den etwa viereckigen, nur auf einer Seite beschriebenen Zettel photographierte.

Aber – er photographierte seltsamerweise die leere Rückseite, tat dann genau dasselbe mit dem zweiten Gedicht und dem Papierstreifen.

Wir entwickelten die Platten sofort, legten sie nachher in reinen Alkohol und stellten sie in die Sonne, wo sie sofort trockneten. Auf den drei Platten 18 mal 24 waren bereits schwache Schriftzüge zu erkennen. Die sofort hergestellten Kopien bewiesen dann, daß die drei Zettel auch auf der jetzt scheinbar leeren Rückseite durch Plemborns Hand beschrieben worden waren. Diese Schrift war nachher durch chemische Mittel entfernt worden.

Das, was wir so aus den Kopien lesen konnten, deutete darauf hin, daß die Gedichte und der Streifen Papier aus Briefen herausgeschnitten waren, und zwar aus Briefen, die an eine „Agna“ gerichtet und in den Ausdrücken sehr zärtlich waren. –

Ich hatte bisher keine Frage gestellt. Jetzt aber bat ich Harald, mir zu erklären, was diese Entdeckung bedeute.

„Nun – sie ist der Beweis, daß es sich hier um – die Rache eines Weibes handelt, die zu Plemborn einst in nahen Beziehungen stand. Das Weib ist – jene „Rosa“, die uns morgens verfolgte. Als ich sie gewahrte, als ich auf sie aufmerksam wurde, als Brice die „Wische“ wegwarf, damit wir sie nicht näher untersuchen könnten, als er mir vorher die Papierkugel so frech aus der Tasche zog – oh, ich könnte diese Verdachtsmomente noch verdreifachen! –, da sah ich endlich klar.“

„Brice steckt also mit dem Weibe unter einer Decke?“

„Nein! Nicht Brice!“ – Harald lächelte. „Brice ist nämlich gar nicht in Göteborg.“

„Es spielt hier nur jemand Brice?“

„Ganz recht. Doktor Ottmar Orstra spielt Brice. Und er spielt ihn vorzüglich – bis auf kleine Fehler!“

„Himmel – der Gedanke wäre mir nie gekommen!“

„Mir kam er auch erst in dem Augenblick, als Brice mir die Papierkugel wegnahm und dann schleunigst den Hausflur verlassen wollte. – Läute jetzt mal nach dem Stubenmädchen. Sie soll uns Frau Merten heraufschicken, und diese soll uns den Lord herbeirufen.“ –

Zehn Minuten drauf schlüpfte Plemborn in unser Zimmer.

„Mylord,“ fragte Harald sofort, „Sie kannten doch früher mal eine gewisse Agna?“

Plemborn wurde rot. „Ja, Herr Harst. – Wie haben Sie das erfahren?“

Harald zeigte ihm erst die Kopien der drei Platten und dann die drei Zettel.

„Haben Sie dies mal jener Agna geschrieben, ihr diese Gedichte gewidmet? Haben Sie diese Agna einst zu einem Rendezvous durch diese Zeilen bestellt?“

„Ja – das stimmt!“ – Plemborn war so verblüfft, daß er kaum sprechen konnte.

„Wie heißt diese Agna mit Vatersnamen? Wie endeten Ihre Beziehungen zu ihr?“

Plemborn fuhr sich über die Stirn. „Ich muß erst meine Gedanken sammeln,“ sagte er leise. „Also der Vatersname! Oh – den kennen Sie, Herr Harst. Es ist ein Name, der vor acht Tagen in allen schwedischen Zeitungen zu finden war: Orstra! – Sie war ein hochgebildetes Mädchen. Sie leistete als Malerin Hervorragendes. – Also Agna Orstra! – Diese Agna, die Schwester jenes gefährlichen Verbrechers, war vor meiner Verlobung mit Jane drei Jahre meine Geliebte. Als ich mich von ihr lossagte, schwor sie mir Rache. Sie hat mich bis zum Wahnsinn geliebt. Ihre Leidenschaftlichkeit war mir längst zuwider. – Ich hörte nichts mehr von ihr – nichts!“

„Sie irren, Mylord! Sie hat nur gewartet, bis sich ihr die günstige Gelegenheit bot, Sie zu vernichten. Diese Gedichte wurden Ihrer Gattin in die Hände gespielt; dieser Streifen Papier sollte den Anschein erwecken, Sie hätten dadurch Miß Evelyn hinter die Balkenwand bestellt. – Mylord, besinnen Sie sich genau: ging nicht in dem Steinbruch hinter Ihrem Park ein Sprengschuß los, bevor Sie die fünf Schüsse abgaben?“

„Oh – es waren sogar drei Sprengschüsse, kurz bevor ich abdrückte.“

„Dann haben diese Detonationen den Knall der Waffe des Mörders übertönt. Der Mörder war in der Buche rechts neben dem Scheibenwall verborgen.“

Plemborn griff sich an die Stirn. „Das – das ist doch unmöglich!“ stammelte er.

„Wie lange steht Baptiste, Ihr Diener, in Ihrem Dienst?“ fragte Harald jetzt.

„Seit – ja – seit zwölf Tagen –“

„Baptiste gehört mit zu den Verbrechern, Mylord. Nur er kann die präparierten Gedichte, die aus den Briefen an Agna Orstra stammen, ins Haus geschmuggelt haben; nur er hat Miß Evelyn den Papierstreifen kurz vor dem Morde finden lassen, damit Ihre Schwägerin dorthin eilte, wo Sie beiden wahrscheinlich schon einige Male sich getroffen hatten. Und er telegraphierte an Brice – angeblich!“

„Und – und der Mörder?“ forschte Plemborn entgeistert.

„Entweder Ottmar Orstra oder einer seiner Helfershelfer!“

In demselben Moment klopfte es.

Der Lord eilte rasch in unser Schlafzimmer.

 

5. Kapitel.

Ich entfernte das über dem Schlüsselloch hängende Taschentuch, fragte dann, wer draußen sei.

Frau Merten meldete sich. Ich öffnete und ließ sie ein.

„Dieser Brief ist soeben für Herrn Harst abgegeben worden,“ sagte die würdige Dame. „Der Dienstmann, der ihn brachte, erklärte, die Mitteilung sei sehr eilig; ein Herr Brice hätte ihm den Brief zu besorgen beauftragt.“

Harald nahm das Schreiben, dankte Frau Merten und schnitt den Umschlag auf, nachdem die Pensionsinhaberin sich entfernt hatte.

Ein Zettel lag in dem Umschlag.

„Verehrter Kollege! Ich habe Plemborns Versteck ermittelt. Kommen Sie sofort nach dem Häuschen des Steuermanns Sönnquist, Blygarden 16. Aber verkleidet. Ich erwarte Sie beide vor dem Häuschen. – Sehr in Eile.

Brice.“

Ich hatte mitgelesen.

Und Harald pfiff jetzt durch die Zähne.

„Aha! Man merkt die Absicht, Ottmar Orstra, aber – man wird nicht verstimmt. Jetzt soll es uns beiden an den Kragen gehen! Jetzt will Orstra sich an uns rächen. Wir werden den Spieß umkehren. Die Falle, die er für uns im Hause des alten Sönnquist hergerichtet hat, wird ihn fangen!“

Er schritt an den Schreibtisch, zum Telephon, ließ sich mit der Polizeidirektion verbinden.

Inzwischen hatte ich Plemborn gerufen. Der Lord bat mich leise, ihn doch mitzunehmen.

Ich deutete auf Harst. „Der muß darüber entscheiden –“

Harst sprach mit einem Beamten.

Wir merkten, daß Inspektor Dronting in der Polizeidirektion nicht zu finden war. Auch Wachtmeister Lörnberg war nicht aufzutreiben.

Harst bat einen anderen Kriminalinspektor, das Häuschen Sönnquists[4] sofort ganz unauffällig umstellen zu lassen. Der Beamte versprach dies. – Es war jetzt neun Uhr vormittags geworden. Harst und ich begannen uns anders zu kostümieren. Plemborn schaute zu. Harald hatte ihm bereits zugesagt, daß wir ihn mitnehmen würden.

Gegen halb zehn brachen wir auf. Wir verließen das Pensionat einzeln durch den Seitenausgang. In Abständen von fünfzig Meter schritten wir dem nördlichen Stadtteil zu, wo viele Gärtnereien und Einfamilienhäuser mit Obstgärten liegen.

Ein solches Anwesen besaß auch Steuermann Sönnquist. Vor dem Gartenzaun waren vier Arbeiter damit beschäftigt, das Pflaster aufzureißen. Sie hatten jedoch offenbar erst soeben damit begonnen. Gerade jetzt fuhr vor der Zaunpforte ein Handwagen vor, den zwei andere Leute schoben.

Harst trat an sie heran. Auch wir näherten uns; Plemborn etwas hastig.

Die Entscheidung nahte. Die beiden Leute des Handwagens waren verkleidet wie wir – nur die falschen Bärte waren weniger geschickt vorgeklebt.

„Harst?“ flüsterte der eine.

„Ja – Harst! – Sind Sie es, Brice?“

Der Mann nickte. „Allerdings! – Wer ist der dritte da?“

„Ein Kriminalbeamter –“

„Gut. Dann vorwärts! Plemborn ist bestimmt bei Sönnquist verborgen.“

Brice schulterte eine Kiste auf, die auf dem Handwagen gelegen hatte. „Ich gehe voran. Ich habe einen Nachschlüssel zur Vordertür.“

Es war Brice. Das unterlag keinem Zweifel. Oder besser: es war Ottmar Orstra!

Sein Begleiter nahm die zweite Kiste und folgte uns.

So durchschritten wir den Garten, bogen um eine hohe Hecke.

Brice-Orstra war schon in der Tür verschwunden. Seine Kiste stand auf der Schwelle.

Harst war plötzlich herumgefahren.

Der andere Mann hatte seine Kiste jetzt gleichfalls niedergesetzt, jagte an uns vorbei und um das Haus herum.

Harald sprang zu, beugte sich über die Kiste.

„Ein Uhrwerk – ich höre es ticken!“ rief er.

Im Nu hatte er die Kiste gepackt, trug sie nach rechts hin, warf sie in eine große, ausgemauerte Müllgrube, stürmte zur Türschwelle, nahm die andere Kiste, rannte wieder zur Müllgrube.

Harald war schon bei uns. Auf seiner Stirn standen dicke Schweißtropfen; seine Wangen hatten weiße Flecken vor Erregung.

„Ein Satan ist’s!“ keuchte er. „Nun hinterdrein!“

Wir liefen in das Haus, durch den Flur. Die Hintertür war offen.

Wir liefen geradeaus, zwischen Tomatenbeeten entlang.

Dann sechs – acht Leute. Rohe Fäuste.

„Lassen Sie mich los, zum Teufel!“ brüllte Harst. „Orstra entflieht! Lassen Sie mich los!“

Ein wildes Hin und Her von Fragen und Antworten. Bis Harst sich den falschen Bart abriß.

„Da – ich bin Harst! Nun ist Orstra natürlich entwischt – und der andere auch!“

Der eine der acht Beamten war Inspektor Barg, mit dem Harst vorhin telefoniert hatte.

„Wir ließen die beiden durch, denn der eine rief uns zu: „Hier Harst! Die Richtigen kommen hinter uns her!“ – Ich habe mich täuschen lassen. Aber – wie sollte ich die Wahrheit ahnen?!“

Barg schickte seine Leute hinter Orstra und dem anderen drein. Wir kehrten um, betraten wieder das Häuschen.

Und – fanden in einer der Vorderstuben Dronting und Lörnberg gefesselt und geknebelt auf Stühlen sitzen, fanden in der Küche im gleichen Zustand Sönnquist und seine Schwester.

Wir banden sie los. Dronting schäumte vor Wut.

„Der Schuft, der falsche Brice, hat uns hierher gelockt, Lörnberg und mich. Wir würden hier den Lord finden, versprach er mir telephonisch –“

„Lord Plemborn ist auch hier, lieber Dronting,“ sagte Harald. „Bitte – das ist er!“

„Mir gleichgültig!“ fauchte Dronting. „Ich weiß jetzt, daß er unschuldig ist. Brice, oder richtiger Orstra, seine Schwester und Baptiste empfingen uns hier. Wir mußten uns fesseln lassen. Ah – diese Blamage – diese Blamage! Und dieser Orstra hat mir dann höhnisch sein feines Plänchen mitgeteilt! – Himmel – die Kisten! Stehen draußen zwei Kisten? Er wollte Sie und uns in die Luft sprengen. – Höllenmaschinen –!“

„Die liegen in der Müllgrube. Der Mechanismus hat den Aufprall nicht vertragen. Sie werden kaum mehr explodieren,“ erklärte Harald. „Dronting, hat Orstra den Mord an Evelyn zugegeben?“

„Ja – kaltlächelnd! Er hat aus der Buche den Schuß abgefeuert – gleichzeitig mit den Sprengschüssen. Er wußte, daß immer drei Sprengschüsse hintereinander im Steinbruch abgegeben wurden –“

„Wie hat er bemerkt, daß ich ihn durchschaut hatte?“

„Weil Sie die Papierkugeln aufhoben. Seine Schwester durchschaute den Trick, als Sie das Taschenmesser –“

„Schon gut. – Also war das Ganze ein Racheakt gegen Plemborn – die Rache eines verlassenen Weibes, und gleichzeitig war’s ein Versuch, Schraut und mich zu beseitigen!“

„Das war’s. Und – Orstra hoffte bestimmt auf ein Gelingen dieses Anschlags. Sie können sich vorstellen, Harst, wie Lörnberg und mir hier zu Mute war!“

„Oh – das kann ich sehr wohl! Mir war ähnlich zu Mute, als ich die Kisten in die Müllgrube warf!“ –

Die Beamten, die Orstra und Baptiste hatten verfolgen sollen, kehrten zurück und meldeten, daß in der nächsten Querstraße ein von einer Dame gesteuertes Auto die Flüchtlinge aufgenommen hätte.

„Dann können wir heimgehen,“ meinte Harald. „Orstra wird anderswo zu finden sein. – Mylord, empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin und – spielen Sie nie mehr!“

„Mein Ehrenwort – nie mehr!“ Und Plemborn drückte Harald fest die Hand.

 

 

Die Schreckensnacht im Hotel Dahlen

 

1. Kapitel.

Die Leiche Evelyn Rondas war in einem Zinksarg nach Neuyork geschickt worden. Lord und Lady Plemborn waren ebenfalls zwei Tage nach Orstras Flucht nach Amerika abgereist, um Evelyns Beerdigung beizuwohnen.

Plemborn hatte uns seine Jacht Miramare zur Verfügung gestellt. Wir hatten mit Dank angenommen und waren schon auf die Jacht übergesiedelt, als wir jenen Brief erhielten, der Harst von Skien aus nachgesandt worden war. –

Der Brief Master Albert Gloux’ liegt jetzt neben mir.

Er ist zu weitschweifig, um ihn hier Wort für Wort wiedergeben zu können. Ich bringe ihn daher wesentlich gekürzt.

Dahlen[5], den 15. August 19…

Hotel Dahlen, Zimmer 35.

Norwegen.

Sehr geehrter Herr!

Sie gestatten, daß ich Ihnen eine Angelegenheit vortrage, die selbst auf mich, den nüchternen, jeder Romantik und allem Abenteuerlichen abgeneigten Kaufmann, einen starken Eindruck gemacht hat.

Ich bin Engländer und habe in London ein Getreidegeschäft, bin Junggeselle und verbringe seit zehn Jahren als leidenschaftlicher Angler in jedem Sommer sechs Wochen hier in Dahlen, wo die zahlreichen Bergbäche mit ihren Forellen mir die Ausübung der Forellenangelei gestatten.

Vor vierzehn Tagen etwa stieg nun hier im Hotel Dahlen eine junge Dame ab, deren eigenartige Schönheit wohl auf jeden gewirkt hätte. Sie wurde meine Tischnachbarin, diese Miß Beßport. Sie war Deutschamerikanerin und Malerin.

Außerdem wohnte hier zur selben Zeit eine Frau Nora Flamborg aus Kopenhagen. Sie war kränklich, sollte Bergluft und frische Kuhmilch genießen und faulenzen.

Diese Frau Flamborg hatte eine Gesellschafterin mit, eine geborene Hamburgerin, ein bescheidenes, hübsches Mädchen. Sie hieß Alice Darhagen. –

Am 10. August morgens acht Uhr gab es hier im Hotel einen wilden Tumult. Frau Nora Flamborg kreischte derart in ihrem Schlafzimmer, daß das ganze Hotel zusammenlief.

Frau Flamborg waren nachts aus dem verschlossenen Zimmer sämtliche Juwelen gestohlen worden, Wert 400 000 Kronen.

Ein zufällig im Hotel anwesender Polizeibeamter aus Christiania, ein Herr Lövgaart, spielte nun den superschlauen Detektiv und untersuchte die Sache, stellte fest, daß der Dieb eine Scheibe eingedrückt hatte und in das Schlafzimmer durch das Fenster eingestiegen war. Das Hotel hat nur ein Stockwerk und ist ein langgestreckter Holzbau. Nr. 24, das Schlafzimmer der Flamborg, lag im ersten Stock nach dem Garten hinaus.

Inzwischen war auch offenbar geworden, daß Alice Darhagen, die Gesellschafterin, das Hotel vor Tagesanbruch heimlich verlassen hatte. Man suchte nach ihr, fand sie aber nicht.

Wer Dahlen, dieses abgelegene Dorf in Telemarken, kennt, weiß, daß man es nur auf zwei Wegen verlassen kann. Entweder über die Bergstraße nach Norden zu, nach Odda am Hardangerfjord, oder nach Süden über die Bergseen nach Skien. Die anderen armseligen Straßen führen mitten ins Gebirge.

Alice Darhagen konnte, falls sie die Diebin gewesen, was die Flamborg und auch Herr Lövgaart als gewiß ansahen, nur einen der beiden Wege zur Flucht benutzt haben. Doch: dies schien wieder ausgeschlossen, da nach Süden kein Dampfer und nach Norden kein Personenauto abgegangen war. Und zu Fuß war eine Flucht unmöglich.

Herr Lövgaart ließ die ganze Umgegend absuchen, ließ in jedem Bauerngehöft nachfragen. Das Mädchen und die Juwelen blieben verschwunden.

Drei Tage später – mittlerweile war ein „echter“ Detektiv aus Christiania eingetroffen, ein Herr Asbörn Prang, der erst recht nichts ausrichtete – wanderte ich frühmorgens wieder in die Berge, um zu angeln. Nach einstündigem Marsch erreichte ich ein enges Tal und stellte mich zwischen zwei Felsen mitten in den Bach auf einen großen Stein. Mit einem Male erblickte ich die Malerin Miß Beßport, die dasselbe Tal am rechten Bachufer hochkam. Sie schritt sehr rüstig aus, schaute sich aber immer wieder um und ließ mich daher vermuten, daß sie nicht gern beobachtet werden wollte.

Sie trug auf dem Rücken in einer Art Gestell ihren Malkasten und zwei bespannte Leinwandrahmen, in der Linken die zusammengeklappte Staffelei und in der Rechten einen Bergstock.

Nachdem sie eine steile Wand erklommen hatte, befand sie sich auf einer mit Büschen bestandenen, schmalen Felsterrasse. Hier machte sie halt, zog ihr Fernglas aus dem Futteral und musterte jeden Baum, jeden Strauch des Tales. Dann geschah etwas noch Merkwürdigeres: sie verschwand hinter einem Strauche und blieb dort stehen – vielleicht eine Viertelstunde – völlig regungslos. Nur ihr Fernglas führte sie hin und wieder an die Augen.

All das war seltsam und unerklärlich. Sie werden das zugeben müssen, Herr Harst.

Und dann – vielleicht das noch Seltsamere: ich konnte von meinem Versteck hinter den Felsen im Bache durch eine schmale Lücke in den Sträuchern beobachten, wie Miß Beßport nun aus den beiden Holzrahmen die Leinwand (nachher sah ich, daß es fertige Bilder waren) herausschnitt und mit den beiden Leinwandstücken der Rückwand der Terrasse tief gebückt zueilte, wo sie dann durch Buschwerk meinen Blicken entzogen wurde.

Nach einer halben Stunde tauchte sie ohne die Leinwandstücke (Bilder) wieder auf. Dann machte sie sich auf den Rückweg.

Es war jetzt elf Uhr vormittags. Ich wartete bis zwölf Uhr. Dann tat ich etwas, das so gar nicht meiner nüchternen Veranlagung entspricht.

Sie werden bereits ahnen, was ich tat, Herr Harst: ich erkletterte dieselbe Terrasse, suchte die Spuren Miß Beßports (niedergetretene Halme) und pfuschte Ihnen sozusagen ins Handwerk. (Hier beschreibt Mr. Albert Gloux sehr genau, wie er in der Rückwand der Felsterrasse hinter dem Buschwerk eine kleine Grotte entdeckte).

Diese Grotte ist nur etwa acht Meter tief und etwa drei Meter breit. Der Eingang genügt, einen Menschen hindurchzulassen. In der Höhle war es recht hell. Zwei Spalten ziehen sich wie Kamine durch das Gestein nach oben und spenden Oberlicht. Ich brauchte kein Streichholz anzuzünden, konnte die Grotte ganz genau durchforschen und fand so ganz hinten hinter einem flachen, großen Stein – Sie werden schon erraten haben, was – die beiden Bilder!

Ja – zwei fertige Ölgemälde, Größe 35 mal 70 Zentimeter; zwei schäumende Gebirgsbäche, recht nett gemalt. Ich verstehe so einiges von Bildern. Ich wußte ja auch bereits, daß Miß Beßport mehr leistete als bloßen Dilettantenkitsch.

Nur eins hat mich an ihrer Malmanier gestört: sie trägt die Farben zu dick auf! Stellenweise sind ihre Bilder die reinen Reliefs. –

Sie können sich mein Erstaunen vorstellen, Herr Harst! – Weshalb hatte Miß Beßport die Bilder hier versteckt?! Weshalb war sie so ängstlich besorgt, daß sie ja nicht gesehen würde?!

Ich ließ die Bilder, wo sie waren, und begab mich wieder zu meiner Angelstelle zurück. Erst nachmittags gegen sechs Uhr traf ich wieder im Hotel ein.

Am anderen Morgen sagte Miß Beßport zu mir, sie habe einen Brief von einer Freundin erhalten, die in Stockholm eingetroffen sei. Sie wolle mit dem Dampfer, der Dahlen um 10 Uhr vormittags verläßt, abreisen.

Sie reiste auch ab. – Auch Frau Nora Flamborg verließ dann Dahlen am nächsten Tage – ohne ihre Juwelen. Der Detektiv Asbörn Prang ist noch hier und sucht noch immer nach Alice Darhagen.

Ich selbst bleibe noch bis zum 1. September. Sollten Sie Lust haben, Herr Harst, sich von mir die Grotte und die Gemälde zeigen zu lassen, so kommen Sie her.

Ihr ergebener

Albert Gloux.

Als auch ich diesen Brief gelesen hatte – wir saßen beim Frühstück unter dem Sonnensegel auf dem Achterdeck der Miramare – und ihn Harald zurückreichte, sagte ich:

„Jedenfalls kann Gloux nicht Ottmar Orstra sein! Das ist schon viel wert, falls Du Lust hast, nach Dahlen zu fahren. Es kann sich hier um keine Falle handeln.“

„Nein – das ist unmöglich! Es sei denn, daß dieser Gloux ein Spießgeselle Orstras wäre, was jedoch nicht in Frage kommt, da er seit zehn Jahren in Dahlen Forellen angelt. Ich denke, mein Alter, wir fahren! Mich interessiert das Verschwinden unserer Landsmännin Alice Darhagen ebenso sehr wie die Grotte und die beiden Gemälde.“

Er lächelte dabei.

Ich fragte daher gespannt: „Du hast Dir hinsichtlich der Bilder bereits eine Theorie zurechtgelegt?“

„Ja – eine Theorie, auf die man durch Gloux’ Brief geradezu mit der Nase gestoßen wird –“

„So?!“ – Ich überlegte mir nochmals den Inhalt des Schreibens.

„Miß Beßport,“ erklärte ich dann, „hat doch fraglos ein schlechtes Gewissen gehabt, als sie die Bilder dort verbarg. Weshalb das schlechte Gewissen?! Weshalb versteckte sie die Gemälde?!“

Harald spielte mit seinem Zigarettenetui und starrte geistesabwesend vor sich hin.

Dann sagte er grübelnd:

„Da stand doch gestern irgend etwas in der Zeitung über Alice Darhagen! Ich habe es nur überflogen –“

Er rief den Matrosen Jack Brown, unseren Koch herbei:

„Brown, holen Sie mir mal die Zeitungen von gestern aus der Kajüte –“

Brown war im Augenblick wieder an Deck.

„So, danke, Brown. Nun schicken Sie mir mal Gromsö.“

Das war der Maschinist.

„Gromsö,“ sagte Harald, „wir werden heute mittag nach Skien fahren. Aber – es bleibt geheim! Ich kann mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen!“

„Wir gehen für Sie durchs Feuer, Herr Harst!“

„Das ist nicht nötig, Gromsö. Nur bis Dahlen braucht Ihr zu gehen. – Sie besorgen alles, Gromsö. Um 12 Uhr machen wir vom Bollwerk los!“

Harst durchsuchte die Zeitung.

„Ah – hier haben wir’s. Eine Annonce – Riesenformat!“

25 000 Kronen Belohnung!

In der Nacht vom 9. zum 10. August ist aus dem Hotel Dahlen die 21 jährige, unverehelichte deutsche Staatsangehörige Alice Darhagen verschwunden. In derselben Nacht wurden Frau Nora Flamborg im Hotel Dahlen Juwelen im Werte von 400 000 Kronen gestohlen. Da sich der Verdacht, den Diebstahl begangen zu haben, auf Alice Darhagen, die Gesellschafterin der Frau Flamborg, lenkte und dieser Verdacht noch besteht, setzen wir, die Endesunterzeichneten, obige Belohnung für zweckdienliche Nachrichten über den Verbleib des jungen Mädchens aus. – Nachricht erbeten an

Rechnungsrat Emil Darhagen, Hamburg,
Schmale Gasse 16,

oder an Dr. Manfred Bruckner,
zur Zeit Dahlen, Norwegen, Hotel Dahlen.

„Also der Vater und der Bräutigam, nehme ich an,“ sagte Harald sinnend und legte das Blatt weg.

Ich saß so, daß ich die Laufplanke, die vom Jachtdeck zum Hafenbollwerk hinüberführte, vor mir hatte.

Soeben war auf der Laufplanke ein schlanker, jüngerer Herr mit blondem Bürstenschnurrbart und Kneifer ohne Fassung erschienen.

Wir waren aufgestanden. Er lüftete den Hut.

Da sagte Harald schon: „Herr Bruckner, nicht wahr?“

„Jawohl. Mein Name ist Bruckner – Zahnarzt Doktor Bruckner aus Hamburg –“

 

2. Kapitel.

Bruckner, eine sehr sympathische Erscheinung, nahm Platz. Er sah blaß und angegriffen aus. Seine Augen waren tief umschattet.

Er trug Harst dann seine Bitte vor, die dahin ging, daß Harald das Verschwinden seiner Braut aufklären möge.

„Ich bin seit dem 14. in Dahlen, Herr Harst,“ sagte er unter anderem. „Alice ist abends gegen elf Uhr am 9. August gesehen worden, wie sie in ihrem Lodenkostüm und mit Filzhütchen und Bergstock das Hotel verließ.“

„Von wem, Herr Bruckner?“

„Von einer gewissen Miß Beßport, einer Deutschamerikanerin, deren Bekanntschaft sie im Hotel Dahlen gemacht hatte.“

„Miß Beßport erzählte Ihnen dies, Herr Bruckner?“

„Nein. Sie schrieb es meinem Schwiegervater, dem Rechnungsrat Darhagen, nach Hamburg. – Ich habe den Brief hier. Er ist in den D-Zug Christiania–Göteborg eingesteckt worden, dem Stempel nach. Wünschen Sie den Brief zu sehen, Herr Harst?“

„Bitte –“ –

Es war eine feste, klare Schrift. Sie hatte sogar fast etwas zu Energisches an sich. Der Brief lautete:

Christiania, den 15. 8. 19…

Sehr geehrter Herr!

Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen zu machen eine Mitteilung über Ihre Tochter Alice, mit der ich bin gewesen beisammen in das Hotel Dahlen. Ich wundere mich selbst, daß mir nicht sein eingefallen diese Beobachtung schon in Dahlen gleich nach den Diebstahl. Am 9. August abends ich stand an meine Zimmerfenster, als ich sah Frau in Lodenkostüm gehen aus die Hotel hinunter zu den See durch das Dorf. Wirklich, ich wundere mich sehr, daß mir erst heute kommt in den Sinn, daß diese Frau kann sein gewesen Fräulein Alice. Aber damals ich habe geachtet so wenig auf diese Frau, daß ich nicht eher dachte an Miß Alice bis heute, denn die Detektivs in Dahlen immer nur fragten nach Alice, die sollte haben verlassen das Hotel spät nachts nach den Diebstahl. – Ich reise jetzt nach Stockholm und von da mit meiner Freundin Frau Drywater nach Deutschland. Ich werde zu Anfang September sein in Hamburg und mir erlauben vorzusprechen bei Ihnen, sehr geehrter Herr. – Helen Beßport.

Harald gab Doktor Bruckner den Brief zurück.

„Und der Erfolg, den Sie vorhin andeuteten, Herr Doktor?“ fragte er. „Sie sagten doch, daß Sie einen kleinen Erfolg zu verzeichnen hätten.“

„Ganz recht, Herr Harst. Ich habe auf diesen Brief hin, den mein Schwiegervater mir nachschickte, in Dahlen Haus für Haus die Leute ausgeforscht, ob jemand damals am 9. Alice ebenfalls auf dem Wege zum See gesehen hätte. Schließlich besann sich eine Frau, daß ihr Alice begegnet sei, die ihr als Hotelgast von Ansehen bekannt gewesen. – Es ist also richtig, daß Alice das Hotel schon um 11 Uhr abends verlassen hat. Da sie ihr Zimmer neben dem Frau Flamborgs hatte und diese nichts davon gehört hat, daß Alice sich entfernte, muß meine Braut sich ganz leise weggestohlen haben.“

Harald hielt Bruckner das Zigarettenetui hin.

„Bitte – bedienen Sie sich!“

Bruckner hatte sich eine Zigarette genommen.

„So – nun bin ich beruhigt. Ich habe Ihre Fingernägel gesehen,“ sagte Harst. „Wir haben nämlich einen Feind, dem man einfach alles zutrauen kann. Alles! Selbst die Frechheit, sich uns als Doktor Bruckner zu nahen, denn dieser Orstra ist ein glänzender Verkleidungskünstler. Wie er aussieht, wissen wir nicht. Wir sahen ihn stets nur in Maske – bald alt, bald jung, bald blond, bald dunkel.

Aber – etwas konnte er doch nicht verbergen, als er uns als Detektiv Brice zu beseitigen suchte: seine Hände! Er hat sehr schmale Hände und sehr lange Finger und stark gewölbte Fingernägel. Ihre Nägel, Herr Doktor, sind flach. Sie sind also nicht Orstra.“

Bruckner griff in die Tasche und holte einen Paß mit Lichtbild hervor.

„Bitte – Sie sollen ganz sicher gehen, Herr Harst –“

„Oh – stecken Sie den Paß nur weg! Ein Ottmar Orstra[6] fälscht auch Pässe. Ich glaube Ihnen, daß Sie Doktor Bruckner sind. Wir werden nach Dahlen kommen. Reisen Sie nur dorthin zurück. Aber verschweigen Sie, daß wir dort in zwei bis drei Tagen eintreffen werden. Weiß jemand, daß Sie mich hier besuchen wollten?“

„Nur Asbörn Prang, ein Detektiv aus Christiania.“

„Den kenne ich persönlich. Er ist zuverlässig. – Hätten Sie mir sonst noch etwas mitzuteilen?“

„Ja –“ Das klang sehr zögernd. „Ich – ich war nämlich gar nicht mehr mit Alice verlobt, als das Unglück im Hotel Dahlen passierte – ich meine den Diebstahl und Alices Verschwinden. Ich hatte die Verlobung im Mai dieses Jahres aufgehoben.“

„So? – Das erzählen Sie bitte genauer, Herr Doktor.“

„Alice ist von Hause aus arm. Als wir uns letzte Weihnachten verlobten, rechnete sie damit, daß eine Tante ihr die Aussteuer beschaffen würde. Die alte Dame lehnte dies jedoch aus Geiz ab. Alice litt hierdurch sehr. Sie wollte dann erst so viel Geld sparen, daß sie selbst sich die Aussteuer besorgen könnte. Deshalb nahm sie gegen meinen Willen die Stellung bei Frau Flamborg an. Ich selbst bin vermögend. Es hätte mir nichts ausgemacht, die Aussteuer zu kaufen. – Alice reiste am 28. März nach Kopenhagen. Ihre Briefe wurden nun kühler und kühler. Schließlich fragte ich bei ihr an, ob sie mich nicht mehr liebe. Es kam keine Antwort. Da löste ich denn die Verlobung – schweren Herzens –! Als Rechnungsrat Darhagen, der noch fünf Kinder außer Alice hat, nach ihrem Verschwinden in seiner Verzweiflung und seiner Angst um seine Lieblingstochter zu mir kam, erklärte ich ihm sofort, ich betrachtete mich noch immer als Alices Verlobter. Da hat der alte Herr mir denn weinend eingestanden, daß Alice nur deshalb in ihren Briefen einen so verletzend kühlen Ton angeschlagen hätte, weil sie nicht als armes Kirchenmäuschen meine Frau werden wollte – also aus törichtem Stolz, aus Überempfindlichkeit.“

„Diese Überempfindlichkeit vermutete ich sofort als Grund der kühlen Briefe,“ nickte Harald. „Nun kehren Sie also getrost nach Dahlen zurück. Was in meiner Macht steht, soll geschehen, um Ihre Braut aufzufinden. – Noch eins: wohnt nicht im Hotel Dahlen ein Engländer namens Gloux, ein eifriger Angler?“

„Ja, Herr Harst. Ein sehr bissiger alter Herr ist’s. Kennen Sie ihn?“

„Gewiß. – Würden Sie Gloux einen Brief von mir aushändigen? – Ich werde das Schreiben sofort aufsetzen.“

Harald ging in die Kajüte hinab. Nach zehn Minuten kam er mit einem versiegelten Brief wieder an Deck.

Gleich darauf verabschiedete Bruckner sich.

Als wir allein waren, fragte ich Harald, was er Gloux geschrieben habe.

„Nur daß er die Grotte nicht wieder betreten soll und daß wir nach Dahlen kämen. – Jetzt will ich zur Post und eine Depesche an Inspektor Dalström nach Stockholm aufgeben. Dalström soll Erkundigungen über Miß Helen Beßport und ihre Freundin Drywater einziehen und mir die Antwort postlagernd nach Dahlen senden.“

Ich begleitete Harald. – Zwei Stunden später ging die Jacht Miramare in See – angeblich nach Christiania.

Am folgenden Abend erreichten wir den Skien-Fjord, fuhren dann über die Hochlandseen durch die großartigen Schleusenanlagen bis in den Dahlen-See, wo die Jacht am Südufer in einer engen, tiefen Bucht zwischen himmelhohen Bergwänden noch beim Morgengrauen Anker warf.

Wir beide setzten uns dann als Touristen mit Rucksäcken und handfesten Stöcken nach Dahlen in Marsch. Daß wir Harst und Schraut wenig ähnlich sahen, brauche ich nicht erst zu erwähnen.

Mittags langten wir in Dahlen an. Dorf und Hotel waren uns nicht fremd.

Im Touristenhotel Dahlen, dem braunen, großen Holzbau, schrieben wir uns als Schweizer Bürger, Kaufleute Hörny und Schrywey aus Luzern ein.

Wir belegten die Zimmer 31, 32 im ersten Stock. Es waren die letzten nach vorn heraus im rechten Flügel. Gloux wohnte schräg gegenüber in Nr. 35.

Wir aßen dann unten im Speisesaal an der gemeinsamen Tafel. Doktor Bruckner beachtete uns nicht, da er uns nicht erkannte.

Es waren etwa zwanzig Gäste anwesend. Mr. Gloux saß links neben Bruckner, mit dem er sich lebhaft unterhielt. Er mochte etwa sechzig Jahre alt sein und hatte ein richtiges Bulldoggengesicht.

Nach Tisch lauerten wir Gloux oben im Flur auf. Als er den Korridor entlangkam, trat Harald schnell an ihn heran.

„Harst!“ flüsterte er. „Bitte – in unser Wohnzimmer!“

Gloux lächelte. „Gut. Habe Ihren Brief erhalten. Freut mich –“

Harald riegelte die Tür ab und wir nahmen Platz.

„Haben Sie etwas Neues zu berichten, Mr. Gloux?“ fragte Harst.

„Ja! Sehr viel sogar.“

„Nun? Und das wäre?“

„Raten Sie! – Nein, das raten Sie niemals, Mr. Harst, – auch Sie nicht!“

„Warten Sie. Vielleicht doch! – Ich will nur mal zur Post gehen. – Schraut, biete Mr. Gloux eine Zigarre an.“

Als Harald das Zimmer verlassen hatte, flüsterte der Forellenfex vertraulich:

„Ihr Freund mag ja ein Genie sein! Aber das errät er nicht!“

Nach zehn Minnten war Harst zurück. Er hatte natürlich Dalströms Depesche abgeholt.

Aber er sagte nichts davon, setzte sich und lächelte Gloux an.

„Schießen Sie los!“ meinte Mr. Gloux gespannt.

„Miß Beßport ist hier wieder aufgetaucht – aber verkleidet!“ erklärte Harald leise.

Gloux Mund blieb vor Staunen offen.

„Donnerwetter!“ rief er dann. „Woher wissen Sie das? Ich habe sie doch erst gestern nachmittag bemerkt.“

„Wo?“

„In jenem Tale – vor der Höhle.“

„Bitte erzählen Sie –“

„Bald getan. – Ich bin seit dem 15., seit dem Briefe an Sie jeden Tag an der Ostseite des Tales gewesen – so zum Sport! Weil ich mir nämlich dachte, es würde sich dort doch noch irgend etwas ereignen. Die Grotte liegt an der Westseite. Ich habe mir da einen Weg auf den östlichen Talrand ausprobiert, einen ganz versteckten Weg, und habe mir auch einen gegen Sicht geschützten Beobachtungsplatz ausgekundschaftet, habe dort manchmal drei bis vier Stunden mit dem Fernglas und einem Roman gelegen und aufgepaßt. Erst gestern nachmittag gegen fünf Uhr sah ich mit einem Mal, von meinem Buche aufblickend, drüben auf der Terrasse einen jungen Menschen in Lodenanzug und weicher Sportmütze. Mein Fernglas brachte mir das Gesicht so nahe, daß ich trotz des kleinen Schnurrbarts in dem Menschen Miß Helen Beßport erkannte. Dann war sie mit einem Male wieder verschwunden. Ich blieb bis gegen sechs Uhr dort. Aber sie erschien nicht wieder.“

„Hm – vorhin sagten Sie „Sehr viel Neues!“ – Ist das nun alles?“

„Was die Beßport betrifft – ja!“

„Also haben Sie etwas anderes Merkwürdiges beobachtet?“

„Ja, Mr. Harst. Sehr Merkwürdiges. Gestern vormittag und heute mittag. – Die Sache ist die: Ich war gestern vormittag drüben am Dahlen-Bach nach Norden[7] zu angeln gegangen. Der Bach ist vom Hotel etwa tausend Meter entfernt. Mit einem Male sah ich auf dem Hoteldach andauernd etwas aufblitzen. Das heißt: so etwa eine Viertelstunde lang. Weil ich nichts fing, wurde ich ärgerlich und kehrte nach dem Hotel zurück. Das Dach ist sehr flach. Ich erkannte nun einen der Hotelgäste, einen Franzosen namens Delville, der oben auf dem Dache stand und mit Kopierrahmen herumhantierte. Er stellte photographische Abzüge her, belichtete also die Platten und das Kopierpapier –“

„Ich verstehe, Mr. Gloux –“

„Sagen Sie das nicht! Sie denken nun, die Sonne hätte die Platten getroffen, und so wäre das von mir beobachtete Aufblitzen zustande gekommen. Das dachte ich gestern auch. Heute aber, etwa um zwölf Uhr, saß ich drüben neben dem Hotel auf der Anhöhe auf einer Bank. Ich hatte mein Fernglas mit. Und – da hantierte der Delville wieder mit seinen Kopierrahmen herum. Ich nahm mein Glas, stellte mich hinter einen Strauch und beobachtete den Franzosen, der hier immer mit seiner Kamera herumrennt und künstlerische Aufnahmen macht.“

„Seit wann wohnt der Herr hier?“

„Seit – ja, seit vorgestern abend.“

„Danke – weiter!“

„Mit Hilfe meines Glases sah ich, daß er außer seinem drei Kopierrahmen noch einen in einen vierten Kopierrahmen eingespannten Hohlspiegel bei sich hatte, und mit diesem Hohlspiegel erzeugte er die Lichtblitze.“

„So – so!“ meinte Harst nachdenklich.

„Ja – wozu tat er das wohl, Mr. Harst?“

Harald antwortete nicht gleich. Dann fragte er:

„Bemerkten Sie uns heute mittag, als wir uns dem Hotel näherten und es dann betraten?“

„Gewiß. Sie waren kaum zehn Minuten hier, als Delville auf dem Dache erschien.“

„Haben Sie jemandem etwas von Delvilles Hohlspiegel erzählt?“

„Nein. Ich wußte ja, daß Sie kommen würden. Ihnen wollte ich’s mitteilen.“

„Mr. Gloux, Sie könnten uns jetzt den Weg nach jenem Tale beschreiben – recht genau.“

„Soll ich Sie nicht besser hinführen?“

„Nein. Das würde auffallen.“

„Wie Sie wollen.“ Gloux’ Angaben über den Weg hätten jedem genügt.[8]

 

3. Kapitel.

Harald hatte ihm die Tür geöffnet und ihm durch Zeichen angedeutet, recht schnell den Flur zu überqueren.

Er ließ die Tür dann halb offen und lauschte, indem er den Kopf recht weit vorschob, ohne jedoch die Wandlinie des Flurs und der Türen zu überragen.

Gloux’ Tür klappte zu. Gleich darauf auch eine zweite – nur ganz leise.

Harald zog unsere Tür zu, wandte sich um und sagte mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck:

„Das war vielleicht Delville!“

„Ja – Delville!“ nickte ich. „Delville, der gleich nach unserer Ankunft hier seinen Hohlspiegel zur Lichttelegraphie benutzte.“

Harst kam an den Tisch und nahm eine Zigarette, brannte sie an und legte Dalströms Depesche vor mich hin.

Ich las folgendes:

„Die beiden Bücher sind bereits nach Deutschland unterwegs. Ich fand sie hier bei Hot. Bargen, Havensgatan 58. Beides schon ältere Exemplare. Gruß Dalström.“

„Hm,“ meinte ich, „also wohnten Miß Beßport und Frau Drywater im Hotel Bargen. Es waren jedoch zwei ältere Damen. Und die Beßport, die echte Beßport, soll noch jung und von eigenartiger Schönheit sein.“

„Mithin –?“

„Mithin ist die eine eben nicht die Beßport, zumal Gloux sie hier gesehen hat.“

„Stimmt. Sie ist es nicht. Sie hat den Brief an den Rat Darhagen nur deshalb geschrieben, um zu verhüten, daß man gegen sie irgendwie Verdacht schöpfte. Sie hat sich fraglos den Namen Beßport nur zugelegt, weil es tatsächlich eine Helen Beßport gibt, von deren Existenz sie etwas wußte, ebenso wie von der Anwesenheit der Drywater in Stockholm. Alles sehr schlau – sehr! Besonders das eine, daß sie durch den Brief als erste über Alice Darhagen etwas Tatsächliches bekundete – eben daß Alice am 9. das Hotel um 11 Uhr abends verlassen hat. Sehr schlau! Wer weiß, wer diese Helen, die falsche Helen sein mag!“

„Natürlich die Diebin der Juwelen der Frau Flamborg,“ behauptete ich.

Harst rauchte wieder zwei Züge. „Das scheint ausgeschlossen zu sein, mein Alter!“

„So?! Weshalb denn?!“

Er faßte in die Tasche und legte eine Nummer der Christiania-Post vor mich hin.

„Bitte – innen steht der Artikel. Der Verfasser ist Asbörn Prang. Und – der ist kein Dummkopf!“

Ich will aus dem Aufsatz nur das Wichtigste anführen.

„Die Fensterscheibe im Schlafzimmer der Bestohlenen war von innen eingedrückt. Das Seifenpflaster auf der Scheibe saß freilich außen. Der, der die Scheibe eindrückte, stand jedoch im Zimmer. Da Frau Flamborg nun ihre Tür verriegelt und sogar noch einen Stuhl davor gerückt hatte, kann nur die Gesellschafterin den Diebstahl auf die Weise begangen haben, daß sie Frau Flamborg, die abends stets ein Schlafpulver nahm, ein stärkeres Pulver unterschob, welches so kräftig wirkte, daß die unter dem Bett verborgene Alice D. nachher in aller Ruhe die Scheibe eindrücken konnte und so den Anschein erweckte oder erwecken wollte, es sei jemand von draußen eingedrungen.“

Ich ließ das Blatt sinken. Und Harald sagte:

„Siehst Du, nach Asbörn Prangs Meinung muß es Alice Darhagen gewesen sein. Es ist also ausgeschlossen, daß es die schöne Helen war – nach seiner Ansicht.“

„Aha – nicht nach Deiner Ansicht!“

„Nein. Ich gab soeben, als ich „ausgeschlossen!“ sagte, nur des Kollegen Prang Meinung wieder.“ Er lächelte fein. „Ich wußte bereits nach Empfang von Gloux’ Brief, daß die Beßport die Diebin war.“

„Sie hat die Juwelen in der Höhle versteckt! Sie hat die beiden Bilder dort nur zurückgelassen, damit sie, falls sie beobachtet worden war, sagen konnte, sie habe die Gemälde dort verborgen!“

„Nicht schlecht kombiniert, mein Alter, doch lassen wir das jetzt! Gehen wir spazieren –“ –

Wir schlugen die Richtung nach Süden, nach dem See, ein. Das Tal und die Grotte lagen nordöstlich. Wir schlenderten recht gemächlich dahin, kamen durch die Dorfstraße und betraten ein kleines Gasthaus, bestellten Kaffee und plauderten mit dem Wirt.

Allmählich kam Harald auf den Diebstahl im Hotel Dahlen zu sprechen. Der Wirt hatte für Alice Darhagen starke Worte der Verteidigung.

„Das junge Mädchen hat’s nie im Leben getan! So ein guter mitleidiger Mensch wie sie stiehlt nicht. Das ganze Dorf sagt das!!“ ereiferte er sich.

„Woher kennt man denn Fräulein Darhagen hier so genau?“ fragte Harald interessiert.

„Nun – sie und Frau Flamborg waren doch seit dem ersten Juli hier, und Fräulein Darhagen hat dreimal ganz von selbst Schwerkranken die erste Hilfe angedeihen lassen. Als der Mann der Frau Kölding abgestürzt war, ist sie jeden Tag hinausgewandert zu den Köldings und hat den Verband erneuert – sogar zweimal am Tage.“

„Kölding –? Ist der Mann Bauer?“

„Ja, Herr. Kleinbauer! Dort am Ostufer des Sees liegt sein kleines Grundstück ganz einsam. Eine halbe Stunde hat man zu klettern bis dahin.“

„Wenn’s die Gesellschafterin nicht tat, – wer soll denn sonst die Juwelen gestohlen haben?“

Der Wirt zuckte die Achseln. „Die Herren von der Polizei hatten sich ja gleich derart auf das Fräulein festgebissen, daß sie andere Hotelgäste gar nicht in Betracht zogen! Natürlich ist der Dieb längst über alle Berge!“

„Wo mag denn aber das Fräulein hingeraten sein?“

„Dja, Herr, hier redet man so allerlei im Dorfe. Allerlei –!“

„Was denn?“

Der Wirt schaute Harald mißtrauisch an.

„Herr, Sie fragen so viel! Wer – wer sind Sie?“

„Einer, der es gut mit dem Fräulein meint – nur gut.“ – Er zog seine Brieftasche und legte vor den Wirt seinen Ausweis hin. „Da – ich bin Detektiv, bin der Deutsche Harald Harst!“

Der Wirt machte große Augen. „Wie – Herr Harst, der in Skien letztens die Sigrid Lingnörg –“

„Derselbe!“ fiel Harald ihm ins Wort. „Sie dürfen aber keiner Seele verraten, daß ich hier in Dahlen bin. – So – was redet man im Dorfe?“

„Hm – nur weil Sie es sind, Herr Harst! So was soll man besser für sich behalten. Also – das Stubenmädchen Igne Bröm hat am 9. August abends gehört, daß Frau Flamborg das Fräulein Darhagen ohrfeigte. Das hat die Flamborg nachher ängstlich verschwiegen. Und Igne Bröm weiß auch, daß das Fräulein am selben Abend einen Brief erhielt – aus Hamburg. Sie hat ihn gelesen. Er war offen –“

„Offen?“ fragte Harst gespannt.

„Ja, Herr – offen. Was drinstand, weiß ich nicht. Aber die Igne kann deutsch lesen.“

„Igne Bröm ist noch im Hotel Dahlen?“

„Ja, Herr. Es ist ein großes, blondes Mädchen, aber nicht eben hübsch.“

„Sie werden also schweigen!“

„Bestimmt, Herr.“

Wir zahlten und gingen, verfolgten einen armseligen Fahrweg, bogen links ab und kamen durch eine steile Schlucht auf die Hochebene.

Harst war schweigsam und tief in Gedanken.

Dort vor uns sahen wir das Eichenwäldchen an einem Steilabhang. Gloux hatte uns auf dieses Wäldchen besonders hingewiesen. Es sollte über der Terrasse und der Grotte liegen.

Wir mußten noch ein Tal durchqueren, um an die Stelle zu gelangen, von wo aus Gloux die Terrasse jenseits des Forellenbaches so und so oft beobachtet hatte.

Kein Mensch, kein Haus weit und breit. Nur hie und da auf den farbenfrohen kleinen Grasflächen einige Kühe, Schafe und Ziegen, die hier in voller Freiheit weideten.

Ganz unvermittelt sagte Harald dann:

„Es wäre eine geradezu ungeheure Gemeinheit –!“

„Was denn?“

„Der offene Brief! – Ich will mich deutlicher ausdrücken. Alice und die angebliche Helen Beßport waren hier einander näher getreten. Das geht schon daraus hervor, daß die Malerin die Hamburger Adresse des Rechnungsrats wußte, denn – als sie den Brief an Herrn Darhagen schrieb, war die Belohnung noch nicht ausgesetzt und somit des Rates Wohnung der Allgemeinheit noch nicht bekannt. – Möglich also, daß die harmlose Alice ihren Liebesroman der Beßport anvertraut hat. Junge Mädchen fühlen das Bedürfnis, sich auszusprechen, und die Beßport wird es schon verstanden haben, sich in das Vertrauen anderer einzuschmeicheln. Weiter nehme ich – und dies mit Bestimmtheit – an, daß die Beßport nur in der Absicht hier nach Dahlen gekommen ist, um die Juwelen der Frau Flamborg zu stehlen. Sie wollte dies nun nicht selbst tun. Um aber Alice Darhagen jene starke seelische Erschütterung zu bereiten, die eine Menschenseele am leichtesten dann für die Beeinflussung durch einen fremden Willen empfänglich macht –“

„Ah – Hypnose –!“

„– macht, kann die Beßport zu dem schändlichen Mittel gegriffen haben, durch einen Komplicen irgendwo und irgendwie eine – Verlobungsanzeige drucken zu lassen, das heißt, Doktor Bruckners Verlobungsanzeige mit irgend einer anderen Dame! Solche Anzeigen schickt man offen als Drucksachen, mein Alter. Und der Brief, den das Stubenmädchen Igne Bröm gelesen, war offen!“

Ich schwieg. Diese Geschichte war mir zu phantastisch.

Harald merkte das und fügte hinzu: „Diese Anzeige, diesen Brief wird die Beßport unter die Postsachen geschmuggelt haben, die im Hotel abgegeben worden waren. Das ist nicht schwer. So erhielt Alice denn die Verlobungsanzeige des Mannes, den sie fraglos noch immer liebt, mußte sogar annehmen, daß er aus Herzensroheit ihr diesen Schmerz absichtlich bereiten wollte. Als sie dann verzweifelt in ihrem Zimmer mit heißen Tränen dem Geliebten nachweinte, wird die Beßport als „Trösterin“ erschienen sein und Alice, wie Du schon andeutetest, hypnotisiert haben. Ein gutes Medium führt jeden in der Hypnose erteilten Befehl aus – jeden! Auch den, einen Diebstahl zu begehen, sich vorher in ihrer Herrin Zimmer zu schleichen, unter das Bett zu kriechen – und so weiter. – Du willst von dieser Theorie nichts wissen, mein Alter?! Nun gut! Warten wir ab, was Igne Bröm uns sagen wird.“

 

4. Kapitel.

Wir hatten jetzt Mr. Gloux’ Beobachtungsstelle erreicht, krochen hinter den Büschen höher und lugten dann durch die Zweige über das Tal und den schäumenden Bach hinweg.

Drüben lag die buschreiche Terrasse; über ihr das kleine Eichenwäldchen. Wir waren am Ziel.

Harald zog sein Fernrohr aus der Tasche, schob es auseinander und richtete es auf die Terrasse. Die Entfernung bis drüben betrug etwa zweihundert Meter.

Wir hatten uns recht bequem auf den Bauch gelegt. Wir mußten damit rechnen, daß wir viele Stunden warten müßten. Vielleicht wurde die als Mann verkleidete Miß Beßport überhaupt nicht sichtbar.

Ich konnte auf der Terrasse nichts Lebendes bemerken. Auch Harald legte jetzt das Fernrohr vor sich auf einen Stein und sagte leise:

„Kehren wir nochmals zu meiner Theorie „Diebstahl in Hypnose“ zurück. Dann läge der seltsame Fall vor, daß Alice die Diebin und doch schuldlos und daß die Beßport nicht die Diebin und doch schuldig ist! – Ich möchte meine Theorie weiter ausspinnen. Die Beßport hat Alice den Befehl gegeben, auf eine bestimmte Art die Juwelen zu stehlen und durch das Fenster hinauszuklettern. Dies mag um elf Uhr geschehen sein. Das Hinausklettern ist leicht, da ja alle aus Holz gebauten Touristenhotels in Norwegen in jedem Zimmer der oberen Stockwerke eine Rettungsleine haben müssen. Diese Leine wird auch am Fensterkreuz befestigt gewesen sein. – Alice hat dann die Juwelen – immer dem Befehl ganz unbewußt gehorchend – irgendwo versteckt. Von dort holte die Beßport sich die Beute nachher ab. – Nun die Frage: wo blieb Alice nachher? Es steht fest, daß sie durch das Dorf dem See zuwanderte. Sie ist hier gesehen worden. Wohin wandte sie sich dann? Vielleicht ging sie – auch auf Befehl! – zu dem Bauer Kölding, wo sie jeder Zeit willkommen war –“

Mit einem Schlage erschien mir diese Theorie jetzt gar nicht mehr so sehr phantastisch.

„– willkommen war, und bat die Leute – auch auf Befehl! – sie zu verbergen, was Köldings auch getan habe mögen und – vielleicht noch tun, da sie ja niemals an Alices Schuld glauben werden –“

„Harald, – das – das könnte sein!“ warf ich hier eifrig ein.

„Köldings und Alice werden noch keine Ahnung haben, daß Bruckner in Dahlen weilt. Und – falls sie es wissen, traut Alice sich vielleicht, unter so schwerem Verdacht stehend, nicht hervor – Kurz: die Beßport wollte den Verdacht auf diese Weise auf die verschwundene Alice lenken, was ihr ja auch gelungen ist; sie wollte Zeit gewinnen, die Beute in Sicherheit zu bringen, was ihr ebenfalls gelungen ist.“

„Inwiefern?“

„Das wirst Du mit eigenen Augen sehen! – Wenn Du meine Theorie nachprüfst und noch die zweite starke seelische Erschütterung für Alice an jenem Abend in Betracht ziehst, nämlich die Ohrfeige, dann mußt Du zum mindesten bestätigen: alles kann so sein!“

„Allerdings – es kann so sein!“

„Gut. – Nun zu Monsieur Delville und Miß Beßport. Die Beßport verließ nach Gloux Brief Dahlen am 14. August. Am 16. August lernten wir Agna Orstra in Göteborg kennen – leider nicht persönlich, nur aus der Entfernung. Aber wir wissen, daß diesem Weibe alles zuzutrauen ist, selbst die größte Schurkerei! Das hat der Fall Plemborn bewiesen. Es ist also möglich, daß Helen Beßport Agna Orstra ist. Dies ist umso wahrscheinlicher, als Lord Plemborn erwähnte, daß Agna als Malerin Gutes leistet.“

„Donnerwetter!“ entfuhr es mir. „Der Beweis genügt!“

„Und dann der Franzose Delville mit dem Hohlspiegel. Wenn er auf dem Hoteldach Lichtsignale mit dem Spiegel gibt, müssen sie aus der Krone einer der Eichen droben zu sehen gewesen sein. Gloux betonte ja, daß die Eichen sichtbar seien. Die Signale galten der Beßport, die drüben in der Höhle jetzt hausen mag. Und – die Signale von heute mittag mögen der Beßport, besser Agna Orstra, unsere Ankunft gemeldet haben. Delville kann Ottmar Orstra sein – oder Baptiste!“

Er machte eine längere Pause, nahm das Fernrohr und schaute nach der Terrasse hinüber.

Ich sah jetzt links im Tale einen alten Mann, der zwei Ziegen vor sich her trieb. Der alte Bauer hatte eine kurze Pfeife im Munde und hinkte stark. Er ging an der Westseite entlang, kam nun unten an der Felsterrasse vorbei und verschwand mit seinen Tieren weiter oben in den Büschen. Er war der erste Mensch, den wir seit drei Stunden zu Gesicht bekommen hatten.

Es war jetzt ein halb sechs Uhr geworden.

„Ob wir’s wagen?“ meinte Harald. „Vielleicht ist Agna gar nicht mehr in der Grotte. Ich möchte zu gern die beiden Gemälde mir ansehen.“

„Um acht wird es dunkel. Es ist besser, wir gehen jetzt hinüber,“ schlug ich vor.

„Dann vorwärts – obwohl die Sache nicht ungefährlich ist.“

„Glaubst Du, daß man Gloux gesehen hat, daß man also fürchtet, die Grotte sei entdeckt?“

„Nein – „man“ wird Gloux wohl kaum bemerkt haben. Ich fürchte etwas anderes: daß Delville-Orstra uns gefolgt ist! Ich habe zwar nichts wahrgenommen, aber das besagt wenig! – Los denn! Wir haben ja unsere Pistolen mit!“

Wir umgingen das Tal nach rechts, überquerten weit oberhalb der Terrasse den Bach und schlichen dann dicht am Fuße der Steinwand dahin, erkletterten sie langsam und lautlos und näherten uns stets im Schutze der Büsche der Rückwand der Terrasse.

Dann hatten wir das zackige, hohe Felsloch dicht vor uns. In der Grotte war es wirklich ganz hell. Nichts Verdächtiges darin – nichts.

Harald erhob sich. Er hatte neben mir im Gesträuch gekniet. Er nahm die entsicherte Clement in die Rechte.

Dann betraten wir die Grotte, schauten in jeden Winkel.

Leer – hier war niemand!

Die durch die beiden natürlichen Kamine einfallenden Sonnenstrahlen malten auf dem dunklen Felsboden leuchtende Flecken.

Harald stand und starrte auf diese Flecken.

Sie blieben nicht gleich groß, verengten sich. Ein schmaler Schatten bewegte sich über den einen Fleck hinweg – das Schattenbild eines menschlichen Armes.

Mit einem Ruck hoben wir die Köpfe.

Wir wollten zur Seite springen – wollten!

Und im selben Moment hörten wir auch durch die Öffnungen das Meckern einer Ziege.

„Der Mann mit den beiden Ziegen – der lahme Bauer!“ schoß es mir durch den Kopf.

Da war’s schon zu spät.

Da glitten uns schon die Drahtschlingen von oben über die Köpfe, wurden zugezogen.

Harst feuerte noch – drei Schuß.

Höhnisches Gelächter. Dann eine Stimme:

„Rührt Euch nicht! Sonst schneiden wir Euch mit den Drahtschlingen die Kehlen durch.“

Ich fühlte, wie der Draht ins Fleisch schnitt.

„Ruhe!“ keuchte Harald.

Wir regten uns nicht – stierten nach oben in das Felsloch.

Und abermals dieselbe Stimme – wieder deutsch – wieder die des unechten Brice, also Ottmar Orstras Stimme:

„Werft Eure Pistolen weg! Sofort! Wir lassen nicht mit uns spaßen! Wir haben eine lange Rechnung wettzumachen, Harald Harst!“

Und Harald?! – Ich sah, wie ihm das Blut aus der Haut vorquoll, ich sah, wie er den rechten Arm hob.

Dann – peng – peng, – zwei Schüsse, nochmals peng – peng –!

Nur ein Mann mit Harsts eisernen Nerven konnte es sich zutrauen, mit einer Pistolenkugel auf dünne Drähte zu schießen.

Nur er durfte damit rechnen, auch wirklich zu treffen.

Er hatte auf jene Stellen gezielt, wo die Drähte am Unterrande des Loches das Gestein berührten.

Felssplitter flogen umher.

Oben, für uns unsichtbar, ruckte jemand an den Drähten.

Sie rissen –! Sie hatten nur noch durch dünne Metallfasern zusammengehalten.

Im Nu waren wir die Schlingen los.

Im Nu schob Harald einen gefüllten Patronenrahmen in seine Waffe.

Dann waren wir mit langen Sätzen draußen, sprangen in die Büsche.

Warteten – krochen weiter.

Und – über uns auf einem Vorsprung jetzt ein Mann in grauem Sportanzug.

Ein Mann – ein Felsstück schwingend.

Es sauste herab, prasselte in die Büsche – dorthin, wo – wir uns nicht mehr befanden –!

Es war ein Mann mit dunklem Spitzbart, – es mußte der Gestalt nach Baptiste sein –!

Wer war dieser Baptiste in Wahrheit? Wie hieß er? – Es sollte nie aufgeklärt werden – nie!

Der Mann da oben hatte uns jetzt doch erspäht, hatte einen Revolver aus der Tasche gerissen.

Ich überlegte nicht lange. Ich hatte freien Ausblick – ich zielte, drückte ab.

Der Mann warf die Arme hoch, taumelte nach vorn, fiel ins Leere, fiel fünfzehn Meter tief rechts von uns auf den kahlen Fels.

Mir flatterten alle Glieder. Ich fühlte, daß ich totenblaß geworden war.

Der Mann regte sich nicht.

Dann – Orstras Stimme von der Höhe herab:

„Wir sehen uns wieder, Harald Harst! Sehr bald!“

Stille nun – atembeklemmende Stille.

„Beobachte den Vorsprung!“ flüsterte Harald. Er glitt davon, zu dem Toten hin.

Das Gesicht des Mannes war bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert. Die Kugel war ihm durch die Stirn gegangen.

Harald verschwand in der Grotte.

Fünf Minuten – dann tauchte er wieder auf – mit den beiden Ölbildern in der Linken, rief –:

„Nach dem Hotel zurück!“ –

Es war bereits völlig dunkel, als wir im Hotel eintrafen. Die Gäste saßen noch beim Abendessen. Wir hatten die beiden Gemälde dem Hotelbesitzer übergeben. Er sollte sie in seinen Tresor einschließen. Als wir den Speisesaal betraten, rief Harst Gloux, Asbörn Prang und Bruckner zu:

„Bitte – wollen die Herren einen Augenblick herkommen –!“

Die Gäste drehten sich um, wurden unruhig.

Der Saal hatte zwei Ausgänge, einen nach dem Hotelflur hin, einen zweiten nach dem Vorraum der Küche.

Wir fünf standen vor dem Flurausgang.

„Ist heute nachmittag ein neuer Gast eingetroffen?“ fragte Harst den Detektiv Prang.

Prang stutzte.

„Wie – Sie sind’s, Herr Harst?! Sind Sie’s wirklich? – Ja, ein neuer Gast, eine ältere Dame. Sie kam zu Fuß von Odda über die Autostraße –“

„Ist sie hier im Saal?“

Prang drehte sich der langen Tafel zu.

Da war schon eine grauhaarige Dame mit Hornkneifer und roter Nase aufgestanden, hatte mit ein paar Schritten den Vorraum der Küche erreicht.

Harst eilte hinter ihr drein.

Stieß die Tür auf – stieß einen Stuhl um, den die Frau rasch davorgestellt hatte.

Das gab einen Aufenthalt von Sekunden.

Wir stürmten durch die Küche – durch des Wirtes Wohnzimmer; wir verteilten uns. Drei liefen in den Garten.

Wir suchten – suchten. Die Gäste, das Personal halfen. –

Das ganze Dorf wurde lebendig; Laternenlicht irrte wie Glühwürmchen durch die Nacht.

Harst und ich hatten mit vier Gästen das ganze Hotel durchstöbert – vom Keller bis zum Dach.

Die grauhaarige Frau war als Frau Sigrin Framm aus Malmö ins Fremdenbuch eingetragen. Die Schrift hatte nur wenig Ähnlichkeit mit der des Briefes, den Miß Beßport an den Rat Darhagen geschickt hatte. Aber – etwas Ähnlichkeit war doch vorhanden. Und Harald bewies mir an diesen geringen Übereinstimmungen der Buchstaben, daß „Frau Framm“ niemand anders als Agna Orstra war.

Sie hatte das Zimmer Nr. 37 im ersten Stock belegt. Es lag nur drei Türen von unseren Räumen entfernt. An Gepäck fanden wir in Nr. 37 lediglich einen Rucksack mit Wäsche und Toilettensachen. Die Wäsche war nicht gezeichnet.

Gegen zehn Uhr wurde die Verfolgung der Flüchtigen[9] aufgegeben. Ein paar Dörfler wollten beobachtet haben, daß eine Frau einen Kahn am Seeufer bestiegen hatte und eilends davongerudert war. Aber ihre Aussagen waren so unsicher, daß wir darauf nichts gaben, obwohl ein Boot fehlte. Nachher, als das Unheil schon geschehen, stellte sich denn auch heraus, daß ein Fischer den Nachen losgekettet und zum Auslegen von Reusen benutzt hatte.

Die Hotelgäste, die bisher nur wußten, daß die grauhaarige Dame irgend eine Verbrecherin war, die Harald Harst hier entdeckt hatte, verlangten jetzt näheren Aufschluß. Unten in der Vorhalle hatten sie um Harald, Asbörn Prang, Bruckner, Gloux und mich einen engen Kreis gebildet.

Harst versprach, am Morgen beim Frühstück im Speisesaal die Neugier der Herrschaften zu befriedigen.

Man zerstreute sich murrend.

Wir fünf gingen dann in unser Wohnzimmer. Harald hatte die beiden Ölbilder sich von dem Hotelbesitzer wieder aushändigen lassen und nahm sie mit nach oben.

 

5. Kapitel.

Nun saßen wir um den Sofatisch herum bei geschlossenen Fenstervorhängen und verriegelten Türen; nun sagte Mr. Gloux, der am allereifrigsten bei der Suche gewesen, indem er auf die auf dem Tische liegenden Bilder deutete:

„Schießen Sie los, Mr. Harst. Wir vier, denke ich, sind alle gleichmäßig gespannt auf Ihre Enthüllungen.“

Da – ein schüchternes Klopfen an die Tür.

„Es ist das Stubenmädchen Igne Bröm,“ erklärte Harald. „Ich habe sie gebeten, hierher zu kommen und das mitzubringen, was sie am 9. August abends in Alice Darhagens Zimmer auf dem Fußboden fand und mitnahm, während Alice weinend am Fenster saß.“

Ich riegelte die Tür auf. Das Mädchen war durchaus nicht verschüchtert. Sie erzählte, wie sie Alice damals den mit der letzten Postbestellung anscheinend mit eingetroffenen Brief auf das Zimmer gebracht, wie Alice die weiße Karte aus dem offenen Umschlag genommen und gelesen hatte und dann aufschluchzend auf den Stuhl am Fenster gesunken war, wie sehr bald Miß Beßport eintrat und Alice tröstete, die wiederholt rief: „Oh – der Schändliche! Ich will die Karte nicht mehr sehen!“ – Da hatte Igne Bröm die Karte und den Umschlag denn aufgehoben. –

Beides reichte sie nun Harst, der sie mit kurzem Dank und einem Zwanzig-Kronen-Schein wieder wegschickte.

Harald gab Bruckner die Karte. Es war wirklich eine Verlobungsanzeige Bruckners mit einer „Else Müller“.

Dann verglichen wir den Brief, den Rat Darhagen erhalten hatte, mit der Aufschrift des Umschlags der Verlobungsanzeige. Auch hier fanden sich deutliche Schriftähnlichkeiten.

Harald begann jetzt den ganzen Fall „Alice Darhagen“ genau so zu erläutern, wie er es bereits mir gegenüber getan hatte.

Als er davon sprach, daß Alice wahrscheinlich bei dem Bauer Kölding weile, sprang Bruckner auf. „Ich will sofort hin!“ rief er. „Prang, Sie begleiten mich doch –“

„Noch ein paar Minuten!“ meinte Harald. „Ich bin sofort mit meiner Theorie fertig. Sie sollen doch auch das Wichtigste hören. – Agna Orstra hatte also die Juwelen in Händen. Ihr kam es nun darauf an, die Edelsteine, die sie aus den Fassungen herausgebrochen hatte, so zu verbergen, daß niemand sie finden und daß sie dieselben dennoch jeder Zeit mitnehmen könnte. Sie wählte ein Versteck für die Brillanten, das in seiner Art durchaus nicht neu ist. Schmuggler, Edelsteinschmuggler waren es, die den Trick zuerst ersannen. Er besteht darin, daß die Steine unter der dick aufgetragenen Farbe von Ölgemälden verborgen werden –“[10]

„Ah!“ machte Gloux. „Also deshalb die beiden Gemälde!“

„Ja – deshalb! – Sie liegen hier vor uns – so, wie ich sie in der Höhle fand. Bevor wir die Steine nun zu Tage fördern – die weniger wertvollen Fassungen wird Agna Orstra anderswo versteckt haben, noch ein paar Worte über den Zweck von Agnas Erscheinen hier im Hotel Dahlen. – Das, was ich darüber jetzt ausführe, beruht lediglich auf Kombinationen. Der angebliche Franzose Delville war Ottmar Orstra. Das steht fest. Er dürfte nun mittags nach unserer Ankunft seiner Schwester Agna oder aber jenem Baptiste, der seine Schandtaten bereits gebüßt hat und der mit Agna zusammen in der Grotte oder doch in der Nähe sich aufhielt, durch die Lichttelegraphie mitgeteilt haben, Agna solle sich jetzt ebenfalls hier im Hotel Dahlen einfinden, damit sie beide, Bruder und Schwester, gemeinsam einen Anschlag gegen uns vorbereiten könnten. Der Umstand, daß Agna Orstra sich gleichfalls hier ins Hotel wagte, beweist, daß die Verbrecher sich ganz sicher fühlten. Erst als Schraut und ich dann den Weg nach jenem Tale einschlugen und der verkleidete Ottmar Orstra erkannte, welchem Ziele wir zuwanderten, wird er eingesehen haben, daß wir mehr wußten, als er ahnte. Da war es für ihn aber bereits zu spät, Agna Gegenordre zu geben, damit sie das Hotel meide. So kam es, daß wir sie hier wirklich antrafen. Sie floh – floh auf sehr geschickte Weise. – Das wäre nun alles –“

Asbörn Prang verneigte sich gegen Harald. „Mr. Harst meine Hochachtung! Sie haben –“

Ein gellender Schrei irgendwo im Flur ließ ihn schweigen.

Der Schrei wiederholte sich.

„Feuer – Feuer!“

Türen wurden zugeschlagen.

Die Rufe des Schreckens, des Entsetzens mehrten sich.

Wir stürmten in den Korridor hinaus.

Beißender Qualm trieb uns entgegen.

Ein Qualm, der scharf nach Petroleum roch.

„Brandstiftung!“ rief Harst mir zu.

Prang, Bruckner und Gloux waren schon durch die Rauchschwaden der Haupttreppe[11] zugeeilt.

Harald zog mich von der offenstehenden Tür unseres Wohnzimmers weg und flüsterte:

„Der Brand gilt den beiden Bildern! Gib acht, was geschieht –“

Der Qualm wurde stärker, zog in unser Zimmer hinein.

Wir standen dicht neben der Tür. Und, um die Türfüllung lugend, gewahrte ich nun undeutlich eine Gestalt, die sich durch das eine Fenster ins Zimmer schwang.

Eine Frau war’s – die Grauhaarige –!

Dann – ich hatte mich wohl zu weit vorgebeugt! – dann hatte sie meinen Kopf bemerkt.

Sprang zum Fenster zurück.

Harald war schon hinter ihr, packte zu – griff ins Leere – bekam nur das Tau in die Finger, das vom Dache herabhing.

Er schwang sich hinaus, hing an dem Tau, kletterte empor. Ich folgte ihm. Es war ein Leichtsinn, dem Tau auch noch mein Gewicht anzuvertrauen. Aber – es hielt.

Harald hatte die Dachrinne erreicht, kroch auf das Pappdach – gab mir die Hand, zog mich empor.

Agna Orstra hatte kaum dreißig Sekunden Vorsprung.

Aber sie war nirgends zu bemerken.

Dabei war das Dach durch die aus den Fenstern herauszüngelnden Flammen taghell erleuchtet.

Nein – nur dort am Ende des Daches nach Nordost zu stand ein Weib in langem Nachtgewand mit aufgelöstem blonden Haar und schrie gellend um Hilfe – offenbar ein Hotelgast, der über die Bodentreppe und durch die Dachluke hierher geflüchtet war.

Harald schritt rasch auf das Weib zu, die sich vor Angst wie eine Wahnsinnige gebärdete, jetzt uns entgegeneilte und vor Scham über ihr mangelhaftes Kostüm den linken Arm über ihr Gesicht deckte.

„Durch die Dachluke – wieder nach unten!“ kreischte sie und wollte an uns vorüber.

Harst vertrat ihr den Weg.

„Agna Orstra – Sie haben verspielt!“ rief er. „Unter dem Nachthemd kommen die –“

Da – ihr rechter Arm zuckte hoch.

„Noch nicht verspielt!“ höhnte sie – zielte – drückte ab!

Harald taumelte, sank mir in die Arme.

Und – wieder das höhnische, grausame Lachen.

„Noch fünf Schuß! Und – jeder soll treffen –“

Harst rutschte völlig zu Boden. Nein – er rutschte nicht! Er hatte sich einen Schwung nach vorn gegeben, riß mich um.

Ein Knall im selben Moment. Die Kugel pfiff über meinen Kopf hinweg.

Agna Orstra aber ließ plötzlich den Revolver fallen, drehte sich um sich selbst, wurde gerade noch von Harst aufgefangen.

Asbörn Prang stürmte herbei – von der Dachluke her, den Revolver noch halb erhoben.

„Der Schuß wird mir nie leid tun!“ keuchte er ingrimmig.

Harst faßte in die Brusttasche, holte sein goldenes Zigarettenetui hervor. An der einen Seite steckte die Revolverkugel in dem Edelmetall.

„Meine Leidenschaft für Zigaretten hat mir das Leben gerettet,“ sagte Harald schlicht. –

Unten kam die Dorfspritze angerasselt. Hotelgäste erkletterten das Dach, bildeten [eine][12] Kette, reichten sich Wassereimer zu. –

Harst hatte die Sterbende behutsam niedergleiten lassen, hatte ihren Kopf in den Schoß genommen.

Rauchwolken strichen über uns hin, die wir hier um die Todgeweihte herumstanden.

Prangs Kugel war ihr schräg durch die Brust gegangen. Zwei dünne Blutfäden rannen aus den Mundwinkeln zum Kinn hinab.

Agna Orstra lag mit geschlossenen Augen da.

Schlug nun die Lider matt empor, stierte geradeaus in die Flammen – in den weißen Qualm.

„Sie haben Alice Darhagen hypnotisiert!“ sagte Harald, jedes Wort betonend.

Und die Sterbende nickte.

„Ist Alice bei Bauer Kölding?“

„Ja!“ hauchte sie. „War – war – krank. Nervenfieber –!“

Ihr Blick ruhte jetzt auf Haralds Gesicht.

„Hüten – Sie – sich!“ stieß sie mit letzter Kraft hervor. „Ottmar – will – will – Gletscher –“

Dann ein Ruck durch den Körper – ein Dehnen aller Glieder – ein Blutquell aus dem Munde.

Agna Orstra war tot. –

Nach einer Stunde hatte man das Feuer bewältigt. Wäre die Nacht nicht windstill gewesen, würde das ganze Hotel in Flammen aufgegangen sein.

So aber war der angerichtete Schaden verhältnismäßig gering. –

Mitternacht war vorüber, als wir beide, Prang und Bruckner durch den noch immer verqualmten Korridor nach unserem Wohnzimmer eilten.

Die beiden Ölgemälde – waren verschwunden.

„Ottmar Orstra!“ sagte Harald nur.

Dann machten wir uns nach dem Gehöft des Bauern Kölding auf den Weg.

Liebesszenen, ein Wiedersehen und Wiederfinden zwischen zwei Liebenden, zu schildern, übersteigt meine geringen Fähigkeiten als Schriftsteller-Dilettant.

Alice Darhagen hatte viel gelitten. Die Seligkeit dieses einen Augenblicks, da Bruckner sie jubelnd an sich zog, machte alles Leid gegenstandslos.

– – – – – – – –

Das ist die Schreckensnacht im Hotel Dahlen.

Frau Viehgroßhändler Flamborg hat ihre Juwelen nie wiedergesehen, obwohl wir sie Ottmar Orstra beinahe –

Doch nein! Das will ich im nächsten Band berichten.

Diesen Band schließe ich mit der Bemerkung, daß Mr. Albert Gloux nach wie vor jedes Jahr in Dahlen Forellen angelt und uns dann stets eine Ansichtskarte mit herzlichen Grüßen schickt.

 

Nächster Band:

Die Leiche im Gletschertunnel.

 

 

Verlagswerbung:

Der Detektiv

Eine Reihe höchst spannender Detektivabenteuer. Bisher sind folgende Bände erschienen:

 

Band
































74:
75:
76:
77:
78:
79:
80:
81:
82:
83:
84:
85:
86:
87:
88:
89:
90:
91:
92:
93:
94:
95:
96:
97:
98:
99:
100:
101:
102:
103:
104:
105:
106:
107:

Das Geheimnis der Kabine 24.
Das Rätsel der Trollhätta-Insel.
Lord Plemborns Verbrechen.
Die Leiche im Gletschertunnel.
Sechs leere Briefbogen.
Das Geheimnis des Elefantenjägers.
Lady Myntors letzter Wunsch.
Der Giftpfeil des Wedda.
Der Schlangenbeschwörer von Agra.
Das Patent des Doktor Murphison.
Die Buschklepper der Thar-Wüste.
Das blinde Hindumädchen.
Die Wundergeige des Virtuosen.
Der Geisterspiegel.
Das Geheimnis des Wannsees.
Giftkonfekt.
Schatten an der Wand.
Der tote Zigeuner.
Das Rätsel der Schonerjacht.
Die tote Karawane.
Das Wunder von Patna.
Frau Inges Tränen.
Der tote Kanarienvogel.
Der Obstkahn am Elisabethufer.
Das geheimnisvolle Fenster.
Anita Armands Verhängnis.
Unser 100. Abenteuer.
Die Piraten der Havelseen.
Der Napoleon aus Wachs.
Der dritte Schuß.
Das Zimmer ohne Fenster.
Das Paket im Urbanhafen.
Der unheimliche Mieter.
Das Känguruh der Miß Dolling.

– Preis pro Band 20 Pf. –

Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26,

Elisabeth-Ufer 44.

 

 

Anmerkungen:

  1. Hier wurde in den ersten Auflagen die zweite Geschichte als Hefttitel angegeben, in späteren Auflagen dagegen die Erste. Siehe dazu auch unter „Zusätzliche Informationen“.
  2. In der Vorlage steht: „soben“.
  3. In der Vorlage steht: „leget“.
  4. In der Vorlage steht: „Sönnquist“.
  5. Eigentlich wäre die richtige Schreibweise für diesen Ort „Dalen“, aber Kabel schreibt durchgängig „Dahlen“ (auch in anderen Heften), so daß hier diese Schreibweise beibehalten wird.
  6. In der Vorlage steht: „Ostra“.
  7. In der Vorlage steht: „Dorden“.
  8. Zwei Zeilen sind in der Vorlage vertauscht.
  9. In der Vorlage steht: „Flüchtlinge“.
  10. Den Trick hatte Walther Kabel schon früher beschrieben. Siehe hierzu seinen Artikel Schmuggelsport, der in mehreren Fassungen in verschiedenen Zeitschriften erschienen ist.
  11. In der Vorlage steht: „Hauttreppe“.
  12. Fehlendes Wort „eine“ ergänzt.

 

Hotel Dalen, Telemarken, aufgenommen zwischen 1894 und 1898 von Marthinius Skøien (1849–1916).