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Sechs leere Briefbogen

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 78:

 

Sechs leere Briefbogen[1]

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1922.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

1. Kapitel.

„Herr Harst, – Herr Harst, es ist ein Hühnerdieb im Stall!“ –

Dies war der Alarmruf, der unser Abenteuer mit den sechs leeren Briefbogen einleitete.

Damals, als die brave alte Mathilde[2], die Harstsche Köchin, mit diesem Alarmruf erschrocken und empört in Harald Harsts Arbeitszimmer gestürmt kam, waren wir gerade vor vier Tagen aus Göteborg in Schweden heimgekehrt.

Wir hatten in Haralds Studierzimmer am Sofatisch gesessen und beim Lichte der elektrischen Stehlampe die Abendzeitungen durchgesehen.

Es mochte halb neun gewesen sein, als Mathilde uns dann aus der beschaulichen Ruhe aufrüttelte.

„Na, na, liebe Mathilde, – ein Dieb in unserem Hühnerstall!“ meinte Harald zweifelnd. „Das muß denn gerade ein Mensch sein, der nicht weiß, wer hier wohnt!“

Mathilde wurde böse.

„Natürlich – wenn wir hier erst stundenlang reden, dreht er den besten Legehühnern den Kopf ab und verduftet!“ fauchte sie. „Meinetwegen kann er’s tun! Aber hier gibt’s dann nichts mehr zum Frühstück.“

Wir erhoben uns lachend.

Die Drohung ist fürchterlich!“ meinte Harald. „Sie sahen den Kerl also im Stalle verschwinden, Mathilde?“

„Ja. Ich wollt’ gerade die Ställe abschließen –“

„Gut. Schraut und ich werden den Dieb abfassen!“

Wir verließen ganz leise durch die Hoftür das Haus.

Der Septemberabend war mondhell. Als wir dicht vor der Tür des Hühnerstalles standen, sagte Harst:

„Die Eiervögel verhalten sich merkwürdig ruhig!“

Er öffnete die Tür und leuchtete mit der Taschenlampe in den weißgetünchten Stall hinein.

Links und rechts von der Tür befanden sich die Sitzstangen für das Hühnervolk. Geradeaus führte eine Leiter auf den sogenannten Körnerboden. In der Decke war ein quadratisches Loch eingeschnitten, durch das der obere Teil der Leiter hindurchreichte.

Harald begann die Leiter zu erklettern, blieb stehen und leuchtete auch den Bodenverschlag ab.

Ich sah, wie sein Blick jetzt auf einer Stelle ruhte.

„Kommen Sie, Freundchen,“ sagte er dann. „Meine Hühner esse ich allein, und die Eier auch!“

„Oh – ich bin kein Dieb!“ flüsterte oben jemand mit keuchender Stimme. „Sehen Sie bitte erst nach, Herr Harst, ob „er“ weg ist. „Er“ war mir gefolgt.“

„Wer ist dieser „er“?“

„Mein Chef, der Agent Gumlowsky. – Ich wollte mich vor ihm verbergen. Deshalb schlüpfte ich schnell in diesen Stall.“

„Junger Freund, Sie haben Phantasie.“

„Nein Herr Harst, – Angst habe ich, schreckliche Angst – vor Max Gumlowsky!“

„Hm – das klingt beinahe echt! Außerdem sind Sie für einen nächtlichen Hühnerjäger auch zu gut gekleidet, junger Mann! Ich werde also Herrn Gumlowsky verscheuchen, falls er noch in der Nähe sein sollte!“

Er stieg die Leiter wieder herab, winkte mir und ging hinaus. Ich drückte die Tür ins Schloß.

„Lieber Alter, der junge Mensch schwindelt nicht,“ sagte Harald leise. „Mach’ doch mal Ajax von der Kette los.“

Der große Hofhund, eine Kreuzung von Wolfshund und Dobermann, war mehr nach dem Gemüsegarten zu mit seiner Hütte untergebracht.

Er lag in der Hütte und kam erst heraus, als ich ihn energisch anrief. Ich hatte ihn kauen gehört und fand denn auch in der Hundebude noch ein faustgroßes Stück Fleisch.

Sofort stieg der Verdacht in mir auf, das Fleisch könnte vergiftet sein. Ich lief zu Harald zurück.

„Hole die Injektionsspritze und das Brechmittel – schnell!“ rief er erregt. „Diese Hühnerdieb-Geschichte wird ernst!“

Er blieb vor der Stalltür stehen. Ajax, den ich losgemacht hatte, schnüffelte schon an der Stalltür herum. Er hatte den Dieb gewittert.

Als ich mit der Spritze und dem Fläschchen zurückkehrte, hörte ich Ajax hinten im Gemüsegarten bellen.

„Er hat wirklich einen Menschen verjagt,“ meinte Harald leicht erregt.

Dann pfiff er. Ajax ließ sich jedoch Zeit. Als er dann endlich gehorchte, knurrte er noch wütend und rannte sofort zur Stalltür zurück.

Harst machte ihm dann eine Einspritzung in das Nackenfell.

„Nach drei Minuten ist der Magen leer. – Kette ihn wieder an.“

Ich brachte Ajax zur Hütte zurück. Inzwischen war auch schon der Hühnerdieb auf Haralds Zuruf vor dem Stall erschienen.

Wir nahmen ihn mit ins Haus. Ich konnte mir dann im Studierzimmer den vielleicht zwanzigjährigen Burschen genauer ansehen. Harst hatte alle Flammen der Krone eingeschaltet.

Nun – dieser Dieb wirkte sehr harmlos. Es war so der Typ des jungen, etwas überpatent gekleideten Kaufmanns. Das Gesicht war ganz sympathisch.

„Setzen Sie sich,“ sagte Harald freundlich und deutete auf den Klubsessel links vom Sofatisch.

„Ist er wirklich weg?“ fragte der junge Mensch ängstlich.

„Ja. Nehmen Sie nur Platz. – Schraut, reiche dem Gast einen Kognak –“

Der Hühnerdieb trank, dankte und fügte hinzu:

„Mein Name ist Karl-Ernst Lehmann –“ Er machte dazu eine tadellos eckige Kavalierverbeugung und fuhr fort: „Ich bin erster Prokurist der Firma Gumlowsky u. Komp., Agenturen –“

„Wieviel Angestellte hat die Firma?“ fiel Harst ihm ins Wort.

„Hm – nur – nur einen – mich!“

„Das dachte ich mir. Weiter bitte –“

„Ich bin erst seit dem ersten Juli bei der Firma.“

„Wer ist denn der Kompagnon?“

„Herrn Gumlowskys Frau –“

„So – so! – Wo befindet sich das Geschäftslokal?“

„In Charlottenburg, Kantstraße 308, in der Nähe des Amtsgerichts, Erdgeschoß vorn rechts. Ich meldete mich bei Herrn Gumlowsky auf sein Inserat hin. Er suchte einen Buchhalter, der auch französisch und englisch korrespondieren könne. Da meine Gehaltsforderung bescheiden war, stellte er mich an.“

„Haben Sie denn viel Arbeit?“

„Es geht. Hauptsächlich schreibe ich Briefe nach London und Paris an Geschäftsfreunde des Chefs.“

„Also Geschäftsbriefe?“

„Ja. Die Firma vermittelt auch An- und Verkäufe von Grundstücken und größeren Warenposten.“

„So – und nun den Grund Ihres Besuches, Herr Lehmann –“

„Ja, das hängt folgendermaßen zusammen. Also – vor etwa vierzehn Tagen waren Herr und Frau Gumlowsky gleichzeitig an Grippe erkrankt. Da mußte ich auch Krankenpfleger spielen, ebenso die eingegangene Post selbst öffnen. Am 18. August kam der erste Brief – der leere Brief, eben ein Briefumschlag großen Formats mit einem nicht geknifften völlig leeren Briefbogen darin. Ich ging damit in das Schlafzimmer und zeigte ihn dem Chef. – „Da hat sich einer einen Witz gemacht!“ schimpfte er. – Aber – er legte Umschlag und Briefbogen sehr sorgsam in die Nachttischschublade. Schon dieses fiel mir auf. – Am 20. August kam der zweite Brief, ebenfalls aus Danzig, auch leer – der Briefbogen. Und abermals schimpfte Gumlowsky und verwahrte Umschlag und Briefbogen wieder in der Schublade des Nachttisches. – Dann ging es ihm besser, und er sah die Post selbst durch. Das heißt: er tat so, als ob es ihm besser ginge. In Wahrheit hustete er fürchterlich und hatte hohes Fieber. Ich argwöhnte daher, er wolle mich nur die eingelaufenen Briefe nicht öffnen lassen.“

„Sie werden richtig kombiniert haben,“ nickte Harald.

„Ja, das glaube ich auch, Herr Harst. – Immerhin bekam ich die Briefe zuweilen doch zuerst in die Hand. Die seltsamen Sendungen aus Danzig interessierten mich. Ich paßte auf. Am 23. August war wieder ein Brief von gleichem Format darunter. Ich will ehrlich sein: ich habe den Umschlag heimlich geöffnet, Herr Harst, auch die der nächsten drei Briefe. Und – auch in diesen vier Umschlägen nichts als leere Briefbogen!“

„Wann trafen die Briefe Nr. 4, 5 und 6 ein?“

„Am 24., 25. und 26. August, – jeden Morgen einer.“

„Und dann?“

„Dann war der Chef wieder gesund, und ich konnte nicht mehr feststellen, ob noch mehr von diesen Briefen anlangten.“

Herr Karl-Ernst Lehmann schwieg und beschaute verlegen seine spitzen Fingernägel.

„Nun kommt die Hauptsache, nicht wahr?“ munterte Harald ihn auf.

„Ja – wie man’s nimmt, Herr Harst. Die Hauptsache sind doch wohl die sechs leeren Briefbogen. – Gestern mußte ich einen Brief nach London schreiben. Der Chef setzt mir stets bei Briefen ins Ausland den deutschen Text auf, den ich übersetzen muß. Er selbst kann nicht englisch, ebensowenig französisch.“

„In diesem Text fiel Ihnen etwas auf?“

„Ja. – Ich habe mir den Entwurf abgeschrieben. Hier ist er –“

Karl-Ernst Lehmann legte einen Zettel vor uns hin. Wir lasen folgendes:

Herrn

Stuart Austin,

London,

Baker-Straße 24.

Auf Ihre letzten Anfragen teilen wir Ihnen höflichst mit, daß die Warenproben Nr. 5 und 6 am meisten unseren Wünschen entsprechen. Wir bitten daher um einen größeren Posten, da der Artikel zur Zeit recht gangbar ist.

Allemannia, Agenturen – p. v.

Max Gumlowsky.

Harst legte den Briefentwurf wieder auf den Tisch.

„Sie wunderten sich, Herr Lehmann, weil keine Warenproben eingegangen waren, auf die dieses Schreiben sich beziehen könnte?“ fragte Harald.

„Ja. Außerdem darüber, daß der Chef mir weismachen wollte, es handele sich um Feuerzeuge, die wir allerdings von Herrn Austin aus London erhalten hatten.“

„Ließen Sie Ihre Zweifel laut werden?“

„Nein, Herr Harst. – Heute vormittag erfolgte dann das Dritte, was mich seltsam berührte. Gumlowsky wurde gegen zehn Uhr am Telephon verlangt, das heißt, es fragte jemand, ob Herr Gumlowsky zu sprechen sei. Ich rief zurück: „Hier Max Gumlowsky u. Komp.“ – Darauf der Fremde: „Du – ich bin wieder in Berlin! Habe soeben Deine Nummer im neuen Telephonbuchnachtrag gefunden – Mensch – rate mal, wer mit Dir spricht?“ – Dann lachte der Fremde und fügte hinzu: „Das rätst Du nie! Der schwarze Mar ist’s! Nachmittags um zwei Uhr komme ich zu Dir. Halte die Luft rein! Auf Wiedersehn, Gumlochen!“ – Da dachte ich mir, daß es ratsam sei, den Harmlosen zu spielen, und rief schnell: „Entschuldigen Sie, Herr Mar, – ich bin nur der Prokurist. Der Chef ist ausgegangen. Ich werde ihm aber bestellen, daß Sie um zwei Uhr ihn besuchen wollen.“ – Dann hörte ich einen Fluch – und es meldete sich niemand mehr.“

„Was sagte Gumlowsky, als Sie ihm von dem schwarzen Mar berichteten?“

„Oh – ich erzählte nur, ein Herr Mar habe ihn sprechen wollen und würde sich um zwei Uhr einfinden. – Aber – das Gesicht des Chefs hätten Sie sehen sollen, Herr Harst! Ganz blaß wurde Gumlowsky, dann puterrot; dann bückte er sich schnell und hob seinen Hut auf, den er natürlich absichtlich hingeworfen hatte. „Ach so – der Herr Mar!“ Und dann sprach er vom Wetter. – Ich habe von eins bis drei Tischzeit. Aber die Neugierde ließ mir keine Ruhe. Ich wollte den schwarzen Mar sehen, stellte mich um ¾2 gegenüber in den Hausflur und paßte auf. Es kam jedoch kein Mensch zu Gumlowsky. Nur eine ältere Dame betrat den Laden. Es wird eine Bekannte Frau Gumlowskys gewesen sein.“

„Wahrscheinlich!“

„Dann spürte ich nachmittags ganz deutlich, daß der Chef mich aushorchen wollte, ob ich etwa bei dem Telephongespräch mit Herrn Mar etwas Besonderes gefunden, also irgendwie Verdacht geschöpft hätte. Ich spielte wieder den Harmlosen. Aber – als ich so gegen acht Uhr meine Wohnung in der Kantstraße Nr. 36 – ich wohne dort möbliert – verließ und mit der Straßenbahn bis hier nach Schmargendorf fuhr, da – da bemerkte ich vom Innern des Wagens aus auf der Plattform einen Mann, der mich zuweilen mit so einem besonderen Blick streifte. – Gewiß, der Mann hatte keinerlei Ähnlichkeit mit meinem mageren, bartlosen Chef, hatte einen rötlichen Vollbart, trug keinen Hornkneifer, hatte eine noch dickere Nase als Gumlowsky und war korpulent. Und trotzdem: die Augen verrieten den verkleideten Spion! Es waren meines Chefs unruhige, halb zugekniffene Augen; es war dasselbe nervöse Zwinkern des linken Auges. Jedenfalls – nachdem ich erst einmal auf den Mann aufmerksam geworden war, nachdem ich ihn heimlich weiter belauert hatte, ward es mir zur Gewißheit: es ist Max Gumlowsky! – Ich hütete mich daher, etwa hier in der Nähe Ihres Hauses auszusteigen, Herr Harst. Ich fuhr bis zum Viktoria-Louise-Platz und betrat dort ein Cafee, das zwei Eingänge hatte, verließ es sofort wieder durch die andere Tür und sprang in ein Auto. Aus Ihres Freundes Schilderungen Ihrer Abenteuer weiß ich, daß man auch durch das Laubengelände an die Rückseite Ihres Grundstücks gelangen kann. Als ich dann zu Fuß mich dem Gartenzaun auf dem Feldwege näherte, als ich mich mißtrauisch nochmals umschaute, sah ich – Gumlowsky, der mir laufend folgte. Da habe ich dann nicht lange gezögert, kletterte über den Zaun, eilte durch den Gemüsegarten und schlich zuletzt links am Zaune entlang dem Hofe zu –“

„Deshalb also hat der Hund Sie nicht gemeldet! – Dann verschwanden Sie im Hühnerstall –“

„Ja, Herr Harst –“

 

2. Kapitel.

„Bitte, nehmen Sie eine Zigarette. – So. Noch einige Fragen. Die sechs leeren Briefbogen interessieren mich. Vielleicht waren sie mit einer Geheimschrift beschrieben?“

„Nein. Das glaube ich nicht. Ich habe einen der Bogen in die pralle Sonne gelegt, habe ihn mit einem starken Vergrößerungsglas geprüft, habe ihn über Schwefeldampf gehalten. Es war keine Spur von Schrift darauf.“

„Was für Papier war es?“

„Sehr eigenartiges Briefpapier. Braungelb und nicht zu stark.“

„Die Größe?“

„Der nur in der Mitte gefaltete Bogen mag 14 mal 22 Zentimeter groß gewesen sein.“

„Und die Umschläge? War ein Absender vermerkt?“

„Nein. Die Adresse war mit Maschine geschrieben. Die Umschläge waren große, starke, gelbe Geschäftsumschläge.“

„Haben Sie die leeren Briefbogen nochmals irgendwie zu Gesicht bekommen?“

„Nein.“

„Weshalb fürchteten Sie sich vor Ihrem Chef so sehr, daß Sie sich im Hühnerstall verbargen?“

„Oh – der Mann ist sehr jähzornig. Überhaupt – man muß vor ihm Angst haben. Er – er hat grausame, tückische Augen.“

„Sie scheinen nicht gerade zu den Mutigen zu gehören, Herr Lehmann –“

„Ich bin keineswegs feige, Herr Harst. Es handelt sich hier doch auch darum, daß ich meine Stellung zu verlieren fürchte. Heutzutage ist es schwer, eine[3] neue zu finden. Und doch habe ich dieses Risiko auf mich genommen. Ich habe eben das deutliche Gefühl, daß die ganze Firma Allemannia irgendwie faul ist.“

„Sollte Ihr Chef Sie nun morgen ausforschen, wo Sie heute abend gewesen sind, – was werden Sie dann tun?“

„Ich wollte ihm zuvorkommen und ihm morgen ganz harmlos erzählen, daß ich bei Ihnen war. Er weiß, daß mir vor vier Tagen aus meinem Schreibtisch bei Frau Nölde, meiner Wirtin, außer dreihundert Mark auch sämtliche Familienpapiere gestohlen worden sind. Ich bin Waise, Herr Harst. Mein Vater hatte so eine Art Familienchronik angelegt und von verstorbenen Verwandten alle Papiere gesammelt. Es waren vier umfangreiche Päckchen. Ich habe damals den Diebstahl der Polizei gemeldet und auch scherzend zu Gumlowsky gesagt, daß es schade sei, daß Sie in Norwegen wären; sonst hätte ich Sie gebeten, den Dieb zu suchen. – Vorgestern las ich dann, daß Sie heimgekehrt seien, und da schoß es mir heute nachmittag so durch den Kopf, ich könnte eigentlich Ihnen die Sache mit den sechs leeren Briefbogen mal vortragen.“

„Eine Sache, der Sie zu viel Bedeutung beilegen, Herr Lehmann. Es wird sich fraglos um etwas ganz Belangloses handeln. Um nun aber Ihre fromme, für Gumlowsky bereit gehaltene Lüge zu unterstützen, werden wir Sie nach[4] Ihrer Wohnung begleiten und uns den Schreibtisch ansehen. Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß Ihr Chef jetzt vor dem Hause Sie erwartet. Wir wollen daher auch in zwei Partien mein Heim verlassen. Schraut mag durch den Gemüsegarten gehen, und wir beide benutzen den Vorderausgang. Wir treffen mit meinem Freunde dann wieder vor Kantstraße Nr. 36 zusammen.“

„Oh – das ist ein sehr guter Gedanke, Herr Harst! Gumlowsky wird mir so eher Glauben schenken.“

„Hoffentlich –“ –

Ich durchschritt den Gemüsegarten sehr langsam. Als ich in den Feldweg einbog, gewahrte ich einen Mann, der im Schatten eines Baumes auf einem Wege des Laubengeländes stand. Der Mann folgte mir. Ich drehte mich nicht um. Aber ich ließ meinen Spazierstock einmal fallen und blickte beim Bücken zurück. Der Mann blieb weiter hinter mir, bis zur Kantstraße. Auf der Straßenbahn hatte er sich auf die vordere Plattform gestellt.

Als ich mit Harald und Herrn Karl-Ernst Lehmann zusammentraf, sagte Harst sofort:

„Natürlich war auch hinter Dir jemand her?“

Ich war überrascht.

„Gumlowsky verfolgte mich!“ erklärte ich sehr bestimmt.

Lehmann schüttelte den Kopf. „Das ist wohl ausgeschlossen, Herr Schraut. Gumlowsky hatten Herr Harst und ich als Verfolger.“

„Öffnen Sie erst die Haustür,“ meinte Harald. „Es gibt dann eben zwei Gumlowskys.“

Die Geschichte der sechs Briefbogen wurde interessant.

Oben in Lehmanns nett möbliertem Zimmer setzte Harald sich sofort vor den Schreibtisch.

„Wo lagen das Geld und die Papiere?“ fragte er.

„In der Mittelschublade. Sie hat ein Sicherheitsschloß, das ich selbst einsetzen ließ. Alle Wirtinnen sind neugierig. Ich mag meine Sachen nicht durchschnüffeln lassen.“

Er gab Harald den Schlüssel.

„Ah – ein vortreffliches Schloß,“ meinte Harst. „Da war mit Nachschlüsseln nichts auszurichten.“

Er nahm einen kleinen Schraubenzieher aus seinem Etui und schraubte nun das Schloß heraus, schraubte es auseinander und besichtigte es von innen.

„Hm – das dürfte mit dem richtigen Schlüssel geöffnet worden sein, Herr Lehmann. – Wann wurde der Diebstahl verübt?“

„Vormittags zwischen zehn und zwölf Uhr, als Frau Nölde auf dem Wochenmarkt war.“

„Besinnen Sie sich mal –“ – Harst setzte das Schloß wieder ein. – „War Herr Gumlowsky an jenem Vormittag im Geschäft oder ausgegangen?“

„Hm – richtig, er war anderthalb Stunden weg.“

„Hätte er Ihr Schlüsselbund mitnehmen können – also auch diesen Schlüssel?“

Karl-Ernst Lehmann starrte Harald sprachlos an.

„Glauben Sie etwa, daß Gumlowsky der Dieb war?“ fragte er hastig. „Jetzt, wo Sie mich auf diese Möglichkeit hinweisen, erscheint sie mir insofern nicht ganz unbegründet, als ich im Büro ein Schränkchen für meine Bürojacke und die Schutzmanschetten habe und morgens dort die Schlüssel im Schloß stecken lasse – das ganze Schlüsselbund also. Ob es damals vormittags da war, weiß ich nicht. Ich achte nie darauf.“

Harald lehnte sich im Schreibsessel zurück.

„Hat Gumlowsky gewußt, daß Sie so viel Familienpapiere besitzen, Herr Lehmann?“

„Ja. Ich erzählte es ihm mal gelegentlich.“

„Wurde hier in der Wohnung damals noch etwas gestohlen?“

„Ja – aus der Speisekammer ein Stück Speck und eine halbe Dauerwurst.“

„Da Sie an dem Schlüsselring auch den Sicherheitsschlüssel der Flurtür haben, hätte Ihr Chef hier sehr bequem eindringen können. Speck und Wurst wurden nur zum Schein mitgenommen, ebenso die dreihundert Mark. Der Dieb hatte es auf die Papiere abgesehen.“

„Aber Herr Harst – was sollten die ihm wohl für einen Vorteil bringen?“

„Das bleibt aufzuklären, Herr Lehmann. – Ist die Familienchronik ebenfalls verschwunden?“

„Nein. Die steht dort im Bücherschrank.“

„Falls ein Stammbaum dabei ist, könnten Sie ihn mir mitgeben und einige Zeit überlassen.“

Lehmann holte die Chronik und nahm ein einzelnes Blatt heraus. „Bitte, Herr Harst. Dies ist der Stammbaum.“

Harald steckte ihn in die Tasche.

„Sie werden also morgen Ihrem Chef erzählen, daß Sie bei mir waren, daß ein Unbekannter Sie verfolgt hätte und daß Sie von uns aus dem Hühnerstall herausgeholt wurden. Von den beiden Leuten, die dann Schraut und uns beiden auf dem Herwege auf den Fersen blieben, natürlich kein Wort. Ich hoffe, daß auf diese Weise Gumlowskys Argwohn zerstreut werden wird. Sollte er fragen, was ich hier bei Ihnen festgestellt hätte, so erklären Sie, ich wäre der Meinung, der Dieb habe hier mit Nachschlüsseln gearbeitet, sei aber gestört worden, sonst hätte er wohl mehr gestohlen.“

„Gut, Herr Harst. Und – und was halten Sie von den sechs leeren Briefbogen und den beiden Männern, die offenbar beide ganz gleich aussahen? Ich meine unsere Verfolger –“

„Das kann ich Ihnen heute noch nicht sagen. – Sollte im Geschäft sich noch etwas Auffälliges ereignen, so kommen Sie nicht zu mir, sondern telephonieren Sie, aber nicht vom Geschäft aus. Und – seien Sie etwas vorsichtig, Herr Lehmann! Ich gebe zu, dieser Gumlowsky ist nicht ganz sauber. Halten Sie die Augen offen, spielen Sie aber den Harmlos-Vergnügten, singen Sie möglichst kräftige Loblieder auf Harald Harst, seine Liebenswürdigkeit, seine Zigaretten, seinen Kognak, und ziehen Sie den ganzen Besuch bei mir ins Scherzhafte. – Noch etwas, Herr Lehmann: Mit wem verkehrt Gumlowsky? Was treibt er nach Geschäftsschluß?“

„Verkehr hat er mit niemand, Herr Harst. Er ist eifriger Segler. Er besitzt eine kleine Jacht namens Möwe, die im Großen Wannsee vor Anker liegt. Meist fährt Gumlowsky um halb sechs nachmittag noch mit seiner Frau nach Wannsee, nimmt Abendbrot mit und segelt. Einige Male hatte er mich eingeladen.“

„So – nun können Sie uns das Haus wieder aufschließen, Herr Lehmann. Wir wissen vorläufig genug.“

Vor der Haustür noch zwei kräftige Händedrücke, und dann schritten wir langsam die Kantstraße in Richtung Zoologischer Garten hinab, bestiegen hier ein Auto und fuhren heim.

Als das Auto sich kaum in Bewegung gesetzt hatte – es war ein offener Wagen –, klemmte Harald seinen mit einer Klammer versehenen Hohlspiegel unten auf die Zwinge des Spazierstocks, hob den Spiegel über den Hinterrand des Wagens hinaus, lehnte sich zurück und beobachtete, ob ein anderes Auto uns folgte.

„Natürlich!“ sagte er nach einer Weile. „Natürlich ist abermals jemand hinter uns, mein Alter!“ Er steckte den Spiegel wieder in die Tasche und legte mir die Hand auf das Knie. „Du – das wird eine ganz große Sache! Dieser Karl-Ernst Lehmann ahnt nicht, wie wichtig seine Mitteilungen sind!“

„So?! – Gumlowsky ist ein Verbrecher, nicht wahr? Seine Bekanntschaft mit dem „schwarzen Mar“ – doch fraglos ein Kaschemmenspitzname! – spricht allein schon gegen ihn.“

„Das stimmt. Noch belastender ist aber all das andere: die leeren Briefbogen, der Brief an Mr. Austin nach London, der Diebstahl der Familienpapiere und die Verfolgung durch zwei verkleidete Männer, die sich dieselbe Maske zurechtgemacht haben. Die Frau, die unser[5] Freund Karl-Ernst heute gegen zwei Uhr nachmittags im Geschäftslokal der Allemannia verschwinden sah, war sehr wahrscheinlich der schwarze Mar.“

„Und die leeren Briefbogen?“

„Da ist mir eine Vermutung gekommen, die mit Gumlowskys Segeleifer zusammenhängt, außerdem mit der braven Mathilde letztem gewaltigen Ärger –“

„Wie – heute mit dem Hühnerdieb?“

„Nein, lieber Alter. Dieser Ärger liegt weiter zurück. Zerbrich Dir aber nicht den Kopf. Die gute Mathilde schimpft so oft auf dies und jenes, daß die Auswahl zu groß ist. – Wir werden jetzt daheim zu Bett gehen und um halb drei Uhr morgens wieder aufstehen, werden uns zweckentsprechend verändern und uns Kantstraße Nr. 308 gegenüber einmieten, damit wir Herrn Gumlowsky stets in der Nähe haben. Das weitere findet sich dann schon. Ich bitte Dich, jetzt nicht mit tausend Fragen über mich herzufallen. Ich bin völlig taub!“

Ich mußte mir die tausend Fragen also leider verkneifen. Dafür überlegte ich mir nun nochmals die Ereignisse des heutigen Abends und – überlegte mir alles so gründlich, daß ich mir zum Schluß eingestand: „Du hättest Dir diese Gedankenarbeit sparen können! Du bist um nichts klüger[6] geworden!“ –

Das Auto hielt. Als wir den Flur des Erdgeschosses betraten, kam uns Mathilde brummig entgegen.

„Hier – dies hab’ ich oben auf dem Körnerboden überm Hühnerstall hinterm Maissack gefunden!“

Sie gab Harald ein in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen von etwa Buchgröße.

„Ich wollt’ doch mal sehn, ob der Mensch sich auch nicht die Taschen mit Mais vollgesteckt hat,“ brummte sie weiter. „Der war doch nicht harmlos! Der Ajax liegt auch ganz matt in seiner Hütte.“

„Ah – den Hund haben wir ganz vergessen,“ meinte Harald zerstreut. „Es ist gut, Mathilde. Gute Nacht.“

Wir gingen in Harsts Studierzimmer.

Das Päckchen wurde nun geöffnet. Und – in der kleinen Pappschachtel lag Papiergeld: Hundertmarkscheine, Fünfzigmarkscheine, Zwanzigmarkscheine!

„Es sind genau 2140 Mark,“ sagte Harald.

„Ob Karl-Ernst Lehmann das Päckchen hinter den Maissack geschoben hat?“

Harst antwortete nicht. Er hatte die Zeitung, in die das Schächtelchen gehüllt gewesen, glatt gestrichen.

Es war eine alte Nummer der Swinemünder Zeitung – vom 10. April des vorigen Jahres. Oben rechts in der Ecke über dem Titel stand nur noch schwer lesbar mit Bleistift geschrieben:

Miete 62 Mk., Steuern 23 Mk., Licht 18 Mk., Gas 14 Mk., Wäsche 19 Mk.; zusammen 136 Mk. für April.

Harald schlug die Zeitung auf. Unten links sah man Tintenspuren, bereits vergilbt: der Abdruck eines Namens!

Als Harst einen Spiegel vor den Namen hielt, lasen wir deutlich:

Lehmann.

Es war eine sehr energische, schmucklose Schrift.

„Hm,“ meinte Harald, „ganz interessant. Die Schrift unseres Karl-Ernst Lehmann ist es nicht. Ich sah auf seinem Schreibtisch ein offenes Buch liegen. Auf dem Titelblatt stand sein Name. – Dies hier rührt von einem anderen Lehmann her. Falls unser –“

Er schwieg. Es hatte draußen geläutet.

„Vielleicht Herr Gumlowsky, der uns von seiner Biederkeit überzeugen will,“ sagte Harald dann.

Ich ging öffnen. Vor mir – der Rotbärtige, Korpulente, – also tatsächlich der Herr Chef!

„Prießkorn,“ stellte er sich vor. „Privatdetektiv August Prießkorn –“ – Er lächelte dabei.

Ich bekam keinen schlechten Schreck. Denn Prießkorn kannten wir. Wir hatten ihn wiederholt beschäftigt, wenn wir beide die Ermittlungen in einer umfangreichen Sache nicht allein erledigen konnten.

Wenn dieser Prießkorn wirklich unser Prießkorn war, und die Stimme klang mir sehr bekannt, dann – dann hatte Karl-Ernst Lehmann uns vielleicht gehörig angelogen.

 

3. Kapitel.

Es war August Prießkorn. Er saß in der Sofaecke, rauchte eine von Harsts besten Zigarren und berichtete:

„Heute nachmittag gegen halb drei Uhr war ein Agent Max Gumlowsky bei mir und beauftragte mich, seinen Prokuristen Karl-Ernst Lehmann zu beobachten, den er im Verdacht hatte, dauernd kleinere Beträge zu unterschlagen. Insbesondere soll Lehmann dies während Gumlowskys Grippeerkrankung getan haben. Gumlowsky hat daher verschiedene Hundert- und Fünfzigmarkscheine gezeichnet.“

„Halt!“ rief Harst. „Sehen wir mal nach –“

Er öffnete das Pappkästchen und prüfte die Scheine, reichte sie dann Prießkorn.

„Hier sind 23 darunter, die ein M. G. im Reichswappen haben.“

Prießkorn nickte. „Dann stimmt das schon. Woher haben Sie die Kassenscheine, Herr Harst?“

„Erzählen Sie nur erst weiter, Kollege!“

„Ich begann dann heute sofort mit der „Beschattung“, wie wir es nennen. Ich sollte hauptsächlich feststellen, ob Lehmann teure Bars besucht und den Lebemann spielt. Ich hatte einen meiner Angestellten in die gleiche Maske gesteckt –“

„Aha!“ machte Harst. „Und Sie folgten dann Lehmann bis hierher zu zweien, folgten uns auch bis zu seiner Wohnung.“

„Ja. So ist’s. Ich blieb dann im Auto hinter Ihnen –“

„Wissen wir alles. – Nun sollen Sie erfahren, was Karl-Ernst Lehmann hier wollte. Er ist vor vier Tagen bestohlen worden und bat uns, den Dieb zu suchen!“

Prießkorn lachte. „So ein frecher Halunke! Von dem Diebstahl hat er auch Herrn Gumlowsky Mitteilung gemacht. Natürlich alles Schwindel.“

„Hm – wollen Sie mir dann vielleicht erklären, was er hier bei uns beabsichtigte?“

„Vielleicht wollte er seinen Chef irgendwie anschwärzen!“

„Bewahre! Im Gegenteil, er hat sehr nett von Herrn Gumlowsky gesprochen. – Also – was wollte er hier?“

Prießkorn blickte auf die Kassenscheine. „Wo fanden Sie die Dinger, Herr Harst?“ antwortete er mit einer Gegenfrage.

„Auf dem Boden über dem Hühnerstall!“ Er schilderte, was für den Fund des Geldpäckchens in Betracht kam.

„So so!“ meinte der Berufsdetektiv. „Jedenfalls ist Karl-Ernst Lehmann jetzt des Diebstahls überführt. Dieses Geld hat er Gumlowsky gestohlen.“

„Sehr wahrscheinlich. Er wollte es los werden und verbarg es hinter dem Maissack,“ erklärte Harst völlig ernst.

Ich verbiß mir mühsam ein Lächeln. Der gute Prießkorn merkte nicht, daß Harald ihn sehr fein „einwickelte“.

„Nehmen Sie das Geld nur mit,“ fügte Harst hinzu. „Es gehört ohne Zweifel Herrn Gumlowsky. Ob er den Lehmann gerichtlich belangen lassen wird?“

„Nein. Er will ihn nur an die Luft setzen.“

Harald gähnte. Prießkorn verstand den Wink und verabschiedete sich. Das Pappschächtelchen mit dem Gelde steckte er ein. Die Zeitung aber hatte Harald unauffällig bei Seite gelegt.

Wir begleiteten den Kollegen bis an die Tür des Vorgartens.

„Ihre Maske ist übrigens ausgezeichnet, Prießkorn,“ sagte Harald noch. Dann stieg der Detektiv in das wartende Auto und fuhr davon.

Harst schaute dem Auto nach, meinte leise:

„Ich wußte es! Eine ganz große Sache –! Nun werden wir das Stück Fleisch mal auf Gift untersuchen. Den Umständen nach müßte entweder Karl-Ernst oder einer der beiden Detektive es Ajax hingeworfen haben.“

„Unsinn! Daran glaubst Du selbst nicht!“ entfuhr es mir. „Gumlowsky ist eben als dritter bei uns im Garten gewesen und hat auch, als wir mit dem jungen Menschen ins Haus gegangen waren, das Päckchen auf dem Körnerboden versteckt, um Karl-Ernst Lehmann in Verdacht des Diebstahls zu bringen.“

„Dann sind wir einig, mein Alter. Karl-Ernst hat uns nicht belogen, in keinem Punkte! Der Lügner ist Gumlowsky – ein ganz gefährlicher Schurke! Ausgerechnet heute nachmittag nach dem Telephongespräch zwischen dem schwarzen Mar und Lehmann, durch das Gumlowsky schwer bloßgestellt wurde, eilt er zu Prießkorn!“

Wir waren langsam auf das Haus zugeschritten.

Harald blieb plötzlich stehen, packte meinen Arm.

„Da – das Fenster!“

Und ich sah, wie über den Vorhang des einen erleuchteten Fensters von Harsts Arbeitszimmer blitzschnell ein schwacher Schatten hinglitt.

„Was bedeutet das?“ flüsterte ich.

„Wir hätten die Haustür nicht bloß anlehnen, sondern ins Schloß drücken sollen! Es ist jemand bei uns eingedrungen, und – wir haben nicht mal unsere Pistolen bei uns! Vielleicht ist es – der schwarze Mar, der vielleicht mit – Ottmar Orstra identisch ist!“

„Wie – Orstra?!“

„Vielleicht! – Gehen wir erst mal in den Flur –“

Wir traten ein. Die Flurampel brannte.

Harst zog die Tür zu, schloß ab, legte die Sicherheitskette vor, sagte ganz laut:

„Der Koffer steht in Deinem Zimmer! Gehen wir und –“

Er hatte die Tür rechts, die zu meinen beiden Räumen führte, geöffnet.

Wir standen jetzt in meinem Wohnzimmer. Harst drückte die Tür zu, schob den Riegel vor.

„Durch das Schlafstubenfenster in den Hof!“ flüsterte er.

Wir sprangen in den Hof hinab. Harst holte die Leiter, lehnte sie an das Sims seines Schlafstubenfensters und streifte rasch die Schuhe ab.

Ich tat dasselbe. Dann stiegen wir durch den offenen Fensterflügel in das Schlafzimmer ein.

Harst zog ganz sacht die Nachttischschublade auf und nahm die neunschüssige Clement heraus.

Er holte tief Atem.

„So – nun steht die Partie gleich!“ meinte er. „Nun werden wir uns den Gast näher ansehen!“

Meine Pistole lag leider auf Harsts Schreibtisch, wo ich sie nach der Entdeckung des Hühnerdiebes hingelegt hatte.

Harst riß jetzt die Tür nach seinem Arbeitszimmer auf, trat schnell ein und – zielte auch schon auf den Menschen, der genau in derselben Sofaecke saß wie vorhin Kollege Prießkorn.

In derselben Sofaecke – und genau derselbe Mensch.

Genau dieselbe Maske – nur der Anzug war dunkler, und die Krawatte schwarz.

Der Mann hielt die rechte Hand zwanglos im Schoß, und in dieser Hand eine lange, klobige Pistole.

„Rühren Sie sich nicht!“ warnte Harald.

Der Mensch lächelte und – hob den rechten Arm.

Harst drückte ab.

Das Schloß der Clement gab einen metallischen Klang, als der Schlagbolzen vorschnellte.

Das war alles. Kein Schuß.

„Der Patronenrahmen enthält nur Patronenattrappen,“ sagte der Mensch ohne jeden Hohn. „Meine Pistole aber ist geladen und hat den Vorzug, lautlos zu schießen! – Da – ich habe schon zwei Sessel zurechtgerückt. Setzen Sie sich! Ich bin Ottmar Orstra!“

Harst ließ den Arm sinken.

„Wir gehorchen, Orstra,“ erklärte er ebenso gelassen. „Ich habe mit Ihnen zu reden.“

„Machen Sie keine Dummheiten!“ warnte Orstra. „Ich müßte abdrücken. Es geht um meinen Kopf, wenn Sie mich festnehmen. Das weiß ich. Und deshalb darf ich Sie nicht schonen.“

Wir setzten uns in die beiden Klubsessel Orstra gegenüber.

„Das Verhältnis zwischen Ihnen, meine Herren, und mir muß jetzt endgültig geklärt werden,“ begann der Verbrecher etwa in demselben Ton, als säße er in einem Salon mit zwei Gästen zusammen, die auf äußerste Höflichkeit Anspruch hatten. „Bevor wir die Verhandlungen beginnen, möchte ich mich gegen Ihre stets neu ersonnenen Tricks, einen Gegner unschädlich zu machen, nach Möglichkeit schützen.“

Er faßte mit der Linken in die Tasche und warf mir eine kleine Rolle etwa millimeterstarken Drahtes zu.

„Herr Schraut, Sie werden Ihrem Freunde die Hände fesseln,“ verlangte er etwas energischen Tones. „Ich warne Sie[7] beide nochmals. Die Waffe, die ich hier auf Sie gerichtet halte, ist eine doppelläufige Luftpistole System Maux. Die Durchschlagskraft kommt der einer gewöhnlichen Scheibenpistole gleich. Bei der geringsten verdächtigen Bewegung – doch nein, ich will nicht drohen! Sie werden nicht so unvorsichtig sein, hoffe ich. – Also bitte, Herr Schraut!“

„Tu’s nur!“ meinte Harst.

Was blieb mir anderes übrig als zu gehorchen?

Ich stand auf, wickelte die Rolle Draht auf. Harald hielt mir die Hände hin.

„Etwas fester!“ sagte Orstra dann. „So – das genügt.“

Der Rest der Drahtrolle, noch gegen drei Meter, fiel auf den Teppich.

„Nein – werfen Sie mir den Draht zu, Herr Schraut,“ befahl Orstra ungeduldig.

Ich tat es. Er griff danach mit der Linken und behielt das Drahtende in der Hand. Der übrige Draht, der noch mit Haralds Handgelenken verbunden war, bildete auf der Tischdecke große Spiralen.

„So,“ meinte Orstra. „Jetzt also zum Thema. – Sie, Herr Harst, haben mir in Norwegen bei vier verschiedenen Gelegenheiten eine Beute von insgesamt etwa sechs Millionen Kronen entzogen. Sie selbst besitzen, so weit ich informiert bin, rund sieben Millionen Mark.“

„Sieben und eine halbe,“ verbesserte Harst.

„Gut, also sieben und eine halbe. Ich könnte Sie beide hier über den Haufen schießen. Zwei Stirnschüsse – und die Polizei könnte sich umsonst den Kopf zerbrechen, wer Sie beide beseitigt hat. Diese Art von Rache widerstrebt mir. Ich fordere folgendes von Ihnen, Herr Harst. Sie werden mir die ehrenwörtliche Zusage machen, mir binnen acht Tagen die Summe von fünf Millionen in Tausendmarkscheinen auszuhändigen, also am 11. September nachts ein halb zwölf Uhr in diesem Zimmer. Sie müssen mir weiter versprechen, in der Zwischenzeit nichts gegen mich zu unternehmen, auch nicht etwa die Hilfe der Polizei oder anderer Leute anzurufen. Ferner müssen Sie sich verpflichten, mich erst nach vier Stunden zu verfolgen, wenn ich mir am 11. September das Geld hier abgeholt habe. Gehen Sie hierauf nicht ein, so muß ich leider nachher ein Trauerhaus verlassen, in dem man zwei Tote beweinen wird.“

Dies war eine rücksichtsvolle Umschreibung für: „Muß ich Sie niederknallen!“

Und – Orstra würde dies tun! Daran zweifelte ich nicht. Wir kannten ihn; wir wußten, was wir von ihm zu erwarten hatten.

Harald erwiderte jetzt: „Fünf Millionen bares Geld in acht Tagen zu beschaffen, wird nicht ganz leicht sein – selbst mir nicht! Wirklich, Orstra, Sie stellen sich das einfacher vor, als es ist. Ich müßte das Geld gerade stehlen!“

„Dann stehlen Sie es! – Erhalte ich Ihre ehrenwörtliche Zusicherung nicht binnen zehn Minuten, so –, na, Sie verstehen mich!“

„Vollkommen, Orstra, vollkommen! – Einen Augenblick. Ich muß nachdenken –“

Stille – Totenstille im ganzen Hause.

Oben im ersten Stock schliefen Harsts Mutter und die treue Mathilde. Sie ahnten nicht, daß hier im Erdgeschoß ein Spiel um Sein oder Nichtsein gespielt wurde.

Dann sagte Harald:

„Es geht nicht, Orstra! Acht Tage sind eine zu kurze Frist. Gewähren Sie mir drei Wochen, dann will ich –“

„Keine Rede davon!“ fiel Orstra ihm ins Wort. „Acht Tage – na, sagen wir vierzehn Tage ist das Höchstmaß!“

„Müssen es gerade 1000-Markscheine sein? – Ich werde das Geld vielleicht wirklich – stehlen müssen, Orstra. Und – vielleicht erwische ich auch ausländische Banknoten.“

Orstra blickte Harald scharf an. „Sie belieben Witze zu machen, Herr Harst!“

„Durchaus nicht. Wenn nötig, kommt es mir auf einen Diebstahl nicht an. Ich kann Ihnen das Geld nachher ja wieder abnehmen.“

„Sie haben irgend einen Hintergedanken bei alledem, Herr Harst!“

„Nur den einen, daß ich mich vielleicht als Dieb versuchen werde. – Sind Sie auch mit ausländischen Banknoten zufrieden?“

„Ja. – Und Sie geben Ihr Ehrenwort – auch darauf, daß Sie mich unbehelligt jetzt weggehen lassen?“

„Natürlich, Orstra. Auch darauf. Also – vierzehn Tage Frist und die Erlaubnis, daß ich das Geld stehlen darf?“

„Aus Ihnen wird kein Mensch klug! Ja denn! Also abgemacht!“

„Abgemacht, Orstra. Sie sind vierzehn Tage und vier Stunden, bis zum 18. September morgens dreiviertel [vier][8] Uhr, vor uns sicher.“

Orstra verbeugte sich. „Ich habe einen Gentleman vor mir! – Herr Schraut, nehmen Sie Ihrem Freunde die Fesseln ab –“

„Halt!“ erklärte Harst da. „Noch einen Moment. Ich möchte Ihnen jetzt nur noch beweisen, daß ich mein Ehrenwort gar nicht hätte zu geben brauchen.“

Er hatte blitzschnell die Arme gehoben, hatte sie nach rechts geschwenkt.

Die Spiralen des Drahtes glitten über den Lauf der langen Pistole. Dann ruckte Harst mit den Armen zu – und die sich um den Pistolenlauf schmiegenden Spiralen rissen die Mündung nach oben.

„So – wenn Schraut jetzt zuspringt und Ihnen an den Hals fährt, gehen Ihre Kugeln in die Zimmerdecke,“ sagte Harald lächelnd. „Sie sehen – ich hätte Sie überwältigen können. Aber ich verzichtete darauf, weil ich – anderes mit Ihnen vorhabe!“

Orstras Verblüffung war so groß, daß er zunächst gar nichts sagte. Dann meinte er kopfschüttelnd:

„Von Ihnen kann man lernen! Sehr viel lernen! – Was haben Sie denn mit mir vor?“

„Oh – ich möchte Ihnen nochmals beweisen, daß Sie mir doch nicht entgehen. Jedenfalls: zwischen uns herrscht jetzt Waffenstillstand! Schraut – nimm mir die Fesseln ab.“

 

4. Kapitel.

Harald langte in die Tasche und holte sein Zigarettenetui hervor, rauchte sich eine Mirakulum an und meinte:

„Wie kamen Sie dazu, gerade diese Verkleidung zu wählen, Orstra?“

„Nun, weil zwei Leute in derselben Aufmachung vorhin Ihr Haus umschlichen, Herr Harst.“

„Ah – der Kollege Prießkorn und sein Gehilfe! – Ganz recht. Die hatten es auf einen armseligen Defraudanten[9] abgesehen.“

„So?! Und ich glaubte, es wären Leute, die Ihnen eins auswischen wollten –“

„Nein. Es ist die Wahrheit: es handelte sich um zwei Berufsdetektive!“ –

Es war ein Genuß, Haralds so ganz echt wirkenden Worten zu lauschen und sein Benehmen, seine Gesten, sein Mienenspiel zu beobachten. Seine Absicht war mir klar: er wollte Orstra um keinen Preis merken lassen, daß er dessen Verbindung mit Max Gumlowsky kannte.

„So war der junge Mensch der Defraudant?“ fragte Orstra mit etwas lauerndem Blick. „Ich sah Sie nämlich gegen halb zehn mit ihm davongehen. So hatte ich Zeit, mich umzukostümieren. Ich wohne hier ganz in der Nähe.“

Harald lächelte wieder.

„Natürlich nicht als Ottmar Orstra?!“

„Werde mich hüten! Mir stehen genug tadellose Ausweispapiere zur Verfügung – mit allen möglichen Namen. – Was wollte denn der junge Defraudant bei Ihnen, Herr Harst?“

„Das ist mir noch unklar. Er – hatte hier heimlich Geld deponiert.“

„So?! – Etwa die unterschlagene Summe?“

„Ich möchte darüber nicht sprechen. Der Geschädigte will von einer Anzeige absehen. Für mich ist die Geschichte erledigt.“

Orstra erhob sich. „Ich will nicht länger stören, Herr Harst. Wir sind uns also einig: Am 17. September um halb zwölf finde ich mich hier ein und erhalte fünf Millionen in Banknoten. Erst am 18. September morgens nach halb drei Uhr –“

„Bitte – meinetwegen auch vier Uhr –“

„Gut – also dann erst dürfen Sie meine Verfolgung aufnehmen!“

„Stimmt – wir sind einig. Auf Wiedersehen, Orstra. – Schraut, begleite den Herrn hinaus.“ –

Als ich vor der Haustür Orstras Verbeugung etwas knapp erwiderte, sagte er schnell:

„Glauben Sie mir, Herr Schraut, der Tod war Ihnen trotz der Drahtspiralen heute recht nahe! Sorgen Sie dafür, daß das Geld zur rechten Zeit da ist –“

Dann eilte er davon. Ich kehrte ins Zimmer zurück und fand Harald beim Studium des Stammbaums der Familie Lehmann.

Ich stützte mich mit beiden Händen auf den Tisch und fragte:

„Weshalb ließest Du Dich auf diesen Handel ein?! Wir hätten Orstra doch ganz bequem überwältigen können. Der Trick mit den Drahtschlingen wäre geglückt. Ich ahnte ja, daß etwas erfolgen würde; ich saß sprungbereit da –“

„Lieber Alter, sollte ich uns die Aussicht auf den feinsten Streich, den wir je Verbrechern gespielt haben, verderben?! – Nein – das wäre schade gewesen!“

Ich setzte mich.

„Würdest Du mir nicht erklären, was Du vorhast?“ bat ich gespannt.

„Ich will die fünf Millionen stehlen – tatsächlich!“

Da wurde ich ungemütlich.

„Laß doch den Unsinn! Wenn Du auch Orstra damit irgendwie bluffen wolltest, – bei mir –“

„– bei Dir will ich’s genau so wenig! – Nun brühe uns bitte eine Tasse Kaffee auf –“

Ich holte die Kaffeemaschine. Der Spiritus flammte auf. Und wieder konnte ich mich nicht beherrschen und fragte:

„Gumlowsky und Orstra sind alte Bekannte und –“

Harald unterbrach mich: „Ja – und nicht Gumlowsky, sondern Orstra war bei uns im Garten und im Hühnerstall und hat das Geld hinter den Maissack gelegt. – Nun störe mich nicht. Der Stammbaum ist recht interessant. Aus den Namen der verstorbenen Mitglieder der Familie habe ich mir schon vier herausgesucht –“

„Weshalb?“

„Nun – Gumlowsky hat die Familienpapiere doch nur gestohlen, um echte Ausweise in die Finger zu bekommen. Vielleicht hat er von diesen Legitimationspapieren einige seinem Freunde Orstra heute überlassen, der mit ihrer Hilfe sich als biederer Bürger namens Albert Lehmann oder Fritz Schütze oder Heinrich Gohlke – letztere beide sind Schwiegersöhne eines Onkels von Karl-Ernst Lehmann gewesen – ausgeben kann. Wenn Orstra sich jetzt zum Beispiel irgendwo in Berlin als Fritz Schütze aus Küstrin ein Zimmer mietet und dort sehr solide lebt, wird niemand ihn belästigen. Höchstens werden wir es tun – nach dem 17. September.“

„Aha – mir geht ein Licht auf! Du hoffst Orstra auf diese Weise schnell zu finden und ihm die Millionen wieder abzunehmen.“

„Ja – denn er wird nach dem 17. nicht sofort fliehen, sondern als solider Herr weiter wohnen bleiben, wo er wohnt, und niemand würde ihn dann beargwöhnen.“

„Hm – und die sechs leeren Briefbogen?“

„Oh – die spielen nach wie vor die Hauptrolle!“

„Auch bei dem Streich, durch den Du Orstra am 17. hineinlegen willst?“

„Ja, auch dabei.“

„Das ist mir unklar!“

„Weil Du keinen – Farbensinn hast!“

Ich begann zu grübeln. – Farbensinn?! Was sollte das nun wieder?! –

Harald war an seinen Schreibtisch gegangen und untersuchte das Stück Fleisch.

„Es ist wirklich vergiftet,“ erklärte er. „Armer Ajax, hoffentlich hat die Einspritzung Dir geholfen! Ich will doch mal auf den Hof gehen und nachschauen.“

Er kehrte sehr bald zurück.

„Ajax wird am Leben bleiben, mein Alter. – So, nun eine Tasse Kaffee. Dann werde ich einen Brief nach Swinemünde schreiben. Dort muß es einen Magistratssekretär Albert Lehmann gegeben haben, der am 19. Juli des Vorjahres verstorben ist und zwar als Junggeselle, der 62 Mark Miete gezahlt hat und monatlich 23 Mark Steuern. Dieser Lehmann wäre heute 45 Jahre alt, und – im gleichen Alter etwa ist Orstra. Falls sich die Papiere dieses Lehmann ebenfalls unter der Sammlung befunden haben, dann könnte Orstra vielleicht diese Papiere gewählt und sich für die nächsten Wochen in Albert Lehmann umgetauft haben. Mein Brief bezweckt folgendes: ich will vom Magistrat Swinemünde schwarz auf weiß bestätigt haben, daß Albert Lehmann tot ist! – Wenn Orstra dann hier als Herr Magistratssekretär auftritt, werde ich ihm sofort im geeigneten Moment beweisen, daß er dieser Herr nicht sein kann und daß ich – Halt – das darf ich ja nicht! Der Brief muß unterbleiben, denn dieses Schreiben verstieße gegen den Inhalt meines ehrenwörtlichen Versprechens!“ –

Am Vormittag erschien dann ein Herr aus Frankfurt am Main bei uns, ein bekannter Großindustrieller. Ihm waren die Zeichnungen für einen neuen Motor gestohlen worden. Abends fuhren wir nach Frankfurt. Am 14. hatte Harst den Dieb der Zeichnungen in Zürich ermittelt und die Skizzen ihm abgenommen. Am 15. abends waren wir wieder in Berlin. Als wir gegen elf Uhr auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin eingetroffen waren, als wir mit unseren beiden Koffern ein Auto bestiegen hatten und er dem Chauffeur als Ziel „Wannsee, Pension Seeblick“ nannte, da merkte ich, daß es jetzt Herrn Gumlowsky an den Kragen gehen sollte! Denn – in Wannsee lag Gumlowskys Jacht.

Das Pensionat war nur noch schwach besetzt. Wir nahmen zwei Parterrezimmer. Unterwegs im Auto hatten wir uns bereits ein wenig verwandelt. Der Chauffeur hielt uns sicher für Kriminalbeamte. Wir gaben andere Namen an, aßen in unserem Wohnsalon und ruderten am 16. nachmittags mit einem dem Pensionat gehörigen Boot auf dem Großen Wannsee umher, bis wir Gumlowskys Jacht „Möwe“ gefunden hatten.

Gegen halb fünf begab sich Herr Gumlowsky nebst Gattin an Bord der Jacht und machte sie klar zur Fahrt. Wir vertauschten das Ruderboot schnell gegen eine Segeljolle und hielten uns stets hinter der Möwe, die jetzt durch den Kanal in den Kleinen Wannsee einbog und dann an einem Bootssteg am Nordufer bei den letzten Häusern des Villenortes anlegte.

Harald hatte sein Fernglas mit. Nachdem er das Ehepaar in einem Häuschen dicht am Ufer hatte verschwinden sehen, kehrten wir um.

„Es geht alles ganz programmäßig,“ meinte Harst gutgelaunt. –

Gegen neun Uhr abends – es war sehr dunkel und windig – lagen wir beide in einem Gebüsch in der Nähe desselben Häuschens, das seiner Zeit wohl als größere Sommerlaube errichtet und nachher durch zwei Anbauten und Verdoppelung der Wände in eine Dauerwohnung umgestaltet worden war. Es hatte ein Pappdach, zwei Schornsteine und überall Laden vor den kleinen Fenstern. Das dazu gehörige Gartengrundstück war nur klein und der Garten völlig verwildert. Es war so eine Restparzelle mit Seefront, mit der nichts Rechtes anzufangen war, da sie nur einen schmalen Zugang zwischen Zäunen hindurch von der nächsten Straße hatte.

Es mußte notwendig auffallen, daß der Zaun des Grundstücks recht neu und durch starke Stacheldrähte oben verlängert war. Das Überklettern dieses Zaunes hatte uns denn auch einige Zeit aufgehalten.

Nach der Wasserseite, der Hauptfront, durften wir uns nicht wagen, weil dort, wie Haralds Fernglas schon nachmittags festgestellt hatte, ein winziger Stall sich befand, vor dem ein großer Hund angekettet war.

Harst kroch jetzt allein weiter, kehrte dann sehr bald zurück und flüsterte: „Wir können verschwinden. Alles nach Wunsch erledigt.“

Abermals der Zaun mit den ekligen Stacheldrähten; aber wir kamen auch jetzt ohne Löcher in den Anzügen hinüber. Dann schritten wir die Straße entlang, und Harald sagte mit seltsamer Betonung: „Morgen abend werden wir die Millionen stehlen, mein Alter! Gumlowsky glaubt, wir wären noch in der Schweiz. Die Zeitungen brachten ja die Meldung, daß ich hinter den Frankfurter Dieben her bin. Jetzt wollen wir den Gemeindevorsteher ein wenig ausfragen.“

Der Herr Gemeindevorsteher sah sich Harsts Legitimation sehr genau an. Dann wurde er die Liebenswürdigkeit selbst.

„Fragen Sie, Herr Harst. Auf meine unbedingte Verschwiegenheit können Sie rechnen.“

„Wem gehört das kleine, verwilderte Seegrundstück am Nordufer des Kleinen Wannsees am Westende des Ortes? Ich meine das mit dem schmalen Zugang und dem Holzhause –“

„Weiß schon, Herr Harst. Einer alten Dame gehört’s, einer Schriftstellerin, die dort ganz für sich einsam haust. Man sieht und hört kaum etwas von ihr. Sie erwarb das Grundstück im vorigen Herbst. Klara Sanden heißt sie. Ein harmloses altes Fräulein, nur etwas menschenscheu.“

„Danke. – Nicht wahr, Sie sprechen zu niemand darüber, daß ich mich nach der Dame erkundigt habe.“

Dann verabschiedeten wir uns.

 

5. Kapitel.

Morgens – also am 17. morgens – bezahlten wir unsere Rechnung im Seeblick, fuhren im Auto nach Berlin zum Anhalter Bahnhof, warteten die Ankunft eines Fernzuges im Wartesaal ab und spielten dann die soeben erst eingetroffenen Reisenden, nahmen wieder ein Auto und waren um elf Uhr vormittags in der Blücherstraße in Schmargendorf, wo Harald dann – Herrn Gumlowsky anrief.

„Hier Harst – Harald Harst. Ich bin soeben aus der Schweiz zurückgekehrt, Herr Gumlowsky. Ich wollte nur fragen, was aus der Sache Karl-Ernst Lehmann geworden ist. – So – Sie haben schon einen neuen Buchhalter. Na – es war sehr anständig von Ihnen, daß Sie den Lehmann nicht anzeigten. Denken Sie, der junge Mensch hat schon wieder was berissen. Ich fand hier einen Brief vor, der – Doch, das möchte ich Ihnen mündlich mitteilen. Könnten Sie heute gegen neun Uhr abends zu mir kommen? – Ich würde Sie gern selbst besuchen, habe mir aber vorhin im Garten den Fuß etwas verstaucht. – Also bitte um neun. Nur für eine Viertelstunde. Länger werde ich Sie nicht aufhalten. – Danke vielmals. Auf Wiedersehen –“

„So,“ lächelte Harald dann, „Herr Max Gumlowsky wird heute also nicht in Wannsee sein. Wenn er um neun herkommt, wird die brave Mathilde ihm einen Brief von mir aushändigen, in dem ich mich wortreich entschuldigen werde: ich sei leider telephonisch abgerufen worden; er möge doch morgen früh wiederkommen.“ –

Um halb acht – wir hatten das Harstsche Haus unter den größten Vorsichtsmaßregeln verlassen – bestiegen wir den nach der Halenseer Brücke bestellten geschlossenen Kraftwagen. Um ein viertel neun stiegen wir dicht an dem schmalen Wege zum Grundstück der harmlosen Schriftstellerin Klara Sanden aus und kletterten dann über den scheußlichen Zaun.

Harald schlich zunächst allein mit dem Wurstpaket weiter. Zwei kleine Leberwürste waren darin.

So blieb ich denn eine Weile mir selbst überlassen. Ich wußte noch immer nicht, weshalb Harald jetzt hier „einbrechen“ wollte. An einen Diebstahl glaubte ich nicht. Das war natürlich ein Scherz. Wie sollte Gumlowsky auch wohl Millionen zur Verfügung haben?! Weshalb sollte er das Geld, falls er es besaß, hier verwahrt halten?! – Und dann – heute war doch der 17.! Heute um halb zwölf nachts würde Orstra bei uns erscheinen! Da sollte Harald fünf Millionen zur Verfügung haben! Gewiß – er hatte heute nachmittag gegen zwei Uhr seine Mutter mit irgend einem Auftrag, den er mir verschwieg, weggeschickt. Ob Frau Harst etwa auf der Bank gewesen war und Geld geholt hatte?! – Kurz – für mich war die Sachlage völlig ungeklärt. –

Harst tauchte auf. „Der Köter hat die Wurst gierig verschlungen,“ sagte er. „Ich warf sie ihm stückweise zu. Nun wird er in zehn Minuten ganz fest schlafen – mindestens bis morgen früh!“

Nach zehn Minuten zogen wir an der Glocke der Hintertür. Wir hörten sie im Flur bimmeln. Niemand kam. Dann arbeitete der Patentdietrich. Das Schloß war gut, aber doch nur ein Schloß. Wir traten ein. Ich mußte im Flur Wache stehen. Harst erschien erst nach einer Stunde – mit drei Paketen.

„Erledigt, mein Alter!“ lachte er triumphierend.

„Wie, hast Du wirklich Geld gefunden?“

„Ja – über acht Millionen. – Komm’, die Sache geht nun ihren Gang.“

Wir fuhren nach Berlin, nach Hause. Meine Fragen blieben unbeantwortet. Ich saß und grübelte.

Und dann – ein Geistesblitz! Nein – war ich nur begriffsstutzig gewesen!

„Du – jetzt bin ich im Bilde!“ rief ich.

„Dann freue Dich! Hoffentlich ist Orstra nicht ebenso schlau!“

Jetzt sah ich Orstras Besuch mit Vergnügen entgegen. In der Tat – das würde ein Spaß werden! –

Und es wurde ein Spaß. –

Punkt halb zwölf läutete es. Ich ließ Orstra ein. Er trug wieder die Maske wie am 3. September.

„Guten Abend, Orstra,“ sagte Harald gemütlich. „Nehmen Sie Platz –“

Orstra war doch etwas mißtrauisch.

„Haben Sie keine Angst,“ beruhigte Harst ihn. „Ich habe mein Wort in allen Stücken gehalten. Das ist ja selbstverständlich.“

„Und das Geld?“ fragte Orstra hastig.

„Werde ich Ihnen sofort aufzählen. – Setzen Sie sich doch. Wir können das in aller Behaglichkeit erledigen.“

Orstra nahm im Klubsessel am Sofatische Platz.

Auf dem Tische lagen die drei Pakete.

Harald rieb ein Zündholz an und hielt es an die Spitze der Mirakulum, rauchte ein paar Züge.

„Ich habe das Geld gestohlen, Orstra,“ sagte er dann.

„Das – das ist doch Blech!“ meinte der Verbrecher ungeduldig. „Bitte – zählen Sie mir das Geld vor.“

„Gestohlen – einem gewissen Gumlowsky!“ fuhr Harst schmunzelnd fort.

Orstra zuckte zusammen.

„Wem – Gumlowsky?“

„Ja – Ihrem alten Freunde, bei dem Sie sich als der schwarze Mar am 3. September anmeldeten.“

Orstras Hände begannen nervös zu flattern.

„Wo haben Sie das Geld gestohlen?“ stieß er keuchend hervor.

„Dort, wo ich es zu finden hoffte. – Als Karl-Ernst Lehmann mir hier von sechs leeren Briefbogen und der gelbbraunen Farbe und von der besonderen Beschaffenheit des Papiers Mitteilung machte, als er mir weiter erzählte, daß Gumlowsky von den Warenproben Nr. 5 und 6 bei Stuart Austin in London größere Posten bestellt hätte, da –“

Orstra tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Und Harald hatte plötzlich die Clement in der Rechten.

„– da wußte ich schon so ziemlich sicher, daß die sechs Briefbogen nichts als Papierproben für Banknotenfälschungen waren, die über dem Umweg über Danzig durch einen Mittelsmann Gumlowsky vorgelegt worden waren.“

Orstra stierte auf die Pistole.

„Ich depeschierte nach London – meine Mutter besorgte die Depesche. Die Antwort der Londoner Polizei lautete: Stuart Austin besitzt in der Bakerstreet eine kleine Papierfabrik! – Es stimmte also. Außerdem aber waren auch drei der Hundertmarkscheine, die zusammen mit dem anderen Gelde hinter dem Maissack versteckt waren, falsch.“

Der Verbrecher wollte sich erheben.

„Bleiben Sie sitzen!“ rief Harst. „Ich werde Sie vor vier Uhr morgens nicht verfolgen. Aber erst will ich Ihnen beweisen, daß Sie mich unterschätzt haben!“

Orstra sank in den Sessel zurück.

„Im Keller des Häuschens in Wannsee fand ich eine tadellos gearbeitete Geheimtür, die in die „Druckerei“ führte,“ erklärte Harald weiter. „Dort lag auch die fertige Ware: Tausendmarkscheine, englische Hundertpfundnoten und Fünfhundertkronenscheine, im ganzen etwa acht Millionen. Ich habe dieses Geld gestohlen. Sie hatten mir erlaubt zu stehlen, – wenn nur die fünf Millionen für Sie zur Stelle wären. Daß die Banknoten falsch sind, dafür kann ich nicht verantwortlich gemacht werden.“

Orstra lächelte verzerrt.

„Sie – Sie sind – ein –“

„– ein Mann, der auch kleine Scherze liebt, Orstra. – In diesem Moment ist das Häuschen in Wannsee bereits von der Berliner Polizei umstellt, die ich benachrichtigt habe. Auch Gumlowsky nebst Frau wird bewacht. Aber die Polizei greift erst um vier Uhr morgens zu. Das habe ich verlangt. Von Ihnen erwähnte ich nichts. Sie sind bis vier Uhr sicher. – So, nun können Sie die fünf Millionen haben. Übrigens – ich habe auch fünf echte Millionen bereit – für den Fall, daß ich in Wannsee doch nicht genug Geld gefunden hätte. Meine Mutter hat das Geld geholt. Aber – da Sie die Scheine in diesen Paketen da als echt verausgaben wollten, wird es Ihnen ja –“

„Ich bin besiegt, Herr Harst! Leben Sie wohl! Wir sehen uns wieder!“

„Es wäre für Sie besser, wir würden uns nicht wiedersehen!“

Orstra eilte hinaus. Wir folgten ihm. Draußen stand ein Auto. Er fuhr davon. –

Punkt vier Uhr morgens erschien unser Freund, Kriminalkommissar Bechert, bei uns.

Harst weihte ihn jetzt in alles ein. Wir begleiteten ihn zum Präsidium. Alle verfügbaren Beamten wurden ausgeschickt, alle Polizeireviere angefragt, ob irgendwo ein Magistratssekretär Albert Lehmann oder ein Fritz Schütze oder ein Heinrich Gohlke nach dem 3. September als Untermieter polizeilich gemeldet worden waren.

Um sechs Uhr bereits erhielten wir nach Becherts Dienstzimmer die Meldung, daß ein Magistratssekretär Albert Lehmann, Kantstraße 324 bei Munk wohnte – seit dem 4. September.

„Aha!“ sagte Harald lachend. „Also doch Albert Lehmann!“

Wir fuhren nach Kantstraße 324.

Und – dann lachte Harald nicht mehr!

In Lehmanns Zimmer auf dem Schreibtisch lag ein noch tintenfeuchter Brief an Harst.

Herr Harst!

Sie haben nicht gesiegt! Ich habe inzwischen Ihre Mutter gezwungen, mir die echten fünf Millionen auszuhändigen. Nun suchen Sie mich! Daß Sie mich hier finden würden, ahnte ich. Daher – ich reise!

Ottmar Orstra.

Wir drei standen tatsächlich sekundenlang wie gelähmt da.

Dann rief Harst:

„Nach Hause!“ –

Inzwischen war das Ehepaar Gumlowsky bereits verhaftet worden. Gumlowsky entpuppte sich als ein bereits vorbestrafter Falschmünzer namens Gerstel. Seine Frau hatte die Schriftstellerin Klara Sanden gespielt.

Karl-Ernst Lehmann hat eine sehr gute Anstellung anderswo gefunden. Hin und wieder besucht er uns noch. –

Wir fuhren also nach Hause.

Und dort –?

Der Leser mag die folgende Seite beachten.

 

 

Das Licht in der Eiche

 

1. Kapitel.

Und dort –

Ja – dort bewies Frau Auguste Harst wieder einmal, daß sie keine Nerven kannte.

Gewiß – das schwarze Spitzenhäubchen saß schief auf dem grauen Scheitel. Auch etwas blaß war die alte Dame.

Aber ruhig und übersichtlich erzählte sie das Vorgefallene.

Wir hatten mit Bechert kaum gegen halb fünf das Haus verlassen gehabt, als es vorn geläutet hatte. Die Köchin war, notdürftig angekleidet, öffnen gegangen.

„Kriminalwachtmeister Schöttler,“ hatte sich der Mann genannt, der Einlaß begehrte. „Ich soll Frau Harst etwas persönlich bestellen,“ hatte er erklärt.

Die arglose Mathilde führte ihn in Haralds Studierzimmer. Hier hatte Orstra dann sofort das Telephon unbrauchbar gemacht, ebenso im Flur.

Als Frau Harst mit Mathilde die Treppe herabkam, stand Orstra ihnen mit einem Revolver gegenüber.

Sehr energisch hatte er die Herausgabe der fünf Millionen verlangt. Er war aber stets höflich geblieben. Als er seinen wahren Namen nannte, hatte Frau Harst sofort erkannt, daß sie gehorchen müßte. Sie wußte ja, wer Orstra war.

Der Verbrecher hatte dann sowohl die fünf Pakete Tausendmarkscheine als auch die drei Pakete Falschgeld in einen unserer Handkoffer gepackt, hatte die beiden Frauen in die Speisekammer eingesperrt und war verschwunden.

Mathilde gelang es erst nach einer Stunde, die Tür der Speisekammer mit einem Bügeleisen aufzubrechen. Als wir eintrafen, waren die beiden Frauen erst eine Viertelstunde frei. Mathilde wollte gerade zur nächsten Polizeiwache laufen und den Vorfall melden. –

Bechert war mitgekommen. Eine flüchtige Besichtigung der Räume, die Orstra betreten hatte, ergab nichts besonderes. Aber in Harsts Schlafzimmer entdeckten wir doch etwas: Orstra hatte aus unserem Requisitenkoffer einige Perücken, Bärte, Schminken und Hautfärbemittel mitgenommen!

Bechert verabschiedete sich dann. Er versprach, sofort alle Bahnhöfe überwachen zu lassen. „Ich werde die großangelegteste Verfolgungsaktion einleiten, die je unternommen wurde,“ erklärte er.

Dann waren wir allein.

„Bechert wird auf die Weise wenig erreichen,“ meinte Harald, dem der Verlust des Geldes nicht weiter naheging. „Orstra wird Berlin nicht verlassen. In einer Millionenstadt wie Berlin taucht ein Verbrecher am leichtesten unter. Außerdem hat er fraglos ein Versteck für den Fall der Not vorbereitet. Ich hoffe auf etwas anderes –“

„Worauf denn?“

„Darüber möchte ich noch nicht sprechen. – Jetzt wollen wir erst mal frühstücken, mein Alter. Und dann schlafen wir Vorrat. Die nächsten Tage werden anstrengend werden.“ –

Erst gegen sieben Uhr abends weckte Harst mich. Er stand neben meinem Bett in Ulster und Hut.

„Wo warst Du?“ fragte ich rasch. „Du hast gar nicht geschlafen!“

„Doch – bis ein Uhr. Das genügte mir, lieber Alter. Du bist zehn Jahre älter. Du brauchst mehr Ruhe als ich. Ich war bei Frau Munk, Kantstraße 324, wo Orstra als Albert Lehmann gewohnt hat.“

Er setzte sich auf den Bettrand.

„Ich habe das von Orstra bewohnte Zimmer sehr genau durchsucht – sehr genau. Auch den Koffer mit den Kleidungsstücken, den er dort zurückgelassen hat. In einem Anzug in der Westentasche fand ich dies –“

Er reichte mir einen Kassenzettel des Warenhauses Wertheim.

Beim Licht der Nachttischlampe las ich darauf:

1 Damensportkostüm – 4200 Mk.

„Dann war ich bei Wertheim mit diesem Zettel. Das Kostüm ist vorgestern, also am 16., vormittags gekauft worden. Der Herr, der es kaufte, war bartlos, etwas über mittelgroß, schlank und hatte sehr schmale Hände, also Orstra. Wir wissen ja, daß Orstras Hände frauenhaft zierlich und zart sind. Er nahm das Kostüm gleich mit. Es war grüngrau getupft, rauher Stoff, Jacke mit zwei Täschchen. Er hat noch gefragt, ob er eine passende Damensportmütze bekommen könne. In der Hüteabteilung erfuhr ich dann, daß tatsächlich am selben Tage eine Mütze vom selben Stoff verkauft worden ist – auch an einen Herrn – Du fragtest mich morgens, worauf ich hoffte. Du besinnst Dich?“

„Ja. Und worauf hofftest Du?“

„Nun – unter den Perücken, die Orstra mitgehen ließ, befanden sich auch zwei Damenperücken, eine dunkel- und eine hellblonde. Da sagte ich mir: Orstra wird vielleicht als Weib verkleidet in Berlin bleiben.“

„Hm – das nützt uns nicht viel. In Berlin dürfte es eine Million Frauen geben.“

„Ganz recht. Aber nur eine, die jetzt vielleicht in dem grüngrauen [Sportkostüm][10] die übrigen notwendigen Einkäufe für ihre Damenausstattung besorgt.“

„Ah – ich verstehe. Orstra muß sich notwendig noch mehr Kleidung zulegen – falls er es nicht schon getan[11] hat!“

„Ja – falls er es nicht schon getan hat!“ nickte Harst. „Immerhin, es würde lohnen, in den Geschäften nachfragen zu lassen. Das kann aber erst etwa übermorgen geschehen und zwar mit Hilfe von Becherts Armee. Allein können wir das nicht bewältigen. Das Signalement der Dame muß lauten:

Schlank, etwas über mittelgroß, blond oder dunkelblond, grüngraues Sportkostüm, gleichfarbene Sportmütze, dichter Schleier, heisere, leise Stimme, feine, schmale Hände, stark gepudert.

Mit diesem Signalement läßt sich schon etwas ausrichten. Ohne Schleier wird Orstra sich nicht zeigen. Und gepudert wird er auch sein, damit das Gesicht durch den Schleier zarter wirkt.“

„Allerdings – da könnten Nachfragen Erfolg haben.“

„Ich habe auch bereits Bechert gebeten, nach dieser Dame zu fahnden. Es werden alle Hotels, alle Pensionen, alle Zimmervermieterinnen angefragt werden. Mehr läßt sich für den Augenblick nicht tun!“

„Nein. Das stimmt. Wenn’s nur Erfolg hätte!“

„Daß wir die fünf Millionen einbüßen, – auch damit müssen wir rechnen! Wenn Orstra zum Beispiel sofort mit dem Geldkoffer und dem Damenkostüm irgendwohin ins Freie gefahren ist, sich dort im Walde umgezogen hat und dann mit der Bahn abgereist ist, wird er seine Fährte leicht völlig verwischen können. Trotzdem hoffe ich. Ich weiß, daß flüchtige Verbrecher ungern die Eisenbahn benutzen. Und – ein Auto kann er auch nicht ohne Gefahr kaufen oder mieten. Die einschlägigen Geschäfte sind durch Bechert schon benachrichtigt.“

„Dann hast Du freilich alles getan, was nur irgend geschehen konnte –“

„Ich möchte noch mehr tun.“

„Und das wäre?“

„Ja – ich möchte einen Verbrecher gegen den anderen ausspielen –“

„Wie das?“

„Gumlowsky müßte Gelegenheit zur Flucht gegeben werden. Vielleicht kennt er Orstras Notschlupfwinkel. Man müßte ihm dann folgen. – Zieh’ Dich an. Das Abendessen steht bereit. Wir wollen nachher zu Bechert fahren.“

Nicht ohne Grund habe ich in dieser Einleitung zu dem „Eichen-Abenteuer“ all diese Einzelheiten über Harsts Versuche, Orstras Spur zu entdecken, gebracht. Diese Versuche hätten vielleicht schließlich Erfolg gehabt. Besonders Harsts Idee, Gumlowsky scheinbar entweichen zu lassen, war sehr aussichtsvoll, da Gumlowsky und Orstra offenbar dicke Freunde waren und einander völlig vertrauten.

Alles kam anders. Und – wie es kam, das war so eigenartig, wie wohl selten der Auftakt eines unserer Probleme gewesen ist.

Um ¾8 Uhr abends erhoben wir uns von Tisch und verabschiedeten uns von Harsts Mutter.

Als wir im Flur die Ulster anzogen, hörten wir ein Auto vor dem Hause vorfahren.

Es hielt. Dann läutete die Flurglocke. Ich öffnete. Ein Chauffeur war’s mit einem Brief für Harst.

„Ich soll auf Antwort warten,“ erklärte er. „Ich bin der Chauffeur des Herrn Gutsbesitzers Domke aus Domkenhof bei Babelsberg. Ich muß draußen am Auto bleiben.“

„Gut, warten Sie,“ sagte Harst.

Der Chauffeur kehrte um, und wir betraten Haralds Arbeitszimmer.

Der Brief, den Harst vorlas, lautete:

„Domkenhof, den 18. September 19…

bei Babelsberg.

Sehr geehrter Herr Harst!

Daß ich je gezwungen sein würde, Ihre Hilfe in Anspruch zu nehmen, hätte ich mir auch nicht träumen lassen. Nun – ich will nicht gerade von Hilfe sprechen. So weit ist es noch nicht.

Ganz kurz folgendes: Ich bin ein alter Junggeselle, der sich bis vor zwei Jahren so ziemlich in allen Weltwinkeln herumgetrieben hat. Ich war einst Ingenieur, Eisenbahningenieur, und habe in Indien manchen Schienenstrang entstehen sehen. Vor zwei Jahren kaufte ich mir das Restgut des früheren Rittergutes Vierlinden, taufte es in Domkenhof um und spiele nun Stoppelhopser. Das alte Schloß Vierlinden, in dem ich nur das Erdgeschoß bewohne, hat schon seine zweihundertfünfzig Jahre auf dem Buckel. Die alte Steinbude besitzt wie jedes Schloß, das etwas auf sich hält, sein Schloßgespenst.

Lachen Sie nicht, Herr Harst. Dies Gespenst existiert!“

„Das muß ein ulkiger Knabe sein, der Herr Domke,“ warf Harald ein.

„Ja, Herr Harst, es spukt hier in unangenehmster Art. Wie es spukt, möchte ich Ihnen mündlich mitteilen. Ich bin schreibfaul wie alle Agrarier.

So, das wäre Punkt eins. Denn es gibt im ganzen drei Punkte. Nun also Punkt zwei:

Für turnerische Kunststücke bin ich im allgemeinen zu alt. Wenn ich trotzdem gestern früh auf den Turm meines Schlosses kletterte, so hatte das einen sehr prosaischen Grund. Auf dem Turm ist nämlich eine herabklappbare Fahnenstange angebracht, die zugleich Blitzableiter ist. Die Spitze dieser eisernen Stange hat der Vorbesitzer, wie ich zufällig aus einer alten Rechnung ersah, in besseren und billigeren Zeiten mit Platin belegen lassen. Wenn mir auch das Geld nicht gerade knapp ist, so wollte ich mich doch mal überzeugen, ob der Platinbelag sehr wertvoll ist. Ich sprach zu niemandem hierüber, kraxelte auf die Plattform des Turmes und – fand die Laterne!

Das heißt: eigentlich war oder besser ist es nur eine leere Konservenbüchse ohne Deckel, in der eine elektrische Glühbirne angebracht ist, zu deren Ansatzstück zwei Drähte führen. – Sie merken wohl schon, Herr Harst, daß es mir schwer fällt, mich genau auszudrücken. – Diese Konservenbüchse lag und liegt noch in einer der Maueröffnungen des Plattformgeländers. Ich hätte ihr kaum Beachtung geschenkt, wenn ich mich eben nicht gewundert hätte, wie sie gerade hier auf die Turmplattform gelangt sein könne, die doch nur mir zugänglich ist, da ich die Schlüssel stets im Geldschrank eingeschlossen halte. – Ich will hierüber nicht zu viel schreiben. Es ist ja noch Punkt drei zu erledigen.

Und – Punkt drei ist noch merkwürdiger. Heute nachmittag so gegen vier Uhr nahm ich meine Schrotflinte und wollte ein paar Rebhühner schießen. Als ich einen Feldweg entlangging, der nachher in den zum Gute gehörigen Wald führt, gab mein Hühnerhund plötzlich vor einem einzelnen Gebüsch Laut, das heißt, er bellte. Mit einem Male kam aus den Büschen eine verschleierte Frau, besser eine schlanke Dame heraus, die ihr Zweirad schnell auf den Weg schob und sehr rasch davonsauste, dem Walde zu.

Na – um Weiber hab’ ich mich mein Lebtag nicht gekümmert. Ich hätte also auch diese Dame sicherlich sehr bald vergessen, wenn nicht mein Pluto in den Büschen verschwunden wäre und dort wieder Laut gegeben hätte –“

„Merkst Du was, mein Alter?!“ sagte Harald mit einem ganz besonderen Gesichtsausdruck.

„Orstra!“ erwiderte ich nur.

Und er las weiter.

„Ich drang daher in die Büsche ein und fand hier – nun werden Sie staunen! – fand hier einen Rucksack, in den ein vollständiger Männeranzug verpackt war. – Das ist seltsam, nicht wahr?! Ohne Zweifel hatte doch die Dame den Rucksack hier zurückgelassen. Ich folgte der Radlerin denn auch, da der Weg im Walde so schlecht wird, daß sie ihr Rad hätte schieben müssen. Und – im Marschieren, dachte ich, da bist Du ihr über. Meine Berechnung stimmte: ich holte sie ein! – Ich sagte zu ihr: „Haben Sie vielleicht dort am Waldesrande im Gebüsch Ihren Rucksack vergessen?“

„Rucksack?!“ fragte sie lachend. „Nein. Ich habe gar keinen mitgehabt.“

„Sahen Sie denn den Rucksack nicht? Er lag doch dort, wo Sie den Spuren nach mit Ihrem Rade gewesen sind!“

„Gewiß sah ich ihn. Ich glaubte, er gehöre einem Feldarbeiter.“

Na – das war ja eine ganz vernünftige Antwort. Aber trotzdem: mir schien es so, als ob das Weib schwindelte. – Wer viel in der Welt herumgekommen ist, besitzt Menschenkenntnis und ein Auge für Kleinigkeiten.

Was soll ich Ihnen sagen, Herr Harst: hinten am Schoß der Kostümjacke der Radlerin war noch die Geschäftsauszeichnung angeheftet! – Das sah ich, und da sagte ich mir: die kann das Kostüm doch noch nicht oft getragen haben, womöglich heute zum ersten Mal!

Ich lachte und meinte: „Sie haben hinten noch die Auszeichnung dran. Das wissen Sie wohl gar nicht!“

Und – da schrak sie zusammen! Ja, Herr Harst, – sie zuckte so stark zusammen, daß ich mir weiter dachte: Hier stimmt was nicht!

Ich mußte ihr dann den Zettel abnehmen. Sie spielte jetzt die Übermütige und machte Scherze. Dann trennten wir uns.

Das Weib will mir nun nicht aus dem Sinn. Ich habe den Rucksack aus dem Gebüsch mit nach Hause genommen und mir den Anzug angesehen. Es war nichts in den Taschen, nur ein Rasierzeug; so ein Rasierapparat. Und – die Klinge, Herr Harst, war noch voll Seifenschaum mit dunklen Bartstoppeln drin. – Komisch, nicht wahr?! – Der Seifenschaum war auch noch gar nicht recht trocken. Es muß sich also mit dem Apparat jemand kurz vorher rasiert haben.

So, und nun bin ich fertig. Es gibt also dreierlei, was Sie interessieren könnte: der Schloßgeist, die Konservenbüchse und die Geschichte mit der Radlerin. Mich selbst beunruhigt nur der Schloßgeist. Meine Köchin, das Stubenmädchen und der Diener haben gekündigt und wollen am 1. Oktober ziehen. Des Schloßgespenstes wegen. Es wird schwer werden, für die drei Ersatz zu finden. Wenn Sie also gerade Zeit haben, kommen Sie doch bitte her und prüfen Sie mal, ob etwa das Schloßgespenst zu irgend welchem Unfug benutzt wird.

Mein Chauffeur ist seit sechs Jahren bei mir und unbedingt zuverlässig. Nur er weiß, daß ich an Sie geschrieben habe. Falls Sie hier unerkannt auftreten wollen, spielen Sie doch die Rolle von Tapezierern. Ich wollte zwei Zimmer schon lange neu tapezieren lassen, und Plitt[12], mein Chauffeur, sollte sich angeblich heute in Berlin um einen Tapezierer bemühen und Tapeten mitbringen. Tapeten kauft er auf jeden Fall.

So, nun Schluß! Ich würde mich freuen, wenn Sie meine Bitte erfüllen würden.

Ergebenst

Heinrich Domke.“

 

2. Kapitel.

Harald schaute mich an.

„Was meinst Du, mein Alter?“

„Wir fahren natürlich!“

„Gut – dann werde ich dem Chauffeur Plitt Bescheid sagen. Suche Du zwei alte Papierscheren und sonstiges zusammen, was ein Tapezierer braucht. Ich werde die nötigen Kostüme auswählen.“ –

Um neun Uhr fuhren wir ab. Uns gegenüber auf dem Rücksitz lag das große Paket Tapeten. Es war ein offener, älterer Wagen. Aber Plitt schonte den Motor nicht.

Gegen elf langten wir auf Schloß Domkenhof an.

Domke, ein korpulenter, sehr großer Mann mit bartlosem, schwammigem Gesicht, brachte uns daher persönlich in den ersten Stock in ein Fremdenzimmer mit zwei Betten, das dicht an der Haupttreppe lag. Das Personal war bereits schlafen gegangen. Es war im linken Flügel im Erdgeschoß in der Nähe der Küche untergebracht.

Das Schloß hatte elektrische Beleuchtung. Als wir mit unseren Bündeln in dem Fremdenzimmer standen und Domke die Tür zugedrückt hatte, wollte er offenbar eine Unterhaltung zur Ergänzung des Inhaltes seines Briefes beginnen. Harald legte jedoch rasch den Finger auf den Mund und sagte dann in schönstem „Berlinsch“:

„Wenn wir nu noch wat zur Stillung der Magenleere kriejen kennten, Herr Domke, denn wär’s nich jrade unanjenehm –“

Und ganz leise fügte er hinzu: „Schicken Sie uns durch Plitt auch den Schlüssel zum Turm und einen Grundriß des Schlosses. Morgen früh können wir alles besprechen.“

Domke merkte, daß Harst mit der Möglichkeit, hier belauscht zu werden, rechnete und benahm sich sehr geschickt, sagte uns gute Nacht und verschwand, tat also weiter so, als ob wir echte Handwerker wären.

Plitt brachte Brot, Butter, Schinken und zwei Flaschen Bier, auch vier Schlüssel und einen zusammengefalteten Bogen Papier. Dann waren wir allein, aßen, tranken, sprachen wenig und nur harmlose Dinge – stets im Berliner Dialekt. Gegen 12 Uhr gingen wir zu Bett – scheinbar. Als wir uns halb ausgezogen hatten, schaltete Harald das Licht aus. Wir legten uns also halb angekleidet nieder, warteten, bis die Turmuhr eins schlug, erhoben uns, schlüpften in unsere Kittel und steckten unser übliches Handwerkszeug – alles im Dunkeln – zu uns.

Harald öffnete die Tür. Im breiten, läuferbelegten Hauptflur regte sich nichts. Wir horchten wohl fünf Minuten lang, bevor wir die Tür wieder schlossen und auf Strümpfen bis zur Haupttreppe huschten.

Harst hatte sich nach dem Grundriß beim Essen über die Lage der Räume orientiert. Wir stiegen daher die Treppe hinan in den zweiten Stock – Stufe für Stufe. Wir wollten auf die Turmplattform.

Harald war mir stets zwei Stufen voran, versuchte immer erst, ob die Stufen knarrten. So waren wir fast bis ins zweite Stockwerk gelangt, als durch den Schacht des großen Treppenhauses ein Geräusch zu uns empordrang.

Es klang, als ob eine Kette über weichen Boden geschleift wird.

Harst hatte sich sofort umgedreht, beugte sich zu mir herab und flüsterte:

„Das Schloßgespenst – sogar ein Geist mit Ketten!“

Auch ich mußte lächeln. Wir hatten es schon mit ganz anderen „Geistern“ zu tun gehabt! Da konnte uns der Domkenhofer Hausgeist nicht schrecken.

Harald, durch das einfallende Mondlicht nur an den Beinen beleuchtet, schaute jetzt über das reichgeschnitzte Geländer nach unten in die Vorhalle hinab, wo noch dieselbe elektrische Ampel wie bei unserer Ankunft brannte. Wir – denn auch ich bog mich nun vor – erkannten die alten Schränke, den großen Eichentisch und die drei Lehnsessel. Auf dem Tisch lagen noch die Tapeten.

Abermals das leise Klirren und Rasseln.

Dann huschte ein Schatten flink durch die Vorhalle und verschwand unter dem Tische: Domkes Hühnerhund war’s!

Dann – und mir ging’s durch Mark und Bein – heulte der Hund kläglich auf. Das langgezogene Jaulen erstarb in einem ängstlichen Winseln.

„Oho!“ hörte ich Harald. „Die Sache wird ernst!“

Und wieder das Rasseln und Klirren, nur weit schwächer – so, als ob der „Geist“ den einen Seitenflügel betreten hätte.

Dann nichts mehr. Kein Laut, – nur der Wind, der die Parkbäume rauschen ließ.

Eine Viertelstunde verging so. Die Turmuhr schlug halb zwei. Hier im Treppenhause dröhnten die Schläge unangenehm laut.

„Warten wir noch,“ meinte Harald. –

Ja – es hatte sich zu warten verlohnt.

Denn plötzlich jetzt das Rasseln und Klirren dicht unter uns – im Flur des ersten Stockwerks.

Noch weiter beugten wir uns über das Geländer.

Das Geräusch war so deutlich, daß wir den, der es erzeugte, unbedingt hätten sehen müssen.

Ja – wir hörten sogar das Tappen von Schritten und auch ein Ächzen, als ob jemand eine schwere Last schleppte.

Und doch – keine Spur von einem lebenden Wesen! Dabei war es infolge des Mondscheins draußen immerhin so hell, daß die an das Halbdunkel gewöhnten Augen im unteren Flur genau unterschieden, wie weit der Läufer reichte.

Das Geräusch verstummte – ertönte nach einer Weile entfernter – verstummte ganz.

Die Turmuhr schlug drei Viertel zwei.

Kaum war der Klang verhallt, als irgendwo im ersten Stock eine Tür mit Donnerkrach zugeworfen wurde.

Und – da heulte der Hund in der Vorhalle abermals kläglich auf.

„Gemütlich – wie?!“ flüsterte Harst. Aber die Ironie gelang ihm nicht ganz.

Als die Turmuhr dann die zweite Morgenstunde verkündet hatte, meinte Harald:

„Ich denke, nun hat der Geist ausgespukt. Nun können wir mal den Turm besuchen.“ –

Der Turm war dem Mittelbau aufgesetzt. Wir mußten, als wir den Bodenraum erreicht hatten, erst eine eiserne, dann eine hölzerne Tür aufschließen, dann eine dritte und die Falltür, durch die man auf die Plattform gelangte.

Wir hatten die drei ersten Türen hinter uns wieder versperrt. Nur das Vorlegeschloß der Falltür konnten wir nicht verschließen. Aber wir hatten sie wieder zugeklappt.

„Vorsicht – nicht aufrichten!“ meinte Harald jetzt.

Die viereckige Plattform hatte eine ein Meter hohe Einfassung von Ziegeln in Form von Burgzinnen, außerdem aber auch in dieser Einfassung unten zwei Reihen herzförmiger Öffnungen. Die Efeustauden hatten sich bis hier nach oben gerankt, waren durch die Öffnungen eingedrungen und hatten die Einfassung stellenweise vollständig mit ihrem dunkelgrünen Laub umsponnen.

Harst hatte die Konservenbüchse bald gefunden, hatte sie vorsichtig aus der nach Nordost gerichteten Öffnung herausgezogen und besichtigte sie nun beim Schein der Taschenlampe.

Wir knieten dicht nebeneinander auf dem Zinkblechbelag der Plattform. Wir sahen, daß der Deckel der Büchse herausgeschnitten war und daß die elektrische Glühbirne mit dem Glaskörper nach der Deckelseite zu durch Bindfaden, der durch die Wandung ging, befestigt war. Die beiden Isolierdrähte, grün besponnen, liefen durch Löcher im Boden der Büchse hindurch und dann durch das nächste Mauerloch offenbar an der Außenseite des Turmes nach unten.

Während wir noch diesen primitiven Scheinwerfer prüften, geschah etwas, das meinen Verdacht nur bestätigte: die Birne glühte plötzlich auf!

„Ah,“ meinte Harald. „Lichttelegraphie!“

Genau dasselbe hatte ich vermutet.

Er schob die Büchse rasch wieder, die Birne nach außen, in die Maueröffnung hinein.

An dem Lichtschein, der den Außenrand der Öffnung noch mit erleuchtete, konnten wir bequem feststellen, in welchen Pausen die Birne aufflammte.

Harald hatte schon sein Notizbuch gezogen und zeichnete durch Striche und Punkte genau die Reihenfolge der längeren und kürzeren Lichtblitze, ebenso auch die ganz langen Pausen, wahrscheinlich also die Pausen zwischen den einzelnen Worten, auf.

Dann nichts mehr. Die Glühbirne sandte ihre Strahlen nicht mehr in die Nacht hinaus.

„So,“ meinte Harald. „Nun müßte jemand antworten. Oder – die Glühbirne gab die Antwort auf Lichtzeichen, die bereits aus der Ferne gekommen waren.“

Wir erhoben uns, reckten die Köpfe über die Zinnen und spähten gen Nordost über die nächtliche Landschaft hinweg.

Schloß Domkenhof lag inmitten ebener Felder. Nach Nordost zu erkannten wir den dunklen Strich eines Waldes, der etwa sechshundert Meter entfernt sein mochte. Und über diesem Walde blinkte es jetzt zeitweise auf wie ein Stern, dessen Leuchtkraft in Intervallen erlosch.

„Die Antwort!“ flüsterte Harald. „Die Antwort aus der Krone eines offenbar sehr hohen Baumes.“

Er griff unter seinen Kittel, holte das Fernglas hervor, stellte es ein und erklärte dann:

„Ja – es ist ein Baum. Es kann der Form der Krone nach eine Eiche sein –“

Dann schrieb er wieder die Lichtzeichen mit – lang, kurz – Strich, Punkt – lang, lang – Strich, Strich – – und so weiter.

Die ferne Lichtquelle stellte ihre Arbeit um drei Viertel drei ein.

„Man soll das Eisen schmieden, so lange es warm ist,“ sagte Harald nachdenklich. „Wenn die Uhr vier geschlagen hat, dürfte der, der von einem Fenster unten die Lichtzeichen aus der Eiche beobachtet hat, zur Ruhe gegangen sein. Dann werde ich an den Efeustauden hinabklettern und feststellen, wo die beiden Isolierdrähte wieder im Innern des Schlosses verschwinden. Diese Kletterpartie ist ganz ungefährlich. Der Efeu hält besser als ein Strick.“

„Was mag die Telegraphie zu bedeuten haben, Harald?“

„Ja – wenn ich das wüßte! Ich habe wirklich keine Ahnung, was hier geplant wird, mein Alter. Wir sind ja auch erst wenige Stunden hier.“

„Glaubst Du, daß Orstra hierbei seine Hand mit im Spiel hat?“

Er zündete sich eine Zigarette an und setzte sich auf das Zinkblech. Ich nahm neben ihm Platz.

„Wie soll ich das jetzt schon entscheiden?“ erwiderte er. „Daß Orstra sich hier auf dem Gebiet des Gutes umgezogen und in die Radlerin verwandelt hat, steht fest. Er hat sich in dem Gebüsch wahrscheinlich auch rasiert. Als er gerade umgekleidet war, sah er Domke kommen. Er überlegte blitzschnell. Es schien ihm wohl zu gefährlich, den Rucksack mitzunehmen. Domke hätte vielleicht verlangt, daß er ihn öffnete. So ließ er ihn liegen und spielte die harmlose Dame, die einen Radausflug macht. – Es kann ein Zufall sein, daß Orstra hier die Umkostümierung vornahm – kann! Aber – ich nehme an, es wird kein Zufall gewesen sein. Das zufällige Zusammentreffen von drei Tatsachen: Schloßgespenst, Lichttelegraphie und Orstras Auftauchen hier, wäre zu merkwürdig. Vielleicht hatten Orstra und Gumlowsky in Domkenhof einen Streich vor, irgend eine ganz besondere Sache! Jedenfalls steckt dann hier im Schloß ein Komplice von ihnen. Und es wird unsere Aufgabe sein, diesen Komplicen, der Lichtsignale gibt und empfängt, herauszufinden.“

Er rauchte ein paar Züge und starrte vor sich hin.

„Dieser Komplice – es mag auch ein Weib sein – kann auch das Gespenst spielen,“ fügte er hinzu. „Rätselhaft an dieser Geistergeschichte ist übrigens nur eins: daß der Hund auskniff und sich verkroch. Aber auch dies ließe sich erklären, wenn –“

Er hatte immer langsamer gesprochen – so, wie einer, der mit den Gedanken anderswo ist.

Jetzt eine Pause. Dann:

„Nein – daß mir das nicht sofort eingefallen ist! – Wo hat Orstra die Geldpakete gelassen?! Er ist doch fraglos, nachdem er sich in Berlin ein Rad gekauft hatte, davongefahren. Er muß das Geld und auch die falschen Banknoten bei sich gehabt haben. Wo und wann verbarg er sie? Er kann sie doch nur vergraben haben, oder – er vergrub sie nur für kurze Zeit und wollte sie dann anderswo unterbringen – anderswo – vielleicht gar hier!“

 

3. Kapitel.

Er stand schnell auf; er hatte das Fernglas schon vor den Augen.

Auch ich erhob mich. Ich ahnte, wonach er hinausspähte in das bläulichweiße Halbdunkel der schwindenden Nacht: nach dem Komplicen, der jetzt vielleicht das Schloß verließ, um mit dem zusammenzutreffen, der vom fernen Baume die Lichtsignale erwidert hatte!

Das Fernglas bewegte sich langsam – bald hierhin, bald dorthin. Ich selbst konnte mit unbewaffnetem Auge kein lebendes Wesen entdecken. Dann stieß Harald ein leises: „Also doch!“ aus.

„Du siehst jemand?!“ fragte ich.

„Ja – einen Mann. Er ist schon recht weit entfernt; er läuft – dem Walde zu – auf einem Feldweg entlang. Der hellere Strich zwischen den Feldern ist der Weg –“

Dann setzte er das Glas ab.

„Nun kann der Mann mich nicht stören, wenn ich an den Efeuranken hinabklettere; ihn zu verfolgen wäre zwecklos; er wäre längst im Walde verschwunden, bevor wir den Waldrand erreicht hätten. Wenn er uns bemerken würde, wäre auch alles verdorben. Es ist am besten, wir benutzen seine Abwesenheit hier zu einer gründlichen Untersuchung.“

Er schwang sich schon auf die Zinne, die über der Öffnung lag, durch die die Drähte in die Tiefe führten.

„Vorsicht!“ warnte ich. „Wenn die Ranken reißen, Harald!“

„Keine Sorge, mein Alter! – Kehre in den Flur des zweiten Stockwerks zurück!“ – Dann war Harald schon jenseits der gemauerten Einfassung der Plattform untergetaucht.

Ich trat den Rückweg an, ließ die Tür, sie mit beiden Händen stützend, zufallen und legte das Schloß vor.

Der Bodenraum war hier mit allerlei Gerümpel gefüllt. Auch zerbrochene Möbel waren darunter. Der Lichtkegel streifte jetzt etwas, das halb hinter einem Schrank stand, – ein Götzenbild! Ein indisches[13] Götzenbild, die Göttin Kali darstellend, die blutige Kali, die Schutzpatronin der einst so gefürchteten Mördersekte des Thugs.

Ich trat unwillkürlich näher. Die fast lebensgroße Statue weckte allerlei Erinnerungen in mir. Es gab ja eine Zeit – und sie lag keine zwei Jahre zurück, wo auch wir in Indien gegen diese Mördersekte gekämpft hatten. Und – was war das für ein Kampf gewesen! Überreich an Aufregungen, Überraschungen, Gefahren! Und doch – bei alledem hatte der poetische Reiz des Zauberlandes Indien das Häßliche so stark abgeschwächt, daß ich in diesem Augenblick, wo die Vergangenheit so lebendig in mir wurde, eine leise Sehnsucht nach dem fernen Wunderreiche der phantastischen Marmortempel in mir aufsteigen fühlte. – Dann besann ich mich: Domke war ja in Indien als Eisenbahningenieur tätig gewesen! Domke hatte die Statue der Kali aus Indien mitgebracht.

Noch einmal schaute ich mir den Götzen an. Dann schlich ich weiter der nächsten Tür zu. Bald stand ich auf der Treppe, die in den zweiten Stock hinabführte.

Da, von rechts aus dem Flur ein kurzes Aufleuchten.

Das konnte nur eine Taschenlampe gewesen sein. Sollte Harald bereits –

Wirklich – er bog schon um die Ecke. Er winkte mir zu. Ich eilte die Stufen hinab. Er ging mir voran, bog in den rechten Seitenflügel ein.

Auch hier im Flur Tür an Tür; bald Flügeltüren, bald einfache Türen; alle gelbgrau gestrichen; alle mit alten, dicken blanken Messingdrückern.

Harst öffnete jetzt eine Flügeltür, trat ein, ließ mich vorbei, schloß von innen ab. Der Schlüssel steckte im Schloß.

Seine Taschenlampe flammte auf; der weiße Lichtfinger betastete nur wenige Möbel, nur wenige Bilder an den Wänden – alles Dinge, die uralt waren. In diesem Steinkasten war ein Vermögen an antiken Sachen untergebracht.

„Hier endet die elektrische Leitung,“ sagte Harald leise. „Dort in dem Schränkchen ist sie an die Hausleitung angeschlossen; dort befindet sich auch ein Schalter, um den Strom für die Glühbirne oben auf dem Turm schließen und unterbrechen zu können; von hier kann man durch die Fenster nach dem Walde hinüberschauen. Dies dürfte das Spukzimmer des Schlosses sein.“

„Wie bist Du denn hier eingedrungen? War ein Fenster offen?“ fragte ich gespannt.

„Nein. Ich habe eine sehr merkwürdige Entdeckung gemacht. Wäre ich nicht am Turme hinabgeklettert, hätte ich nie die kleine Eisentür gefunden, die außen am Turme unter dem Efeu verborgen ist. Sie ist gerade groß genug, einen Menschen kriechend hindurchzulassen. Ich glaube, weder Domke noch sonst einer der letzten Besitzer des Schlosses ahnt etwas von dieser Tür. Es war nicht leicht, sie nach innen aufzudrücken. Sie hat ein altes Schloß, das eingerostet war. Aber – die elektrischen Drähte gingen durch das große Schlüsselloch hindurch –“

Ich hörte atemlos zu.

„Ja, und als ich sie aufgedrückt hatte, fand ich dahinter einen schrägen Schacht in der Mauer und eine Steintreppe. Diese Treppe endete vor einer zweiten eisernen Tür, die nur angelehnt war. Ein Gang zieht sich dort durch Außenmauern hin, und die beiden Drähte wiesen mir den Weg –“

Er trat jetzt an einen halb in die Wand eingelassenen Schrank heran, öffnete ihn und – schob die Rückwand empor. Der Lichtkegel erleuchtete den schmalen Gang, erleuchtete vier Stufen.

„So, nun wollen wir die Tür wieder aufschließen,“ meinte Harald. „Und dann werde ich Dir noch etwas zeigen –“

Ich drehte den Schlüssel der Flurtür um. Wir stiegen die vier Stufen hinab, schlossen den Schrank, schoben die Rückwand herunter und tappten weiter – bis zu der Stelle, wo der Seitenflügel an den Mittelbau stieß.

Harald deutete stumm auf eine Treppe, die hier abwärts führte. Der Gang selbst zog sich in scharfer Krümmung noch weiter.

„Dort unten war ich noch nicht,“ sagte Harst leise.

Die Treppe war so eng, daß man die Ellenbogen an den Leib drücken mußte. Als wir nach unserer Berechnung im Erdgeschoß waren, zog sich wieder ein Gang nach rechts hin. Dann abermals vier Stufen; abermals die Rückwand eines in die Mauer eingefügten Eichenholzschrankes.

Harald schob die Rückwand hoch. Hier hingen in dem Schranke Anzüge – Männeranzüge.

Harst besah sie sich genau, flüsterte dann: „Für jetzt mag’s genug sein. Kehren wir um.“

Unangefochten kamen wir wieder in das Spukzimmer. Harald schlug den einen Fenstervorhang zurück und nahm sein Fernglas zur Hand, richtete es auf den Wald und meinte: „Wir wollen warten. Vielleicht kehrt der Mann zurück –“

Kaum zwei Minuten mochten vergangen sein, als er das Glas sinken ließ.

„Bitte – schau’ mal hindurch!“

Und – ich fand den Mann sehr bald. Er lief. Und er hatte in der Rechten ein großes Paket. Er lief auf die Parkmauer zu. Dann verschwand er, da die Bäume ihn verbargen.

„Gehen wir schlafen, mein Alter. Wir können zufrieden sein,“ sagte Harald. „Wir werden mit meinen fünf Millionen unter einem Dache schlafen. Und die Hauptsache: der Mann da hat keinerlei Argwohn geschöpft, hält uns wirklich für Handwerker. Sonst würde er das Paket nicht mitbringen!“

Gleich darauf waren wir in unserem Zimmer.

Beim Auskleiden erzählte ich Harald von der Statue der Göttin Kali oben auf dem Boden.

Er schien sehr überrascht zu sein. „Du hast recht,“ meinte er, „es ist sehr merkwürdig, daß Domke den Götzen dort hingestellt hat –“ – Sein Gesicht war nachdenklich geworden.

Ich schlüpfte ins Bett und schlief auch sofort ein. Ich war hundemüde gewesen. –

Um sieben Uhr weckte Harald mich.

„Meester, nu wird’s sachte Zeit,“ sagte er, denn den Tapeziermeister Klormig spielte ich hier, und Harst den Gesellen Karl Hanf. „Det Frihstick is all da, Meester. Und et is ’n scheenet Frihstick. Sonne Worscht wie die da jibt’s nur uf’s Land, Meester.“ –

Dann setzte ich mich an den gedeckten Tisch. Neben meiner Kaffeetasse lag ein Zettel. Darauf stand in Haralds Schrift mit Bleistift:

Geduld, mein Liebling. Bisher hat D. nichts gemerkt. Sonntag wie immer. Dein treuer Erich.

Dann folgte ein Bleistiftstrich, und unter diesem war zu lesen:

Tausend Küsse. Arbeite nicht zuviel. Ich freue mich auf Sonntag. In Liebe Deine Elly.

Ich schaute meinen „Gehülfen“ verwundert an.

Und – der lächelte –! Lächelte und flüsterte:

„Das ist der Text der beiden Lichtdepeschen von der verflossenen Nacht.“

„Natürlich bedeutet jedes dieser harmlosen Worte etwas ganz anderes,“ meinte ich leise.

„Vielleicht – vielleicht auch nicht, Meester! Ich bin bereits anderthalb Stunden fix und fertig angezogen und habe mir auch schon die beiden Zimmer angesehen, die wir tapezieren sollen, habe zwei Eimer für den Kleister besorgt, einen langen Tisch, eine Trittleiter und – habe Domke gesprochen.“

„Ah – und das alles habe ich verschlafen!“

„Du hast nichts verloren dabei. Was Domke mir über den Spuk sagte, sollst Du sofort erfahren. Als Domke das Schloß vor zwei Jahren kaufte, spukte es noch nicht. Aber – es hatte früher gespukt, und zwar sollte der hingerichtete Herr von Argendecher nachts unsichtbar mit Ketten beladen durch die Flure wandern, wobei man nur die Ketten klirren hörte. Diese Geräusche lebten jetzt erst vor zwei Monaten wieder auf. – So, das wäre das Schloßgespenst.

Nun zu den Schloßbewohnern. Da ist Nummer eins, Herr Domke. Den kennen wir ja. Aber – er hat seine Schrullen. Als ich heute, ohne unseren Ausflug auf den Turm im einzelnen zu schildern, fragte, weshalb die Göttin Kali dort oben trotz ihres hohen wissenschaftlichen Wertes ihr „Ton-Dasein“ – es ist ja eine bemalte Tonfigur – vertrauern müsse, kriegte Domke einen puterroten Kopf und fluchte wie ein alter Jan Maat: „Das Haus haben sie mir rein gestürmt, die gelehrten Herren, als bekannt wurde, daß ich eine Unmenge indischer Altertümer besäße! Rausgeschmissen hab’ ich sie alle! Ich will meine Ruhe haben! Erst stand der Götze in der Vorhalle. Aber – das war ja der reine Lockvogel für die Herren Altertumsforscher.“ – Jedenfalls, Meester, Herr Domke hat seine Nücken[14]! – Dann ist Nummer zwei, der Rechnungsführer des Gutes da, Herr Erwin Balk. Er sieht so harmlos aus, daß ich ihn nicht weiter beachtet hätte, wenn – ja, wenn er nicht gerade in jenem Zimmer wohnen würde, zu dem der zweite Wandschrank gehört – der mit den Anzügen!“

„Ah – Erwin Balk! Also das ist unser Mann!“

„Dann Nummer drei, die Köchin. Über sie brauche ich nichts zu sagen. Dann Nummer vier, das Stubenmädchen, auch harmlos ohne Zweifel. Schließlich der Diener, Nummer fünf, Gottlieb Krause mit Namen. Er brachte uns das Frühstück. Hm – dieser Krause ist Gott nicht lieb, glaube ich! Nein, bestimmt nicht! Der Kerl scheint Nachtschwärmer zu sein. Ganz elend sah er aus, übernächtig. Und hat Augen, die nicht gut sind, ungute Augen. Du wirst ihn ja sehen.“

„Du meinst, er steckt mit Balk unter einer Decke?“

„Ich meine, daß hier weit mehr Geheimnisvolles im Schlosse vorgeht, als unsere Schulweisheit sich bisher träumen läßt. – Iß und trink’, Meester! Die Arbeit ruft!“

 

4. Kapitel.

Harald hatte bereits mit Domke vereinbart, daß die Tapeten, die der Chauffeur Plitt mitgebracht hatte, dem Gutsbesitzer nicht gefallen sollten, damit erst andere besorgt werden müßten und wir noch den Tag über einer Arbeit entgingen, die selbst Harst wohl bei all seiner Vielseitigkeit kaum nach Wunsch erledigt hätte. Auch das Tapezieren will gelernt sein.

Um aber die Tapeten-Angelegenheit möglichst „echt“ hinzustellen, mußte Domke dem – natürlich eingeweihten – Plitt eine weithin hörbare Standpauke über „diese geschmacklosen Muster“ halten und den Ergrimmten markieren.

Wir beide wieder taten so, als ob wir unter diesen Umständen nach Berlin zurückkehren wollten, was Domke dadurch verhinderte, daß er uns den vollen Tagelohn versprach.

So konnten wir denn gegen acht Uhr, um die Zeit totzuschlagen, einen Spaziergang machen. Dieser führte uns auf Umwegen nach dem Walde. Harst wollte feststellen, wie es in der Umgebung jenes Baumes aussah, von dem die Lichtsignale von jener „Elly“ erwidert worden waren.

Der Nordrand des Waldes war zugleich auch, wie Domke Harst mitgeteilt hatte, die Grenze des Guts. Unweit des Waldes lag ein größeres Gehöft, ein Bauernhof.

Wir waren inzwischen dem Obstgarten des großen Gehöfts ganz nahe gekommen. Eine hohe Dornenhecke umgab den Garten. Wir sahen über die Hecke eine Trittleiter hinwegragen, auf der ein junges blondes Mädchen mit frischem Gesicht stand, Birnen pflückte und uns jetzt zurief:

„Eine Birne gefällig? – Achtung – fangen Sie!“

„Lieber nicht, Fräuleinchen,“ meinte Harst. „Mit ’n Fangen is das so ’ne Sache. Bringen Sie se uns lieber dort an die Pforte.“

„Gut. Sofort!“ – Das war wirklich ein nettes Mädel. Aber – es war eine Städterin trotz des Dirndlkleides. Das merkte man.

Dann standen wir ihr an der Lattenpforte gegenüber.

Harald biß sogleich herzhaft in die große saftige Frucht hinein, sagte nun lachend:

„Sie sind hier wohl Sommerjast, Fräulein, was? Die Bauern jeben nich so leicht was ohne Berappung wej –“

„Nein. Erzieherin bin ich hier. Der Besitzer Jeschke hat zwei Mädelchen.“

„Und nadierlich schwere Moneten! Ja, ja – die Bauern heutzutage! Die haben’s besser als wir Handwerker, Fräuleinchen. Wir sind nämlich Tapezierer und sollen da drieben bei Domke zwee Zimmer auf neu aufwichsen. Aber die Tapeten sind noch nich da –“

Das Gesicht des jungen Mädchens nahm einen gespannten Ausdruck an.

„Ach – wirklich! In Schloß Domkenhof haben Sie Arbeit! So – so! Sind Sie denn schon lange da?“

„Nee – seit jestern abend, Fräulein. Wir werden froh sein, wenn wir wieder wej sind. In den ollen Kasten jeht es um – Sie vastehn: es spukt!“

„Ja. Man spricht so etwas,“ nickte sie zerstreut. „Haben Sie denn in der Nacht was gehört?“

„Und ob! Es war rein zum Graulichwerden. Wir, der Meester und ich, waren nachher so munter, daß wir uns in ’t Fenster von unsre Stube lejten und ’ne Zigarre roochten. Und da haben wir ’n janz komischen Stern jesehn, Fräulein, so einen, der mal leuchtete, mal wieder nich leuchtete –“

Ah – sie war etwas rot und verlegen geworden! Harsts Anzapfung hatte dies bewirkt.

„Es – es gibt solche Sterne,“ sagte sie schnell. „Wo liegt denn Ihre Stube im Schloß?“

„Na – in ’n ersten Stock nach Nordost raus – nach ’n Wald zu. Der Stern funkelte jrade so überm Walde.“

Sie blickte zu Boden, rief dann:

„Bitte, hier haben Sie noch jeder eine Birne. Ich muß wieder an die Arbeit gehen –“

Wir bedankten uns und schlenderten weiter den Feldweg entlang.

Auf einem Kartoffelacker nahm ein Knecht Kartoffeln aus. Harald brauchte plötzlich Feuer für seine Zigarette, gab auch dem Knecht dann eine Zigarre, die er vorher mir abgefordert hatte, und erfuhr in kurzem, daß die Erzieherin Fräulein Elly Schenk seit dem ersten April bei Besitzer Jeschke in Stellung sei und daß Jeschke nie Sommergäste nehme; auch sonst gebe es hier auf eine Meile in die Runde niemand, der an Berliner für den Sommer vermiete. Nur der Wirt vom Gasthof Drei Eichen im Dorfe Plenkwitz drüben habe manchmal Fremde, aber nur selten.

Wir wanderten also die halbe Stunde nach Osten zu bis Plenkwitz und frühstückten im Dorfkruge Zu den drei Eichen. Doch auch hier wohnte keine Dame, die vielleicht Orstra hätte sein können.

Gegen elf Uhr machten wir kehrt, schlugen einen anderen Weg ein und gelangten in den Wald, der sich dicht an Jeschkes Gehöft hinzog.

Bisher hatte Harald sich über die Erzieherin völlig ausgeschwiegen. Nun erklärte er unvermittelt:

„Du siehst jetzt wohl ein, daß Elly Schenk diejenige war, die Erwin Balks Lichtdepesche in Empfang nahm und erwiderte. Traust Du ihr etwas Schlechtes zu? Wohl kaum! Ich auch nicht!“

„Aber – wozu denn in aller Welt diese Heimlichkeiten?! Sie mag Balks Verlobte sein. Weshalb –“

„Die Wissenschaft!“ fiel Harst mir ins Wort. „Weit wichtiger ist nun die Frage: wer war der Mann, der in der verflossenen Nacht das Schloß verlassen hat und mit dem Paket zurückkehrte?! – Meine erste Annahme, daß dieser Mann sich durch die Lichttelegraphie mit Orstra in Verbindung gesetzt hatte, trifft nicht zu. Die Depeschen sind harmlos und haben mit Orstra nichts zu tun. Weit wahrscheinlicher ist, daß Orstra und der Mann schon vorher ein Stelldichein verabredet hatten und daß dieser Mann nicht mit Balk identisch ist, sondern daß es der Diener Gottlieb Krause war. Es laufen hier eben zwei Geheimnisse nebeneinander her: Balk, Elly und die Lichttelegraphie, und zweitens Gottlieb Krause, der Spuk und Orstra –“

Harald war plötzlich stehen geblieben.

„Hier führt etwas wie ein Pfad über die Lichtung. Hier ist jemand wiederholt hin und her gegangen,“ meinte er. „Und – die Eindrücke da in dem sandigen Fleck rühren von Damenstiefelabsätzen her. Wir wollen dieser Fährte folgen. Aber – Vorsicht, mein Alter! Auch Elly Schenk darf uns nicht sehen!“

Harst blieb abermals stehen.

„Dort die Eiche vor uns – die ist’s!“ sagte er. „Ein kolossaler Baum, in der Tat! Nun werden wir untersuchen, wie Elly Schenk dort auf die Eiche hinaufgelangt. Sie kann doch nicht jede Nacht, wenn sie mit Balk telegraphiert, eine lange Leiter hierher schleppen! Ich hoffe, wir werden – Na – die Praxis geht über die Theorie!“

Die Eiche stand einsam auf einem Hügel. Harst schaute sich wiederholt mißtrauisch um, bevor er der Eiche zuschritt. Nur eine weiße Ziege mit langen Hörnern weidete etwa hundert Meter nach Süden zu an einem dicken Strick.

Ich war dicht hinter Harald. Er drehte jetzt den Kopf, meinte sehr gedehnt:

„Wer läßt eine Ziege so weit ab von jeder menschlichen Behausung allein im Walde weiden?! Wo steckt der Besitzer der Ziege?“

„Ein Ziegenbesitzer dürfte uns kaum stören,“ erwiderte ich.

„Wenn er uns beobachtet und dann weitererzählt, wir hätten hier sehr seltsame Dinge getrieben, könnte dies auch zu Ohren Ellys, Balks oder Krauses kommen, und dann würde „man“ wohl an unserer Handwerkerechtheit zweifeln und – Lunte riechen!“

„Wir brauchen ja nicht seltsame Dinge zu treiben. Weshalb soll man nicht eine Eiche erklettern?! Das ist doch kaum so sehr seltsam!“

Harald schwieg. Wir waren unter dem Baume angelangt, hoben die Köpfe.

Und – fuhren beide leicht zurück.

Da stand auf dem untersten sehr dicken Ast an den Stamm geschmiegt ein Weib mit stark gepudertem Gesicht in Sportanzug und Sportmütze – scheinbar ein Weib, in Wirklichkeit Ottmar Orstra!

Der blanke Revolver in seiner Rechten war auf uns gerichtet; und das ironische Lächeln galt uns beiden.

„Hände hoch!“ befahl er kurz.

Wir mußten gehorchen.

Dann balancierte er auf dem Ast ein Stück weiter, ließ uns dabei keinen Moment aus den Augen, warf mit dem Fuße eine Strickleiter, die bisher zusammengerollt und unsichtbar dort gelegen hatte, herab und fragte:

„Herr Harst, haben Sie diese Strickleiter hier angebracht? Ich habe den dünnen Draht zufällig gefunden, der von diesem Ast durch Ösen am Stamm hinabläuft –“

Harald wollte etwas erwidern.

Da – hinter uns ein Knall – ein Büchsenschuß vom Westrande der Lichtung.

Orstras Arme schnellten nach oben.

Dann – fiel er herab, fiel unten in das Gras.

„Holla!“ kam auch schon eine tiefe Stimme vom Waldrande herüber. „Das war wohl die höchste Zeit! Der Kerl hätte Sie niedergeknallt!“

Gutsbesitzer Domke tauchte auf, lief keuchend auf uns zu, hielt noch die rauchende Büchse in der Hand.

„Meine Herren – ich hätte doch vielleicht nicht so voreilig sein sollen!“ stammelte er jetzt und starrte auf den regungslosen Körper.

Orstra lag auf dem Rücken. Die Büchsenkugel war dicht über der Nase in den Kopf eingedrungen. Der Tod mußte blitzartig erfolgt sein.

„Sie glaubten uns in Lebensgefahr, Herr Domke,“ sagte Harald leise. „Das erklärt vieles –“

„Wer – wer ist der – Mann?“ fragte Domke zögernd. „Ist es denn überhaupt ein Mann? Das – das gepuderte Gesicht sieht doch –“

„Es ist ein Verbrecher, Herr Domke! Es ist ein gewisser Ottmar Orstra –“

„So?! Orstra?! Ich höre den Namen zum ersten Male –“

Harald erwiderte ebenso leise: „Es ist – die Radlerin, der Sie gestern begegneten, Herr Domke –“

„Mein Gott!“ stieß der alte Herr hervor. „Die Radlerin?! Was – was bedeutet das alles. Die Strickleiter da, und –“ – Er zog sein Taschentuch hervor und trocknete sich den Schweiß von der Stirn.

Harst hatte schon die Strickleiter erfaßt, kletterte flink nach oben, kletterte von Ast zu Ast und kam mit einer mittelgroßen Karbidlaterne wieder herunter.

„Hier – dies ist die zweite Lichtquelle für die nächtliche Telegraphie,“ sagte er.

Domke hatte nur Augen für den Toten.

„Wir – wir werden die Sache nach Babelsberg melden müssen – dem Amtsvorsteher,“ meinte er mit einem halb unterdrückten Seufzer. „Herr im Himmel – hätte ich nur nicht geschossen! Aber – ich wollte Sie retten! Es sah so aus, als würde der Mensch jeden Augenblick abdrücken!“

„Das entschuldigt Sie, Herr Domke.“

„Ja – meine Nerven sind ja auch schon fast zum Teufel durch den verdammten Spuk!“ polterte der Gutsbesitzer los, offenbar nur, um seine gedrückte Stimmung zu verbergen. „Wahrhaftig, Herr Harst, ich hätte den Brief an Sie nicht geschrieben, wenn ich nicht –“

„Ich begreife das durchaus, Herr Domke,“ fiel ihm Harald ins Wort. „Ihre Nervosität ist begründet. Der Spuk ist sehr schlau inszeniert worden.“

„Ja – und meine Kaltblütigkeit in dem Briefe war nur erheuchelt. Ich – ich schlafe seit Wochen stets bei Licht und hinter doppelt verriegelter Tür mit dem Revolver neben mir. Dieses – dieses Kettengerassel kann selbst den aufgeklärtesten Menschen verrückt machen! Ich habe alles versucht, der Sache auf den Grund zu kommen, aber –“

„– Sie hätten die Dielen in den Fluren aufheben sollen, Herr Domke.“

„Was – Dielen im Flur?!“ Er war ganz sprachlos.

„Ja. Die Dielen. Dann hätten Sie dort wahrscheinlich Ketten und Schnüre gefunden – Schnüre, mit deren Hilfe man die Ketten hin und her ziehen kann, so daß das schleifende Geräusch entsteht –“

„Donner – daß ich daran nicht gedacht habe!“

„Herr Domke, Orstras Tod muß natürlich gemeldet werden. Aber – vorher wollen wir noch in Ihrem Schloß einiges erledigen. – Kennen Sie die Ziege da?“

„Ja, gewiß. Sie gehört der Witwe Krämer, die das Häuschen hinter den Stallungen bewohnt. Der Mann der Krämer war Stellmacher bei mir. Er starb vor einem Jahr.“

„Hat sich Ihr Diener Gottlieb Krause mit der Krämer angefreundet?“

„Die beiden sind ja verwandt. Krause ist ihr Neffe.“

„So – so. Und – seien Sie jetzt ganz offen, Herr Domke – haben Sie vielleicht aus Indien besondere Kostbarkeiten mit herübergebracht?“

Der alte, dicke Herr blickte Harald scharf an. „Wie kommen Sie gerade darauf, Herr Harst?“

„Das ist keine Antwort auf meine Frage, Herr Domke.“

„Na – Sie sollen’s denn erfahren, meine Herren: ich besitze eine Brahmastatue von über ein Meter Höhe aus reinem Golde. Sie stammt aus den Ruinen von Dehli in Indien. Ich habe sie dort selbst gefunden.“

„Und – weiß niemand etwas von dieser Statue?“

„Nur einer wußte davon: der alte greise Krämer, der Stellmacher. Ihn zog ich ins Vertrauen. Mit seiner Hilfe schuf ich ein Versteck für die Statue, einen geheimen Wandschrank neben dem Kamin in der Vorhalle.“

„So – das genügt mir, Herr Domke. Nun wollen wir Frau Krämer aufsuchen und sie fragen, ob sie nicht jemand als Gast in ihrem Häuschen seit gestern heimlich beherbergt hat, – nämlich die Radlerin! Orstra also! – Ich denke, man wird von dem Häuschen hier in den Wald gelangen können, ohne gesehen zu werden.“

„Das stimmt. Es zieht sich ein ausgetrockneter tiefer Graben, der am Rande mit Gestrüpp bewachsen ist, bis zum Waldesrande hin. – Herr Harst, glauben Sie etwa, daß Krause es auf die Brahmastatue abgesehen hatte?“

„Das möchte ich in Krauses Gegenwart erörtern. – Gehen wir!“

 

5. Kapitel.

Wir schlichen den Graben entlang; wir betraten ganz plötzlich das Häuschen, das hinter Linden und Fliederbüschen völlig verborgen war.

Die Witwe des Stellmachers saß in der Stube und spann Flachs. Die Greisin hatte offenbar kein schlechtes Gewissen. Sie stand bereitwilligst Rede und Antwort. Nur eine Frage war ihr sichtlich peinlich: ob ihr Mann ihr etwas von dem goldenen Götzen erzählt hätte.

Harst redete ihr gut zu, und so erklärte sie denn, daß ihr Mann ihr freilich mitgeteilt habe, der Herr – das war Domke – besäße so ein Bild aus reinem Golde. Aber er habe ihr nicht verraten, wo es verborgen sei. Nein, das habe er nicht getan.

„Sie haben dann mal Ihrem Neffen gegenüber den goldenen Götzen erwähnt, Frau Krämer, nicht wahr?!“ meinte Harald freundlich.

„Ja –“

„Und dann kam Krause als Diener hierher?“

„Er war gerade ohne Stellung. Eigentlich ist er ja Artist.“

„Kannte Krause einen gewissen Gerstel, der sich auch Gumlowsky nannte?“

„Ja – ja. Bei dem war er mal Schreiber oder so was. Aber das war ein – ein schlechter Mensch, der Gerstel.“

„Ihr Neffe bat Sie dann gestern, Sie möchten doch eine Bekannte von ihm bei sich aufnehmen?“

„Seine Braut, sagte er –“

„War diese Braut in der ganzen verflossenen Nacht hier?“

„Das weiß ich nicht. Sie schlief dort in der andern Stube. – Ist – ist etwa mit dem Gottlieb irgend was nicht in Ordnung?“

„Bis jetzt ja, Frau Krämer. – So, wir danken Ihnen schön. Sie haben es hier recht hübsch. Eine Ziege halten Sie auch. Krauses Braut nahm die Ziege wohl mit in den Wald?“

„Ja. Ich bat sie darum. Sie hatte doch nichts zu tun. Erst wollte sie nicht. Sie ist ja überhaupt ’ne komische Person. Gottlieb sollte sich lieber nicht mit ihr abgeben. So ’ne heisere Stimme, und dann – dann wollte sie sich von niemand sehen lassen, grad so, als ob sie aus Berlin ausgerückt wär’ –“

„Also nochmals vielen Dank, Frau Krämer –“

Wir gingen über den Gutshof dem Schlosse zu.

„Der Zusammenhang ist Ihnen jetzt doch klar, Herr Domke,“ meinte Harald. „Es ging um den goldenen Brahma. Und Orstra, der mich um fünf Millionen bestohlen hat, glaubte sich hier bei der alten Frau vorläufig sicher, wollte auch Krause helfen, den Götzen zu suchen.“

„Hm – und der Spuk?! Herr Harst, mein Hühnerhund Pluto war doch –“

„Eine Frage: seit wann haben Sie den Hund?“

„Seit – ja, seit Juni etwa. Krause hat ihn mir besorgt. Sehr billig.“

„Aha, – und Krause gehorchte der Hund ebenfalls?“

„Auf’s Wort!“

„Dann hat er das Tier irgendwie zum Heulen und Jaulen gebracht – sehr einfach!“

„Verdammt – das wäre möglich! Und gerade das Verhalten des Hundes hat mich in dem Glauben bestärkt, daß an dem Spuk etwas Tatsächliches daran sein müßte. – Aber – aber die Lichtsignale, – die elektrische Birne und –“

„– Auch das kommt noch heran, Herr Domke. Das ist das weniger Wichtige.“

Wir betraten das Schloß durch einen Seiteneingang, gingen erst in die Küche.

Krause sei in seiner Stube, erklärte die Köchin.

Der Diener wohnte im linken Flügel drei Zimmer von Domkes Schlafstube entfernt.

Domke klopfte. Dann standen wir Gottlieb Krause gegenüber.

Und nun stellte sich heraus, daß Krause bisher an unserer Echtheit nicht im geringsten gezweifelt hatte, ein Beweis, wie gut Harald unsere Masken und Kostüme gewählt hatte.

Harald war dicht an den Diener herangetreten.

„Ich bin Harald Harst,“ sagte er laut. „Wo haben Sie das Paket, das Orstra im Walde verborgen hatte und das er Ihnen in der vergangenen Nacht aushändigte?“

Krause wurde bleich, taumelte zurück.

Selten habe ich in einem Gesicht einen so stark ausgeprägten Ausdruck hellen Entsetzens gesehen wie bei diesem Menschen.

„Ich – ich weiß nichts von einem Paket,“ quälte er dann hervor.

„Mann, seien Sie vernünftig,“ rief Harst achselzuckend. „Sie täten gut, sofort alles einzugestehen, auch – den Spuk und – den Zweck, den Sie damit verfolgten.“

Krause hatte sich jetzt leidlich gefaßt. Er wollte den Ahnungslosen spielen.

Aber Harst schritt schon auf den Kleiderschrank zu, öffnete ihn und – holte das Paket hervor.

„Als ich von dem Paket sprach, glitten Ihre Augen für einen Moment hierhin,“ meinte er. „Auf diese Weise ist schon manches Versteck verraten worden. – Krause – der Spuk sollte nachts die Bewohner des Schlosses in ihre Schlafräume bannen, nicht wahr? Dann konnten Sie ungestört nach dem goldenen Götzen suchen –“

Der blasse Mensch gab jetzt das Leugnen auf.

„Es hat ja doch keinen Sinn, noch zu lügen,“ meinte er kleinlaut. „Es ist so, Herr Harst! Ich wollte nachts nicht gestört werden.“

„Sie haben unter den Dielen Ketten und Schnüre angebracht. Wie entstand das Tappen von Schritten und das Keuchen?“

„Ich – ich bin mal Artist gewesen, Herr Harst, – Bauchredner und Zauberkünstler. Als Bauchredner konnte ich durch eine halb offene Zimmertür das Keuchen scheinbar aus dem Flur erklingen lassen, und das Tappen rief ich durch einen langen Draht hervor, an dem an einem Ende ein Ball aus Leinwand befestigt war. Ich klopfte damit auf den Flurläufer, bald aus dieser Tür, bald aus jener, und der Schall sorgte dafür, daß –“

„Schon gut. – Befindet sich das ganze Geld in diesem Paket? Auch die falschen Banknoten?“

„Alles, Herr Harst.“

„Krause, Orstra ist – tot. Er erkannte uns. Er hatte an der Eiche in der Lichtung den Draht der Strickleiter gefunden –“

„Tot – tot?!“ rief der Diener dazwischen. „Oh – von der Lampe auf dem Turm und von der Laterne in der Eiche hatte ich Orstra gestern erzählt. Ich wußte es ja längst, daß der angebliche Erwin Balk dahinter steckte. Aber ich hatte keinen Grund, den Doktor zu verraten. Ja – Doktor Erwin Balger heißt er in Wirklichkeit. Das hat Gerstel herausgekriegt. Doktor Balger spielt hier nur den Rechnungsführer, um Herrn Domkes indische Altertümer studieren zu können. Er schreibt ein dickes Buch darüber. Ich habe in seinem Schreibtisch das Manuskript gesehen. Seine Braut ist Erzieherin beim Besitzer Jeschke. Damit Herr Domke nichts merken sollte, waren sie so überaus vorsichtig.“

„Unglaublich!“ murmelte Domke.

Und Harald nickte mir zu und sagte:

„Siehst Du, das ist die „Wissenschaft“, die Du berücksichtigen solltest! Als Herr Domke mir von seiner Abneigung gegen alle Altertumsforscher erzählte, kam mir der Gedanke, daß Balk sich hier eingeschmuggelt haben könnte.“

So endete Ottmar Orstra, ein Verbrecher, der uns monatelang ständig in Atem gehalten hatte. Harst hatte ihn nicht besiegt, nein, der Ausgang dieses Abenteuers wäre wahrscheinlich ein ganz anderer geworden, wenn nicht Domkes Kugel eine schnelle Entscheidung herbeigeführt hätte.

Doktor Balger durfte seine Studien in Domkenhof in Ruhe beenden. Krause kam mit einer geringen Strafe davon. Gerstel-Gumlowsky nebst Frau wanderten für viele Jahre ins Zuchthaus. –

Kaum waren wir am Abend wieder nach Berlin-Schmargendorf zurückgekehrt, als Harald jene Depesche Lady Barnlays erhielt, die uns nach Asien, nach Ceylon, rief. Mit dieser Depesche begann für uns eine neue Reihe von Orientabenteuern, deren erstes ich im folgenden Band bringe.

 

Das Geheimnis des Elefantenjägers.

 

 

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Anmerkungen:

  1. Hier wurde in den ersten Auflagen die zweite Geschichte als Hefttitel angegeben, in späteren Auflagen dagegen die Erste. Siehe dazu auch unter „Zusätzliche Informationen“.
  2. Handschriftliche Randnotiz vom Sammler Herbert Gerike: Die hieß doch früher Malwine!!
  3. In der Vorlage steht: „ein“.
  4. Doppeltes Wort „nach“ entfernt.
  5. In der Vorlage steht: „unsern“.
  6. In der Vorlage steht: „küger“.
  7. In der Vorlage steht: Sei“.
  8. Fehlendes Wort „vier“ ergänzt.
  9. Betrüger. Hier im Sinne von Geldhinterziehung, Geldunterschlagung. Früher auch für Steuer- und Zollhinterziehung gebräuchlich.
  10. Ein Wort in der Vorlage unleserlich, ergänzt.
  11. In der Vorlage steht: „getant“.
  12. In der Vorlage steht: „Pliltt“.
  13. In der Vorlage steht: „indianisches“.
  14. Norddeutsch umgangssprachlich für: „nicht richtig in Ordnung sein“.